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Die erste Person Singular in der Wissenschaft - IGPP

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mehr und mehr dazu zwang, von klassischen anschaulichen Vorstellungen Abschied<br />

zu nehmen. Der Elektronensp<strong>in</strong> charakterisiert ke<strong>in</strong> Drehmoment des Elektrons, son<strong>der</strong>n<br />

es handelt sich um e<strong>in</strong>en unanschaulichen zusätzlichen Freiheitsgrad für dessen<br />

Verhalten.<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Unanschaulichkeit für Pauli fand ihren Höhepunkt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />

mit Jung Ende <strong>der</strong> 1940er und Anfang <strong>der</strong> 1950er Jahre, als beide um<br />

e<strong>in</strong> adäquates Verständnis des Konzepts <strong>der</strong> Archetypen rangen. Der psychophysisch<br />

neutrale Monismus mit Geist und Materie als dualen, komplementären Aspekten, <strong>in</strong><br />

den ihre Arbeit mündete, enthält Psyche und Physis als epistemisch (bewusst und<br />

beobachtbar) zugängliche Domänen, die als Aspekte e<strong>in</strong>er ontisch gegebenen, psychophysisch<br />

neutralen Wirklichkeit betrachtet werden. <strong>Die</strong>se Wirklichkeit ist selbst<br />

nicht direkt zugänglich, son<strong>der</strong>n äussert sich <strong>in</strong>direkt durch Manifestationen <strong>in</strong> ihren<br />

dualen Aspekten.<br />

Archetypen als psychophysisch neutrale Strukturpr<strong>in</strong>zipien fungieren <strong>in</strong> diesem Bild<br />

als die Erzeuger solcher Manifestationen. Dass sie dem direkten empirischen Zugang<br />

entzogen s<strong>in</strong>d, wird von Pauli jedoch nicht als realitätsdefizitär <strong>in</strong>terpretiert,<br />

son<strong>der</strong>n gerade umgekehrt: als die eigentliche, grundlegende Wirklichkeit, die h<strong>in</strong>ter<br />

den Phänomenen steht. In diesem S<strong>in</strong>n eröffnete ihm <strong>der</strong> metaphysische Zugang<br />

den Weg zu dem, was er die Idee <strong>der</strong> “Wirklichkeit des Symbols” nannte. Natürlich ist<br />

Paulis Wende vom Positivismus zur Metaphysik ke<strong>in</strong> s<strong>in</strong>gulärer Son<strong>der</strong>fall – e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

grosses Beispiel dafür wäre E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> – aber die Art und Weise, wie sie sich vollzog, ist<br />

wohl sonst kaum so detailliert nachvollziehbar wie gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Korrespondenz.<br />

<strong>Die</strong> privaten und persönlichen Erfahrungen, die dafür entscheidend waren und die<br />

se<strong>in</strong>en zahlreichen Briefen wie an<strong>der</strong>en unpublizierten Materialien zu entnehmen s<strong>in</strong>d,<br />

s<strong>in</strong>d ganz offensichtlich Erfahrungen <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>. E<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Po<strong>in</strong>te dieser Erfahrungen ist es jedoch, dass <strong>der</strong> “fanatische Atheist und <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Aufklärer” Pauli durch sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Situation gerät, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er dazu gezwungen<br />

wird, die <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>, die er bis dah<strong>in</strong> war, se<strong>in</strong>e Rollenidentität gewissermassen,<br />

<strong>in</strong> Frage zu stellen und zu relativieren. Nichts an<strong>der</strong>es bedeutet letztlich se<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>geständnis, sich etwas “Objektiv-Psychischem” gegenüber zu f<strong>in</strong>den, das ihn <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er erlebenden Subjektivität überragt.<br />

Bei Jung gibt es den Begriff des <strong>in</strong>flationierten Ego, e<strong>in</strong>er hypertrophen Form <strong>der</strong><br />

<strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>, 27<br />

unfähig, aus <strong>der</strong> Vergangenheit zu lernen, unfähig, das gegenwärtige Geschehen<br />

zu begreifen, und unfähig, richtige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Es ist von<br />

sich selbst hypnotisiert und lässt darum auch nicht mit sich reden. Es ist daher<br />

auf Katastrophen angewiesen, die es nötigenfalls totschlagen.<br />

Paulis Lebenskrise hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat se<strong>in</strong> Ego “totgeschlagen”, nämlich dadurch, dass es<br />

ihm gelang, sich selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen, entwickelteren S<strong>in</strong>n zu def<strong>in</strong>ieren – <strong>in</strong> Richtung<br />

auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> <strong>Person</strong> (und kontrapunktisch zur postmo<strong>der</strong>nen Hyperflexibilität<br />

multipler Fragment-Identitäten). Etwas verkürzt gesagt, spielte die Konfrontation mit<br />

se<strong>in</strong>em Unbewussten dabei die zentrale Rolle. <strong>Die</strong> Abkehr vom empirischen Zugriff als<br />

27 C.G. Jung: Psychologie und Alchemie, Gesammelte Werke Band 12, Walter, Olten 1972.<br />

17

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