1 Laudatio Karl-Buchrucker-Preis 11. März 2013 Elisabeth Mayer ...
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<strong>Laudatio</strong> <strong>Karl</strong>-<strong>Buchrucker</strong>-<strong>Preis</strong><br />
<strong>11.</strong> März <strong>2013</strong><br />
<strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong>: „Der hinkende Engel“<br />
gesendet am 10. Dezember 2012 im Bayerischen Fernsehen<br />
„Freiheit ist für mich, wenn ich meine Träume erfülle.“ Der dies sagt, ist ein Mann Ende Dreißig,<br />
gut aussehend, mit markantem Gesicht, dunklen wachen Augen, die das Gegenüber aufmerksam<br />
betrachten, mit sofort spürbarer Lebenslust. Ein Mann voller Energie - der im Rollstuhl sitzt. Mit<br />
acht Monaten erkrankte Dergin Tokmak an Kinderlähmung und kann seither nicht stehen und<br />
laufen. Das linke Bein ist völlig gelähmt, im rechten ist noch ein kleiner Rest von<br />
Bewegungsfähigkeit. Und dennoch ist dieser Mann ein Künstler, ein Bewegungskünstler, ein<br />
Tänzer von hoher Artistik und Ausdrucksfähigkeit. Ein Tänzer mit Krücken. Wie es dazu kam, das<br />
erzählt der Film „Der hinkende Engel“ von <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong>.<br />
Dergin Tokmak wurde in Augsburg geboren, als Kind türkischer Eltern. Bei einem Besuch<br />
in der Türkei erkrankt er als Baby an Kinderlähmung. Und obwohl die Eltern alles<br />
versuchen, wird er nie laufen können. So sind die Krücken schon bald sein ständiger<br />
Begleiter, denn der kleine Bub hat einen unglaublichen Bewegungsdrang. Auf<br />
eingeblendeten privaten Fotos und in privaten Filmausschnitten sieht man, wie er sich wie<br />
ein Wiesel auf den Krücken bewegt und regelrecht durch die Gegend wirbelt. Später wird<br />
er sich einen Künstlernamen geben: „Stix“. Krücken.<br />
Durch einen Cousin kommt er zum Breakdance, und als er im Film „Breakin“ den<br />
sogenannten Handyman auf Krücken tanzen sieht, hat er sein lebensbestimmendes Vorbild<br />
gefunden. Ein erster Tanzauftritt im Kreis der Freunde im Jugendhaus verändert sein<br />
Leben. Denn plötzlich spürt er die Bewunderung und Anerkennung der anderen und weiß:<br />
„Ich kann etwas.“<br />
Der Film, den <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong> für die Reihe „Lebenslinien“ das Bayerischen Fernsehens<br />
aus diesem bewegenden „Plot“ gemacht hat, lebt einerseits von raschen kontrastierenden<br />
Schnittwechseln: So wechselt eine beeindruckende Tanzszene mit einem Schnitt auf einen<br />
dampfenden Wasserkessel auf dem Herd in Dergins Elternhaus. In der folgenden Szene<br />
kommen dann die Eltern zu Wort. Damit deutet <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong> auch an, dass hier Eltern<br />
sind, die zwar nach wie vor kaum Deutsch können, aber ihren Sohn mit ihrer Liebe und<br />
Zuneigung unterstützen konnten und können.<br />
Es gelingt der Filmemacherin mit vielen kurzen Szenen und Szenenwechseln, den<br />
Zuschauer mitten in das außergewöhnliche Leben dieses außergewöhnlichen Mannes<br />
hineinzunehmen. Gegen das hohe Tempo der Schnittwechsel und der Tanzbilder stehen<br />
andererseits ruhige Gesprächssequenzen, die Dergin Tokmak den nötigen Raum gehen, um<br />
seine Lebensphilosophie zu entwickeln. Denn auch das macht der Film sehr deutlich: Bei<br />
aller Lebensfreude und allen Erfolgen war es ein harter Weg für ihn mit viel Arbeit. So<br />
spricht „Stix“ auch über seine lange gehegte Hoffnung, vielleicht eines Tages doch laufen<br />
zu können und über die große Enttäuschung, als er – und die Eltern – erkennen mussten,<br />
dass das nie der Fall sein wird. Oder auch darüber, dass er lange mit dem Gefühl des<br />
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doppelten Makels lebte und nicht wusste, was schlimmer ist: seine Behinderung oder sein<br />
Migrationshintergrund, wie das heutzutage so schön politisch korrekt heißt.<br />
Der Film erzählt von dem ungeheuren Willen des jungen Mannes – immer nah an der<br />
Person, authentisch und unverstellt – und vermittelt so den tiefen Glauben Derkin<br />
Tokmaks, dass alles möglich ist: nämlich auch ohne Beine tanzen zu können. Und der Film<br />
tut dies auf eine ganz unmittelbare, überzeugende Weise.<br />
Gleichsam nebenbei, aber stets präsent stellt der Film die Frage: „Was heißt eigentlich<br />
behindert?“ Ist die Behinderung, sind die Grenzen nicht vielfach im Kopf? In dem der<br />
Betroffenen selbst – aber vor allem auch in den Köpfen der anderen?!<br />
Dergin Tokmak überschreitet Grenzen und mit jeder Grenzüberschreitung wächst sein<br />
Selbstvertrauen. <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong> gelingt es, alle diese Schritte wie in einem Puzzle zu<br />
dokumentieren, erstaunlicherweise genügen häufig kleine Szenen, Andeutungen, um einen<br />
ganzen Lebensabschnitt nachzuzeichnen.<br />
Höchst eindrucksvoll – auch optisch – der größte Schritt (oder vielleicht auch nur aus<br />
unserer Sicht) der größte Schritt von Dergin Tokmak, passiert dann, als er beim<br />
kanadischen Cirque du Soleil als Tänzer engagiert wird. Für die Rolle eines hinkenden<br />
Engels, der dem gefangenen und gefallenen Ikarus zeigt, dass man auch ohne Flügel<br />
glücklich sein kann. Diese aufsehenerregende Rolle gab dem Film von <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong><br />
auch den Titel. Gerade in diesen Szenen verschwinden auch die Grenzen tatsächlich: Man<br />
weiß nicht, ob es sich um die Choreographie für einen Krückentanz handelt oder ob der<br />
Tänzer tatsächlich auf Krücken angewiesen ist.<br />
Dieses Engagement hat Stix, dem Tanzkünstler auf Krücken, viel Ruhm gebracht; Erfolg<br />
im landläufigen Sinne, wohl nicht im Sinne seiner Lebensziele. Denn er verweilt nicht<br />
dabei - und auch hier folgt ihm die Dokumentation in aufrichtiger Weise. Dergin Tokmak<br />
verlässt 2011 den Cirque du Soleil, macht sich selbstständig und erarbeitet seither eigene<br />
Tanzprogramme. Und es ist überaus glaubhaft, wenn er sagt: „Ich habe keine Angst, neue<br />
Wege zu gehen, das genau ist mein Charakter“. Und schließlich den für ihn wichtigsten<br />
Satz: „Heute bin ich ich selber.“<br />
Eine berührende und zugleich vor Lebensfreude sprühende Sequenz des Films zeigt das<br />
Zusammentreffen Dergins mit seinem großen Vorbild in New York, dem Handyman, der<br />
mit wirklichem Namen Eddy Fernandez heißt und dem er einen Rollstuhl aus Deutschland<br />
mitbringt. Und hier erweist sich, dass es natürlich schon auch eine besondere Qualität für<br />
einen Film bringt, wenn solche „Exkursionen“ möglich sind. Denn es ist auch eine Freude<br />
für die Augen, die beiden gemeinsam auf ihren Rollstühlen durch New York flitzen zu<br />
sehen. Ein Sinnbild für die immer wieder angesprochenen Träume und Möglichkeiten, die<br />
jeder Mensch hat und haben sollte.<br />
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<strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong> zeichnet mit ihrem 45-minütigem Film im wahrsten Sinne des Wortes<br />
eine Lebenslinie nach: mit allen Auf und Abs, allen Ausbuchtungen und Abweichungen.<br />
Entstanden ist so ein Film, der Mut macht, der Augen öffnet für eine mögliche Neu-<br />
Definition von Behinderung (und vermeintlicher Perfektion), für die Möglichkeiten, die<br />
der Wille einem Menschen eröffnet. Und für die essentielle Bedeutung von<br />
Lebensträumen. Man denkt auch nach dem Ende des Films gerade darüber nach, was es<br />
heißt, wenn Dergin Tokmak sagt: „Den Menschen, die eine Behinderung haben, lässt man<br />
nicht die Möglichkeit zum Träumen.“<br />
Man wünscht ihm viel Erfolg, nicht nur bei der Verwirklichung seiner eigenen Träume,<br />
sondern auch bei seinem Vorhaben, andere zu ermutigen, ihre Träume zu verwirklichen.<br />
Und man wünscht sich Filmemacher, Dokumentarfilmer, Autorinnen wie <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong>,<br />
die nicht nur die absolute Professionalität, sondern auch die große Sensibilität und das<br />
Gespür für Bilder, Töne und Menschen haben, um solche Filme zu machen. Und<br />
Redaktionen und Sender, die für solche herausragenden Projekte ein offenes Ohr haben,<br />
ein weites Herz und einen offenen Geldbeutel.<br />
Sehen Sie nun einige Szenen aus <strong>Elisabeth</strong> <strong>Mayer</strong>s Film „Der hinkende Engel“.<br />
Herzlichen Glückwunsch zum <strong>Karl</strong>-<strong>Buchrucker</strong>-<strong>Preis</strong> <strong>2013</strong>!<br />
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