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Anhang 1 - FMH

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<strong>Anhang</strong> 1 zur Standesordnung <strong>FMH</strong><br />

Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen<br />

Wissenschaften<br />

Ethische Grundsätze des Weltärztebundes<br />

Elfenstrasse 18, Postfach 300, CH-3000 Bern 15<br />

Telefon +41 31 359 11 11, Fax +41 31 359 11 12<br />

info@fmh.ch, www.fmh.ch


<strong>Anhang</strong> 1 zur Standesordnung <strong>FMH</strong><br />

RICHTLINIEN DER SCHWEIZERISCHEN AKADEMIE DER MEDIZI-<br />

NISCHEN WISSENSCHAFTEN<br />

A) Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen (2002, aktualisiert 2012) 1<br />

B) Behandlung von zerebral schwerstgeschädigten Langzeitpatienten (2003) 2<br />

C) Betreuung von Patienten am Lebensende (2004, aktualisiert 2012) 3<br />

D) Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen (2004, aktualisiert 2012) 4<br />

E) Biobanken: Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung von menschlichem biologischem Material<br />

für Ausbildung und Forschung (2006) 5<br />

F) Palliative Care (2005, aktualisiert 2012) 6<br />

G) Zusammenarbeit Ärzteschaft und Industrie (2006, revidiert 2013) 7<br />

H) Reanimationsentscheidungen (2008 aktualisiert 2012) 8<br />

I) Verwendung von Leichen und Leichenteilen in der medizinischen Forschung (2008) 9<br />

J) Lebendspende von soliden Organen (2008) 10<br />

K) Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung (2008, aktualisiert<br />

2012) 11<br />

L) Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen (2011) 12<br />

Zurückgezogene Richtlinien<br />

Die Zentrale Ethikkommission antizipiert und diskutiert ethische Probleme der Medizin; falls sie dies<br />

als notwendig erachtet, formuliert sie zu einem Thema Richtlinien als Hilfestellungen für die<br />

medizinische Praxis oder die biomedizinische Forschung. Diese Richtlinien erfüllen eine zentrale<br />

Funktion, solange von Seiten des Gesetzgebers keine entsprechenden Normen zur Verfügung stehen.<br />

Die SAMW überprüft in regelmässigen Abständen die Aktualität dieser Richtlinien und revidiert sie<br />

1 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 26. Juni 2004; in Kraft ab 11. Oktober 2004<br />

2 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 19. Mai 2005; in Kraft ab 4. September 2005<br />

3 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 19. Mai 2005; in Kraft ab 4. September 2005<br />

4 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 19. Mai 2005; in Kraft ab 4. September 2005<br />

5 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 3. Mai 2007; in Kraft ab 29. Juli 2007<br />

6 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 3. Mai 2007; in Kraft ab 29. Juli 2007<br />

7 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 19. Mai 2006; in Kraft ab 14. August 2006. Übernahme der revidierten Fassung 2013<br />

durch Ärztekammer-Beschluss vom 25. April 2013; in Kraft ab 18. August 2013<br />

8 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 28. Mai 2009; in Kraft ab 7. September 2009<br />

9 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 28. Mai 2009; in Kraft ab 7. September 2009<br />

10 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 28. Mai 2009; in Kraft ab 7. September 2009<br />

11 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 28. Mai 2009; in Kraft ab 7. September 2009<br />

12 Eingefügt durch Ärztekamme-Beschluss vom 26. Oktober 2011; in Kraft ab 19. Februar 2012<br />

2/3


<strong>Anhang</strong> 1 zur Standesordnung <strong>FMH</strong><br />

gegebenenfalls. Sobald zu einem Bereich eine gesetzliche Regelung vorliegt, zieht die SAMW in der<br />

Regel die entsprechende Richtlinie zurück.<br />

Nachstehend sind zurückgezogene Richtlinien aufgeführt:<br />

‣ Organtransplantationen (1995) PDF<br />

abgelöst durch: Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen vom -<br />

08.10.2004 und Ausführungsverordnungen<br />

‣ Sterilisation (1981) PDF und Empfehlungen zur Sterilisation von Menschen mit<br />

geistiger Behinderung (2001) PDF<br />

abgelöst durch: Bundesgesetz über Voraussetzungen und Verfahren bei Sterilisation vom<br />

17.12.2004<br />

‣ Ärztlich assistierte Fortpflanzung (1990) PDF<br />

abgelöst durch: Bundesgesetz vom 18.12.1998 über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung<br />

‣ Genetische Untersuchungen am Menschen (1993) PDF<br />

abgelöst durch: Bundesgesetz über genetische Untersuchungen am Menschen vom 08.10.2004<br />

und Ausführungsverordnungen<br />

‣ Transplantation fötaler menschlicher Gewebe (1998) PDF<br />

Abgelöst durch: Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen<br />

(Transplantationsgesetz)<br />

‣ Xenotransplantation (2000) PDF<br />

abgelöst durch: Verordnung über die Transplantation von tierischen Organen, Geweben und<br />

Zellen vom 16.3.2007<br />

‣ Zwangsmassnahmen in der Medizin (2005) PDF 13<br />

‣ Somatische Gentherapie am Menschen (1998) PDF 14<br />

‣ Grenzfragen der Intensivmedizin (1999) PDF 15<br />

ETHISCHE GRUNDSÄTZE DES WELTÄRZTEBUNDES<br />

Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen (Deklaration des Weltärztebundes<br />

von Helsinki; Oktober 2008) 16<br />

13 Gestrichen durch Ärztekammer-Beschluss vom 25. April 2013; in Kraft ab 18. August 2013<br />

14 Gestrichen durch Ärztekammer-Beschluss vom 25. April 2013; in Kraft ab 18. August 2013<br />

15 Gestrichen durch Ärztekammer-Beschluss vom 25. April 2013; in Kraft ab 18. August 2013<br />

16 Eingefügt durch Ärztekammer-Beschluss vom 25. April 2002; in Kraft ab 11. August 2002; wiedergegeben ist die aktuelle Fassung<br />

3/3


MEDIZIN-<br />

ETHISCHE<br />

Ausübung der ärztlichen<br />

Tätigkeit bei<br />

RICHTinhaftierten<br />

Personen<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien<br />

Ausübung der ärztlichen Tätigkeit<br />

bei inhaftierten Personen<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 28. November 2002.<br />

Die französische Version ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN 6<br />

1. Allgemeine Grundsätze; Begriff der Verweigerung<br />

aus Gewissensgründen 6<br />

2. Untersuchungsbedingungen 6<br />

3. Gutachtertätigkeiten und -situationen 7<br />

4. Disziplinarstrafen 7<br />

5. Gleichwertigkeit der Behandlung 7<br />

6. Durch die Behörden beschlossene Zwangsmassnahmen<br />

im Polizeigewahrsam oder im Strafvollzug 7<br />

7. Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung<br />

und Zwangsbehandlung 8<br />

8. Ansteckende Krankheiten 9<br />

9. Hungerstreik 9<br />

10. Vertraulichkeit 9<br />

11. Erstattung einer Anzeige über eventuelle Misshandlungen 10<br />

12. Ärztliche Unabhängigkeit 11<br />

13. Ausbildung 11<br />

III. ANHANG 12<br />

Literatur zu den Richtlinien 12<br />

Juristische Referenzen 12<br />

Medizin-ethische Referenzen 12<br />

Hinweise zur praktischen Umsetzung der Richtlinien 14<br />

A. Einleitung 14<br />

B. Verbindlichkeit der Richtlinien 14<br />

C. Umsetzung des Anspruchs auf gleichwertige Behandlung 16<br />

D. Aufgaben des Arztes im Massnahmenvollzug 17<br />

E. Durchführung von Zwangsbehandlungen 18<br />

F. Vorgehen bei Hungerstreik 19<br />

G. Pflichten bei der Ausschaffung 20<br />

Referenzdokumente 22<br />

Literatur zur Umsetzung der Richtlinien 23<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 24


I. PRÄAMBEL<br />

Die Mitwirkung von Ärzten 1 bei polizeilichen Zwangsmassnahmen, insbesondere<br />

bei der Ausschaffung von aus der Schweiz ausgewiesenen Personen, gibt in der Öffentlichkeit<br />

zu zahlreichen Fragen Anlass. Als Reaktion auf die Erwartungen der<br />

verschiedenen betroffenen Kreise hat die SAMW Richtlinien für Ärzte ausgearbeitet,<br />

die in diesem hochsensiblen Bereich – bei dem es leicht zur Überschreitung<br />

ethischer Schranken kommen kann – zur Mitarbeit aufgefordert werden können.<br />

Darüber hinaus wurde auch die ärztliche Behandlung sämtlicher Personen, die<br />

sich in polizeilichem Gewahrsam befinden oder in einer Strafanstalt 2 inhaftiert<br />

sind, in die Überlegungen miteinbezogen.<br />

Die vielfältigen Strafprozessordnungen und die verschiedenen kantonalen Vollzugsverfahren<br />

erschweren die Ausarbeitung solcher Richtlinien. Falls die inhaftierte<br />

Person 3 psychische Störungen aufweist, ergibt sich durch die Komplexität<br />

eine noch heiklere Situation.<br />

Es ist leider darauf hinzuweisen, dass ein gravierender Mangel besteht an geeigneten<br />

Anstalten, im Sinne des StGB 4 , die solche Personen aufnehmen könnten,<br />

ebenso ein Mangel an medizinischem (und sozialtherapeutischem) Personal mit<br />

entsprechender Ausbildung.<br />

In diesem komplexen Umfeld unterbreitet die SAMW nun Richtlinien, die sich<br />

zwar weitgehend auf internationale Empfehlungen über die Behandlung inhaftierter<br />

Personen stützen, aber keineswegs den Anspruch erheben, das Thema erschöpfend<br />

zu behandeln. Im Besonderen wurde die generelle Frage von Zwangsmassnahmen<br />

im psychiatrischen Umfeld oder von Notfallmassnahmen im<br />

somatischen Bereich nicht angegangen.<br />

Die SAMW ist sich der Tatsache bewusst, dass ein Teil dieser Richtlinien zur Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen eher die administrativen<br />

und Vollzugsbehörden, allenfalls die Gesetzgeber unseres Landes betreffen. In diesem<br />

Fall sind sie nur bedingt anzuwenden und sollen vor allem dazu dienen, den<br />

Standpunkt der Ärzteschaft zu kennen.<br />

1 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

2 «Anstalten» im Sinne dieser Richtlinien: Untersuchungs- und Vollzugsinstitutionen, Massnahmenvollzugsanstalten,<br />

Untersuchungsgefängnisse, Ausschaffungshaft.<br />

3 Als «inhaftierte Person» im Sinne dieser Richtlinien (im Gegensatz zu den Personen unter fürsorgerischer<br />

Unterbringung im Sinne von Art. 426 ff. Zivilgesetzbuch) wird eine Person bezeichnet, die ihrer Freiheit<br />

auf Grund eines polizeilichen oder straf- (bzw. militär-) richterlichen Entscheids beraubt ist, oder wenn<br />

es sich um eine Inhaftierung handelt, die gestützt auf das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und<br />

Ausländer angeordnet wurde.<br />

4 Art. 59 StGB behandelt die Betreuung der psychisch kranken Straftäter.<br />

5


II.<br />

RICHTLINIEN<br />

1. Allgemeine Grundsätze; Begriff der Verweigerung<br />

aus Gewissensgründen<br />

Die grundlegenden ethischen und rechtlichen Bestimmungen, welche die Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit regeln, insbesondere die Vorschriften über Patienteneinverständnis<br />

und Vertraulichkeit, gelten auch für Personen unter Freiheitsentzug.<br />

In diesem Zusammenhang muss der Arzt jedoch häufig Auflagen bezüglich Sicherheit<br />

und Ordnung berücksichtigen, auch wenn sein eigentliches Ziel stets das<br />

Wohlergehen und die Respektierung der Würde des Patienten ist. Die Berufsausübung<br />

in einem solchen Umfeld ist insofern speziell, als der Arzt sowohl seinem<br />

inhaftierten Patienten wie den zuständigen Behörden 5 gegenüber verpflichtet<br />

ist, wobei die Interessen und angestrebten Ziele manchmal entgegengesetzt sind.<br />

Das Abwägen dieser Faktoren (sei es im Rahmen eines längerfristigen Mandats<br />

oder bei einer einmaligen Intervention) kann persönliche Überzeugungen des<br />

Arztes tangieren. Dabei muss er im Einklang mit seinem Gewissen und der ärztlichen<br />

Ethik handeln und das Recht haben, die Begutachtung bzw. die medizinische<br />

Versorgung von Personen unter Freiheitsentzug zu verweigern, es sei<br />

denn, es liege eine Notfallsituation vor.<br />

2. Untersuchungsbedingungen<br />

Um ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis zu schaffen, bemüht sich der Arzt, die<br />

üblichen Rahmenbedingungen und die Würde in der Beziehung zwischen Arzt<br />

und Patient zu wahren.<br />

Zur Untersuchung einer inhaftierten Person sollte ein geeigneter Raum zur Verfügung<br />

stehen. Die Untersuchung muss ausserhalb von Sicht- und Hörweite Dritter<br />

stattfinden, ausser auf ausdrücklichen gegenteiligen Wunsch des Arztes oder<br />

mit seinem Einverständnis.<br />

5 «Zuständige Behörde» im Sinne dieser Richtlinien: Einweisungsbehörde, Leitung der Vollzugsinstitution,<br />

Justizbehörden.<br />

6


3. Gutachtertätigkeiten und -situationen<br />

Von Krisen- oder Notfallsituationen abgesehen, kann der Arzt nicht gleichzeitig<br />

Gutachter und Therapeut sein.<br />

Bevor der Arzt als Gutachter tätig wird, teilt er der zu untersuchenden Person klar<br />

und eindeutig mit, dass die Ergebnisse der Untersuchung nicht der ärztlichen<br />

Schweigepflicht unterliegen werden.<br />

4. Disziplinarstrafen<br />

Soll der Arzt beurteilen, ob eine Person fähig ist, eine Disziplinarstrafe zu erstehen,<br />

äussert er sich dazu erst dann, wenn die Massnahme verfügt ist. Seine Beurteilung<br />

ergeht als zweiter Schritt und nimmt gegebenenfalls die Form eines auf<br />

Grund rein medizinischer Kriterien gefällten Vetos an.<br />

5. Gleichwertigkeit der Behandlung<br />

Die inhaftierte Person hat Anrecht auf eine Behandlung, die medizinisch jener<br />

der Allgemeinbevölkerung gleichwertig ist.<br />

6. Durch die Behörden beschlossene Zwangsmassnahmen<br />

im Polizeigewahrsam oder im Strafvollzug<br />

Soll der Arzt die zuständigen Behörden über die möglichen Risiken und Konsequenzen<br />

einer (durch die Behörden bereits beschlossenen) Zwangsüberführung<br />

(z.B. Ausweisung aus einer Wohnung, Ausschaffung, usw.) für den Gesundheitszustand<br />

einer inhaftierten Person orientieren, muss er sich bemühen, dabei äusserste<br />

Vorsicht walten zu lassen, nachdem die dazu erforderlichen Informationen über<br />

die Krankengeschichte der betroffenen Person soweit möglich eingeholt worden<br />

sind. Insbesondere muss er das vorgesehene Transportmittel, die voraussichtliche<br />

Dauer des Transports, sowie die voraussichtlich zur Anwendung gelangenden Sicherheitsmassnahmen<br />

und Massnahmen zur Ruhigstellung in Betracht ziehen.<br />

Er fordert stets eine Medizinalperson an, wenn der physische oder psychische Gesundheitszustand<br />

des Patienten es erfordert oder wenn das Ausmass der zur Anwendung<br />

gelangenden Massnahmen zur Ruhigstellung und Sicherheitsmassnahmen<br />

an und für sich ein Gesundheitsrisiko für die betroffene Person darstellen<br />

könnten.<br />

7


Falls der Arzt zu einer inhaftierten Person gerufen wird, der eine Zwangsmassnahme<br />

bevorsteht, muss er eine neutrale und professionelle Haltung einnehmen<br />

und den Patienten darüber informieren, dass er ihm zur Verfügung steht, und<br />

dass keine medizinische Handlung ohne sein Einverständnis durchgeführt wird<br />

(vorbehalten bleiben die unter 7. aufgeführten Situationen).<br />

Gelangt der Arzt zur Überzeugung, dass die zur Ausführung der Massnahme<br />

eingesetzten Mittel (Knebelung, enge und langfristige Fesselung, sogenannte<br />

«Schwalbenposition» mit Händen und Füssen hinten mittels Handschellen in<br />

Opisthotonus-Position gefesselt, etc.) für den Patienten eine unmittelbare und<br />

erhebliche gesundheitliche Gefahr darstellen, muss er unverzüglich die zuständigen<br />

Behörden darüber informieren, dass er, falls auf die vorgesehenen Mittel<br />

nicht verzichtet wird, keine medizinische Verantwortung übernimmt und dass<br />

er jede weitere Mitwirkung verweigert.<br />

7. Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung<br />

und Zwangsbehandlung<br />

Wie in jeder medizinischen Situation darf der als Gutachter oder als Therapeut<br />

handelnde Arzt eine diagnostische oder therapeutische Massnahme nur durchführen,<br />

wenn die inhaftierte Person ihr freies Einverständnis nach Aufklärung<br />

(informed consent) dazu gibt.<br />

Jede Verabreichung von Arzneimitteln, insbesondere von Psychopharmaka, an<br />

inhaftierten Personen darf deshalb nur mit deren Einverständnis und ausschliesslich<br />

aus rein medizinischen Gründen erfolgen.<br />

In Notfallsituationen kann der Arzt – nach den gleichen Kriterien, die für nicht<br />

festgenommene oder inhaftierte Patienten gelten – auf das Einverständnis des Patienten<br />

verzichten, falls dieser auf Grund einer erheblichen psychischen Störung<br />

nicht urteilsfähig ist und eine unmittelbare Gefahr selbst- oder fremdgefährlicher<br />

Handlungen besteht (kumulative Bedingungen). In einem solchen Fall vergewissert<br />

sich der Arzt, dass dem inhaftierten Patienten eine angemessene mittelbis<br />

langfristige medizinische Nachbehandlung zukommt (namentlich in Form<br />

einer zeitweiligen Einweisung in eine psychiatrische Klinik, wenn z.B. ein Ausschaffungsentscheid<br />

medizinisch nicht durchführbar ist).<br />

Medizinisch begründete Massnahmen zur physischen Ruhigstellung sind höchstens<br />

für einige wenige Stunden in Betracht zu ziehen. In allen Fällen von medizinischer<br />

Ruhigstellung ist der verantwortliche Arzt dazu verpflichtet, deren Anwendung<br />

und Berechtigung regelmässig zu überwachen; er muss die Situation<br />

jeweils in kurzen zeitlichen Abständen neu einschätzen.<br />

8


8. Ansteckende Krankheiten<br />

Im Falle einer ansteckenden Krankheit darf die Autonomie und die Bewegungsfreiheit<br />

des festgenommenen oder inhaftierten Patienten nur nach den gleichen<br />

Kriterien eingeschränkt werden, die auch für andere Bevölkerungsgruppen in ähnlichen<br />

Situationen des engen Zusammenlebens gelten (z.B. militärische Einheiten,<br />

Ferienkolonien, usw.).<br />

9. Hungerstreik<br />

Im Falle eines Hungerstreiks muss die inhaftierte Person durch den Arzt in objektiver<br />

Art und Weise und wiederholt über die möglichen Risiken von längerem Fasten<br />

aufgeklärt werden.<br />

Nachdem die volle Urteilsfähigkeit der betreffenden Person von einem ausserhalb<br />

der Anstalt tätigen Arzt bestätigt wurde, muss der Entscheid zum Hungerstreik,<br />

auch im Falle eines beträchtlichen Gesundheitsrisikos, medizinisch respektiert<br />

werden.<br />

Fällt die Person im Hungerstreik in ein Koma, geht der Arzt nach seinem Gewissen<br />

und seiner Berufsethik vor, es sei denn, die betreffende Person habe ausdrückliche<br />

Anordnungen für den Fall eines Bewusstseinsverlustes hinterlegt, auch wenn<br />

diese den Tod zur Folge haben können.<br />

Der Arzt, der mit einem Hungerstreik konfrontiert ist, wahrt gegenüber den verschiedenen<br />

Parteien eine streng neutrale Haltung und muss jedes Risiko einer Instrumentalisierung<br />

seiner medizinischen Entscheide vermeiden.<br />

Trotz der geäusserten Verweigerung der Nahrungsaufnahme vergewissert sich der<br />

Arzt, dass der im Hungerstreik stehenden Person täglich Nahrung angeboten wird.<br />

10. Vertraulichkeit<br />

Die ärztliche Schweigepflicht muss in jedem Fall nach den gleichen rechtlichen<br />

Vorschriften gewahrt werden, welche für Personen in Freiheit gelten (Art. 321<br />

StGB). Insbesondere müssen die Krankengeschichten unter ärztlicher Verantwortung<br />

aufbewahrt werden. Es gelten die unter Ziffer 2 beschriebenen Untersuchungsbedingungen.<br />

Allerdings können die in Anstalten herrschenden Verhältnisse eines engen, möglicherweise<br />

jahrelangen Zusammenlebens und/oder die häufig von Aufsichtspersonen<br />

oder Polizisten übernommenen Funktionen als Gewährsperson oder sogar<br />

Hilfskraft für die Pflege einen Austausch von medizinischen Informationen zwischen<br />

Pflege- und Überwachungspersonal notwendig machen.<br />

9


In einer solchen Situation muss sich der Arzt bemühen, mit Zustimmung des inhaftierten<br />

Patienten jede legitime Frage seitens des Überwachungs- oder Polizeipersonals<br />

zu beantworten.<br />

Widersetzt sich der Gefangene einer Offenlegung und entsteht daraus eine Gefährdung<br />

der Sicherheit oder für Dritte, kann der Arzt von der zuständigen Behörde<br />

verlangen, von seiner Schweigepflicht entbunden zu werden, wenn er es<br />

als seine Pflicht erachtet, Dritte, und insbesondere die für den Fall Verantwortlichen<br />

oder das Sicherheitspersonal zu informieren (Art. 321, Abs. 2 StGB). In<br />

einem solchen Fall muss der Patient in Kenntnis darüber gesetzt werden, dass die<br />

Aufhebung des ihn betreffenden Arztgeheimnisses verlangt wurde.<br />

Ausnahmsweise, wenn das Leben oder die körperliche Integrität eines Dritten<br />

ernsthaft und akut gefährdet ist, kann der Arzt von sich aus von der Schweigepflicht<br />

abweichen und die zuständigen Behörden oder den bedrohten Dritten direkt<br />

benachrichtigen.<br />

11. Erstattung einer Anzeige über eventuelle Misshandlungen<br />

Jedes Anzeichen körperlicher Gewalt, das im Verlauf einer ärztlichen Untersuchung<br />

bei einer inhaftierten Person beobachtet wird, muss aufgezeichnet werden.<br />

Der Arzt unterscheidet in seinem Bericht klar zwischen den Ausführungen des<br />

Patienten (Umstände, die nach seinen Angaben zu den Läsionen führten), seinen<br />

Klagen (subjektive, vom Patienten empfundene Beschwerden) sowie den objektiven<br />

klinischen und paraklinischen Befunden (Ausmass, Lokalisierung, Aussehen<br />

der Läsionen, Röntgenaufnahmen, Laborergebnisse, usw.). Falls seine Ausbildung<br />

und/oder seine Erfahrung es ihm ermöglichen, nimmt der Arzt in seinem<br />

Bericht dazu Stellung, ob die Angaben des Patienten mit seinen eigenen medizinischen<br />

Feststellungen übereinstimmen (z.B. das Datum der vom Patienten angeführten<br />

Verletzungen und die Farbe der Hämatome).<br />

Diese Informationen müssen unverzüglich an die Aufsichtsbehörden von Polizei<br />

und Anstaltsbehörden weitergeleitet werden. Der inhaftierten Person steht das<br />

Recht zu, jederzeit eine Kopie des betreffenden ärztlichen Berichts zu erhalten.<br />

Falls sich die inhaftierte Person einer Weitergabe solcher Informationen formell<br />

widersetzt, muss der Arzt die entgegengesetzten Interessen abwägen und gegebenenfalls<br />

wie unter Ziffer 10. beschrieben vorgehen.<br />

10


12. Ärztliche Unabhängigkeit<br />

Unabhängig von den Anstellungsverhältnissen (Beamten- oder Angestelltenstatus<br />

oder Privatvertrag), muss sich der Arzt gegenüber den polizeilichen oder den<br />

Strafvollzugsbehörden stets auf volle Unabhängigkeit berufen können. Seine klinischen<br />

Entscheidungen sowie alle anderen Einschätzungen des Gesundheitszustands<br />

von inhaftierten Personen stützen sich ausschliesslich auf rein medizinische<br />

Kriterien.<br />

Um die Unabhängigkeit der Ärzte zu wahren, muss jegliche hierarchische Abhängigkeit<br />

oder sogar direkte vertragliche Beziehung zwischen den Letzteren und der<br />

Leitung der Anstalt in Zukunft vermieden werden.<br />

Pflegepersonal darf medizinische Anordnungen nur vom behandelnden Arzt entgegennehmen.<br />

13. Ausbildung<br />

In Zukunft muss dafür gesorgt werden, dass jede in einem medizinischen Beruf<br />

tätige Person, die regelmässig mit inhaftierten Patienten arbeitet, über eine entsprechende<br />

Ausbildung verfügt. Hauptinhalte sind Ziel und Funktionsweise der<br />

diversen Strafvollzugsanstalten sowie die Verhaltensweise in potentiell gefährlichen<br />

und gewaltträchtigen Situationen. Ethno-sozio-kulturelle Kenntnisse sind<br />

ebenfalls erforderlich.<br />

11


III.<br />

ANHANG<br />

Literatur zu den Richtlinien<br />

Juristische Referenzen<br />

Konvention vom 4.11.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.<br />

Europäische Übereinkunft vom 16.11.1987 zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.<br />

Schweizerisches Strafgesetzbuch.<br />

Schweizerisches Zivilgesetzbuch.<br />

Bundesgesetz vom 16.12.2005 über die Ausländerinnen und Ausländer.<br />

Rechtsprechung des Bundesgerichtes zu Zwangsmassnahmen:<br />

RCC 1992, S. 508 / – BGE 118 II 254 / – ZBl. 1993 504 / – BGE 121 III 204 / – BGE 125 III 169 /<br />

– BGE 126 I 112 / – BGE 127 I 6 / – Entscheid vom 8. Juni 2001, 1P.134/2001 /<br />

– Entscheid vom 15. Juni 2001, 6A.100/2000 (idem) / – Entscheid vom 22. Juni 2001, 5C.102/2001.<br />

Medizin-ethische Referenzen<br />

Principles of Medical Ethics relevant to the Role of Health Personnel, particularly<br />

Physicians, in the Protection of Prisoners and Detainees against Torture and Other Cruel,<br />

Inhuman or Degrading Treatment or Punishment.<br />

Adopted by the United Nations General Assembly; Resolution 37/194 of 18 December 1982.<br />

Health Professionals with Dual Obligations; in Investigation and Documentation of<br />

Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment<br />

(The Istanbul Protocol).<br />

Commission on Human Rights; United Nations; 13 March 2001.<br />

Règles pénitentiaires européennes.<br />

Recommandations du Comité des Ministres; Conseil de l‘Europe; 1987.<br />

L‘organisation des services de soins de santé dans les établissements pénitentiaires<br />

des Etats membres.<br />

Comité européen de la Santé; Conseil de l‘Europe; juin 1998.<br />

Aspects éthiques et organisationnels des soins de santé en milieu pénitentiaires.<br />

Recommandation n° R(98) 7 et exposé des motifs; Comité des Ministres; Conseil de l‘Europe;<br />

avril 1999.<br />

Services de santé dans les prisons.<br />

3 e rapport général d‘activités du CPT couvrant la période du 1 er janvier au 31 décembre 1992; CPT;<br />

Conseil de l‘Europe; juin 1993.<br />

Personnes retenues en vertu de législations relatives à l‘entrée et au séjour<br />

des étrangers.<br />

7 e rapport général d‘activités du CPT couvrant la période du 1 er janvier au 31 décembre 1996;<br />

CPT; Conseil de l‘Europe; août 97.<br />

12


Madrid Declaration on Ethical Standards for Psychiatric Practice.<br />

World Psychiatric Association; approved by the general assembly on august 25, 1996.<br />

Déclaration de Tokyo de l‘Association Médicale Mondiale.<br />

Directives à l‘intention des médecins en ce qui concerne la torture et autres peines ou traitements<br />

cruels, inhumains ou dégradants en relation avec la détention ou l‘emprisonnement,<br />

Adoptée par la 29 e Assemblée Médicale Mondiale; Tokyo, Octobre 1975.<br />

Déclaration de Malte de l‘Association Médicale Mondiale sur les Grévistes de la Faim.<br />

Adoptée par la 43 e Assemblée Médicale Mondiale; Malte, Novembre 1991.<br />

Declaration of Edinburgh on Prison Conditions and the Spread of Tuberculosis and<br />

other Communicable Diseases; World Medical Association.<br />

Adopted: October 2000.<br />

13


Hinweise zur praktischen Umsetzung der Richtlinien<br />

A. Einleitung<br />

Die medizinische Betreuung eines Häftlings im Hungerstreik, ein Entscheid des<br />

Bundesgerichts 6 und die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten an Zwangsausschaffungen<br />

haben 2010 zu medialem Aufsehen geführt, Diskussionen in der<br />

Ärzteschaft ausgelöst 7 und auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen<br />

Wissenschaften (SAMW) beschäftigt. Die SAMW hat dies zum Anlass genommen,<br />

die seit 2002 bestehenden medizin-ethischen Richtlinien «Ausübung der ärztlichen<br />

Tätigkeit bei inhaftierten Personen» auf ihre Aktualität und Praktikabilität<br />

hin zu überprüfen. Die Zentrale Ethikkommission der SAMW (ZEK) hat eine<br />

Arbeitsgruppe mit dieser Aufgabe betraut. Gestützt auf den Bericht der Arbeitsgruppe<br />

ist sie zum Schluss gekommen, dass die auf der Basis weltweit akzeptierter<br />

internationaler Dokumente erstellten Richtlinien nach wie vor Bestand haben.<br />

Die Erfahrungen der in der Medizin im Strafvollzug tätigen Ärztinnen und Ärzte<br />

zeigen jedoch, dass die in den Richtlinien festgehaltenen ethischen Prinzipien<br />

im Straf- und Massnahmenvollzug noch unvollständig umgesetzt werden und in<br />

einzelnen Bereichen Konkretisierungsbedarf besteht. Deshalb hat die ZEK einen<br />

<strong>Anhang</strong> zu den medizin-ethischen Richtlinien «Ausübung der ärztlichen Tätigkeit<br />

bei inhaftierten Personen» mit Hinweisen zu deren praktischer Umsetzung<br />

verabschiedet. Da die Pflegefachpersonen in den Richtlinien von 2002 nur beiläufig<br />

erwähnt werden, wird ihre Rolle in diesem <strong>Anhang</strong> genauer beschrieben.<br />

B. Verbindlichkeit der Richtlinien<br />

Der erwähnte Entscheid des Bundesgerichts hat eine juristische Debatte darüber<br />

ausgelöst, welches Gewicht die medizin-ethischen Richtlinien der SAMW<br />

haben. Kann sich ein Gefängnisarzt auf die Richtlinien berufen, wenn von ihm<br />

eine Handlung verlangt wird, die gegen standesethische Grundsätze verstösst<br />

oder ist er in jedem Fall an eine Anordnung der Gefängnisleitung oder der Justizbehörden<br />

gebunden?<br />

6 Entscheid des Bundesgerichts vom 26. August 2010 im Fall B. Rappaz.<br />

7 Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte <strong>FMH</strong>, Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen<br />

und Pflegefachmänner SBK, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW,<br />

Zen trale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ZEK,<br />

Konfe renz der Schweizer Gefängnisärzte, Forum der Gesundheitsdienste des Schweizerischen Justizvollzugs<br />

und 74 mitunterzeichnende Einzelpersonen. Hungerstreik im Gefängnis – Zum Entscheid<br />

des Bundesgerichts vom 26. August 2010. Schweiz Ärztezeitung. 2010; 91(39): 1518 – 20.<br />

14


Wie alle SAMW-Richtlinien richten sich auch die Richtlinien über die «Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen» an Ärzte und weitere medizinische<br />

Fachpersonen; sie sollen diesen eine Hilfestellung in ihrem praktischen<br />

Alltag geben. Sie stellen nicht zwingendes Recht dar, können aber verbindlichen<br />

Charakter erhalten, sei dies durch entsprechende vertragliche Regelungen oder<br />

verbandsrechtlich. 8 Aber auch ausserhalb dieses Rahmens haben die Richtlinien<br />

rechtliche Wirkung. So misst ihnen das Bundesgericht in seiner ständigen Rechtsprechung<br />

den Wert von Regeln der ärztlichen Kunst zu. Der Richter kann sich<br />

darauf abstützen, um das Mass der geübten Sorgfalt eines Arztes im Einzelfall zu<br />

beurteilen. Aufgrund von Haftungsregeln dienen die Richtlinien somit als Referenz,<br />

um zu beurteilen, ob ein Arzt infolge der Missachtung von Berufsstandards<br />

seine Pflichten verletzt hat.<br />

Von daher erhalten die in den SAMW-Richtlinien erwähnten materiellen Regeln<br />

ihre Bedeutung. Die seit 2002 geltenden medizin-ethischen Richtlinien zur «Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen» fassen die in der Medizin<br />

im Strafvollzug geltenden Grundrechte in einer für Praktiker leichter fassbaren<br />

Weise zusammen und bieten so eine Orientierungshilfe.<br />

So wird beispielsweise das in den Richtlinien festgeschriebene Prinzip der Gleichwertigkeit<br />

(Kap. 5.) der medizinischen Versorgung für Menschen innerhalb und<br />

ausserhalb des Strafvollzugs in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte und in der Rechtspraxis von Kantonen wie Wallis oder<br />

Genf ausdrücklich anerkannt. Desgleichen beruht die in den Richtlinien geforderte<br />

Unabhängigkeit des Arztes (Kap. 12.) bezüglich Wahl und Durchführung<br />

von Behandlungen auf den Grundprinzipien des Patientenrechts und der Berufspflichten.<br />

In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Artikel 56ff.<br />

des Schweizerischen Strafgesetzbuchs festhalten, unter welchen Umständen der<br />

Richter, gestützt auf eine ärztliche Expertise, auf die Verhängung einer Strafe verzichten<br />

und statt dessen eine therapeutische Massnahme anordnen kann. Weiter<br />

wird festgehalten, wie der Richter den Rat des medizinischen Experten einholen<br />

muss, um über Art und Umstände der Durchführung dieser Massnahme in<br />

einer geeigneten Institution zu entscheiden. In jeder Etappe definiert das Strafgesetz<br />

den Kompetenzbereich des Richters bzw. des Arztes und garantiert Letzterem<br />

seine Handlungsfreiheit (vgl. Kap. D.). So akzeptiert der Richter, wenn er sich auf<br />

die Beurteilung des Arztes bezieht, damit die Regeln und Bedingungen der ärztlichen<br />

Tätigkeit.<br />

8 Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder verbindliches<br />

Standesrecht.<br />

15


Kapitel 5.<br />

C. Umsetzung des Anspruchs auf gleichwertige Behandlung<br />

Der Anspruch auf eine gleichwertige Behandlung ist ein zentrales Prinzip der<br />

Medizin im Strafvollzug. Abgesehen von einer Einschränkung des Rechts auf<br />

freie Arztwahl, haben inhaftierte Personen bezüglich ihrer Gesundheit dieselben<br />

Rechte wie jeder andere Patient. Nicht nur die Gefängnisleitungen, sondern auch<br />

die in der praktischen Betreuung involvierten Ärzte und Pflegefachpersonen sind<br />

verpflichtet, zur Sicherstellung dieses Anspruchs beizutragen.<br />

Der Anspruch auf gleichwertige Behandlung umfasst nicht nur den Zugang zu<br />

präventiven, diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Gesundheitsmassnahmen,<br />

sondern auch die im Arzt- und Patientenverhältnis zu beachtenden<br />

Grundregeln wie z.B. das Recht auf Selbstbestimmung und Information<br />

und die Wahrung der Vertraulichkeit. Die in der Medizin im Strafvollzug tätigen<br />

Ärzte und die Pflegefachpersonen sind an das in Artikel 321 Strafgesetzbuch umschriebene<br />

Berufsgeheimnis gebunden und dürfen ausserhalb des gesetzlich definierten<br />

engen Rahmens Dritten keine Auskünfte über ihre Patienten erteilen<br />

(vgl. Kap. 10.).<br />

Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, wenn aus Ressourcegründen Medikamente<br />

durch das Aufsichtspersonal abgegeben werden. Werden Medikamente<br />

von anderen Personen als von den berechtigten medizinischen Fachkräften abgegeben,<br />

wird zudem nicht nur das Berufsgeheimnis tangiert, sondern auch<br />

das Heilmittelgesetz. Gemäss diesem ist der Kreis der zur Medikamentenabgabe<br />

befugten Personen präzis definiert, Ausnahmen für den Straffvollzug bestehen<br />

nicht. Zur Medikamentenabgabe sind Apotheker und andere Personen befugt,<br />

die einen universitären medizinischen Beruf ausüben, d.h. Ärzte, Zahnärzte, Veterinäre<br />

und Chiropraktiker sowie alle anderen entsprechend ausgebildeten (medizinischen)<br />

Fachpersonen unter Aufsicht eines Vertreters der oben erwähnten<br />

universitären medizinischen Berufe und aufgrund einer Bewilligung der zuständigen<br />

kantonalen Gesundheitsbehörden, d.h. in der Regel des Kantonsapothekers.<br />

Die Realität der medizinischen Versorgung in den Schweizer Haftanstalten zwingt<br />

dazu, Lösungen zu finden, die einerseits ein angemessenes Funktionieren der medizinischen<br />

Betreuung bei akzeptablen Delegationspraktiken ermöglichen, andererseits<br />

aber die rechtlichen Vorgaben respektieren. Wenn Personen, die nicht zu<br />

dieser Aufgabe befugt sind, Arzneimittel abgeben, müssen deshalb folgende Voraussetzungen<br />

eingehalten werden:<br />

16


1. Das Arzneimittel wurde vom Arzt verordnet.<br />

2. Es wurde von einer öffentlichen Apotheke in die Anstalt geliefert und die in<br />

der Anstalt aufbewahrten Arzneimittel unterstehen der Aufsicht und Kontrolle<br />

eines ermächtigten Apothekers.<br />

3. Wenn immer möglich sollten die Arzneimittel in einer neutralen Form (Dosierbehälter,<br />

Pillenbox) abgegeben werden, die es ermöglicht, die Vertraulichkeit<br />

zu wahren.<br />

4. Der Aufseher beschränkt sich darauf, zu prüfen, dass die Verteilung der Dosierbehälter<br />

korrekt vorgenommen wird. Im Zweifelsfall muss er den Apotheker<br />

oder den zuständigen Arzt kontaktieren und deren Anweisungen befolgen.<br />

Kapitel 6.<br />

D. Aufgaben des Arztes im Massnahmenvollzug<br />

Die Betreuung von Häftlingen im Rahmen eines gerichtlich angeordneten Massnahmevollzugs<br />

(Art. 63 und 59 Strafgesetzbuch) gehört zu den zentralen Aufgaben<br />

der Medizin im Strafvollzug. Die gerichtliche Anordnung für den Massnahmevollzug<br />

stützt sich auf eine psychiatrische Expertise; die angeordnete Massnahme<br />

muss angemessen, verhältnismässig und durchführbar sein (Art. 56 StGB). Das bevorzugte<br />

therapeutische Setting wird im Urteil häufig mehr oder weniger detailliert<br />

beschrieben, wobei meist die Formulierung des begutachtenden Psychiaters<br />

übernommen wird. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, wieviel Handlungsspielraum<br />

dem Arzt zusteht, der den Inhaftierten im Massnahmevollzug gemäss<br />

richterlicher Anordnung betreut.<br />

Annahme des Behandlungsauftrags<br />

Der Arzt darf den Behandlungsauftrag nur annehmen, wenn er die erforderlichen<br />

Fähigkeiten hat um dessen Zielsetzungen zu erfüllen. So darf er z.B. nur dann eine<br />

psychotherapeutische Behandlung übernehmen, wenn er über die spezifischen<br />

Fachkenntnisse zur therapeutischen Behandlung des betroffenen Häftlings verfügt,<br />

andernfalls muss er den Auftrag ablehnen.<br />

Vor der Annahme eines Auftrags muss sich der Arzt bewusst sein, was dies für ihn<br />

selber und den Patienten bedeutet. Er muss insbesondere abklären, ob der Patient<br />

bereit ist, ihn vom Arztgeheimnis zu entbinden, damit er den zuständigen Behörden<br />

die für die Verlaufskontrolle der Therapiemassnahme unerlässlichen Informationen<br />

zukommen lassen kann. Idealerweise sollten die Modalitäten für die<br />

Durchführung der Therapie in diesem Kontext (Entbindung von der Schweigepflicht<br />

usw.) vorgängig festgelegt werden.<br />

17


Die Beurteilung des Patienten und seiner therapeutischen Möglichkeiten<br />

Der Arzt muss eine sorgfältige Anamnese durchführen, die therapeutischen Optionen<br />

evaluieren, einen Vorschlag für die Behandlung ausarbeiten, diesen mit<br />

dem Patienten besprechen und dessen Einverständnis einholen. Die Wahl der geeigneten<br />

Therapie basiert ausschliesslich auf medizinischen Erwägungen, es handelt<br />

sich also um eine rein ärztliche Entscheidung. Konflikte sind in dieser Situation<br />

nicht selten. Wünscht beispielsweise der Patient eine pharmakologische<br />

Behandlung zur Unterdrückung seines Geschlechtstriebs um eine Freilassung zu<br />

erwirken, darf der Arzt diese Bitte nur dann unterstützen, wenn die Behandlung<br />

medizinisch sinnvoll ist. Die pharmakologische Therapie muss wirksam sein und<br />

es dürfen keine Kontraindikationen bestehen. Die Tatsache, dass bereits im Urteil<br />

therapeutische Optionen beschrieben werden, entbindet den Arzt nicht davon,<br />

die ethischen Grundsätze zu beachten, die für jede Behandlung gelten.<br />

Es ist wichtig im Auge zu behalten, dass die Strafmassnahme ausschliesslich den<br />

Rahmen für die Durchführung eines Gerichtsentscheides festlegt. Innerhalb dieses<br />

Rahmens behält der Arzt aber alle Rechte, um eine Behandlung ausschliesslich<br />

aufgrund seiner medizinischen Beurteilung der Situation durchzuführen. Er<br />

muss den Justizbehörden darüber Rechenschaft ablegen, wie er den ihm anvertrauten<br />

Auftrag ausgeführt (oder nicht ausgeführt) hat, ohne aus den Augen zu<br />

verlieren, dass er nur bezüglich der verwendeten Mittel, nicht aber im Hinblick<br />

auf die Ergebnisse in der Pflicht steht.<br />

Kapitel 7.<br />

E. Durchführung von Zwangsbehandlungen<br />

Zwangsmassnahmen im therapeutischen Rahmen können verschiedene Formen<br />

annehmen. Es kann sich um Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, medikamentöse<br />

Sedation oder pharmakologische Behandlungen, meist mit psychotropen<br />

Substanzen, handeln, die dem Patienten ohne seine Einwilligung aufgenötigt<br />

werden. Zwangsbehandlungen dürfen nur in der im Kapitel 7. beschriebenen<br />

Notfallsituation, nach denselben Kriterien, die für nicht inhaftierte Personen gelten,<br />

durchgeführt werden. Sie müssen immer eine medizinische Indikation haben<br />

und von einem Arzt verordnet werden. Bei der Durchführung ist die Würde<br />

des Patienten zu beachten und die Massnahme muss geeignet und verhältnismässig<br />

sein. Es ist die Aufgabe des Arztes, die Indikation zu stellen und die rechtliche<br />

Abstützung sicherzustellen. Ärzte und Pflegefachpersonen dürfen keine Zwangsmassnahmen<br />

auf behördliche Anordnung hin durchführen.<br />

Da Zwangsmassnahmen nicht nur vom Patienten, sondern auch vom betreuenden<br />

Team traumatisch erlebt werden können, sollte der Entscheid – wenn immer<br />

möglich – mit dem beteiligten Team (Ärzte, Pflegefachpersonen und Sicherheitspersonal)<br />

diskutiert und von allen mitgetragen werden.<br />

18


Kapitel 9.<br />

F. Vorgehen bei Hungerstreik<br />

Im Gefängnis arbeitende Ärzte und Pflegefachpersonen sind immer wieder mit<br />

hungerstreikenden Häftlingen konfrontiert. Der Hungerstreik muss als – oftmals<br />

letzter – Protestakt einer Person verstanden werden, die sich nicht in der Lage<br />

fühlt, sich auf andere Weise Gehör zu verschaffen. Die Person im Hungerstreik<br />

will nicht sterben; sie will vor allem, dass ihre Forderung wahrgenommen wird.<br />

Sie weiss, dass ein tödlicher Ausgang möglich ist, sobald die Situation zu einem<br />

unlösbaren Konflikt eskaliert.<br />

Für die Beurteilung, welches das richtige Vorgehen ist, ist es wichtig die verschiedenen<br />

Situationen auseinander zu halten, in denen eine künstliche Ernährung<br />

(über Magensonde oder Infusion) bei einem Hungerstreikenden erwogen wird:<br />

1. Die inhaftierte Person ist urteilsfähig, sie lehnt die künstliche Ernährung ab<br />

und es liegt keine unmittelbar lebensbedrohliche Situation vor. Eine Zwangsernährung<br />

in dieser Situation wurde vom Europäischen Gerichtshof als Folter<br />

bezeichnet.<br />

2. Die inhaftierte Person ist urteilsfähig, sie lehnt die Zwangsernährung ab und<br />

eine Fortsetzung des Hungerstreiks bedeutet Lebensgefahr.<br />

3. Die inhaftierte Person ist als Folge des Hungerstreiks urteilsunfähig geworden,<br />

hat in einer gültigen Patientenverfügung die Ablehnung der künstlichen Ernährung<br />

dokumentiert und der Verzicht darauf bedeutet unmittelbare Lebensgefahr.<br />

4. Die inhaftierte Person ist urteilsunfähig (als Folge des Hungerstreiks oder aus<br />

anderen Gründen), es liegt keine gültige Patientenverfügung vor, die eine künstliche<br />

Ernährung in dieser Situation ablehnt, und der Verzicht auf künstliche Ernährung<br />

bedeutet unmittelbare Lebensgefahr.<br />

Nur in Situation 4 ist gemäss den SAMW-Richtlinien eine künstliche Ernährung<br />

medizinisch indiziert, und kann meist ohne Anwendung von Zwang durchgeführt<br />

werden. In den anderen beschriebenen Situationen stünde sie im Widerspruch zu<br />

den Richtlinien und zu den Regeln der ärztlichen Kunst.<br />

Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

(SAMW) beschreiben die Aufgaben des Arztes in der Situation eines Hungerstreiks<br />

im Kapitel 9.<br />

19


Ergänzend sind folgende Empfehlungen zu beachten:<br />

– Die inhaftierte Person im Hungerstreik soll möglichst rasch (< 24h) medizinisch<br />

evaluiert werden. Es muss geklärt werden ob sie lediglich die Nahrung<br />

verweigert oder auch die Aufnahme von Flüssigkeit. Ausserdem müssen Komorbiditäten<br />

(z.B. Diabetes, psychiatrische Erkrankung oder Niereninsuffizienz)<br />

abgeklärt werden. Im weiteren Verlauf sollte der Zustand des Patienten<br />

täglich durch eine medizinische Fachperson evaluiert werden.<br />

– Die Person im Hungerstreik muss über die Folgen des Hungerstreiks auf die<br />

körperliche und psychische Verfassung informiert werden. Risiken und Schutzmassnahmen<br />

(Flüssigkeitsaufnahme, Vitamin- und Elektrolytsubstitution)<br />

und die Risiken der Nahrungswiederaufnahme («refeeding-syndrome») sollten<br />

besprochen werden (vgl. Kap. 9.).<br />

– Der im Hungerstreik stehenden Person muss täglich Nahrung angeboten werden<br />

(vgl. Kap. 9.).<br />

– Das Vertrauensverhältnis ist Basis jeder Therapie. Aus diesem Grund ist die Klärung<br />

der Rollen und die Zusicherung, dass der Arzt und die Pflegefachpersonen<br />

unabhängig von nichtmedizinischen Autoritäten handeln wichtig. Weiterhin<br />

sollte der Person im Hungerstreik zugesichert werden, dass der Arzt, respektive<br />

die Pflegefachperson, die SAMW-Richtlinien zur Betreuung von inhaftierten<br />

Personen respektieren, insbesondere bezüglich der Wahrung der Vertraulichkeit<br />

sowie des Rechts auf Selbstbestimmung und körperliche Integrität.<br />

– Es muss sichergestellt werden, dass die inhaftierte Person den Hungerstreik<br />

aus freiem Willen beschlossen hat, ohne Druck Dritter.<br />

– Die Urteilsfähigkeit muss regelmässig (mindestens jede Woche) evaluiert werden,<br />

gegebenenfalls durch unabhängige Experten.<br />

– Spätestens wenn eine Hospitalisation erwogen wird, soll auf die Möglichkeit<br />

einer Patientenverfügung hingewiesen werden.<br />

Kapitel 6.<br />

G. Pflichten bei der Ausschaffung<br />

Das Prinzip der Gleichwertigkeit der Behandlung gilt auch während der Ausschaffungshaft.<br />

Es beinhaltet die Verpflichtung, Untersuchungen und ärztliche<br />

Behandlungen so durchzuführen, dass sie nach den Regeln der Kunst erfolgen<br />

(vgl. Kap. 2.). Die SAMW-Richtlinien äussern sich detailliert zu den Pflichten im<br />

Zusammenhang mit Ausschaffungen (vgl. Kap. 6.). Sie halten insbesondere auch<br />

fest, dass der Arzt keine medizinische Verantwortung übernehmen darf und jede<br />

weitere Mitwirkung verweigern muss, wenn er zur Überzeugung gelangt, dass die<br />

eingesetzten Mittel für den Patienten eine unmittelbare und erhebliche gesundheitliche<br />

Gefahr darstellen.<br />

20


Nach wie vor werden Personen, die sich gegen eine Ausschaffung wehren, mittels<br />

Kabelbinder speziell gefesselt (Rückschaffung Level IV). Gestützt auf die EU-<br />

Rückführungsrichtlinie 9 muss seit dem 1. Januar 2011 ein unabhängiger Beobachter<br />

die Ausschaffung überwachen. Zudem sollen ein Arzt (mit Notfallausbildung)<br />

und allenfalls ein Rettungssanitäter als Begleitpersonen die medizinische Versorgung<br />

der inhaftierten Person gewährleisten. Aufgrund der Fesselung ist eine klinische<br />

Beurteilung dieser Person jedoch schwierig. Erschwerend kommt dazu, dass<br />

in vielen Fällen die Vorakten oder medizinischen Untersuchungen ungenügend<br />

sind, da in der Ausschaffungshaft nur Nothilfe vergütet wird. Die Feststellung der<br />

Transportfähigkeit des Ausschaffungshäftlings, die medizinische Betreuung während<br />

der Ausschaffung sind ärztliche Aufgaben, die lege artis erfolgen müssen. Unter<br />

Umständen, die eine medizinische Beurteilung und Behandlung beeinträchtigen<br />

oder ausschliessen, hat der Arzt die moralische und rechtliche Verpflichtung<br />

die Begleitung der Ausschaffung zu verweigern.<br />

9 Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG).<br />

21


Referenzdokumente<br />

Vereinte Nationen<br />

Body of Principles for the Protection of All Persons under Any Form of Detention<br />

or Imprisonment.<br />

Adopted 1989. www.2.ohchr.org/english/law/bodyprinciples.htm<br />

Istanbul Protocol Manual on the Effective Investigation and Documentation of Torture<br />

and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment.<br />

1999. www.ohchr.org/Documents/Publications/training8Rev1en.pdf<br />

Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners.<br />

Adopted 1955. www2.ohchr.org/english/law/treatmentprisoners.htm<br />

Resolution 37/194, 1982: Principles of Medical Ethics relevant to the role of health<br />

personnel, particularly physicians, in the protection of prisoners and detainees against<br />

torture, and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment.<br />

Adopted 1982. www.cirp.org/library/ethics/UN-medical-ethics<br />

Europarat<br />

Recommendation Rec(2006)2 on the European Prison Rules.<br />

wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=955747<br />

Recommendation R(98)7 of the Committee of Ministers to member states on the<br />

ethical and organisational aspects of health care in prison.<br />

Council of Europe Publishing. Strasbourg 1999. https://wcd.coe.int/com.instranet.<br />

InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=530914&SecMode=1&Do<br />

cId=463258&Usage=2<br />

European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman<br />

or Degrading Treatment or Punishment (CPT)<br />

The CPT standards. CPT/Inf/E (2002)1-Rev.<br />

2009. www.cpt.coe.int/en/documents/eng-standards.pdf<br />

Weltärztevereinigung ( World Medical Association)<br />

Declaration of Tokyo. Guidelines for Physicians Concerning Torture and<br />

Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment in Relation to<br />

Detention and Imprisonment.<br />

Tokyo 1975 revised Divonee-les-Bains 2005. www.wma.net/en/20activities/10ethics/20tokyo/<br />

Declaration on Hunger Strikers.<br />

Malta 1991, revised Marbella 1992, revised Pilanesberg 2006.<br />

www.wma.net/en/30publications/10policies/h31/<br />

Statement on Body Searches of Prisoners.<br />

Budapest 1993, revised Divonee-les-Bains 2005. www.wma.net/en/30publications/10policies/b5/<br />

Declaration Concerning Support for Medical Doctors Refusing to Participate in, or to<br />

Condone, the Use of Torture or Other Forms of Cruel, Inhuman or Degrading Treatment.<br />

Hamburg 1997. www.wma.net/en/30publications/10policies/c19/<br />

22


Resolution on the Responsibility of Physicians in the Denunciation of Acts of Torture<br />

or Cruel or Inhuman or Degrading Treatment of Which They Are Aware.<br />

Helsinki 2003. www.wma.net/en/30publications/10policies/t1/<br />

Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger<br />

(International Council of Nurses) (ICN)<br />

Nurses’ role in the care of detainees and prisoners.<br />

Adopted 1998, revised 2006. www.icn.ch/images/stories/documents/publications/position_<br />

statements/A13_Nurses_Role_Detainees_Prisoners.pdf<br />

ICN code of ethics for nurses.<br />

13.11. 2009. www.icn.ch/about-icn/code-of-ethics-for-nurses/<br />

Literatur zur Umsetzung der Richtlinien<br />

Binswanger IA, Krueger PM, Steiner JF.<br />

Prevalence of chronic medical conditions among jail and prison inmates in the USA compared with<br />

the general population. J. Epidemiol Community Health. 2009; 63: 912 – 9.<br />

Fazel S, Baillargeon J.<br />

The health of prisoners. Lancet. 2011; 377: 956 – 65.<br />

Fazel S, Danesh J.<br />

Serious mental disorder in 23000 prisoners: a systematic review of 62 surveys.<br />

Lancet. 2002; 359: 545 – 50.<br />

Gravier B, Iten A.<br />

Epidémiologie et prévention des infections dans les prisons de Suisse romande. Rapport au FNS.<br />

2005; Lausanne.<br />

Harding TW.<br />

La santé en milieu carcéral. Bulletin d‘information pénitentiaire. 1987; 10: 10 – 12.<br />

Jurgens R, Ball A, Vester A.<br />

Interventions to reduce HIV transmission related to injecting drug use in prison. Lancet Infect<br />

Dis. 2009; 9: 57 – 66.<br />

Kind C.<br />

Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen – wo stehen wir heute? In: Guillod O, Sprumont D<br />

(Hrsg.). Rapports entre médecins et autorités: indépendance ou collaboration? 2011; 153 ff.<br />

Rüetschi D.<br />

Ärztliches Standesrecht in der Schweiz – Die Bedeutung der Medizin-ethischen Richtlinien der<br />

schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. In: Die Privatisierung des Privatrechts<br />

– rechtliche Gestaltung ohne staatlichen Zwang. Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler<br />

2002; 231– 55.<br />

Sprumont D, Schaffter G, Hostettler U, Richter M, Perrenoud J.<br />

Pratique médicale en milieu de détention. Effectivité des directives de l’Académie Suisse des<br />

Sciences Médicales sur l’Exercice de la Médecine auprès de Personnes Détenues. Mai 2009.<br />

www.unine.ch/ids/.<br />

Wolff H, Sebo P, Haller DM, Eytan A, Niveau G, Bertrand D, Getaz L, Cerutti B.<br />

Health problems among detainees in Switzerland: a study using the ICPC-2 classification.<br />

BMC Public Health. 2011; 11: 245.<br />

23


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 3. Dezember 1999 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Ausübung der ärztlichen<br />

Tätigkeit bei inhaftierten Personen beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Dr. Jean-Pierre Restellini, Genf, Präsident<br />

Dr. Daphné Berner-Chervet, Neuenburg<br />

Kdt. Peter Grütter, Zürich<br />

Prof. Olivier Guillod, Neuenburg<br />

Dr. Joseph Osterwalder, St. Gallen<br />

Dr. Fritz Ramseier, Königsfelden<br />

Dr. Ursula Steiner-König, Lyss<br />

André Vallotton, Lausanne<br />

Prof. Michel Vallotton, Genf, Präsident ZEK<br />

Dominique Nickel, Bâle, ex officio<br />

Vernehmlassung<br />

Am 29. November 2001 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser<br />

Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 28. November 2002 vom<br />

Senat der SAMW genehmigt.<br />

Umsetzung der Richtlinien<br />

Die «Hinweise zur praktischen Umsetzung der Richtlinien» im <strong>Anhang</strong> wurden am 20. Januar<br />

2012 von der Zentralen Ethikkommission der SAMW genehmigt. Die Erarbeitung erfolgte durch<br />

eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Christian Kind mit folgenden Mitgliedern:<br />

Dr. Bidisha Chatterjee, Dr. Monique Gauthey, Prof. Bruno Gravier, Prof. Samia Hurst, Dr. Fritz Ramseier,<br />

lic. iur. Michelle Salathé, Anna Schneider Grünenfelder, Prof. Dominique Sprumont, Marianne<br />

Wälti-Bolliger, Dr. Hans Wolff.<br />

Anpassung<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht, Art. 360 ff.; Änderung vom 19. Dezember 2008).<br />

24


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

T +41 61 269 90 30<br />

mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. und 2. Auflage 2000<br />

3. Auflage 500 D, 600 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst<br />

geschädigten Langzeitpatienten<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 27. November 2003<br />

Die deutsche Version ist die Stammversion.<br />

I. Präambel 2<br />

II. Richtlinien 3<br />

1. Geltungsbereich 3<br />

1.1. Beschreibung der Patientengruppen 3<br />

1.2. Abgrenzung zu den Sterbenden 4<br />

2. Patientenrechte 5<br />

2.1. Grundsatz 5<br />

2.2 Patientenverfügung 5<br />

2.3. Vertretung 5<br />

3. Entscheidungsprozesse 6<br />

4. Behandlung und Betreuung 6<br />

4.1. Grundsatz 6<br />

4.2. Therapeutische Massnahmen 7<br />

4.3. Palliation und Pflege 7<br />

4.4. Flüssigkeit und Nahrung 7<br />

III. Kommentar 8<br />

IV. Empfehlungen zuhanden der zuständigen Gesundheitsbehörden 10<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 10<br />

d_RL PVS.doc 1


I. Präambel<br />

Zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten 1 sind Menschen, bei welchen krankheitsoder<br />

verletzungsbedingte Hirnschädigungen zu einem langdauernden Zustand persistierender<br />

Bewusstlosigkeit oder schwerster Beeinträchtigung des Bewusstseins mit höchstwahrscheinlich<br />

irreversiblem Verlust der Kommunikationsfähigkeit geführt haben. Ein Wiedererlangen<br />

des Bewusstseins oder selbstständiger Willensäusserungen ist kaum mehr zu<br />

erwarten.<br />

Zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten haben die Fähigkeit zur Selbstbestimmung<br />

verloren. Andere müssen für sie entscheiden; dabei sind die Persönlichkeitsrechte zu<br />

wahren.<br />

Die stellvertretende Wahrnehmung der Interessen eines zerebral schwerst geschädigten<br />

Langzeitpatienten ist heikel und die Entscheidungsprozesse sind komplex. Idealerweise liegt<br />

eine aktuelle, genügend detaillierte Patientenverfügung vor. Fehlt diese, muss der mutmassliche<br />

Wille des Patienten ermittelt und berücksichtigt werden. Eine zusätzliche<br />

Schwierigkeit ergibt sich aus der Unsicherheit der Prognose. Während bei<br />

verletzungsbedingten Hirnschädigungen auch bei einem längerandauernden bewusstlosen<br />

Zustand mit einer Erholung gerechnet werden darf, ist bei krankheitsverursachten<br />

schwersten Hirnschädigungen die Prognose wesentlich ungünstiger, doch kann auch in<br />

diesen Fällen keine definitive Aussage gemacht werden.<br />

Aus dieser Unsicherheit der Prognose ergeben sich für das betreuende Team (Ärzte, Pflegende<br />

und Therapeuten) häufig schwierige ethische Fragen, vor allem, wenn der Wille des<br />

Patienten unbekannt oder nicht eindeutig ist. Insbesondere bei interkurrent auftretenden<br />

Komplikationen stellt sich die Frage nach der Fortsetzung einer bereits eingeleiteten Behandlung<br />

und jene nach der Aufnahme neuer therapeutischer Massnahmen. Die vorliegenden<br />

Richtlinien sollen bei diesen Entscheiden eine Hilfe sein und zur Qualität der Pflege und<br />

Betreuung beitragen.<br />

1 Im Interesse der leichteren Lesbarkeit des Textes wird in der Folge durchwegs die männliche<br />

Bezeichnung von Personen verwendet. Die entsprechenden Texte betreffen immer auch die<br />

weiblichen Angehörigen der genannten Personengruppen.<br />

d_RL PVS.doc 2


II.<br />

Richtlinien<br />

1. Geltungsbereich<br />

Schwerste Hirnschädigungen mit anhaltendem, nicht behandelbarem Verlust der Kommunikationsfähigkeit<br />

lassen sich in drei Hauptgruppen aufteilen:<br />

• Der persistierende vegetative Status (PVS, Wachkoma): Ein komatöser Zustand nach<br />

krankheits- oder verletzungsbedingter, meist hypoxischer Hirnschädigung kann in einen<br />

«vegetativen Status», einen «Wachzustand ohne fassbare Wahrnehmung» übergehen.<br />

Dauert der vegetative Status länger als einen Monat (diagnostischer Begriff mit Blick auf<br />

die bisherige Situation), spricht man vom «persistierenden vegetativen Status» (PVS); ist<br />

dieser höchstwahrscheinlich irreversibel geworden (prognostischer Blick), spricht man<br />

vom «permanenten vegetativen Status».<br />

• Schwerste degenerative Hirnerkrankungen im Spätstadium (z.B. Alzheimerkrankheit):<br />

Diese sind charakterisiert durch schwersten kognitiven Abbau 2 (Wortschatz auf einzelne<br />

Worte reduziert, keine verbale Kommunikation mehr möglich, Verlust der motorischen<br />

Fertigkeiten, in allen Belangen auf Pflege angewiesen); andere Ursachen wurden vorgängig<br />

differentialdiagnostisch ausgeschlossen.<br />

• Schwerste bei Geburt vorliegende oder in der frühen Kindheit erworbene Hirnschädigungen:<br />

Das Hirn ist durch einen hypoxisch-ischämischen, traumatischen, infektiösen<br />

oder metabolischen Prozess oder durch Fehlbildung so schwer geschädigt, dass die<br />

Erlangung kommunikativer Fähigkeiten und einer minimalen Selbstständigkeit nicht<br />

erwartet werden kann.<br />

Trotz dieser unterschiedlichen Diagnosen bestehen Gemeinsamkeiten in der Behandlung<br />

und Betreuung dieser Patienten. Wo für eine bestimmte Patientengruppe besondere<br />

Regelungen gelten, werden diese in den Richtlinien speziell erwähnt.<br />

1.1. Beschreibung der Patientengruppen<br />

1.1.1 Persistierender vegetativer Status (PVS)<br />

Unter «vegetativem Status» wird ein totaler Verlust der erkennbaren Wahrnehmungsfähigkeit<br />

von sich selbst und von der Umgebung verstanden. Die noch teilweise oder vollständig<br />

erhaltenen Funktionen von Hypothalamus und Hirnstamm reichen – zusammen mit medizinischer<br />

und pflegerischer Unterstützung – zum Überleben aus. Zeichen von wiederholten,<br />

reproduzierbaren, willentlich gerichteten Antworten auf visuelle, auditorische, taktile und<br />

schmerzende Stimuli fehlen; ebenso sind keine Zeichen von sprachlichem Verständnis oder<br />

Ausdruck vorhanden. Es besteht Darm- und Blaseninkontinenz. Teilweise erhalten sind dagegen<br />

die Hirn- (pupillar, oculocephal, corneal, vestibulo-ocular) und Spinalreflexe sowie ein<br />

Schlaf-Wach-Rhythmus.<br />

2 vgl. hierzu Reisberg B. Functional assessment staging (FAST). Psychopharmacol Bull 1988; 24 (4):<br />

653-9, Stufe 7.<br />

3


1.1.2 Neurodegenerative Erkrankungen<br />

Diese Patienten haben einen weitestgehenden Verlust der kognitiven Fähigkeiten auf Grund<br />

einer schweren degenerativen Hirnschädigung erlitten und bleiben über Monate in einem<br />

stationären Zustand. Dies kann im Wesentlichen in den Spätstadien der Alzheimerkrankheit,<br />

der Parkinsonkrankheit mit Demenz, der frontotemporalen Demenzerkrankung, fortgeschrittener<br />

Chorea Huntington und bei vaskulärer Demenz eintreten 3 . In der Regel verlaufen<br />

andere neurodegenerative Erkrankungen verhältnismässig rasch progredient und betreffen<br />

die Kognition erst in einem terminalen Stadium. Erst wenn die Kommunikationsfähigkeit<br />

verloren gegangen und eine erkennbare Wahrnehmung nicht mehr vorhanden ist, kommen<br />

die vorliegenden Richtlinien zur Anwendung.<br />

1.1.3 Bei der Geburt vorliegende oder in früher Kindheit erworbene Hirnschädigung<br />

Die Situation bei Kindern weist altersabhängig drei ethisch relevante Besonderheiten auf.<br />

Diese sind bei Neugeborenen und Säuglingen besonders stark ausgeprägt:<br />

1. Die Schädigung des Hirns betrifft ein sich entwickelndes Zentralnervensystem. Dies erschwert<br />

einerseits die Abschätzung des Ausmasses einer aktuellen funktionellen Schädigung,<br />

da bei Neugeborenen und Säuglingen viele Funktionen noch nicht manifestiert<br />

werden. Andererseits besteht auch ein viel grösseres Spektrum der möglichen funktionellen<br />

Erholung infolge der sehr grossen Plastizität des kindlichen Nervensystems. Prognosen<br />

sind deshalb immer durch eine erhebliche Unsicherheitsspanne gekennzeichnet.<br />

2. Es gibt keine Hinweise auf einen mutmasslichen Willen bezüglich der medizinischen Behandlung.<br />

Bei angeborenen Schädigungen gibt es auch keinerlei biographische Anhaltspunkte<br />

für Vermutungen zur subjektiven Einschätzung der Lebensqualität durch den<br />

Patienten.<br />

3. Kinder sind biologisch, psychisch, sozial und rechtlich in höchstem Mass von ihren Eltern<br />

abhängig. Die Folgen medizinischer Behandlungsentscheide bei ungünstiger Prognose<br />

betreffen die Eltern sehr direkt und unter Umständen lebenslänglich.<br />

Diese Besonderheiten verunmöglichen die scharfe definitorische Abgrenzung einer Gruppe<br />

von Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern, für welche die vorliegenden Richtlinien zur<br />

Anwendung kommen sollen. Vielmehr sollte für jedes einzelne Kind, bei dem durch eine<br />

schwere Hirnschädigung die Entwicklung zur Kommunikationsfähigkeit und zu einer minimalen<br />

Selbstständigkeit in Frage gestellt ist, aufgrund seiner individuellen Prognose darüber<br />

entschieden werden, ob eine Modifikation des Therapiezieles im Sinne dieser Richtlinien<br />

angemessen ist. Dabei ist der voraussehbare Gewinn an Lebensfreude, Beziehungsmöglichkeiten<br />

und Erlebnisfähigkeit, der einem Kind durch eine volle medizinische Therapie<br />

ermöglicht werden kann, gegen die Belastung abzuwägen, die in Form von Schmerzen,<br />

Diskomfort und Einschränkungen mit dieser Therapie verbunden ist.<br />

3 Bei diesen Patienten handelt es sich häufig um ältere Menschen. Vgl. hiezu auch «Behandlung und<br />

Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen», medizinisch-ethische Richtlinien und<br />

Empfehlungen der SAMW (2004).<br />

d_RL PVS.doc 4


1.2. Abgrenzung zu den Sterbenden<br />

Zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten sind mit Sterbenden nicht gleichzusetzen.<br />

Sie befinden sich noch in einem stabilisierten, aber mutmasslich irreversiblen Zustand. Interkurrent<br />

auftretende Komplikationen oder der Entscheid über einen Therapieabbruch<br />

können den Sterbeprozess jedoch in Gang setzen. Bei den Sterbenden ist die verbleibende<br />

Lebensspanne relativ kurz (Tage bis Wochen) und der terminale Prozess progredient. Die<br />

Betreuung von sterbenden Patienten wird in einer separaten Richtlinie 4 behandelt.<br />

2. Patientenrechte<br />

2.1. Grundsatz<br />

Gegenüber Langzeitpatienten mit schwerster Hirnschädigung besteht die Pflicht, in jeder<br />

Weise zu helfen und Leiden zu lindern. Die Pflicht zur Lebenserhaltung unterliegt jedoch<br />

Einschränkungen. Vorrangig massgebendes Kriterium für Entscheide, auf lebenserhaltende<br />

Massnahmen zu verzichten oder sie abzubrechen, ist der Patientenwille.<br />

2.2. Patientenverfügung<br />

Jede Person kann im Voraus Bestimmungen verfassen im Hinblick auf medizinische Behandlung<br />

und Pflege, die sie zu erhalten wünscht oder ablehnt, falls sie nicht mehr urteilsfähig<br />

5 wäre (Patientenverfügung). Patientenverfügungen sind zu befolgen, solange keine<br />

konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese dem derzeitigen Willen des Patienten<br />

nicht mehr entsprechen. Sie gelten umso eher, je klarer sie formuliert sind, je kürzer die<br />

Unterzeichnung zurückliegt und je besser der Patient die eingetretene Situation antizipiert<br />

hat.<br />

Fehlt eine Patientenverfügung, so muss versucht werden, den mutmasslichen Willen des<br />

Patienten zu ermitteln. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, wie er in seinem bisherigen<br />

Leben gedacht und gehandelt hat und welches seine Präferenzen waren. Informationen<br />

darüber sollten von den Angehörigen und allfälligen weiteren Personen (z.B. Hausarzt)<br />

eingeholt werden.<br />

4 Die «Medizinisch-ethischen Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst<br />

geschädigter Patienten» aus dem Jahre 1995 wurden nicht nur für den Bereich der zerebral schwerst<br />

geschädigten Patienten überarbeitet, sondern in einer separaten Subkommission auch für den<br />

Bereich der Sterbenden («Betreuung von Patienten am Lebensende», medizinisch-ethische<br />

Richtlinien der SAMW, 2004). Relevant sind auch die «Medizinisch-ethischen Richtlinien zu<br />

Grenzfragen der Intensivmedizin» aus dem Jahre 1999 sowie die «Medizinisch-ethischen Richtlinien<br />

zur Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen».<br />

5 Urteilsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, sich Urteil und Wille zu bilden<br />

sowie die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern. Zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten<br />

erfüllen diese Voraussetzungen nicht (mehr).<br />

5


2.3. Vertretung<br />

Jede Person kann auch im Voraus eine bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen<br />

Angelegenheiten (nachfolgend: «Vertrauensperson») bezeichnen, welche an ihrer Stelle die<br />

Zustimmung zu medizinischen, pflegerischen und/oder therapeutischen Massnahmen<br />

erteilen soll, falls sie selbst nicht mehr urteilsfähig wäre. Unter Berücksichtigung einer<br />

allfälligen Patientenverfügung muss im Einverständnis mit einem gesetzlichen Vertreter bzw.<br />

der bezeichneten Vertrauensperson entschieden werden. Falls der Entscheid des<br />

gesetzlichen Vertreters bzw. der Vertrauensperson dem mutmasslichen Willen des Patienten<br />

zu widersprechen scheint, soll der zuständige Arzt die Vormundschaftsbehörde einbeziehen.<br />

Gibt es weder gesetzlichen Vertreter noch Vertrauensperson, oder ist in einer Notfallsituation<br />

eine Rückfrage nicht möglich, haben der Arzt, die Pflegenden und die Therapeuten ihre<br />

Entscheide im interdisziplinären Austausch, gemäss dem wohlverstandenen Interesse und<br />

dem mutmasslichen Willen der betroffenen Person, zu treffen.<br />

Bei Unmündigen gilt grundsätzlich der Wille des gesetzlichen Vertreters; in der Regel sind<br />

dies die Eltern. Diese sind bei Entscheidungen über Leben und Tod jedoch oft überfordert.<br />

Entscheide über die Behandlung und Betreuung sind im besten Interesse des Kindes im<br />

Konsens mit den Eltern bzw. den gesetzlichen Vertretern zu treffen. Ist bei lebenswichtigen<br />

Entscheiden ein Konsens nicht zu erreichen, so ist die Vormundschaftsbehörde beizuziehen.<br />

3. Entscheidungsprozesse<br />

Der Prozess der Entscheidungsfindung verdient besondere Aufmerksamkeit. Im Hinblick auf<br />

eine Entscheidung müssen zuständiger Arzt oder Pflegeperson abklären, ob der Patient eine<br />

Patientenverfügung verfasst hat, ob ein gesetzlicher Vertreter bestimmt oder eine<br />

Vertrauensperson bezeichnet ist. Grundlage der Entscheidung über Ziele (und Ort) der Behandlung<br />

und Betreuung sind der Zustand und die Prognose bezüglich Lebensdauer und<br />

-qualität sowie die Persönlichkeit und der mutmassliche Wille des Patienten. In die Entscheidungsprozesse<br />

ist die Erfahrung und Sicht der nächsten Bezugspersonen des Patienten<br />

sowie des Pflegeteams miteinzubeziehen. Die so getroffenen Entscheide sollten von<br />

allen beteiligten Personen akzeptiert und möglichst mitverantwortet werden können.<br />

Klinische Ethikkommissionen 6 können für die Entscheidungsfindung beigezogen werden. Die<br />

letzte Entscheidung bleibt beim direkt verantwortlichen Arzt. Entscheide, welche zum<br />

Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen führen, müssen protokolliert werden, so dass<br />

sie auch im Nachhinein noch nachvollziehbar sind.<br />

6 Mit klinischer Ethikkommission sind nicht die «Forschungsethikkommissionen» gemeint, die klinische<br />

Arzneimittelversuche beurteilen, sondern an den Spitälern bestehende Ethikkommissionen, -foren<br />

usw., welche sich mit schwerwiegenden, ethischen Entscheiden im Einzelfall befassen.<br />

d_RL PVS.doc 6


4. Behandlung und Betreuung<br />

4.1. Grundsatz<br />

Die therapeutischen Ziele bestimmen das Vorgehen. Palliativbetreuung und -pflege müssen<br />

frühzeitig und parallel zu den übrigen therapeutischen Massnahmen eingeleitet und unabhängig<br />

davon weitergeführt werden. Der angemessene Einsatz der zur Verfügung stehenden<br />

Mittel ist prinzipiell geboten, hat der guten klinischen Praxis zu entsprechen und ist periodisch<br />

zu überprüfen. Im Einzelfall dürfen ökonomische Überlegungen weder zum Verzicht<br />

auf eine Massnahme noch zu deren Abbruch führen.<br />

4.2. Therapeutische Massnahmen<br />

Die therapeutischen Massnahmen ergeben sich aus dem Behandlungsziel. Es gibt Situationen,<br />

in denen sonst angemessene Diagnostik- und Therapieverfahren nicht mehr indiziert<br />

sind, sondern Begrenzung geboten ist. In speziellen Situationen muss der zeitlich befristete<br />

Einsatz von therapeutischen Massnahmen erwogen werden. Eine Änderung des Behandlungsziels<br />

kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist,<br />

so dass eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert. Unter diesen Umständen<br />

ist der Einfluss der therapeutischen Massnahmen auf die Lebenserhaltung und -qualität zu<br />

berücksichtigen. Auf invasive und aufwändige Therapiemassnahmen kann eher verzichtet<br />

werden als auf schonende und einfache. Mit dem Zurücknehmen von kurativtherapeutischen<br />

Massnahmen findet eine Verschiebung Richtung Pflege, Palliation und<br />

Begleitung statt.<br />

4.3. Palliation und Pflege<br />

Zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten haben stets auch ein Recht auf adäquate<br />

palliative Massnahmen. Es handelt sich dabei weitgehend um präventive, Komfort vermittelnde<br />

Massnahmen (Medizin, Pflege, Physiotherapie, usw.). Da diese Patienten ihre Befindlichkeit<br />

nicht mitteilen können, kann nicht auf Beschwerden reagiert werden. Darum muss<br />

proaktiv nach Zuständen gesucht werden, die aufgrund der klinischen Erfahrung zu Klagen<br />

Anlass geben würden. Mit palliativer Zielsetzung sollen Massnahmen auch dann angewendet<br />

werden, wenn dadurch die Lebensdauer verkürzt wird. Zur Palliation gehört wesentlich<br />

auch die Begleitung und Beratung der dem Patienten nahestehenden Personen.<br />

Zur Pflege gehört das Erhalten der körperlichen Integrität bzw. die Vermeidung zusätzlicher<br />

Schäden sowie das Erhalten der Beweglichkeit und des Aussehens des Patienten. Pflege<br />

soll so kontinuierlich wie möglich angeboten werden. Dies erleichtert den Kontakt zum Patienten<br />

und schafft die Möglichkeit, den Patienten und seine Angehörigen näher kennen zu<br />

lernen.<br />

4.4. Flüssigkeit und Nahrung<br />

Ohne gegenteilige direkte oder indirekte Willensäusserung ist die adäquate Zufuhr von<br />

Flüssigkeit und Nahrung (enteral oder parenteral) bei klinisch stabilen Patienten<br />

weiterzuführen. Treten im Zusammenhang damit Komplikationen auf, muss die Situation neu<br />

geprüft werden. Die Indikation zur Neuaufnahme einer enteralen Sondenernährung sollte<br />

sorgfältig geprüft werden.<br />

7


Bei Neugeborenen darf auf Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nur verzichtet werden, wenn<br />

die Etablierung einer enteralen Ernährung mit grossen, belastenden Eingriffen verbunden<br />

oder überhaupt nicht möglich ist.<br />

Von einer Zufuhr von Flüssigkeit ohne gleichzeitige Nahrung ist grundsätzlich abzusehen. In<br />

terminalen Situationen kann die alleinige Flüssigkeitszufuhr gerechtfertigt sein oder es kann<br />

sogar -– im Konsens mit dem Team und den Angehörigen – auf die Flüssigkeitszufuhr verzichtet<br />

werden.<br />

d_RL PVS.doc 8


III.<br />

Kommentar<br />

Ad Präambel<br />

Die vorliegenden Richtlinien sollen Institutionen, die zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten<br />

betreuen, als Grundlage für interne Leitlinien dienen, welche den regionalen<br />

und kulturellen Gegebenheiten Rechnung tragen. Sie sollen helfen, für den Patienten im Einzelfall<br />

die richtige Entscheidung über die Behandlung und Betreuung zu treffen, ohne diese<br />

zu präjudizieren.<br />

Ad 1. (Geltungsbereich)<br />

Die Langzeitprognose und die Feststellung der Irreversiblität eines «persistierenden vegetativen<br />

Status» sind äusserst schwierig; sie sind unter anderem abhängig vom Alter des Patienten,<br />

von der bisherigen Dauer des Zustandes, von Begleiterkrankungen sowie insbesondere<br />

von der Ursache der ursprünglichen Hirnschädigung 7 . So bleiben Erholungschancen<br />

beim PVS nach Schädel-Hirntrauma länger, d.h. weit über ein Jahr hinaus, erhalten<br />

als nach krankheitsbedingter Hirnschädigung. Im ersten Fall müssen unterstützende<br />

Massnahmen mit Geduld über längere Zeit fortgesetzt werden. Fragen eines möglichen Therapieverzichtes/-abbruches<br />

und/oder der Verlegung sollen frühzeitig, aber ohne Eile in Betracht<br />

gezogen werden.<br />

Ad 2. ( Patientenrechte)<br />

Die juristische Situation bei einwilligungsunfähigen Patienten ist komplex. Unsicherheiten<br />

bestehen insbesondere darüber, wie weit das Vertretungsrecht geht und wer anstelle eines<br />

urteilsunfähigen Patienten handeln darf, wenn kein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist.<br />

Hierzu gibt es zudem unterschiedliche kantonale Regelungen. In einigen Kantonen wird dem<br />

Arzt ein Entscheidungsrecht eingeräumt. In anderen Kantonen besteht aufgrund der<br />

kantonalen gesetzlichen Regelung oder bei Fehlen einer solchen aufgrund des Bundesrechtes<br />

im Prinzip die Verpflichtung, einen Vertretungsbeistand zu ernennen. Unter den aktuellen<br />

Rahmenbedingungen (z.B. Verfügbarkeit von Personal in den Vormundschaftsbehörden)<br />

ist es nicht praktikabel und nicht sinnvoll, in jedem Fall eine gesetzliche Vertretung<br />

anzufordern. Im Hinblick auf die mittelfristige Umsetzung des Prinzips der Einwilligung<br />

eines vom Patienten eingesetzten Vertreters (wie sie z.B. auch die Bioethik-Konvention vorsieht)<br />

erwähnt die Richtlinie bewusst auch die Möglichkeit der Bezeichnung einer Vertrauensperson.<br />

Ad 3. (Entscheidungsprozesse)<br />

Zu jeder Entscheidung gehören eine Zieldefinition, die Konsenssuche mit allen Beteiligten,<br />

eine regelmässige Überprüfung, ob das Ziel erreicht bzw. noch adäquat ist und wesentlich<br />

auch die Klärung der Konsequenzen des Entscheids für alle Beteiligten (z.B. Behandlung<br />

neu auftretender Krankheiten und Komplikationen, Verlegung in eine andere Institution,<br />

Schwierigkeiten für Angehörige bei Besuchen usw.). Solche Entscheidungsprozesse<br />

benötigen die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen von Raum und Zeit. Entscheidungsprozesse<br />

sollen wenn immer möglich nach einer verbindlichen internen Richtlinie durchgeführt<br />

werden.<br />

7 The Multi-Society Task Force on PVS, «Medical Aspects of the persistent vegetative state», Part I:<br />

NEJM 1994; 330: 1499-1508; Part II: NEJM 1994; 330; 1572-1579<br />

9


Ad 4.1. (Behandlung und Betreuung: Grundsatz)<br />

Angemessenheit bedeutet, unter Abwägung der Vor- und Nachteile für den Patienten und in<br />

Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Ressourcen den optimalen Weg zwischen<br />

«therapeutischem Übereifer» («acharnement thérapeutique») und «therapeutischem Nihilismus»<br />

zu suchen.<br />

Aufgrund der nicht unbegrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen ist die periodische<br />

Überprüfung der zur Verfügung stehenden Mittel wichtig. Die Entscheidverantwortlichen<br />

haben in ihrem Bereich Mitverantwortung für deren gerechte Verteilung.<br />

Ad 4.3. (Behandlung und Betreuung: Palliation und Pflege)<br />

Neben der regelmässigen klinischen Untersuchung, der gezielten Suche nach Nebenwirkungen<br />

laufender Therapien und der Überwachung vegetativer Parameter, die auf Beschwerden<br />

(z.B. Schmerz) hindeuten können, sind auch die Beobachtungen und die Intuition<br />

jener Personen ernst zu nehmen, die viel Zeit beim Patienten verbringen (Angehörige,<br />

Pflegende). Der Wert mancher Massnahmen kann am ehesten beurteilt werden, wenn sie<br />

versuchsweise eingesetzt werden (ex juvantibus). Im Patientenzimmer soll eine ruhige,<br />

warme Atmosphäre herrschen; Kontakte sollen möglichst erhalten werden; die Akzeptanz<br />

der Dauer des vegetativen Zustandes und allenfalls eines Therapieabbruches soll reifen<br />

können; Angehörige sollen das Geschehen in ihren eigenen Lebensentwurf integrieren<br />

können.<br />

Ad 4.4. (Behandlung und Betreuung: Flüssigkeit und Nahrung)<br />

Beim Demenzkranken, der aufgrund seiner Erkrankung die Nahrung nicht mehr adäquat<br />

schluckt, ist eine Schluckstörung oder gastrointestinale Pathologie (Mund, Rachen, Oesophagus,<br />

Magen) auszuschliessen. Das oft beobachtete Verhalten von Dementen, die Nahrung<br />

zu verweigern, ist nach zumutbarer Diagnostik zum Ausschluss einer einfach behandelbaren<br />

Störung als verbindliche Willensäusserung zu werten.<br />

Im Rahmen der palliativen Massnahmen sollen aber Nahrung und Flüssigkeit immer wieder<br />

angeboten werden.<br />

Bei Neugeborenen darf, wenn eine enterale Ernährung durch wenig belastende Massnahmen<br />

(z.B. nasale Magensonde, perkutane Gastrostomie, operative Korrektur einer Duodenalatresie)<br />

möglich ist, angesichts der immer unsicheren Prognose auf die Zufuhr von<br />

Nahrung und Flüssigkeit nicht verzichtet werden. Wo hingegen eine enterale Ernährung nur<br />

um den Preis grosser, belastender Eingriffe oder überhaupt nicht möglich ist, kann der Verzicht<br />

auf jegliche Kalorien- und Flüssigkeitszufuhr unter optimaler Sedation und ständiger<br />

menschlicher Nähe gerechtfertigt sein. Grundsätzlich gelten diese Erwägungen auch für Erwachsene,<br />

wobei diese Frage kontrovers diskutiert wird und unterschiedliche Praxen bestehen.<br />

Die vorliegenden Richtlinien gehen davon aus, dass die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr<br />

bei chronisch Kranken noch nicht Sterbenden primär der Stabilisierung und dem Erhalt<br />

der körperlichen Integrität bzw. zur Vermeidung zusätzlicher Schäden (z.B. Dekubitus-<br />

Prophylaxe) dient.<br />

d_RL PVS.doc 10


IV.<br />

Empfehlungen zuhanden der zuständigen Gesundheits<br />

behörden<br />

Angesichts der Fortschritte bei lebenserhaltenden medizinischen Massnahmen und der hohen<br />

Anforderungen an die Pflege der Betroffenen können die vorhandenen Ressourcen an<br />

Grenzen stossen. Die Verantwortlichen des Gesundheitswesens sollten mit ihrer Politik gewährleisten,<br />

dass alle diese Patienten ohne ökonomische Rücksichten im Sinne der Richtlinien<br />

behandelt werden können. Langzeitpatienten mit schwerster Hirnschädigung haben das<br />

Recht auf Betreuung und Linderung ihres Leidens im Rahmen einer angemessenen<br />

Lebenserhaltung. Allfällige Beschränkungen der Ressourcen müssen auf gesellschaftlicher<br />

Ebene diskutiert werden.<br />

11


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Mandat<br />

Verantwortliche<br />

Subkommission<br />

Am 27. April 2001 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Behandlung<br />

und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten<br />

Langzeitpatienten<br />

Prof. Hannes Stähelin, Basel, Präsident<br />

Prof. Alberto Bondolfi, Lausanne<br />

Prof. Johannes Fischer, Zürich<br />

Prof. Andreas U. Gerber, Biel<br />

Prof. Annemarie Kesselring, Basel<br />

Prof. Christian Kind, St. Gallen<br />

Dr. Cornelia Klauser, Agno<br />

Prof. Rudolf Ritz, Binningen<br />

Lic. iur. Michelle Salathé, Basel, ex officio<br />

Dr. Noëmi de Stoutz, Ayent<br />

Prof. Günter Stratenwerth, Basel<br />

Prof. Michel Vallotton, Genf, Präs. ZEK, ex officio<br />

PD Dr. Gilbert Zulian, Collonge-Bellerive<br />

Vernehmlassung<br />

Genehmigung<br />

Am 28. November 2002 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung<br />

dieser Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 27. November<br />

2003 vom Senat der SAMW genehmigt.<br />

Impressum<br />

Gestaltung<br />

vistapoint, Basel<br />

Druck<br />

Schwabe, Muttenz<br />

1. Auflage 1000 d, 600 f<br />

2. Auflage 1000 d (Februar 2006)<br />

Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

Fax: +41 61 269 90 39<br />

E-mail: mail@samw.ch<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website www.samw.ch verfügbar.<br />

d_RL PVS.doc 12


MEDIZIN-<br />

ETHISCHE<br />

Betreuung von<br />

Patientinnen und Patienten<br />

RICHTam<br />

Lebensende<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien<br />

Betreuung von Patientinnen<br />

und Patienten am Lebensende<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 25. November 2004.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN 6<br />

1. Geltungsbereich 6<br />

2. Recht auf Selbstbestimmung 6<br />

2.1. Urteilsfähiger Patient 6<br />

2.2. Nicht urteilsfähiger Patient 6<br />

3. Behandlung und Betreuung 7<br />

3.1. Palliative Care 7<br />

3.2. Behandlungsverzicht oder -abbruch 8<br />

4. Grenzen des ärztlichen Handelns 8<br />

4.1. Beihilfe zum Suizid 9<br />

4.2. Tötung auf Verlangen 9<br />

III. KOMMENTAR 10<br />

ad 1. Geltungsbereich 10<br />

ad 2.1. Urteilsfähiger Patient 10<br />

ad 2.2. Nicht urteilsfähiger Patient 10<br />

ad 3.1. Palliative Care 11<br />

ad 3.2. Behandlungsverzicht oder -abbruch 12<br />

ad 4.1. Beihilfe zum Suizid 12<br />

IV.<br />

EMPFEHLUNGEN ZUHANDEN DER ZUSTÄNDIGEN<br />

GESUNDHEITSBEHÖRDEN 13<br />

Ressourcen 13<br />

Aus- und Weiterbildung 13<br />

V. ANHANG 16<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 16


I. PRÄAMBEL<br />

Menschen in ihrer letzten Lebensphase sind häufig besonders schutz- und hilfsbedürftig.<br />

Sie vergegenwärtigen uns die Endlichkeit der menschlichen Existenz.<br />

Entscheidungen am Lebensende stellen grosse Anforderungen vor allem an den<br />

Patienten 1 selbst, aber auch an seine Angehörigen, die Ärzte und das Betreuungsteam.<br />

Anliegen dieser Richtlinien ist es, Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen<br />

der Betreuung von Patienten am Lebensende aufzuzeigen. Das grundlegende Ziel<br />

besteht darin, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten<br />

sowie eine Unterstützung der Angehörigen zu gewährleisten.<br />

Im Unterschied zur letzten Fassung der Richtlinien von 1995 wird im Folgenden<br />

ausschliesslich auf die Situation sterbender Patienten Bezug genommen. Die<br />

Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten<br />

Langzeitpatienten wurden entsprechend erstmals separat formuliert. Da sich dennoch<br />

gemeinsame Fragen und Probleme ergeben, sei die Bedeutung dieser Richtlinien<br />

für die hier im Zentrum stehenden Fragen hervorgehoben. Das Gleiche gilt<br />

auch für die Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin und für die Richtlinien<br />

zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen.<br />

Bezüglich der speziellen Problematik der sehr unreifen Frühgeborenen sei auf die<br />

Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie 2 verwiesen.<br />

1 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

2 Vgl. die Empfehlungen «Perinatale Betreuung an der Grenze der Lebensfähigkeit zwischen 22 und 26<br />

vollendeten Schwangerschaftswochen». Schweiz Ärztezeitung. 2012; 93(4): 97 – 100..<br />

5


II.<br />

RICHTLINIEN<br />

1. Geltungsbereich 3<br />

Die Richtlinien betreffen die Betreuung von Patienten am Lebensende. Damit<br />

sind Kranke gemeint, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur<br />

Überzeugung gekommen ist, dass ein Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäss<br />

innerhalb von Tagen oder einigen Wochen zum Tod führt.<br />

Bei Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen am Lebensende gelten die gleichen<br />

Grundsätze; insoweit hier besondere Aspekte zu berücksichtigen sind, werden<br />

diese in den entsprechenden Abschnitten vermerkt.<br />

2. Recht auf Selbstbestimmung<br />

Jeder Patient hat das Recht auf Selbstbestimmung. Die frühzeitige, umfassende<br />

und verständliche Aufklärung des Patienten oder seiner Vertreter über die medizinische<br />

Situation ist Voraussetzung für die Willensbildung und Entscheidfindung.<br />

Dies bedingt eine einfühlsame und offene Kommunikation und die Bereitschaft<br />

des Arztes, die Möglichkeiten und Grenzen sowohl der kurativen Behandlung wie<br />

auch der Palliative Care zu thematisieren.<br />

2.1. Urteilsfähiger Patient<br />

Die Respektierung des Willens des urteilsfähigen Patienten ist zentral für das ärztliche<br />

Handeln. Demzufolge ist eine ärztliche Behandlung gegen den erklärten<br />

Willen des urteilsfähigen Patienten unzulässig. Dies gilt auch dann, wenn dieser<br />

Wille dessen wohlverstandenen Interessen aus der Sicht Aussenstehender zuwiderzulaufen<br />

scheint. Auch Minderjährige oder verbeiständete Personen können<br />

bezüglich Behandlungseinwilligung urteilsfähig sein.<br />

2.2. Nicht urteilsfähiger Patient<br />

Ist es dem Patienten nicht mehr möglich, seinen Willen zu äussern, muss der behandelnde<br />

Arzt sicherstellen, dass abgeklärt wird, ob eine Patientenverfügung 4<br />

vorhanden ist. Liegt eine Patientenverfügung vor, sind die darin enthaltenen<br />

Weisungen zu beachten. Hat sich der Patient in Bezug auf die in Frage stehende<br />

medizinische Massnahme nicht geäussert, so erstellt das Betreuungsteam unter<br />

3 Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder<br />

verbindliches Standesrecht.<br />

4 Vgl. auch «Patientenverfügungen». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

6


Einbezug der vertretungsberechtigten Person 5 einen Behandlungsplan. Der Arzt<br />

informiert die vertretungsberechtigte Person über alle Umstände, die im Hinblick<br />

auf die vorgesehenen medizinischen Massnahmen wesentlich sind. Der Entscheid<br />

über den Behandlungsvorschlag wird letztlich von der Vertretungsperson getroffen.<br />

Diese muss nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen des Patienten<br />

entscheiden. Damit lastet eine hohe Verantwortung auf einer emotional<br />

stark involvierten Person. Es sollte deshalb oberstes Ziel sein, bezüglich Behandlungsvorschlag<br />

einen von allen Seiten getragenen Konsens zu erzielen.<br />

Bei schwierigen Entscheiden kann eine ethische Unterstützung 6 hilfreich sein.<br />

3. Behandlung und Betreuung<br />

3.1. Palliative Care 7<br />

Patienten in der letzten Lebensphase haben ein Anrecht auf Palliative Care. Diese<br />

umfasst alle medizinischen und pflegerischen Interventionen sowie die psychische,<br />

soziale und seelsorgerliche Unterstützung von Patienten und Angehörigen,<br />

welche darauf abzielen, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität<br />

des Patienten zu gewährleisten.<br />

Eine zentrale Aufgabe des Betreuungsteams besteht in einer wirksamen Symptomtherapie.<br />

Dazu gehören auch das Eingehen auf Nöte sowie die Verfügbarkeit<br />

und die Begleitung für den Patienten und seine Angehörigen. Alle potentiell<br />

hilfreichen technischen und personellen Ressourcen (z.B. Fachpersonen für psychische,<br />

soziale und seelsorgerliche Begleitung) sollen bei Bedarf zugezogen werden.<br />

Palliative Care soll frühzeitig und überall angeboten werden, wo der Patient<br />

sich befindet (im Spital oder einer anderen Institution, zu Hause).<br />

Der Arzt ist verpflichtet, Schmerzen und Leiden zu lindern, auch wenn dies in<br />

einzelnen Fällen zu einer Beeinflussung (Verkürzung oder Verlängerung) der Lebensdauer<br />

führen sollte. Bei therapierefraktären Symptomen kann gelegentlich<br />

eine Sedation notwendig werden. Hierbei ist zu beachten, dass nur soweit sediert<br />

werden soll, als dies zur Linderung der Symptome nötig ist.<br />

5 Das Gesetz erklärt folgende Personen bei medizinischen Massnahmen als vertretungsberechtigt: In<br />

erster Linie Personen, die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet wurden<br />

(«Vertreter»), in zweiter Linie der Beistand mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,<br />

danach Angehörige und weitere Bezugspersonen, die dem Patienten regelmässig persönlich Beistand<br />

leisten (Ehe gatte bzw. eingetragener Partner, Personen im gleichen Haushalt, Nachkommen, Eltern,<br />

Geschwister). Für minderjährige Patienten sind die Inhaber der elterlichen Sorge vertretungsberechtigt.<br />

6 Vgl. «Ethische Unterstützung in der Medizin». Medizin-ethische Empfehlungen der SAMW.<br />

7 Vgl. «Palliative Care». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

7


Entscheidungen über Behandlung und Betreuung sollen, wenn immer möglich,<br />

vom Betreuungsteam und von den Angehörigen des Patienten mitgetragen werden.<br />

Wichtig ist der Einbezug der Angehörigen unter Anerkennung ihrer Doppelrolle<br />

als Betreuende und Betreute.<br />

Wünsche nach einer persönlichen Gestaltung der letzten Lebensphase sollen<br />

unterstützt werden. Die Betreuung soll auch die Begleitung der Angehörigen, in<br />

manchen Fällen über den Tod des Patienten hinaus, umfassen.<br />

Es ist für einen respektvollen Umgang mit dem Verstorbenen zu sorgen; den kulturellen<br />

und religiösen Ritualen der Hinterbliebenen soll nach Möglichkeit Raum<br />

gewährt werden.<br />

3.2. Behandlungsverzicht oder -abbruch<br />

Angesichts des Sterbeprozesses kann der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen<br />

oder deren Abbruch gerechtfertigt oder geboten sein. Bei der Entscheidfindung<br />

spielen Kriterien wie Prognose, voraussichtlicher Behandlungserfolg im Sinne der<br />

Lebensqualität sowie die Belastung durch die vorgeschlagene Therapie eine Rolle.<br />

Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern gelten grundsätzlich die gleichen<br />

Überlegungen. Erschwerend ist allerdings der Umstand, dass eine Orientierungsmöglichkeit<br />

am mutmasslichen Willen oder der Persönlichkeit entfällt.<br />

Der Einsatz belastender Massnahmen zur Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen<br />

muss deshalb vor allem von der Prognose abhängig gemacht werden. Dabei soll<br />

die Belastung durch die Therapie in Form von Schmerzen, Unwohlsein und Einschränkung<br />

gegen den durch sie voraussichtlich ermöglichten Gewinn an Wohlbefinden,<br />

Beziehungsmöglichkeiten und Erlebnisfähigkeit abgewogen werden.<br />

4. Grenzen des ärztlichen Handelns<br />

Die Respektierung des Patientenwillens stösst dann an ihre Grenzen, wenn ein<br />

Patient Massnahmen verlangt, die unwirksam oder unzweckmässig sind oder die<br />

mit der persönlichen Gewissenshaltung des Arztes, mit der ärztlichen Standesordnung<br />

oder dem geltenden Recht nicht vereinbar sind.<br />

8


4.1. Beihilfe zum Suizid<br />

Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn<br />

sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt für alle Personen.<br />

Die Rolle des Arztes besteht bei Patienten am Lebensende darin, Symptome zu lindern<br />

und den Patienten zu begleiten. Es ist nicht seine Aufgabe, von sich aus Suizidbeihilfe<br />

anzubieten, sondern er ist im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen<br />

Suizidwünschen zugrunde liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern.<br />

Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation<br />

der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und dauerhaft bestehen bleiben.<br />

In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Konflikt entstehen.<br />

Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit,<br />

weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung<br />

des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation<br />

erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung,<br />

im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren.<br />

In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. Entschliesst<br />

er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der<br />

folgenden Voraussetzungen:<br />

– Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das<br />

Lebensende nahe ist.<br />

– Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit<br />

gewünscht auch eingesetzt.<br />

– Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren<br />

Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson<br />

überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss.<br />

Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall durch den<br />

Patienten selbst durchgeführt werden.<br />

4.2. Tötung auf Verlangen<br />

Die Tötung eines Patienten ist vom Arzt auch bei ernsthaftem und eindringlichem<br />

Verlangen abzulehnen. Tötung auf Verlangen ist nach Art. 114 Strafgesetzbuch<br />

strafbar.<br />

9


III.<br />

KOMMENTAR<br />

ad 1. Geltungsbereich<br />

Gemäss dieser Definition sind Patienten am Lebensende zu unterscheiden von<br />

Patienten mit unheilbaren, progressiv verlaufenden Krankheiten, insofern sich<br />

deren Verlauf über Monate oder Jahre erstrecken kann. Mit den klinischen Anzeichen<br />

ist die Gesamtheit der Beobachtungen, zum Beispiel sich verschlechternde<br />

Vitalfunktionen, prognostisch ungünstige objektive Befunde und die Beurteilung<br />

des Allgemeinzustandes gemeint, die den Beginn des Sterbeprozesses charakterisieren.<br />

Es ist allerdings hervorzuheben, dass der Eintritt der Sterbephase nicht<br />

selten mit ärztlichen Entscheidungen zum Behandlungsabbruch oder -verzicht<br />

im Zusammenhang steht, so dass eine Abgrenzung stets mit gewissen Unschärfen<br />

verbunden bleibt.<br />

ad 2.1. Urteilsfähiger Patient<br />

Folgende Kriterien helfen, die Urteilsfähigkeit gemäss Art. 16 Zivilgesetzbuch<br />

festzustellen:<br />

– die Fähigkeit, Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung<br />

zu verstehen;<br />

– die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus<br />

alternativen Möglichkeiten ergeben, richtig abzuwägen;<br />

– die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten<br />

Wertsystems rational zu gewichten;<br />

– die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern.<br />

Die Urteilsfähigkeit wird im Hinblick auf eine bestimmte Handlung abgeschätzt<br />

(und zwar im Zusammenhang mit dem Komplexitätsgrad dieser Handlung); sie<br />

muss im Moment des Entscheides vorhanden sein.<br />

ad 2.2. Nicht urteilsfähiger Patient<br />

Die Behandlung der Einwilligung des urteilsunfähigen Patienten, welcher keinen<br />

gesetzlichen Vertreter hat und auch keine Vertrauensperson bezeichnet hat, ist<br />

auf eidgenössischer Ebene nicht ausdrücklich geregelt. Hingegen existieren auf<br />

kantonaler Ebene entsprechende gesetzliche Regelungen; diese sind jedoch uneinheitlich.<br />

Vgl. hierzu ausführlich: Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen<br />

Menschen, medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Fussnote 6.<br />

10


Handeln im mutmasslichen Willen des Patienten<br />

Der mutmassliche Wille entspricht dem Willen, den der Patient wahrscheinlich<br />

äussern würde, wenn er noch urteilsfähig wäre. Er ergibt sich aus der Bewertung<br />

aller feststellbaren Informationen wie Patientenverfügung, Ernennung einer Vertrauensperson,<br />

früher gemachten Äusserungen und anderen biographischen Hinweisen.<br />

Als Angehörige im Sinne dieser Richtlinien werden die dem Patienten<br />

nahe stehenden Personen, insbesondere Ehe- oder Lebenspartner, Kinder oder Eltern<br />

und Geschwister, bezeichnet.<br />

Handeln im wohlverstandenen Interesse des Patienten<br />

Unter «Handeln im wohlverstandenen Interesse (best interest) des Patienten» verstehen<br />

wir die Durchführung von medizinisch oder pflegerisch indiziert erscheinenden<br />

Massnahmen, denen ein hypothetischer vernünftiger Patient in der entsprechenden<br />

Situation voraussichtlich zustimmen würde.<br />

Konfliktsituationen<br />

Obwohl Angehörige kein Entscheidungsrecht haben, ist im Konfliktfall ein Konsens<br />

zu suchen.<br />

ad 3.1. Palliative Care<br />

Grenzen der Palliativmedizin<br />

Nicht alles mit Sterben und Tod verbundene Leiden ist vermeidbar. Erkennen und<br />

Aushalten der Grenzen sind integrierender Teil der Betreuung des Patienten und<br />

seiner Angehörigen. Droht in besonders schwierigen Situationen eine Überforderung<br />

des Betreuungsteams, sollte externe professionelle Hilfe in Anspruch genommen<br />

werden können.<br />

Beeinflussung der Lebensdauer<br />

Der «lebensverkürzende Effekt» zentral wirkender Substanzen ist lange Zeit überschätzt<br />

worden. Im Allgemeinen sind Schmerzmittel und Sedativa, wenn sie ausschliesslich<br />

zur Symptomkontrolle in der letzten Lebenswoche korrekt eingesetzt<br />

werden, nicht mit einer Verkürzung der Überlebenszeit assoziiert.<br />

Schmerzmittel und Sedativa können auch missbräuchlich eingesetzt werden, um<br />

den Tod herbeizuführen. Es ist aber in aller Regel bereits an der Dosierung resp.<br />

Dosissteigerung der Medikamente ein Unterschied zwischen der Schmerz- und<br />

Symptomlinderung in palliativer Absicht und der absichtlichen Lebensbeendigung<br />

erkennbar.<br />

11


Weiter- und Fortbildung<br />

Die Betreuung von Patienten am Lebensende setzt Kenntnisse und Fertigkeiten<br />

im Bereich der palliativen Medizin, Pflege und Begleitung voraus.<br />

ad 3.2. Behandlungsverzicht oder -abbruch<br />

Zu den lebenserhaltenden Massnahmen gehören insbesondere die künstliche<br />

Wasser- und Nahrungszufuhr, die künstliche Beatmung und die kardiopulmonale<br />

Reanimation. Je nach Situation muss auch über Sauerstoffzufuhr, Medikation,<br />

Transfusion, Dialyse und operative Eingriffe entschieden werden.<br />

ad 4.1. Beihilfe zum Suizid<br />

Im Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid in Pflegeheimen sind zudem<br />

die Richtlinien und Empfehlungen zur Behandlung und Betreuung von älteren,<br />

pflegebedürftigen Menschen 8 zu beachten.<br />

Vorgesetzte können ihren Mitabeitern die Beihilfe zum Suizid verbieten, diese<br />

oder die Mitwirkung dazu aber nicht von ihnen verlangen.<br />

Der Entscheidungsprozess, der zur Suizidbeihilfe oder zu ihrer Ablehnung führt,<br />

muss dokumentiert werden.<br />

Ein Todeseintritt nach Beihilfe zum Suizid muss als ein nicht-natürlicher Todesfall<br />

den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet werden. Der Arzt, der<br />

Beihilfe zum Suizid geleistet hat, darf nicht selber den Totenschein ausfüllen.<br />

8 Vgl. «Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen». Medizin-ethische<br />

Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

12


IV.<br />

EMPFEHLUNGEN ZUHANDEN DER ZUSTÄNDIGEN<br />

GESUNDHEITSBEHÖRDEN<br />

Ressourcen<br />

Trotz beschränkter Mittel sollten die Verantwortlichen des Gesundheitswesens<br />

mit ihrer Politik gewährleisten, dass alle Patienten am Lebensende eine palliative<br />

Betreuung im Sinne der Richtlinien erhalten.<br />

Die Institutionen sollten den Auftrag und die Möglichkeit haben, die hierzu notwendigen<br />

Voraussetzungen wie Räumlichkeiten, personelle Ressourcen, Begleitung<br />

des Betreuungsteams etc. zu schaffen.<br />

Aus- und Weiterbildung<br />

Die Inhalte der Palliativmedizin und -pflege sollten in die Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

aller an der Betreuung von Patienten beteiligten Berufsgruppen integriert<br />

werden.<br />

13


V. ANHANG<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 8. Februar 2002 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission<br />

mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Betreuung von Patientinnen und Patienten am<br />

Lebensende beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern, Präsident<br />

PD Dr. phil. Jürg Bernhard, Bern<br />

Dr. med. Georg Bosshard, Zürich<br />

Pfrn. Ulrike Büchs, Winterthur<br />

Pflegefachfrau Christine Champion, Moudon<br />

Dr. med. Daniel Grob, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Christian Kind, St. Gallen<br />

Dr. med. Hans Neuenschwander, Lugano<br />

Prof. Dr. med. Rudolf Ritz, Basel<br />

lic. iur. Michelle Salathé, Basel (ex officio)<br />

Pflegefachfrau Elisabeth Spichiger, Bern<br />

Dr. med. Philipp Weiss, Basel<br />

Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Genf, Präsident ZEK (ex officio)<br />

Beigezogene Experten<br />

Dr. med. Klaus Bally, Basel<br />

Prof. Dr. med. Verena Briner, Luzern<br />

Prof. Dr. theol. Johannes Fischer, Zürich<br />

Fürsprecher Hanspeter Kuhn, Bern<br />

lic. theol. Settimio Monteverde, Basel<br />

Catherine Panchaud, M.Sc, Puidoux<br />

PD Dr. phil. Klaus Peter Rippe, Zürich<br />

Prof. Dr. iur. et Dr. h.c. Kurt Seelmann, Basel<br />

Prof. Dr. med. Frédéric Stiefel, Lausanne<br />

Prof. Dr. med. Andreas Stuck, Bern<br />

Vernehmlassung<br />

Am 27. November 2003 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser<br />

Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 25. November 2004 vom Senat<br />

der SAMW genehmigt.<br />

Anpassung<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht, Art. 360 ff.; Änderung vom 19. Dezember 2008).<br />

16


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

T +41 61 269 90 30<br />

mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. – 4. Auflage 10 000<br />

5. Auflage 1500 D, 500 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


MEDIZIN-<br />

ETHISCHE<br />

Behandlung und Betreuung<br />

von älteren pflegebedürftigen<br />

RICHT-<br />

Menschen<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Behandlung und Betreuung<br />

von älteren pflegebedürftigen<br />

Menschen<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 18. Mai 2004.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und<br />

Pflegefachmänner SBK empfiehlt seinen Mitgliedern und allen<br />

Pflegenden, diese Richtlinien zu achten und anzuwenden.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN (FÜR ÄRZTE, PFLEGENDE UND THERAPEUTEN) 7<br />

1. Geltungsbereich 7<br />

2. Grundsätze 7<br />

2.1. Angemessene Betreuung 7<br />

2.2. Persönliche und kontinuierliche Betreuung 7<br />

2.3. Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld 8<br />

2.4. Interdisziplinäre Zusammenarbeit 8<br />

2.5. Angemessene Aus-, Weiter- und Fortbildung 9<br />

3. Entscheidungsprozesse 9<br />

3.1. Grundsatz 9<br />

3.2. Patientenverfügung 9<br />

3.3. Bevollmächtigter Vertreter in medizinischen Angelegenheiten 10<br />

3.4. Erarbeiten von Entscheidungsgrundlagen im Team 10<br />

3.5. Information 11<br />

3.6. Einwilligung der urteilsfähigen, älteren Person 11<br />

3.7. Einwilligungsverfahren bei Urteilsunfähigkeit der älteren Person 12<br />

4. Behandlung und Betreuung 13<br />

4.1. Gesundheitsförderung und Prävention 13<br />

4.2. Akuttherapie 13<br />

4.3. Rehabilitation 13<br />

4.4. Palliative Care 13<br />

5. Sterben und Tod 14<br />

5.1. Begleitung von Sterbenden 14<br />

5.2. Umgang mit dem Wunsch nach Suizid 14<br />

6. Dokumentation und Datenschutz 14<br />

6.1. Krankengeschichte und Pflegedokumentation 14<br />

6.2. Verschwiegenheitspflicht 15<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung 15<br />

8. Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege 16


III. EMPFEHLUNGEN (AN INSTITUTIONEN DER LANGZEITPFLEGE) 18<br />

1. Geltungsbereich 18<br />

2. Grundsätze 18<br />

Schutz der persönlichen Freiheit und der Würde 18<br />

Achtung der Privat- und der Intimsphäre 18<br />

Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte 19<br />

Meinungs- und Glaubensfreiheit 19<br />

Versammlungsfreiheit 19<br />

Politische Rechte 19<br />

Mitbestimmung bei der Alltagsgestaltung 20<br />

Beschwerderecht 20<br />

3. Entscheidungsprozesse 20<br />

4. Behandlung und Betreuung 21<br />

Sicherstellung einer adäquaten Behandlung und Betreuung 21<br />

Qualitätssicherung 21<br />

Qualifiziertes Personal 21<br />

5. Sterben und Tod 22<br />

Begleitung von Sterbenden 22<br />

Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid 22<br />

6. Dokumentation und Datenschutz 23<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung 23<br />

8. Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege 23<br />

Information 23<br />

Einwilligung 23<br />

Regelung finanzieller Angelegenheiten 24<br />

Betreuungsvertrag und Auflösung dieses Vertrages 24<br />

IV. ANHANG 25<br />

Literatur 25<br />

Rechtliche Grundlagen 25<br />

Weiterführende Literatur 25<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 28


I. PRÄAMBEL<br />

Die demographische Entwicklung in der Schweiz führt dazu, dass in den nächsten<br />

Jahren die Anzahl älterer, vor allem hochbetagter Personen deutlich ansteigen<br />

wird. Voraussichtlich wird deshalb die Anzahl pflegebedürftiger Personen ebenfalls<br />

markant zunehmen. Dies geschieht in einer Zeit des Wandels traditioneller Familienstrukturen,<br />

in einer Zeit, in der sich die Wertvorstellungen stark verändern und<br />

der Autonomie des Individuums eine immer grössere Bedeutung zukommt, in einer<br />

Zeit auch mit steigenden Gesundheitskosten.<br />

Alle diese Faktoren führen dazu, dass die Behandlung und die Betreuung älterer,<br />

pflegebedürftiger Menschen mit verschiedenen Spannungsfeldern verbunden<br />

sind. Es kann einen Konflikt geben zwischen der notwendigen Fürsorge und der<br />

Respektierung der Autonomie einer älteren Person. Oft besteht ein Dilemma zwischen<br />

der notwendigen Aktivierung einer älteren Person und ihrem Wunsch nach<br />

Ruhe. Wann ist es angebracht, eine Krankheit therapeutisch anzugehen und wann,<br />

auf kurative Interventionen zu verzichten? Vor allem in Institutionen der Langzeitpflege<br />

ergibt sich zudem das Spannungsfeld Privatheit versus Öffentlichkeit,<br />

stellt doch eine Institution gleichzeitig den privaten Wohnbereich der älteren Person<br />

und eine kollektive Betreuungsform dar. Die Diskussion um die Kosten im Gesundheitswesen<br />

hat die Herausforderungen bei der Behandlung und Betreuung älterer,<br />

pflegebedürftiger Personen zusätzlich akzentuiert.<br />

Aus diesen Überlegungen verfolgt der nachfolgende Text drei Zielsetzungen: Erstens<br />

stellt er klar, dass Alter und Pflegebedürftigkeit nicht zur Vorenthaltung indizierter<br />

Massnahmen führen dürfen; zweitens bietet er Ärzten 1 , Pflegenden und<br />

Therapeuten 2 in den Richtlinien 3 eine Hilfe für Entscheidungen in schwierigen Situationen;<br />

drittens zeigt er in den Empfehlungen 4 die wichtigen Anforderungen<br />

und Rahmenbedingungen für eine gute Behandlung und Betreuung älterer, pflegebedürftiger<br />

Personen auf.<br />

1 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

2 Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Aktivierungstherapeuten, Logopäden, Psychologen.<br />

3 Die Richtlinien der SAMW richten sich an medizinische Fachpersonen (Ärzte, Pflegende und Therapeuten).<br />

Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder verbindliches<br />

Standesrecht.<br />

4 Da die SAMW Institutionen der Langzeitpflege gegenüber keine Regelungskompetenz hat, werden statt<br />

Richtlinien lediglich «Empfehlungen» formuliert.<br />

5


Angesprochen sind aber auch Institutionen der Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie<br />

politische Instanzen: Sie sind aufgefordert, in ihren Entscheiden im Bereich<br />

der Behandlung und Betreuung älterer, pflegebedürftiger Menschen den vorliegenden<br />

Richtlinien und Empfehlungen Rechnung zu tragen.<br />

Ausdrücklich ist die Behandlung und Betreuung jüngerer, pflegebedürftiger Personen<br />

nicht Gegenstand dieser Richtlinien. Bei ihnen sind zusätzliche spezifische<br />

Aspekte zu beachten.<br />

6


II.<br />

RICHTLINIEN (FÜR ÄRZTE, PFLEGENDE UND THERAPEUTEN)<br />

1. Geltungsbereich<br />

Die vorliegenden Richtlinien richten sich an Ärzte, Pflegende und Therapeuten,<br />

welche ältere, pflegebedürftige Personen betreuen, sei dies zu Hause, in Spitälern<br />

oder in Institutionen der Langzeitpflege. Von einer «älteren Person» spricht man<br />

bei einem Menschen jenseits des 65. Lebensjahres; «Pflegebedürftigkeit» bedeutet<br />

das dauernde Angewiesensein auf Hilfe oder Unterstützung in grundlegenden<br />

Aktivitäten des täglichen Lebens (d.h. sich ankleiden, Körperpflege, Nahrungszufuhr,<br />

Benutzung der Toilette, Mobilität, Gestaltung des Tagesablaufs, soziale Kontakte).<br />

Die Pflegebedürftigkeit steigt in der Regel erst jenseits des 75. Lebensjahres<br />

markant an.<br />

2. Grundsätze<br />

2.1. Angemessene Betreuung<br />

Ältere, pflegebedürftige Menschen haben bis an ihr Lebensende Anspruch auf eine<br />

angemessene Behandlung und Betreuung. Alter und Pflegebedürftigkeit einer betreuten<br />

Person dürfen nicht zu einer Vorenthaltung indizierter Massnahmen führen.<br />

Der behandelnde Arzt, das Pflegepersonal und die Therapeuten stützen ihre<br />

Entscheide auf eine gemeinsame Evaluation medizinischer, psychischer, sozialer<br />

und funktionaler Aspekte und des Umfelds. Sie respektieren bei der Betreuung die<br />

Würde, die Privatsphäre und die Intimsphäre der älteren Person, auch dann, wenn<br />

diese nicht mehr urteilsfähig ist oder unter psychischen Störungen leidet.<br />

2.2. Persönliche und kontinuierliche Betreuung<br />

Für eine adäquate Betreuung ist ein persönlicher Kontakt zwischen dem Arzt und<br />

der älteren, pflegebedürftigen Person unabdingbar. Bei älteren, pflegebedürftigen<br />

Personen kann es durch den Wechsel der Lebensorte (eigene Wohnung, Spital, Institution<br />

der Langzeitpflege) zu einem Wechsel der ärztlichen Zuständigkeit kommen.<br />

Ärzte, welche eine ältere, pflegebedürftige Person in einem Spital oder in einer<br />

Institution der Langzeitpflege betreuen, haben sich so zu organisieren, dass<br />

jederzeit Klarheit darüber besteht, bei wem die ärztliche Zuständigkeit liegt; sie haben<br />

die ältere Person (oder im Fall der Urteilsunfähigkeit deren Vertrauensperson<br />

[siehe 3.3.] bzw. gesetzlichen Vertreter) entsprechend zu informieren. Bei einem<br />

Wechsel der ärztlichen Zuständigkeit sind die beteiligten Ärzte dafür besorgt, dass<br />

der zuständige Arzt über alle für die weiterführende Betreuung erforderlichen Informationen<br />

verfügt.<br />

7


An der Pflege einer älteren Person sind oft verschiedene Fachpersonen beteiligt,<br />

was es für die betreute Person schwierig macht, die für die Pflege bzw. Koordination<br />

verantwortliche Fachperson zu kennen. Im Spitexbereich, in Spitälern und<br />

in Institutionen der Langzeitpflege bezeichnet das Pflege- und Therapeutenteam<br />

für jeden älteren Patienten eine qualifizierte Ansprechperson und informiert die<br />

betreute Person und ihre Bezugspersonen entsprechend.<br />

2.3. Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld<br />

Für Aspekte der Behandlung oder Betreuung pflegen der behandelnde Arzt und<br />

die Ansprechperson der Pflege wenn möglich mit dem sozialen Umfeld der betreuten<br />

Person (Lebenspartner, Verwandte und enge Bezugspersonen) guten Kontakt.<br />

Solche Kontakte unterliegen selbstverständlich dem Einverständnis der urteilsfähigen,<br />

älteren Person sowie den Regeln des Berufsgeheimnisses bzw. der<br />

Vertraulichkeit. Das neue Erwachsenenschutzrecht (Art. 360 ff. ZGB) räumt Angehörigen<br />

oder nahestehenden Personen eines Urteilsunfähigen gewisse gesetzliche<br />

Vertretungsrechte ein (vgl. Kap. 3.7.).<br />

Bei der Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen zuhause übernehmen<br />

Angehörige einen grossen Teil der Aufgaben; dies kann zu grossen Belastungen<br />

führen. Ärzte, Pflegende und Therapeuten haben die Aufgabe, die Angehörigen<br />

oder andere betreuende Personen zu beraten und zu unterstützen.<br />

2.4. Interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

Bei der Betreuung und Behandlung von älteren, pflegebedürftigen Menschen sind<br />

Ärzte, Pflegende, Therapeuten und zahlreiche andere Personen bzw. Berufsgruppen<br />

involviert. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass Ärzte, Pflegende und Therapeuten<br />

systematisch und in dafür geeigneten Strukturen miteinander und mit<br />

den weiteren beteiligten Berufsgruppen zusammenarbeiten. In Institutionen der<br />

Langzeitpflege ist dabei auch auf die Zusammenarbeit mit dem Haus-, Küchenund<br />

Verwaltungspersonal zu achten, dies unter Beachtung der Regeln des Berufsgeheimnisses<br />

bzw. der Vertraulichkeit.<br />

8


2.5. Angemessene Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

Ältere, pflegebedürftige Personen leiden oft gleichzeitig an mehreren, vielfach<br />

chronischen Krankheiten (Multimorbidität). Zusätzlich spielen bei der Betreuung<br />

psychische, soziale, spirituelle und umgebungsbezogene Faktoren eine wichtige<br />

Rolle. Dies erfordert von den betreuenden Ärzten, Pflegenden und Therapeuten<br />

spezifische Kompetenzen in Geriatrie, Gerontologie und Alterspsychiatrie. Zu diesen<br />

Kompetenzen gehören insbesondere auch das Erheben des Gesundheitszustandes<br />

durch ein multidimensionales Assessment und die Einleitung, Durchführung<br />

und Evaluation geeigneter Massnahmen.<br />

Ärzte, Pflegende und Therapeuten, welche ältere, pflegebedürftige Personen betreuen,<br />

sind verpflichtet, diese Kompetenzen durch Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

zu erwerben und zu erweitern.<br />

3. Entscheidungsprozesse<br />

3.1. Grundsatz<br />

Der Anspruch auf Respektierung der Menschenwürde und Selbstbestimmung gilt<br />

uneingeschränkt für alle Menschen. Das Recht materialisiert diesen Grundanspruch<br />

als das Recht auf «Respektierung der Menschenwürde», auf «Schutz der Persönlichkeit»<br />

und auf «Selbstbestimmung».<br />

Eingeschränkte Autonomiefähigkeiten, welche mit zunehmendem Alter häufiger<br />

werden und das Gleichgewicht zwischen den abhängigen und unabhängigen Seiten<br />

bei einem Menschen stören, heben den Anspruch auf Respektierung seiner<br />

Würde und Autonomie nicht auf. Deshalb sind verbindliche Entscheidungsverfahren<br />

und Strukturen erforderlich, die einen Entscheidungsprozess unter Berücksichtigung<br />

der Selbstbestimmung und Würde des älteren Menschen ermöglichen.<br />

Dabei soll besonders darauf geachtet werden, dass die ältere Person ihren Willen<br />

äussern kann, dass sie den Umständen entsprechend ausreichend Zeit für wichtige<br />

Entscheidungen hat und dass sie Entscheidungen ohne Druck fällen kann.<br />

3.2. Patientenverfügung 5<br />

Jede Person kann im Voraus verbindliche Bestimmungen verfassen im Hinblick<br />

auf die medizinische Behandlung und Pflege, die sie zu erhalten wünscht oder ablehnt,<br />

falls sie nicht mehr urteilsfähig wäre. Falls die Voraussetzungen der Urteilsfähigkeit<br />

gegeben sind, können solche Patientenverfügungen von ihrem Verfasser<br />

jederzeit geändert oder aufgehoben werden.<br />

5 Vgl. «Patientenverfügung». Medzin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

9


Ärzte und Pflegende machen ältere Personen auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung<br />

aufmerksam; sie sprechen untereinander ab, wer diese Aufgabe übernimmt.<br />

3.3. Bevollmächtigter Vertreter in medizinischen Angelegenheiten<br />

Jede urteilsfähige Person kann im Voraus mittels Patientenverfügung oder Vorsorgeauftrag<br />

einen Vertreter in medizinischen Angelegenheiten festlegen, der an<br />

ihrer Stelle die Zustimmung zu medizinischen, pflegerischen und/oder therapeutischen<br />

Massnahmen erteilen soll, falls sie selbst nicht mehr urteilsfähig wäre.<br />

Ärzte und Pflegende machen ältere Personen frühzeitig auf die Möglichkeit der<br />

Bezeichnung eines Vertreters aufmerksam; sie sprechen untereinander ab, wer<br />

diese Aufgabe übernimmt.<br />

3.4. Erarbeiten von Entscheidungsgrundlagen im Team<br />

Verschiedene Massnahmen wie die Behandlung einer Verhaltensstörung, die Dekubitusbehandlung<br />

oder die Einlage einer Nährsonde erfordern oft einen interdisziplinären<br />

Entscheidungsprozess. Bevor der behandelnde Arzt der älteren Person<br />

eine solche Massnahme vorschlägt und diese danach bei deren Einverständnis<br />

verordnet, bespricht er sie mit den zuständigen Ansprechpersonen der Pflege und<br />

Therapie und berücksichtigt deren Meinung.<br />

Ebenso verlangt die Lösung komplexer Situationen (z.B. Fragen der Zukunftsplanung,<br />

Beratung von Angehörigen, Probleme des Zusammenlebens in einem<br />

Heim) oft einen interdisziplinären Entscheidungsprozess, der sich am Willen der<br />

älteren Person orientiert und dabei deren Vorstellungen, Ziele, Wünsche und Bedürfnisse<br />

mit einbezieht. Solche Situationen sind von den Beteiligten gemeinsam<br />

zu besprechen; Lösungsmöglichkeiten und korrigierende Massnahmen sind gemeinsam<br />

zu vereinbaren, bevor sie der älteren Person durch die zuständige Fachperson<br />

vorgeschlagen werden.<br />

Die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit entbindet die behandelnden<br />

Ärzte, Pflegenden und Therapeuten nicht von ihrer Verantwortung in<br />

Bezug auf Entscheidungen und Massnahmen in ihrem beruflichen Zuständigkeitsbereich.<br />

10


3.5. Information<br />

Die ältere, pflegebedürftige Person hat Anspruch, durch den Arzt, die zuständige<br />

Person der Pflege oder den Therapeuten über vorgesehene diagnostische, präventive,<br />

pflegerische oder therapeutische Massnahmen informiert zu werden, damit<br />

sie den Massnahmen frei und aufgeklärt zustimmen kann. Die Information muss in<br />

geeigneter Weise gegeben werden, d.h. verständlich, differenziert – mit allfälligen<br />

Entscheidvarianten – und der Situation angepasst. Zu jeder Variante sind Nutzen<br />

und Risiken zu formulieren. Nach Möglichkeit und falls die ältere Person damit<br />

einverstanden ist, soll auch eine ihr nahe stehende Person informiert werden, damit<br />

sie die ältere Person in ihrem Entscheidprozess unterstützen kann.<br />

Falls die ältere Person urteilsunfähig ist, erhält ihr Vertreter diese Informationen;<br />

selbstverständlich soll die betroffene Person die Informationen in angemessener<br />

Form ebenfalls erhalten.<br />

3.6. Einwilligung der urteilsfähigen, älteren Person 6<br />

Ärzte, Pflegende und Therapeuten dürfen eine Massnahme nur mit der freien Einwilligung<br />

der urteilsfähigen, informierten älteren Person durchführen.<br />

Lehnt eine urteilsfähige, ältere Person die ihr vorgeschlagenen Massnahmen ab,<br />

nachdem sie über diese und die möglichen Folgen der Ablehnung informiert worden<br />

ist, so haben der Arzt und das Pflegepersonal diesen Entscheid zu respektieren.<br />

Falls dieser ablehnende Entscheid aus Sicht der verantwortlichen Fachpersonen<br />

nicht im besten Interesse der älteren Person liegt, so suchen sie nach einer anderen,<br />

für die betreffende Person voraussichtlich akzeptablen Behandlungsmöglichkeit.<br />

6 Folgende Kriterien helfen, die Urteilsfähigkeit festzustellen (Quelle: Staehelin HB. Ther Umschau.<br />

1997; 54: 356 – 358):<br />

– die Fähigkeit, Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen;<br />

– die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten ergeben,<br />

richtig abzuwägen;<br />

– die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational<br />

zu gewichten;<br />

– die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern.<br />

Es ist Aufgabe der zuständigen Gesundheitsfachperson, die Urteilsfähigkeit in jedem Einzelfall abzuschätzen.<br />

Bei schwerwiegenden Entscheiden ist ein Facharzt (z. B. Psychiater, Geriater) beizuziehen. Die<br />

Urteilsfähigkeit wird im Hinblick auf eine bestimmte Handlung abgeschätzt (und zwar im Zusammen -<br />

hang mit dem Komplexitätsgrad dieser Handlung); sie muss im Moment des Entscheides vorhanden sein.<br />

Entweder besitzt die Person die Urteilsfähigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Handlung – oder sie<br />

besitzt sie nicht.<br />

Urteilsfähig im Sinne des Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger<br />

Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss<br />

zu handeln (Art. 16 ZGB).<br />

11


3.7. Einwilligungsverfahren bei Urteilsunfähigkeit der älteren Person<br />

Bei Urteilsunfähigkeit der älteren Person im Hinblick auf eine Entscheidung klärt<br />

der Arzt oder das Pflegepersonal ab, ob sie eine Patientenverfügung verfasst hat<br />

oder ob ein Vorsorgeauftrag vorliegt. Mit der Patientenverfügung legt eine urteilsfähige<br />

Person verbindlich fest, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall<br />

ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.<br />

Patientenverfügungen sind zu beachten, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften<br />

verstossen oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem<br />

Willen beruhen oder noch dem mutmasslichen Willen des Patienten entsprechen.<br />

Für den Fall, dass eine urteilsunfähige Person zur Behandlung keine Anordnungen<br />

gemacht hat, legt das neue Erwachsenenschutzrecht fest, wer zur Vertretung berechtigt<br />

ist und für die urteilsunfähige Person eine Einwilligung in eine medizinische<br />

Massnahme erteilen darf. 7<br />

Die vertretungsberechtigte Person hat nach dem mutmasslichen Willen des Urteilsunfähigen<br />

und den objektiven Interessen über die zu treffenden medizinischen<br />

Massnahmen zu entscheiden. Während der Arzt eine in einer Patientenverfügung<br />

niedergelegte Anordnung in Bezug auf eine medizinische Massnahme unter gewissen<br />

Voraussetzungen nicht zu befolgen hat, ist er an die Entscheidung des Vertretungsberechtigten<br />

grundsätzlich gebunden. Sind allerdings die Interessen der<br />

urteilsunfähigen Person gefährdet oder nicht mehr gewahrt, so bestimmt die Erwachsenenschutzbehörde<br />

auf Antrag des Arztes oder einer anderen nahestehen<br />

Person oder von sich aus einen anderen Vertretungsberechtigten.<br />

Der Arzt ist verpflichtet, bei der Behandlung Urteilsunfähiger einen Behandlungsplan<br />

zu erstellen und ihn den laufenden Entwicklungen regelmässig anzupassen<br />

(Art. 377 ZGB). Der Behandlungsplan ist mit der vertretungsberechtigten Person<br />

zu besprechen und zu erläutern, so dass diese in der Lage ist, ihre informierte Zustimmung<br />

zur Behandlung zu erteilen. Die betroffene Person ist soweit wie möglich<br />

in die Entscheidfindung mit einzubeziehen.<br />

In dringenden Fällen ergreift der Arzt die erforderlichen medizinischen Massnahmen<br />

nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen<br />

Person.<br />

7 Das Gesetz erklärt folgende Personen bei medizinischen Massnahmen als vertretungsberechtigt:<br />

In erster Linie Personen, die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet<br />

wurden, in zweiter Linie der Beistand mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,<br />

danach An gehörige und weitere Bezugspersonen, die dem Patienten regelmässig persönlich Bei -<br />

stand leisten (Ehegatte bzw. eingetragener Partner, Personen im gleichen Haushalt, Nachkommen,<br />

Eltern, Geschwister).<br />

12


4. Behandlung und Betreuung<br />

4.1. Gesundheitsförderung und Prävention<br />

Es ist ärztliche, pflegerische und therapeutische Aufgabe, der älteren, pflegebedürftigen<br />

Person Massnahmen vorzuschlagen und zu ermöglichen, die ihr erlauben,<br />

ihre physischen und psychischen und sozialen Kompetenzen und Ressourcen zu<br />

erhalten oder zu fördern. Pflegebedürftige ältere Menschen sind besonders häufig<br />

bestimmten Risiken (z.B. Sturz, Immobilität, Depression, Ernährungsstörungen,<br />

Wundliegen, Erleiden von Gewalt, Misshandlung) ausgesetzt. Es ist ärztliche, pflegerische<br />

und therapeutische Aufgabe, diese frühzeitig zu erkennen und, nach Information<br />

und Zustimmung der älteren Person, die zweckmässigen präventiven<br />

Massnahmen zu ergreifen.<br />

4.2. Akuttherapie<br />

Es ist ärztliche, pflegerische und therapeutische Aufgabe sicherzustellen, dass ältere,<br />

pflegebedürftige Menschen bei akuter Erkrankung Zugang zu einer adäquaten<br />

Abklärung und Behandlung haben. Dabei ist auch im Akutspital die durch die<br />

Pflegebedürftigkeit bedingte spezifische Betreuung (z.B. bei Demenz, Dekubitus<br />

oder Inkontinenz) zu gewährleisten.<br />

4.3. Rehabilitation<br />

Es ist ärztliche, pflegerische und therapeutische Aufgabe, der älteren, pflegebedürftigen<br />

Person jene Behandlung (u.a. Physiotherapie, Psychotherapie, Ergotherapie,<br />

Logopädie, zahnärztliche Behandlung, Versorgung mit Hörgeräten) und Betreuung<br />

(u.a. soziale Kontakte, Ernährung, Mobilisation, Aktivitäten, Tagesstruktur)<br />

vorzuschlagen und zu ermöglichen, die ihr erlauben, ihre physischen und psychischen<br />

und sozialen Kompetenzen und Ressourcen soweit als möglich zu erhalten<br />

oder wiederzuerlangen.<br />

4.4. Palliative Care 8<br />

Der Zugang zu palliativer Medizin, Pflege und Betreuung ist allen älteren, pflegebedürftigen<br />

Menschen rechtzeitig zu garantieren, unabhängig vom Ort, wo sie leben.<br />

Sowohl in Institutionen der Langzeitpflege als auch in der ambulanten Krankenpflege<br />

oder im Spital kennen die Ärzte, Pflegenden und Therapeuten die Konzepte<br />

von Palliative Care und wenden sie an. Der Arzt, die Pflegenden und die Therapeuten<br />

nehmen insbesondere belastende Symptome wie Schmerzen, Angst, Depression<br />

und Hoffnungslosigkeit wahr und behandeln sie umfassend, dies unter<br />

Einbezug der Angehörigen. Die palliative Betreuung ist ein interdisziplinärer Prozess;<br />

bei Bedarf und auf Wunsch der älteren, pflegebedürftigen Person ist ein Seelsorger<br />

beizuziehen.<br />

8 Vgl. «Palliative Care». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

13


5. Sterben und Tod 9<br />

5.1. Begleitung von Sterbenden<br />

Die Begleitung und Betreuung von Sterbenden ist in den medizin-ethischen Richtlinien<br />

der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften «Betreuung<br />

von Patienten am Lebensende», geregelt.<br />

5.2. Umgang mit dem Wunsch nach Suizid<br />

Äussert eine ältere, pflegebedürftige Person den Wunsch nach Selbsttötung, sucht<br />

das betreuende Team das Gespräch mit der betreffenden Person. In jedem Fall leiten<br />

der Arzt und das Pflegepersonal Massnahmen zum bestmöglichen Schutz und<br />

zur Unterstützung der betreffenden Person ein. Insbesondere klären sie mögliche<br />

Verbesserungen der Therapie-, Pflege- und Betreuungssituation. Dabei sind auch<br />

die vielfältigen Abhängigkeiten der älteren, pflegebedürftigen Person, die das Risiko<br />

einer Suizidalität erhöhen können, zu beachten. Das betreuende Team stellt<br />

sicher, dass die erforderlichen palliativen, therapeutischen und/oder psychiatrischen<br />

Massnahmen vorgeschlagen bzw. durchgeführt werden, ebenso, dass ein<br />

seelsorgerlicher Beistand vorgeschlagen und, falls gewünscht, vermittelt wird.<br />

6. Dokumentation und Datenschutz<br />

6.1. Krankengeschichte und Pflegedokumentation<br />

Der Arzt führt über jede ältere, pflegebedürftige Person, die er betreut, eine<br />

Krankengeschichte. In der Krankengeschichte hält der Arzt Angaben betreffend<br />

Anam nese, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Beurteilung, Massnahmen<br />

und Verlauf fest und legt darin medizinisch relevante Dokumente ab. Die<br />

Pflegenden führen eine Pflegedokumentation 10 . Die relevanten Aspekte der ärztlichen<br />

Dokumentation sind dem zuständigen Pflegepersonal und den Therapeuten<br />

zugänglich.<br />

Die Therapeuten dokumentieren den therapeutischen Prozess (Beobachtungen<br />

bei der Erfassung, Zielsetzung und Planung, Evaluation der Massnahmen). Eine<br />

Zusammenstellung der wichtigsten Beobachtungen, Ziele und Resultate ist dem<br />

zuständigen Arzt und dem zuständigen Pflegepersonal zugänglich.<br />

9 Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende». Medizin-ethische Richtlinien der SAMW.<br />

10 Die Pflegedokumentation erfüllt folgende Zwecke:<br />

– sie stellt die Patientensituation aus pflegerischer Sicht (Assessments) dar;<br />

– sie hält die für die Situation wesentlichen pflegerischen Interventionen und deren Evaluation fest;<br />

– sie ermöglicht es, die Pflege nachzuvollziehen.<br />

14


Die ältere Person (bzw. bei deren Urteilsunfähigkeit ihr Vertreter bei medizinischen<br />

Massnahmen) haben das Recht, die Krankengeschichte und die Pflegedokumentation<br />

einzusehen und sich diese erläutern zu lassen; sie können Kopien davon<br />

verlangen.<br />

Die Krankengeschichte und die Pflegedokumentation enthalten die aktuelle Version<br />

einer allfälligen Patientenverfügung, Angaben zum Vertreter sowie allfällige<br />

Protokolle von freiheitsbeschränkenden Massnahmen.<br />

6.2. Verschwiegenheitspflicht<br />

Der Arzt, das Pflegepersonal und die Therapeuten sind an das Berufsgeheimnis gebunden.<br />

Die Erhebung, die Ablage, die Auswertung und die Weitergabe von Daten dürfen<br />

nur unter Beachtung der gesetzlichen Datenschutzbestimmungen erfolgen.<br />

Die zu verwendenden geriatrischen Assessment-Instrumente müssen auf ihre Verhältnismässigkeit<br />

und Aussagekraft überprüft worden sein, und die betroffenen älteren<br />

Personen müssen über die Tatsache der Informationssammlung und deren<br />

Zweck informiert sein.<br />

Als besonders schützenswerte Daten sind die Pflegedokumentation und die Krankengeschichte<br />

so zu handhaben und aufzubewahren, dass nur berechtigte Personen<br />

Einblick nehmen können. Für die elektronische Datenverarbeitung sind die<br />

hohen Anforderungen betreffend Zugriffsschutz und Sicherheit der Datenübertragung<br />

und -ablage zu beachten.<br />

Die Daten dürfen nur nach vollständiger Anonymisierung für statistische und wissenschaftliche<br />

Zwecke verwendet werden. Die Weitergabe von nicht-anonymisierten<br />

Daten setzt die ausdrückliche Zustimmung der Betroffenen (bzw. bei deren Urteilsunfähigkeit<br />

ihres Vertreters) voraus.<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung<br />

Ältere, pflegebedürftige Personen sind in besonderem Masse verletzlich und müssen<br />

vor jeder Form von Gewaltanwendung geschützt werden, sei dies körperliche<br />

oder psychische Gewalt, Machtmissbrauch oder Vernachlässigung. Alle Spuren von<br />

Gewaltanwendung, Missbrauch oder Vernachlässigung, die das betreuende Team<br />

bei einer älteren Person beobachtet, muss es sorgfältig in der Krankengeschichte<br />

und in der Pflegedokumentation dokumentieren und dabei die objektivierbaren<br />

klinischen Befunde (Grösse, Lokalisation, Aussehen usw.) festhalten. Pflegende<br />

und Therapeuten haben Spuren von Gewalt, die sie beobachten, dem behandelnden<br />

Arzt zu melden.<br />

15


Der Arzt, die Pflegenden und die Therapeuten haben die notwendigen Schritte<br />

einzuleiten, um weitere Misshandlungen zu vermeiden. Falls notwendig und mit<br />

dem Einverständnis der älteren Person (bzw. bei Urteilsunfähigkeit mit dem Einverständnis<br />

des Vertreters) werden diese Informationen an die zuständige Behörde<br />

übermittelt. Wenn ein solches Einverständnis fehlt, aber es im Interesse der älteren<br />

Person liegt, müssen die zuständigen Behörden informiert werden.<br />

8. Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege<br />

Der Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege verbunden mit der Aufgabe der<br />

bisherigen Wohnsituation soll nur dann erfolgen, wenn aufgrund fehlender ambulanter<br />

Betreuungsmöglichkeiten oder eines begrenzten Rehabilitationspotentials<br />

ein Verbleib zu Hause oder eine Rückkehr nach Hause nicht mehr im besten<br />

Interesse einer älteren Person ist. In gewissen Situationen kann ein frühzeitiger<br />

Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege sinnvoll sein, z.B. wenn dadurch die<br />

soziale Integration der älteren Person gefördert werden kann.<br />

Vor einem geplanten Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege führt der zuständige<br />

Arzt ein geriatrisches multidimensionales Assessment durch. Im Spital<br />

erfolgen diese Abklärungen unter Einbezug des Pflegepersonals und der Therapeuten<br />

sowie nach Möglichkeit in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt, der Spitex,<br />

der ambulanten Therapie und dem sozialen Umfeld (Lebenspartner, Verwandte<br />

und enge Bezugspersonen) der älteren, pflegebedürftigen Person. Der Arzt informiert<br />

die ältere Person und gegebenenfalls Personen aus ihrem sozialen Umfeld<br />

über das Ergebnis dieses Assessments und bespricht mit ihr die Notwendigkeit<br />

eines Eintritts in eine Institution der Langzeitpflege bzw. allfällige Alternativen.<br />

Wird eine urteilsunfähige Person für längere Dauer in einer Wohn- oder Pflegeeinrichtung<br />

betreut, so muss mit der berechtigten Vertretungsperson ein schriftlicher<br />

Betreuungsvertrag abgeschlossen werden, welche Leistungen die Einrichtung erbringt<br />

und welches Entgelt dafür geschuldet ist (Art. 382 ZGB). Die zwingende<br />

Schriftlichkeit des Betreuungsvertrags soll für mehr Transparenz sorgen sowie<br />

der Vorbeugung vor Missbrauchsgefahr dienen. Dabei sollen die Wünsche der<br />

betroffenen Person möglichst weitgehend berücksichtigt werden. Diese Wünsche<br />

können auch zu einem Zeitpunkt geäussert worden sein, als die Urteilsfähigkeit<br />

noch gegeben war. Die Regelung der Zuständigkeit für die Vertretung bei<br />

Abschluss, Änderung oder Aufhebung des Betreuungsvertrags ergibt sich sinngemäss<br />

nach den Bestimmungen über die Vertretung bei medizinischen Massnahmen<br />

(Art. 378-381 ZGB).<br />

16


Das Wohn- und Pflegeheim hat die Persönlichkeit der urteilsunfähigen Person zu<br />

schützen und fördert zu diesem Zweck auch die Aussenkontakte (Art. 386 Abs. 1<br />

ZGB). Wenn sich niemand ausserhalb der Einrichtung um die betroffene Person<br />

kümmert, muss das Wohn- und Pflegeheim die Erwachsenenschutzbehörde benachrichtigen,<br />

damit diese allenfalls eine Begleitbeistandschaft errichten kann<br />

(Art. 386 Abs. 2 ZGB). Weiter sind die Wohn- und Pflegeeinrichtungen von Bundesrechts<br />

wegen verpflichtet, die freie Arztwahl zu gewährleisten (Art. 386 Abs. 3<br />

ZGB), soweit nicht wichtige Gründe dagegen sprechen.<br />

17


III.<br />

EMPFEHLUNGEN (AN INSTITUTIONEN DER LANGZEITPFLEGE)<br />

1. Geltungsbereich<br />

Die nachstehenden Empfehlungen richten sich in erster Linie an die Leitungen<br />

von Institutionen der Langzeitpflege und an die Trägerschaft; sinngemäss gelten<br />

sie jedoch auch für andere Institutionen (Spitäler, Spitex), welche ältere, pflegebedürftige<br />

Personen behandeln und betreuen. Damit richten sich diese Empfehlungen<br />

auch an Ärzte, Pflegende und Therapeuten, sofern sie in diesen Institutionen<br />

Leitungsfunktionen innehaben.<br />

Die nachfolgenden Empfehlungen formulieren die Rahmenbedingungen, die in<br />

diesen Institutionen für eine gute Behandlung und Betreuung älterer Personen erforderlich<br />

sind. Für jeden in den voranstehenden Richtlinien definierten Bereich<br />

sind solche Empfehlungen formuliert.<br />

2. Grundsätze<br />

Die Institution schützt und respektiert die Rechte der älteren Person.<br />

Schutz der persönlichen Freiheit und der Würde<br />

Die ältere Person hat Anspruch darauf, dass ihre persönliche Freiheit respektiert<br />

wird. Sie hat Anspruch darauf, dass ihr mit Höflichkeit und Respekt begegnet<br />

und ihrer Würde, ihrem Wohlergehen und ihrer Individualität Rechnung getragen<br />

wird.<br />

Achtung der Privat- und der Intimsphäre<br />

Die Institution respektiert die Privat- und die Intimsphäre der älteren Person inklusive<br />

deren sexuelle Freiheit.<br />

Das Zimmer (oder der Teil des Zimmers), das die ältere Person bewohnt, ist Teil<br />

ihrer Privatsphäre und muss als solche vom Personal der Institution respektiert<br />

werden. Die ältere Person kann das Zimmer (oder einen Teil davon) in Absprache<br />

mit der Institution nach ihren persönlichen Vorstellungen gestalten, insbesondere<br />

durch eigene Möbel oder Wandschmuck. Die ältere Person verfügt über einen<br />

abschliessbaren Schrank, in dem sie ihre persönlichen Sachen ablegen kann.<br />

Falls ein Zimmer durch mehrere Personen belegt ist, ergreift die Institution die<br />

notwendigen Massnahmen, damit die Privatsphäre und die Intimsphäre jeder Person<br />

gewährleistet sind.<br />

18


Das Personal behandelt Beobachtungen aus der Privat- bzw. Intimsphäre der älteren<br />

Person oder Ereignisse, welche diese nur mit einem beschränkten Kreis von<br />

Personen (Freunde, Verwandte) teilen will, diskret und leitet diese nur weiter, falls<br />

dies zur Sicherstellung einer angemessenen Pflege und Betreuung notwendig ist.<br />

Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte<br />

Die Institution unterstützt die Aufrechterhaltung und Pflege der Beziehungen, welche<br />

die ältere Person mit ihren Angehörigen und ihrem sozialen Umfeld hat. Sie<br />

informiert die vertretungsberechtigten Personen und andere Nahestehende über<br />

kulturelle Aktivitäten innerhalb der Institution und versucht, sie zu integrieren.<br />

Die Institution sorgt dafür, dass vertrauliche Gespräche und Begegnungen in einem<br />

ungestörten Rahmen möglich sind.<br />

Die ältere Person hat das Recht darauf, externe Kontakte zu pflegen (Briefe, Besuche,<br />

Zeitungen, Telefon, Fernsehen, Internet usw.).<br />

Meinungs- und Glaubensfreiheit<br />

Die ältere Person ist frei in ihren Meinungsäusserungen, sofern diese nicht gegen<br />

die Rechte Dritter oder gegen gesetzliche Bestimmungen (z.B. Rassismustatbestand)<br />

verstossen. Die Institution sorgt dafür, dass die geäusserten Meinungen respektiert<br />

werden.<br />

Die Institution respektiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit der älteren Person<br />

und lässt die Ausübung von religiösen Riten oder Ausdrucksformen zu; diese dürfen<br />

jedoch andere Personen bzw. das Umfeld nicht einschränken.<br />

Versammlungsfreiheit<br />

Die Institution respektiert die Versammlungsfreiheit der älteren Person. Die Institution<br />

ermutigt Zusammenkünfte ihrer Bewohner, soweit diese dazu in der Lage sind;<br />

sie stellt ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung, damit sie sich versammeln können.<br />

Politische Rechte<br />

Die Institution sorgt dafür, dass die ältere Person ihre politischen Rechte frei ausüben<br />

kann. Sie stellt sicher, dass nicht eine andere Person diese an ihrer Stelle ausübt<br />

oder von ihrer Abhängigkeit profitiert, um sie zu beeinflussen.<br />

19


Mitbestimmung bei der Alltagsgestaltung<br />

Die Bewohner der Institution, welche sich dazu äussern können, werden zu Entscheiden<br />

betreffend Fragen des Tagesablaufes, des Zusammenlebens und betreffend<br />

gemeinsamer Veranstaltungen beigezogen. Die Institution regelt die Form<br />

der Mitbestimmung.<br />

Beschwerderecht<br />

Die Institution etabliert ein internes Verfahren, wie mit Beschwerden (zu medizinischen,<br />

pflegerischen und/oder administrativen Belangen) umgegangen wird.<br />

Als Beschwerdeführer können sowohl die ältere Person als auch ihr Vertreter bzw.<br />

die Angehörigen auftreten.<br />

Die Institution stellt sicher, dass die Beschwerden innert Kürze, sorgfältig, unter<br />

Beachtung der Vertraulichkeit und ohne Nachteil für den Beschwerdeführer behandelt<br />

werden. Falls die Beschwerde gerechtfertigt ist, ergreift die Institution die<br />

notwendigen Massnahmen. Falls die Institution die Beschwerde ablehnt, weist sie<br />

den Beschwerdeführer auf Rekursmöglichkeiten oder gegebenenfalls auf die kantonalen<br />

Aufsichtsbehörden über Wohn- und Pflegeeinrichtungen, die Erwachsenenschutzbehörden,<br />

Ombuds- bzw. unabhängige Beschwerdestellen hin.<br />

3. Entscheidungsprozesse<br />

Im Rahmen des Eintrittsprozederes vergewissert sich die Institution, ob die ältere<br />

Person für den Fall der Urteilsunfähigkeit einen Vertreter hat (Ehegatte oder eingetragene<br />

Partnerin oder eingetragener Partner nach Art. 374 ZGB) oder ob sie<br />

mittels Vorsorgeauftrag einen Vertreter bestellt hat, die ihre Interessen in administrativen<br />

(inkl. finanziellen) Angelegenheiten wahrnehmen kann sowie eine<br />

«bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten», welche<br />

an ihrer Stelle über die zu erteilende Behandlung und Pflege zu entscheiden hat.<br />

Ist dies nicht der Fall, rät die Institution der älteren Person, Personen ihrer Wahl<br />

zu bezeichnen; allenfalls unterstützt die Institution die ältere Person bei der Suche<br />

nach geeigneten Personen. Die Institution hält die Namen der Vertreter im administrativen<br />

Dossier fest; sie stellt sicher, dass der Arzt, das Pflegepersonal und die<br />

Therapeuten über das Vorhandensein eines Vertreters informiert sind.<br />

20


4. Behandlung und Betreuung<br />

Sicherstellung einer adäquaten Behandlung und Betreuung<br />

Bevor die Institution jemanden aufnimmt, überprüft sie, ob die dem Gesundheitszustand<br />

und dem Abhängigkeitsgrad der betroffenen Person entsprechenden Betreuungsmöglichkeiten<br />

vorhanden sind und ob sie sowohl über das Personal als<br />

auch die Ausrüstung verfügt, welche für eine adäquate Behandlung und Betreuung<br />

notwendig sind.<br />

Qualitätssicherung<br />

Alle Institutionen, welche ältere, pflegebedürftige Personen behandeln und betreuen,<br />

weisen sich über ein umfassendes Qualitätsmanagement für die adäquate<br />

Behandlung und Betreuung aus.<br />

Qualifiziertes Personal<br />

Die Institution stellt sicher, dass die Fachpersonen entsprechend ihrer Funktion<br />

über eine Ausbildung verfügen, welche sie für ihre Aufgabe qualifiziert. Die Institution<br />

unterstützt und fördert auch die regelmässige Weiter- und Fortbildung des<br />

Personals, unter besonderer Berücksichtigung des problemzentrierten Lernens in<br />

interdisziplinären Teams.<br />

Die Institution bezeichnet einen verantwortlichen Heimarzt, der für die Organisation<br />

der medizinischen Betreuung in der Institution zuständig ist und die hierfür<br />

notwendigen Kenntnisse besitzt. Sind in einer Institution mehrere Ärzte tätig, soll<br />

die Institution in Absprache mit diesen einen davon als verantwortlichen Heim -<br />

arzt bezeichnen.<br />

21


5. Sterben und Tod 11<br />

Begleitung von Sterbenden<br />

Die Begleitung der älteren Person am Lebensende soll unter Beachtung ihrer Bedürfnisse<br />

und ihrer Überzeugungen erfolgen. Die Institution achtet darauf, dass<br />

die ältere Person von ihrem sozialen Umfeld so viel als möglich (und soviel als<br />

von ihr gewünscht) unterstützt wird. Die sterbende Person soll ungestört und an<br />

einem geeigneten Ort von ihren Nächsten Abschied nehmen können, und sie hat<br />

Anspruch auf spirituellen Beistand ihrer Wahl.<br />

Die Institution schafft einen Rahmen, der Abschiedsrituale und -riten für alle Beteiligten<br />

sicherstellt. Die Institution respektiert besondere religiöse und kulturelle<br />

Abschiedsrituale der Hinterbliebenen.<br />

Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid<br />

Eine besondere Situation liegt dann vor, wenn eine ältere, pflegebedürftige Person<br />

in einer Institution der Langzeitpflege einen Suizid unter Beihilfe von Dritten<br />

(z.B. einer Sterbehilfeorganisation) plant. Diese Situation kann eintreten, weil<br />

gemäss schweizerischem Recht die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar ist, ausser<br />

beim Vorliegen selbstsüchtiger Motive (Art. 115 StGB). Es gibt Institutionen, die<br />

auf dieser Grundlage die Beihilfe zum Suizid zulassen. In solchen Situationen ist<br />

zu beachten, dass eine Institution der Langzeitpflege besondere Schutzpflichten<br />

hat und daher folgendes beachten muss:<br />

a. Es muss sichergestellt sein, dass die betreffende Person urteilsfähig ist.<br />

b. Es muss sichergestellt sein, dass der Entscheid zum Suizid nicht auf äusseren<br />

Druck oder auf eine nicht adäquate Abklärung, Behandlung oder Betreuung<br />

zurückzuführen ist.<br />

c. Es muss sichergestellt sein, dass die Gefühle der Mitbewohner und der Mitarbeiter<br />

respektiert werden.<br />

Ältere, pflegebedürftige Personen stehen in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis<br />

zum Personal der Institution; dieses Verhältnis kann beim Personal zu Interessenkonflikten<br />

führen. Aus diesem Grund und aus Rücksichtnahme auf die<br />

übrigen Bewohner der Institution soll das Personal einer Institution der Langzeitpflege<br />

zu keinem Zeitpunkt an der Durchführung eines Suizids mitwirken.<br />

11 Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende». Medizin-ethische Richtlinien<br />

der SAMW.<br />

22


6. Dokumentation und Datenschutz<br />

Die ältere Person (oder bei deren Urteilsunfähigkeit ihre Vertreter) können das sie<br />

betreffende administrative Dossier konsultieren und sich erläutern lassen.<br />

Die Institution respektiert die gesetzlichen Bestimmungen des Datenschutzes. Sie<br />

schenkt diesen besondere Aufmerksamkeit im Falle der elektronischen Datenverarbeitung<br />

(namentlich zum Zweck der Tarifbestimmung, der Qualitätssicherung<br />

oder Forschung).<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung<br />

Die Institution stellt sicher, dass es nicht zur Misshandlung oder Vernachlässigung<br />

von älteren Personen kommt; sie sorgt dafür, dass die Ziffer 7 der vorliegenden<br />

Richtlinie bekannt ist und angewendet wird.<br />

8. Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege<br />

Information<br />

Bevor eine ältere Person einwilligt, länger dauernd in eine Institution der Langzeitpflege<br />

einzutreten, soll sie (und allenfalls die für den Fall der Urteilsunfähigkeit<br />

als Vertreter bezeichnete Person) die Gelegenheit erhalten, die Institution<br />

persönlich kennen zu lernen, mit einer verantwortlichen Person in der Institution<br />

ein Gespräch zu führen und über alle relevanten Informationen (inkl. Reglemente)<br />

zu verfügen.<br />

Die Institution soll ihr (bzw. bei Urteilsunfähigkeit ihrem Vertreter) schriftliche Unterlagen<br />

abgeben mit gut verständlichen Informationen zu den allgemeinen Aufnahme-<br />

und Aufenthaltsbedingungen, zu den Rechten und Pflichten, den Betreuungsmodalitäten<br />

und -kosten sowie dem internen und externen Beschwerdewesen.<br />

Auch die finanzielle Situation der älteren Person soll angesprochen werden.<br />

Einwilligung<br />

Nachdem sie die notwendigen Informationen erhalten hat, entscheidet die urteilsfähige,<br />

ältere Person selbst über einen Eintritt. Bei Urteilsunfähigkeit ist lediglich<br />

der Vertreter berechtigt, einen solchen Entscheid zu fällen. Im Falle der Urteilsunfähigkeit<br />

ist ein Betreuungsvertrag abzuschliessen (Art. 382 ZGB).<br />

23


Regelung finanzieller Angelegenheiten<br />

Um Interessenkonflikten vorzubeugen, werden das Vermögen und die Einkünfte<br />

der älteren Person durch sie selbst (oder ihren Vertreter) und nicht durch die Institution<br />

verwaltet. Die Institution sorgt dafür, dass das Personal keine Zuwendungen<br />

(auch keine Schenkungen oder Erbschaften) entgegennimmt; ausgenommen<br />

bleiben kleine Gelegenheitsgeschenke.<br />

Betreuungsvertrag und Auflösung dieses Vertrages<br />

In einem schriftlichen Betreuungsvertrag muss im Falle einer urteilsunfähigen Person<br />

festgehalten werden, welche Leistungen die Einrichtung erbringt und welches<br />

Entgelt dafür geschuldet wird. Ausser beim Vorliegen gewichtiger Gründe soll die<br />

Institution den Vertrag mit einer älteren, pflegebedürftigen Person, die sie aufgenommen<br />

hat, später nicht mehr auflösen. Gegebenenfalls hilft die Institution der<br />

älteren Person, eine Institution zu finden, welche sie entsprechend ihrem Gesundheitszustand<br />

und ihrer Pflegebedürftigkeit betreuen kann.<br />

24


IV.<br />

ANHANG<br />

Literatur<br />

Rechtliche Grundlagen<br />

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick<br />

auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte<br />

und Biomedizin vom 4. April 1997.<br />

www.admin.ch/ch/d/ff/2002/340.pdf<br />

Schweizerische Bundesverfassung: Art. 7-36 (Grundrechte).<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/c101.html<br />

Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz.<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/235_1/index.html<br />

Zivilgesetzbuch Art. 27 ff. (Schutz der Persönlichkeit), Art. 360 ff. (Erwachsenenschutzrecht).<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/c210.html<br />

Strafgesetzbuch Art. 115 (Verleitung und Beihilfe zum Suizid), Art. 181 (Nötigung), Art.<br />

320 (Verletzung des Amtsgeheimnisses), Art. 321 (Verletzung des Berufsgeheimnisses).<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/311_0/index2.html<br />

Kantonale Gesundheitsgesetze.<br />

www.lexfind.ch<br />

Kantonale Gesetze über Pflegeinstitutionen.<br />

www.lexfind.ch<br />

Kantonale Datenschutzgesetze.<br />

www.lexfind.ch<br />

Weiterführende Literatur<br />

Agence Nationale d’Accréditation et d’Evaluation en Santé.<br />

Evaluation des pratiques professionnelles dans des établissements de santé. Limiter les<br />

risques de la contention physique de la personne âgée. 2000.<br />

www.has-sante.fr/portail/upload/docs/application/pdf/contention.pdf<br />

Arbeitsgruppe «Ethische Richtlinien» des Heimverbandes Schweiz.<br />

Fachverband Betagte: Grundlagen für verantwortliches Handeln in Alters- und Pflegeheimen. 1997.<br />

Arbeitsgruppe Gesundheit (AGX) der Schweizerischen Datenschutzbeauftragten.<br />

Bericht betreffend Pflegebedarfsabklärungssysteme (Bewohnerbeurteilungssysteme)<br />

in Alters- und Pflegeheimen. 2003.<br />

Association Alzheimer Europe.<br />

Directives relatives aux différentes mesures destinées à restreindre la liberté de mouvements.<br />

Position paper. 2001. www.alzheimer-europe.org<br />

Association Alzheimer Europe.<br />

Les droits des personnes atteintes de démence. 2001. www.alzheimer-europe.org<br />

25


Association vaudoise d’établissements médico-sociaux.<br />

Charte éthique. 2001.<br />

Baumann-Hölzle R.<br />

Kap. 20: Ethische Probleme in der Geriatrie. Kap. 21: Gelungenes Altwerden und Sterben im<br />

Spannungsfeld von Macht und Menschenwürde. In: Dies. Moderne Medizin – Chance und<br />

Bedrohung. Bern/Berlin: Peter-Lang; 2001.<br />

Comité européen pour la cohésion sociale (CDCS)/Conseil de l’Europe.<br />

Améliorer la qualité de vie des personnes âgées en situations de dépendance. 2002.<br />

http://book.coe.int<br />

European Association for Directors of Residential Care Homes for the Elderly.<br />

Charte européenne des droits et libertés des personnes âgées en institution. 1993.<br />

http://ede-eu.org<br />

Forum stationäre Altersarbeit / Santésuisse.<br />

Konzept zur Einführung eines institutionalisierten Qualitätsmanagments in Schweizer<br />

Pflegeheimen gemäss KVG. 1998.<br />

Gebert A, Kneubühler HU.<br />

Qualitätsbeurteilung und Evaluation der Qualitätssicherung in Pflegeheimen. Bern: Huber; 2001.<br />

International Association of Gerontology.<br />

The Older Person’s Charter of Standards. 1997.<br />

www.aoa.gov/AOARoot/AoA_Programs/Special_Projects/Global_Aging/pdf/Chater_regional.pdf<br />

Kesselring A.<br />

Beurteilung der Verhältnismässigkeit von RAI-Items aus pflegewissenschaftlicher Sicht.<br />

Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel; 2003.<br />

Mettner M, Schmitt-Mannhart R.<br />

Wie ich sterben will. Patientenautonomie, Selbstverantwortung und Abhängigkeit am Lebensende.<br />

Zürich: NZN; 2003.<br />

Schönenberg HR.<br />

Qualitätssicherung und Qualitätsförderung im Langzeitpflegebereich. Managed Care. 2000;<br />

2: 21 – 23.<br />

Schweizerischer Berufsverband für Krankenpflege.<br />

Qualitätsnormen für die Pflege und Begleitung von alten Menschen. Bern. 1994.<br />

Schweizerischer Berufsverband für Krankenpflege et al.<br />

Rund um den Heimeintritt: Broschüre für ältere Menschen und ihre Angehörigen. Thun: Ott; 1997.<br />

Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie.<br />

Richtlinien zur Anwendung freiheitsbeschränkender Massnahmen bei der Behandlung<br />

und Pflege betagter Personen. 1999. www.sgg-ssg.ch<br />

Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz.<br />

Empfehlungen zum Vollzug des KVG im Bereich der Pflegeheime und der Spitexdienste. 1998.<br />

Schweizerischer Senioren und Rentner-Verband.<br />

Vorschlag zu einem Kantonalen Gesetz betreffend Heime für alte Menschen und<br />

Menschen mit Behinderung. 2001.<br />

Stuck AE.<br />

State of the Art: Multidimensionales geriatrisches Assessment im Akutspital und in<br />

der ambulanten Praxis. Schweiz Med Wschr. 1997; 127: 1781 – 1788.<br />

26


United Nations.<br />

United Nations Principles for Older Persons. 1999.<br />

www.unescap.org/ageing/res/principl.htm<br />

Weltärztebund.<br />

Deklaration von Hong Kong über die Misshandlung älterer Personen. 1989.<br />

www.bundesaerztekammer.de/downloads/handbuchwma.pdf<br />

WHO Division of Mental Health.<br />

Psychiatry of the elderly – a consensus statement. 1996.<br />

www.who.int/mental_health/media/en/17.pdf<br />

27


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 26. Oktober 2001 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission<br />

mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen<br />

Menschen beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Prof. Dr. med. Andreas Stuck, Bern, Präsident<br />

Dr. med. Hermann Amstad, Basel, ex officio<br />

Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Institut Dialog-Ethik, Zürich<br />

Angeline Fankhauser, Alt-Nationalrätin, Präsidentin VASOS, Oberwil<br />

Prof. Dr. Annemarie Kesselring, Basel<br />

Prof. Dr. iur. Audrey Leuba, Neuenburg<br />

Prof. Dr. med. Charles-Henri Rapin, Genf<br />

Dr. med. Regula Schmitt, Ittigen<br />

Hansruedi Schönenberg, Heimleiter, Zürich<br />

Dr. med. et phil. Urban Wirz, Subingen<br />

Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Präsident ZEK, Genf, ex officio<br />

Beigezogene Experten<br />

Prof. Lazare Benaroyo, Lausanne<br />

Dr. Georg Bosshard, Zürich<br />

Claudine Braissant, Belmont<br />

Anja Bremi, Zollikon<br />

Dr. Charles Chappuis, Bern<br />

Oskar Diener, Champagne<br />

Werner Egloff, Laupen<br />

Marianne Gerber, Zürich<br />

Prof. Daniel Hell, Zürich<br />

Prof. François Höpflinger, Zürich<br />

Nicolas Kühne, Lausanne<br />

Domenica Schnider Neuwiler, Wil SG<br />

Prof. Hannes Stähelin, Basel<br />

Dr. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern<br />

Vérène Zimmermann, Zürich<br />

Vernehmlassung<br />

Am 20. Mai 2003 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser Richtlinien<br />

zur Vernehmlassung verabschiedet.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 18. Mai 2004 vom Senat<br />

der SAMW genehmigt.<br />

Anpassung<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht; Änderung vom 19. Dezember 2008). Aus diesem Grund wurde das bisherige<br />

Kapitel 7 (Freiheitsbeschränkende Massnahmen) ersatzlos gestrichen. Die Zentrale Ethikkommission<br />

hat Ende 2012 eine Subkommission mit der Totalrevision der Richtlinien «Zwangsmassnahmen<br />

in der Medizin» beauftragt.<br />

28


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

T +41 61 269 90 30<br />

mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. – 6. Auflage 16 000 (D)<br />

7. Auflage 1500 D, 600 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


Biobanken: Gewinnung,<br />

Aufbewahrung und Nutzung<br />

von menschlichem<br />

biologischem Material<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

18


Biobanken: Gewinnung,<br />

Aufbewahrung und Nutzung<br />

von menschlichem<br />

biologischem Material<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 23. Mai 2006<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

I. Präambel 2<br />

II. Richtlinien 4<br />

1. Definition «Biobanken» 4<br />

2. Geltungsbereich 4<br />

3. Anforderungen an Biobanken 5<br />

3.1. Qualitätsstandards<br />

3.2. Datenschutz<br />

3.3. Weitergabe von Proben und Daten<br />

3.4. Reglement<br />

4. Forschung mit menschlichem biologischem Material 8<br />

4.1. Anforderungen an Forschungsprojekte<br />

4.2. Aufklärung<br />

4.3. Einwilligung<br />

4.4. Urteilsunfähige Spender<br />

4.5. Verstorbene Personen<br />

4.6. Widerruf der Einwilligung<br />

4.7. Nachträgliche Information über relevante<br />

Ergebnisse<br />

4.8. Weitergabe von Proben und Daten<br />

4.9. Bereits bestehende Biobanken<br />

5. Lehre, Aus-, Weiter- und Fortbildung 12<br />

III. Präparate aus menschlichem Gewebe in Sammlungen,<br />

Ausstellungen und Museen 12<br />

IV. Empfehlungen 13<br />

V. <strong>Anhang</strong> 14<br />

Relevante Gesetze 14<br />

Grundlagedokumente 14<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 16


Biobanken: Gewinnung,<br />

Aufbewahrung und Nutzung<br />

von menschlichem<br />

biologischem Material<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

I. Präambel<br />

Die Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung von menschlichem<br />

biologischem Material für Ausbildung und Forschung,<br />

aber auch für weitere Zwecke sind seit langem gängige Praxis.<br />

Bedeutende technische Neuerungen, insbesondere im Bereich<br />

der Humangenetik und der elektronischen Datenverarbeitung,<br />

ermöglichen heute das Sammeln und Vergleichen von biologischem<br />

Material und daraus gewonnener personenbezogener<br />

Daten in großem Umfang. Damit werden neue wichtige<br />

epidemiologische, diagnostische und therapeutische Kenntnisse<br />

erworben, die mit bisherigen Forschungsansätzen nicht<br />

zu erzielen waren. Biobanken können damit zu einem bedeutenden<br />

Fortschritt für die Weiterentwicklung der medizinischen<br />

Forschung und vor allem des Gesundheitswesens, aber<br />

auch der Humanwissenschaften insgesamt, beitragen.<br />

Den berechtigten Hoffnungen und Erwartungen stehen auch<br />

Risiken und Gefahren gegenüber. Im Vordergrund steht dabei<br />

die Befürchtung, dass biologisches Material und Daten zu<br />

einem Zweck genutzt werden, in den der Spender nicht ausdrücklich<br />

eingewilligt hat. Aber auch wenn die Nutzung ausschliesslich<br />

zu Forschungszwecken garantiert ist, ergibt sich<br />

das Problem, dass nachträgliche, neue Auswertungsmethoden<br />

und Zielsetzungen entstehen können, die auch für die Betreiber<br />

1 von Biobanken zum Zeitpunkt der Entgegennahme der<br />

Spende noch nicht vorhersehbar waren.<br />

Mit der zunehmenden Einrichtung umfangreicher Biobanken<br />

entstehen deshalb ethische und rechtliche Probleme, die<br />

dringend der Regelung bedürfen. Auf der einen Seite sind die<br />

Rechte der Spender zu wahren. Hierbei steht das Recht auf<br />

persönliche Freiheit 2 und auf den Schutz der Privatsphäre 3 im<br />

Vordergrund. Dieses Recht beinhaltet insbesondere auch den<br />

Entscheid über Eingriffe in den Körper und über die Verwendung<br />

der eigenen persönlichen Daten sog. informationelle<br />

Selbstbestimmung. Auf der anderen Seite sollte im Interesse<br />

2


der direkt betroffenen Personen, aber auch der Gesellschaft<br />

insgesamt vermieden werden, dass der wissenschaftliche Fortschritt<br />

4 und der damit verbundene Nutzen durch übermässige<br />

Reglementierung behindert wird.<br />

Die vorliegenden Richtlinien 5 sollen bis zum Inkrafttreten<br />

einer umfassenden eidgenössischen Regelung als Orientierungshilfe<br />

dienen. Sie berücksichtigen sowohl den derzeitig<br />

gültigen nationalen und internationalen Rahmen als auch die<br />

wesentlichen Prinzipien der Bioethik, namentlich das Autonomieprinzip,<br />

das Fürsorgeprinzip sowie das Prinzip der Gerechtigkeit.<br />

Sie beschränken sich auf Bestimmungen zum<br />

Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeit der Spender<br />

sowie auf Bestimmungen zur Gewährleistung der Qualität<br />

und Sicherheit von Biobanken.<br />

1 Die entsprechenden Textstellen betreffen immer auch die weiblichen Angehörigen der<br />

genannten Personengruppen<br />

2 Art. 10 Abs. 2 Bundesverfassung (Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit): «Jeder<br />

Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige<br />

Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit.»<br />

3 Art. 13 Abs. 2 Bundesverfassung (Schutz der Privatsphäre): «Jede Person hat Anspruch<br />

auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten.»<br />

4 Art. 20 Bundesverfassung (Wissenschaftsfreiheit): «Die Freiheit der wissenschaftlichen<br />

Lehre und Forschung ist gewährleistet.»<br />

5 Die Richtlinien der SAMW haben keine rechtliche Verbindlichkeit. Für Mitglieder der<br />

<strong>FMH</strong> sind sie jedoch im Rahmen der Standesordnung verpflichtend.<br />

3


II. Richtlinien<br />

1. Definition «Biobanken»<br />

Biobanken im Sinne dieser Richtlinien sind systematisch angelegte<br />

Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstanzen<br />

(z.B. Organe, Gewebe, Blut, Zellen usw.) sowie von<br />

DNA als Träger genetischer Informationen. Mit den Proben<br />

gemeinsam oder von ihnen getrennt werden Daten aufbewahrt,<br />

welche Informationen über den Spender (demographische<br />

Daten, Krankheitstyp etc. aber auch genetische Daten)<br />

enthalten. 6 Zum Zeitpunkt der Aufnahme der Proben in die<br />

Biobank ist häufig noch nicht absehbar, welche zusätzlichen<br />

Informationen aus den Proben gewonnen und mit den Personendaten<br />

in Verbindung gebracht werden können.<br />

2. Geltungsbereich<br />

Die vorliegenden Richtlinien wenden sich an alle Betreiber und<br />

Nutzer von Biobanken und anderen Sammlungen menschlichen<br />

biologischen Materials, unabhängig von ihrem beruflichen<br />

Hintergrund. Sie gelten für Forschung, Lehre, Aus-,<br />

Weiter- und Fortbildung.<br />

Die Nutzung von Gewebematerial zu individuell-diagnostischen,<br />

therapeutischen oder forensischen 7 Zwecken sowie für<br />

Qualitätskontrolle und -sicherung, soweit sie im Rahmen der<br />

medizinischen Praxis stattfindet 8 , ist vom Geltungsbereich<br />

der Richtlinien nicht erfasst. Eine allfällige Nutzung von Proben<br />

und Daten nach Erreichen der primären Zielsetzung (z.B.<br />

Abschluss der Diagnostik) fällt aber als sekundäre Nutzung in<br />

den Geltungsbereich der Richtlinien.<br />

Für Biobanken, welche durch gesetzliche Regelungen auf eidgenössischer<br />

Ebene bereits erfasst sind – beispielsweise weil sie<br />

Forschung mit Stammzellen, Keimbahnzellen sowie Embryonen<br />

berühren 9 – gelten die Richtlinien nur, soweit sie weitergehende<br />

Regelungen vorsehen. Vorbehalten sind zudem<br />

weitere eidgenössische 10 und kantonale 11 Regelungen, soweit<br />

sie auf den Umgang mit Spenderdaten und -proben anwendbar<br />

sind.<br />

4


3. Anforderungen an Biobanken<br />

Die Leitung einer Biobank muss sicherstellen, dass die vorliegenden<br />

Richtlinien eingehalten werden. Sie muss insbesondere<br />

dafür sorgen, dass<br />

– die Biobank über qualifiziertes Personal, geeignete Strukturen<br />

und Material verfügt;<br />

– für die Aubewahrung und Nutzung der Proben ein angemessenes<br />

Qualitätssicherungssystem besteht;<br />

– die Rechte der Spender, insbesondere der Datenschutz gewährleistet<br />

sind;<br />

– die Weiterleitung von Proben unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte<br />

der Spender erfolgt;<br />

– ein Reglement besteht, welches die wesentlichen Punkte<br />

regelt.<br />

3.1. Qualitätsstandards<br />

Für Biobanken sind die in medizinischer Praxis und Forschung<br />

etablierten Qualitätssicherungsmassnahmen durchzuführen.<br />

Hierzu zählen insbesondere aufeinander abgestimmte Tätigkeiten<br />

wie das Festlegen der Qualitätspolitik und der Qualitätsziele,<br />

die Qualitätsplanung, die Qualitätslenkung, die Qualitätssicherung<br />

und die Qualitätsverbesserung.<br />

6 Bei diesen Informationen (Proben und Daten) handelt es sich um besonders schützenswerte<br />

Personendaten im Sinne des Bundesgesetzes über den Datenschutz (DSG)<br />

7 Vgl. Bundesgesetz über die Verwendung von DNA-Profilen im Strafverfahren und zur<br />

Identifizierung von unbekannten oder vermissten Personen (DNA-Profil-Gesetz)<br />

8 Im Gegensatz zu Forschungsprojekten im Bereich der Qualitätskontrolle und -sicherung;<br />

siehe Ziff. 4.1.<br />

9 Vgl. hierzu Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (FedMedG)<br />

sowie Bundesgesetz über die Forschung an embryonalen Stammzellen (StFG)<br />

10 Insbesondere das Bundesgesetz über den Datenschutz<br />

11 Vgl. z.B. Art. 23 Abs. 4 loi sur la santé publique vaudoise: «Un échantillon de matériel<br />

biologique d’origine humaine ne peut être utilisé qu’aux fins approuvées par la personne<br />

concernée et dans le respect de ses droits de la personnalité. Il doit en principe être<br />

détruit après utilisation, sous réserve d’une décision contraire de la personne concernée<br />

et de la législation spéciale en la matière.»<br />

5


3.2. Datenschutz<br />

Die Daten und Proben sollen durch angemessene technische<br />

und organisatorische Massnahmen vor missbräuchlicher Verwendung<br />

wirksam geschützt werden 12 . Dies gilt sowohl für<br />

die Aufbewahrung in der Biobank als auch für die Nutzung<br />

der Daten und Proben.<br />

Zum Schutz des Spenders sollte die Kodierung der Proben so<br />

früh wie möglich, spätestens aber bei Aufnahme in die Biobank<br />

erfolgen.<br />

Bei reversibel anonymisierten Proben besteht nur noch eine<br />

indirekte Verbindung zum Spender. Der Probe wird ein Kode<br />

zugeordnet. Der Zugriff auf die personenbezogenen Daten ist<br />

nur mit dem Kodierungsschlüssel möglich. Dieser ist von den<br />

Daten getrennt aufzubewahren und zu verwalten. Doppelt verschlüsselte<br />

Proben enthalten einen zweiten Schlüssel 13 . Der Kodierungsschlüssel<br />

sollte in der Hand eines deklarierten Geheimnisträgers<br />

sein. Dieser sollte nicht direkt an der Forschung mit<br />

den Proben und Daten der Biobank beteiligt sein.<br />

Bei irreversibel anonymisierten 14 Proben werden die personenbezogenen<br />

Daten so verändert, dass die Informationen über<br />

persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr einer bestimmten<br />

Person zugeordnet werden können, respektive das<br />

Risiko einer Re-Individualisierung äusserst gering ist, weil der<br />

Aufwand unverhältnismässig gross wäre. 15<br />

Sowohl im Interesse der Patienten als auch im Interesse der<br />

Forschung sollten Proben und Daten nach Möglichkeit nicht<br />

irreversibel anonymisiert werden. Für die Patienten bedeutet<br />

die irreversible Anonymisierung, dass ihm relevante Ergebnisse<br />

im Allgemeinen nicht mehr mitgeteilt werden können; für<br />

die Forschung, dass die Proben und Daten an Aussagekraft<br />

verlieren.<br />

12 Eine leicht entzifferbare Kodierung wie beispielsweise Kodenummer, die sich aus Initialen<br />

und Geburtsdatum des Spenders zusammensetzt, stellt keinen ausreichenden<br />

Schutz dar. Siehe auch (Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP): Posi tion<br />

Paper on Terminology in Pharmacogenetics, vgl. V. <strong>Anhang</strong>, Grundlagendokumente)<br />

13 Der Schlüssel zu diesem zweiten Kode liegt bei einer unabhängigen Stelle.<br />

14 Die verwendeten Begrifflichkeiten sind unterschiedlich: anstelle von «irreversibel anonymisiert»<br />

wird auch von «anonymised» gesprochen. Anstelle von «reversibel anonymisiert»<br />

wird «verschlüsselt», «single coded» oder «double-coded» verwendet, anstelle<br />

«nicht anonymisiert» von «identified».<br />

15 Bei Blut- oder Gewebeproben kann theoretisch durch identifizierte Referenzproben oder<br />

über Ergebnisse anderer Genomanalysen eine Probe einer bestimmten Person zugeordnet<br />

werden.<br />

16 Integrität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Proben zusammenbleiben<br />

damit die Zweckbestimmung der Biobank erhalten bleibt.<br />

6


3.3. Weitergabe von Proben und Daten<br />

Proben von menschlichem biologischem Material dürfen nur<br />

in reversibel oder irreversibel anonymisierter Form weitergeleitet<br />

werden. Bei reversibel anonymisierten Proben darf der<br />

Empfänger keinen Zugriff auf den Schlüssel haben.<br />

Jede Weitergabe muss nachvollziehbar dokumentiert und in<br />

einem Transfervertrag (Material transfer agreement, MTA)<br />

geregelt werden. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte des<br />

Spenders (insbesondere auch das Recht auf Widerruf) muss<br />

bei jeder Weitergabe von Proben und Daten gewährleistet sein.<br />

Eine Weitergabe ist nur zulässig, wenn sichergestellt ist, dass<br />

die Standards gemäss den vorliegenden Richtlinien eingehalten<br />

werden.<br />

Wird eine Biobank als Ganzes übertragen, muss der nachfolgende<br />

Träger die Anforderungen gemäss den vorliegenden<br />

Richtlinien erfüllen.<br />

3.4. Reglement<br />

Das Reglement soll die Organisation, die Verantwortlichkeiten<br />

und den Anwendungsbereich der Biobank regeln. Es soll<br />

insbesondere auch Bestimmungen betreffend der Herkunft<br />

der aufbewahrten Proben, den Verwendungszweck sowie den<br />

Kreis der Zugangsberechtigten und den Voraussetzungen für<br />

den Zugang enthalten. Das Reglement soll ausserdem die Integrität<br />

16 der Biobank schützen.<br />

Es empfiehlt sich, für mehrere Biobanken innerhalb einer Institution<br />

(Spital, Forschungszentrum usw.) grundsätzlich dieselben<br />

Reglemente vorzusehen und sie einer gemeinsamen<br />

Leitung zu unterstellen.<br />

7


4. Forschung mit menschlichem biologischem Material<br />

4.1. Anforderungen an Forschungsprojekte<br />

Alle Forschungsprojekte mit menschlichem biologischem Material,<br />

die direkt den Spender betreffen können, müssen vorgängig<br />

durch die zuständige Ethikkommission für klinische<br />

Versuche positiv beurteilt werden.<br />

Dies betrifft insbesondere:<br />

– Forschungsprojekte, die mit einer Entnahme von menschlichem<br />

biologischem Material zu Forschungszwecken verbunden<br />

sind;<br />

– Forschungsprojekte mit reversibel anonymisierten und<br />

nicht anonymisierten Proben und Daten.<br />

Diese Anforderungen gelten auch für Forschungsprojekte mit<br />

menschlichem biologischem Material im Bereich der Qualitätskontrolle<br />

und -sicherung.<br />

Die Ethikkommission untersucht die wissenschaftliche Qualität<br />

und die ethische Akzeptanz des Forschungsprojektes auf<br />

der Basis der gesetzlichen Regelungen und der anerkannten<br />

Regeln der Forschungsethik.<br />

Die Ethikkommission soll ausserdem beurteilen, ob der Kodierungsprozess<br />

sicher ist. Sie prüft insbesondere bei Forschungsprojekten,<br />

die mit der Aufbewahrung von Proben und der<br />

Errichtung genetischer Datenbanken 17 einhergehen, ob genügend<br />

Daten abgetrennt wurden. Dadurch soll das Risiko,<br />

Spender durch die verbleibenden Daten identifizieren zu können,<br />

ausgeschlossen werden.<br />

4.2. Aufklärung<br />

Spender müssen in die Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung<br />

ihrer Proben für die Forschung zustimmen. Voraussetzung<br />

jeder Einwilligung ist eine schriftliche Aufklärung. Der<br />

Spender muss abschätzen können, wozu er seine Einwilligung<br />

erteilt. Der Umfang der Aufklärung soll jedoch in einem angemessenen<br />

Verhältnis zur Verwendung der Proben und Daten<br />

stehen.<br />

17 Damit sind Biobanken gemeint, die Proben von isolierter DNA enthalten. Für genetische<br />

Untersuchungen ist zudem das Bundesgesetz über genetische Untersuchungen<br />

beim Menschen (GUMG) massgebend, vgl. insbesondere auch Art. 20 «Weiterverwendung<br />

biologischen Materials».<br />

8


Für den Spender sind insbesondere die nachfolgenden Punkte<br />

relevant:<br />

– der Verwendungsbereich der Proben und Daten;<br />

– die Freiwilligkeit der Einwilligung und die Möglichkeit des<br />

Widerrufs der Einwilligung;<br />

– die Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit und zur<br />

Gewährleistung des Datenschutzes;<br />

– die Dauer der Aufbewahrung;<br />

– das Recht des Spenders auf Einsicht in die über ihn gespeicherten<br />

Daten;<br />

– der Zugang von Kontrollorganen und Aufsichtsbehörden<br />

zu Proben und Daten, der Umfang von deren Einsichtsrechten<br />

sowie allfällige Auskunftspflichten gegenüber Versicherungen;<br />

– das Recht des Spenders auf Informationen über die weitere<br />

Verwendung seiner Proben und Daten;<br />

– die Möglichkeit einer Weitergabe und der Verwendung zu<br />

kommerziellen Zwecken im Bereich der medizinischen Forschung;<br />

– die nachträgliche Information über Ergebnisse, die für den<br />

Spender relevant sein könnten (Recht auf Wissen) respektive<br />

die Möglichkeit, auf diese Information zu verzichten<br />

(Recht auf Nichtwissen).<br />

4.3. Einwilligung<br />

Die Einwilligung soll schriftlich und zum Zeitpunkt der Entnahme,<br />

spätestens aber zum Zeitpunkt der Aufnahme der Proben<br />

und Daten in eine Biobank, vorliegen.<br />

Die Einwilligung kann sich generell auf die Weiterverwendung<br />

der Proben und Daten für zukünftige Forschungsprojekte beziehen<br />

(Generalkonsent). Die Einschränkung auf einen spezifischen<br />

Forschungsbereich ist möglich.<br />

Eine generelle Einwilligung darf sich nicht auf Forschungsprojekte<br />

beziehen, welche<br />

– eine Entnahme von menschlichem biologischem Material<br />

zu Forschungszwecken vorsehen;<br />

– Forschung mit nicht anonymisierten Proben planen;<br />

– mit besonderen Risiken für den Spender verbunden sind.<br />

In diese Forschungsprojekte muss der Spender ausdrücklich<br />

einwilligen.<br />

9


4.4. Urteilsunfähige Spender<br />

Wird einem urteilsunfähigen Patienten zu diagnostischen<br />

Zwecken Material entnommen, darf dieses nur mit der Zustimmung<br />

des gesetzlichen Vertreters 18 für Forschungszwecke<br />

aufbewahrt oder weiterverwendet werden. Besteht keine gesetzliche<br />

Vertretung, ist die Weiterverwendung zulässig, sofern<br />

dies dem mutmasslichen Willen des Spenders entspricht. 19<br />

Handelt es sich um eine vorübergehende Urteilsunfähigkeit,<br />

ist die Aufbewahrung des Materials für eine allfällige Weiterverwendung<br />

bis zum Wiedererlangen der Urteilsfähigkeit<br />

zulässig. Ab diesem Zeitpunkt gelten die allgemeinen Regeln<br />

bezüglich Aufklärung und Einwilligung.<br />

Stammt das biologische Material von Kindern und Jugendlichen,<br />

muss sichergestellt sein, dass diese ihre Rechte ausüben<br />

können, sobald sie die Urteilsfähigkeit erlangt haben.<br />

4.5. Verstorbene Personen<br />

Wird einer verstorbenen Person Material entnommen (z.B.<br />

im Rahmen einer Autopsie), ist zur Aufbewahrung und Weiterverwendung<br />

dieses Materials für Forschungszwecke ihre<br />

vorgängige Einwilligung (Patientenverfügung) nötig. Fehlt<br />

die erforderliche Einwilligung des Verstorbenen, können die<br />

nächsten Angehörigen diese erteilen, sofern dies nicht im Widerspruch<br />

zu dem zu Lebzeiten geäusserten oder mutmasslichen<br />

Willen des Verstorbenen steht.<br />

4.6. Widerruf der Einwilligung<br />

Spender haben das Recht, ihre Einwilligung jederzeit zu widerrufen.<br />

Dies gilt für die zukünftige Verwendung der Proben<br />

und Daten und setzt voraus, dass die Proben nicht irreversibel<br />

anonymisiert wurden.<br />

18 Je nach kantonaler Regelung können weitere Personen einwilligungsberechtigt sein:<br />

z.B. eine bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten oder<br />

Angehörige.<br />

19 Vgl. zum Thema: «Recht der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung» medizinisch-ethische<br />

Grundsätze der SAMW (2005 ).<br />

20 Eine Vernichtung der Daten steht hingegen im Widerspruch zu internationalen Anforderungen<br />

für klinische Forschung im Rahmen der Arzneimittelzulassung; vgl. Richtlinie<br />

E6 Good Clinical Practice (GCP) der International Conference on Harmonisation of<br />

Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH)<br />

21 Als «primär» werden Forschungsprojekte bezeichnet, in deren Rahmen biologisches<br />

Material entnommen wurde.<br />

22 Vgl. Art. 321bis StGB sowie die Verordnung über die Offenbarung des Berufsgeheimnisses<br />

im Bereich der medizinischen Forschung (VOBG)<br />

23 Dies entspricht der Praxis der eidg. Expertenkommission für das Berufsgeheimnis in<br />

der medizinischen Forschung.<br />

24 Dieser Nachweis beinhaltet einerseits eine Beschreibung der Umstände, unter welchen<br />

der Berechtigte über seine Rechte aufgeklärt wurde sowie eine Bestätigung,<br />

dass der Berechtigte die Datenbekanntgabe nicht ausdrücklich verweigert hat.<br />

10


Im Falle eines Widerrufs müssen die Proben vernichtet werden. 20<br />

Die Resultate, die vor diesem Zeitpunkt mit dem Material erzielt<br />

wurden und deren Auswertung sind davon nicht betroffen.<br />

4.7. Nachträgliche Information über relevante Ergebnisse<br />

Spender haben das Recht, über diagnostisch oder therapeutisch<br />

relevante Ergebnisse informiert zu werden (Recht auf<br />

Wissen). Dies gilt nicht für irreversibel anonymisierte Proben<br />

und Daten. Grundsätzlich erfolgt die Information durch den<br />

zuständigen Arzt. Er sorgt für eine angemessene Beratung. Die<br />

Leitung der Biobank stellt den Informationsfluss sicher. Der<br />

Spender kann auf die nachträgliche Information verzichten<br />

(Recht auf Nichtwissen).<br />

4.8. Weitergabe von Proben und Daten<br />

Die Leitung der Biobank bzw. der für das primäre Forschungsprojekt<br />

21 zuständige Prüfer überlässt Proben oder Daten anderen<br />

Forschern für weitere Projekte nur in irreversibel anonymisierter<br />

oder kodierter Form. Diese Forscher sind verpflichtet,<br />

Proben und Probenreste, die sie nicht verbraucht<br />

haben, der Biobank zurückzusenden oder sie zu vernichten.<br />

Es ist ihnen nicht gestattet, Proben oder Daten an Dritte weiterzugeben.<br />

Die Spender müssen vorgängig in die Weitergabe<br />

eingewilligt haben.<br />

4.9. Bereits bestehende Biobanken<br />

Für Biobanken, welche bereits vor dem Inkrafttreten der vorliegenden<br />

Richtlinien entstanden und Proben und Daten für<br />

Forschungszwecke weiterverwenden wollen, gelten grundsätzlich<br />

dieselben Prinzipien wie für nach dem Inkraftreten der<br />

Richtlinien eingerichtete Biobanken.<br />

Vorrangig ist der Nachweis, dass die Spender der Aufbewahrung<br />

und Weiterverwendung zugestimmt haben. Verfügt die<br />

Biobank über keinen solchen Nachweis, soll die Einwilligung<br />

nachträglich eingeholt werden, sofern dies nicht unmöglich,<br />

unverhältnismässig schwierig oder belastend für den Spender<br />

ist. In diesem Fall muss die Biobank eine generelle Bewilligung<br />

der Expertenkommission für das Berufsgeheimnis in der<br />

medizinischen Forschung einholen. 22<br />

Bei Proben und Daten, welche vor dem 31. Dezember 1995 23<br />

gesammelt wurden und die in keinem direkten Bezug zu Proben<br />

und Daten derselben Spender stehen, die nach diesem<br />

Zeitpunkt gewonnen worden sind, erteilt die Expertenkommission<br />

die Bewilligung ohne den Nachweis einer allgemeinen<br />

Information. 24 Eine Bewilligung der Expertenkommission ist<br />

nicht nötig für irreversibel anonymisierte Proben und Daten.<br />

11


5. Lehre, Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

Die Verwendung von irreversibel anonymisierten Proben für<br />

Lehre, Aus-, Weiter- und Fortbildung ist zulässig, wenn der<br />

Spender dieser nicht widersprochen hat.<br />

Es wird empfohlen, dass die Spitäler im Rahmen der allgemeinen<br />

Information beim Spitaleintritt (Patienteninformationsbroschüre)<br />

auf die Möglichkeit der Verwendung von Proben<br />

für Lehre, Aus-, Weiter- und Fortbildung hinweisen und auf<br />

die Möglichkeit aufmerksam machen, dieser Verwendung zu<br />

widersprechen.<br />

III. Präparate aus menschlichem Gewebe in Sammlungen,<br />

Ausstellungen und Museen 25<br />

Herstellung, Konservierung, Sammlung und Aufbereitung von<br />

Präparaten aus menschlichem Gewebe für wissenschaftliche<br />

und didaktische Zwecke sind grundsätzlich zulässig.<br />

Präparate aus menschlichem Gewebe sind Objekte, die ganz<br />

oder überwiegend aus organischem menschlichem Gewebe<br />

bestehen und mit Hilfe spezieller Verfahren dauerhaft konserviert<br />

werden.<br />

Die Würde des Menschen ist bei allen Massnahmen der Präparateherstellung,<br />

Aufbewahrung und Präsentation zu wahren. 26<br />

Öffentlich zugängliche Präparate sind zu anonymisieren.<br />

Präparate aus menschlichem Gewebe dürfen nur hergestellt<br />

und aufbewahrt werden, wenn eine schriftliche Einwilligung<br />

(Patientenverfügung) vorliegt. Die allgemeinen Voraussetzungen<br />

für die rechtliche Verbindlichkeit einer Erklärung, insbesondere<br />

Urteilsfähigkeit, müssen vorliegen. Der Spender kann<br />

seine Einwilligung jederzeit widerrufen.<br />

Bei irreversibel anonymisierten Proben und Daten, namentlich<br />

histologische Präparate, darf hievon abgewichen werden.<br />

Bei Sammlungen, die vor Inkrafttreten dieser Richtlinien entstanden<br />

sind, ist die Herkunft der Präparate soweit als möglich<br />

aufzuklären. Wird festgestellt, dass der Verstorbene auf<br />

Grund seiner Abstammung, Weltanschauung, aus politischen<br />

Gründen oder durch staatlich gelenkte Gewaltmassnahmen<br />

zu Tode gekommen ist oder gibt es andere Hinweise auf unrechtmässige<br />

Herstellung oder Erwerb von menschlichen Präparaten,<br />

so sind diese aus den Sammlungen zu entfernen und<br />

würdig zu bestatten.<br />

12


Besteht infolge längeren Zeitablaufes keine konkrete Erinnerung<br />

mehr an die verstorbene Person und ist die heutige Lebenswelt<br />

ihrer Nachkommen nicht mehr unmittelbar berührt,<br />

so können entsprechende Präparate in den Sammlungen belassen<br />

werden, insbesondere wenn es sich um unwiederbringliche<br />

Einzelstücke von grossem medizingeschichtlichem oder<br />

kulturhistorischem Wert handelt.<br />

Leichenteile, die im Rahmen von strafrechtlich oder behördlich<br />

angeordneten Untersuchungen gewonnen und konserviert<br />

wurden, können nach Ablauf der aus juristischen Gründen<br />

erforderlichen Aufbewahrungsfrist und mit Zustimmung<br />

der anordnenden Behörde in speziellen Sammlungen aufbewahrt<br />

werden, soweit wissenschaftliche Gründe und Aspekte<br />

der Ausbildung und des Allgemeinwohls überwiegen. Dabei<br />

ist ein gegen die Aufbewahrung gerichteter Widerspruch naher<br />

Angehöriger zu berücksichtigen.<br />

IV. Empfehlungen<br />

Mit diesen Richtlinien werden nur Rahmenbedingungen definiert.<br />

Die SAMW ist sich bewusst, dass in vielen Bereichen<br />

weiterer Regelungsbedarf besteht. Sie empfiehlt insbesondere,<br />

– die Schaffung von Registern der öffentlichen und privaten<br />

Biobanken;<br />

– die Etablierung von Standards für die Ausbildung im Laborbereich;<br />

– die Schaffung von Bestimmungen zur Akkreditierung von<br />

Biobanken.<br />

– Die Erstellung eines Informations- und Einwilligungsformulars<br />

für den Patienten beim Eintritt ins Spital.<br />

25 Vgl. Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen,<br />

Museen und öffentlichen Räumen – Arbeitskreis «Menschliche Präparate in<br />

Sammungen» vgl. Literaturverzeichnis im <strong>Anhang</strong><br />

26 Vgl. insbesondere auch Art. 262 Strafgesetzbuch (StGB): Störung des Totenfriedens<br />

13


V. <strong>Anhang</strong><br />

Relevante Gesetze<br />

Schweizerische Bundesverfassung vom 18. Dezember 1998 (BV)<br />

Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom<br />

15. Dezember 2000 (HMG)<br />

Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung vom<br />

18. Dezember 1998 (FmedG)<br />

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (StGB)<br />

Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 (DSG)<br />

Bundesgesetz über die Forschung an embryonalen Stammzellen vom<br />

19. Dezember 2003 (StFG)<br />

Verordnung über die Offenbarung des Berufsgeheimnisses im Bereich<br />

der medizinischen Forschung vom 14. Juni 1993 (VBOG)<br />

Bundesgesetz über die Verwendung von DNA-Profilen im Strafverfahren<br />

und zur Identifizierung von unbekannten oder vermissten Personen<br />

(DNA-Profil-Gesetz)<br />

Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen vom<br />

8. Oktober 2004 (noch nicht in Kraft)<br />

Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und<br />

Zellen vom 8. Oktober 2004 (noch nicht in Kraft)<br />

Grundlagendokumente<br />

Ad hoc Committee on Stored Tissue, College of American Pathologists.<br />

Recommended Policies for Uses of Human Tissue in Research, Education,<br />

and Quality Control, Arch Pathol Lab Med-Vol 123, April 1999<br />

Arbeitskreis «Menschliche Präparate in Sammlungen». Empfehlungen<br />

zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen,<br />

Museen und öffentlichen Räumen. Berlin 2003.<br />

www.rwi.unizh.ch/tag/Empfehlungen_Praeparate/Pressemitteilung.pdf<br />

Commission de l’éthique de la science et de la technologie, Québec. Avis:<br />

Les enjeux éthiques des banques d’information génétique:<br />

pour un encadrement démocratique et responsable. Février 2003.<br />

www.ethique.gouv.qc.ca/html/publications.html<br />

Comité consultatif national d’éthique pour les sciences de la vie et de la<br />

santé (CCNE). Avis No 77. Problèmes éthiques posés par les collections de<br />

matériel biologique et les données d’information associées: «biobanques»,<br />

«biothèques» mars 2003.<br />

www.ccne-ethique.fr/scripts/base/avis/idc<br />

Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) European Medicines<br />

Agency (EMEA). Position Paper on Terminology in Pharmacogenetics. 2002.<br />

www.emea.eu.int<br />

Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS).<br />

International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human<br />

Subjects. November 2002:<br />

www.cioms.ch/frame_guidelines_nov_2002.htm<br />

Council of Europe. Steering Committee on Bioethics (CDBI).<br />

Draft recommendation on research on biological materials of human origin.<br />

November 2005<br />

Council of Europe. Steering Committee on Bioethics (CDBI).<br />

Draft explanatory memorandum to the draft recommendation on research<br />

on biological materials of human origin. December 2005<br />

14


Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie<br />

(GDMS) e.V.: Arbeitsgruppe «Qualitätsmanagement in der Medizin»<br />

Begriffe und Konzepte des Qualitäts-managements. Informatik. Biometrie<br />

und Epidemiologie. Medizin und Biologie 2003; 34: 1 – 61<br />

European Society of Human Genetics. Recommendations. Data storage<br />

and DNA-banking for biomedical research: technical, social and ethical issues.<br />

European Journal of Human Genetics (2003) 11, Suppl 2, 8 – 10<br />

HUGO Ethics Committee – Statement on Human Genomic Databases.<br />

www.gene.ucl.ac.uk/hugo/benefit.html<br />

International Conference on harmonisation of technical requirements for<br />

registration of pharmaceuticals for human use. ICH Harmonised Tripartite<br />

Guideline. Guideline for Good Clincal Practice E6 (R1). June 1996.<br />

www.ich.org/<br />

Medical Research Council (MRC). Human tissue and biological samples<br />

for use in research. Operational and Ethical Guidelines. 2001.<br />

www.mrc.ac.uk<br />

National Bioethics Advisory Commission (NBAC). Research Involving human<br />

biological materials: Etical issues and policy quidance. September 1999.<br />

www.bioethics.gov<br />

Nationaler Ethikrat. Biobanken für die Forschung. Stellungnahme. März 2004.<br />

www.ethikrat.org/stellungnahmen/stellungnahmen.html<br />

Office of Research Protections (OHRP), Departement of Health and<br />

Human Services (HHS). Guidance on Research Involving Coded Private<br />

Information or Biological Specimens. August 2004.<br />

www.hhs.gov/ohrp/policy/index.html#biol<br />

President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and<br />

Biomedical and Behavioral Research. Screening and counseling for genetic<br />

conditions. Washington,DC: U.S. Government Printing Office; 1983.<br />

The Royal College of Pathologists. Consensus Statement of Recommended<br />

Policies for Uses of Human Tissue in Research Education and Quality<br />

Control 1999.<br />

www.rcpath.org<br />

The Royal College of Pathologists. Transitional Guidelines to facilitate<br />

changes in procedures for handling «surplus» and archival material from<br />

human biological samples. June 2001.<br />

www.rcpath.org<br />

UNESCO International Bioethics Committee. International declaration<br />

on humann genetic data. October 16, 2003<br />

World Medical Association (WMA). The World Medical Association<br />

declaration on ethical considerations regarding health databases. 2002:<br />

www.wma.net/e/policy/dI.htm<br />

15


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Verantwortliche<br />

Subkommission<br />

Beigezogene<br />

Experten<br />

Vernehmlassung<br />

Am 13. Juni 2003 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission mit der Ausarbeitung von Richtlinien zum Thema<br />

«Biobanken: Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung von menschlichem<br />

biologischem Material» beauftragt.<br />

Prof. Dr. med. Volker Dittmann, Basel, Vorsitz<br />

PD Dr. med. Mario Bargetzi, Aarau<br />

Prof. Dr. theol. Alberto Bondolfi, Lausanne<br />

PD Dr. med. Bernice Elger, Genf<br />

Dr. med. Monica Gersbach-Forrer, Genf<br />

Dr. med. h.c. Hugo Kurz, Basel<br />

Dr. pharm. Werner Pletscher, Zürich<br />

lic. iur. Michelle Salathé, Basel (ex officio)<br />

Prof. Dr. med. Henning Schneider, Bern<br />

Prof. Dr. iur. Dominique Sprumont, Neuchâtel<br />

Dr. med. Edouard Stauffer, Bern<br />

Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Genf (ex officio)<br />

Dr. chem. Roland Bühlmann, Schönenbuch<br />

Dr. iur. Lukas Bühler, Bern<br />

Prof. Dr. med. Wolfgang Holzgreve, Basel<br />

Dr. iur. Verena Schwander, Bern<br />

Am 24. Mai 2005 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung<br />

dieser Richtlinien zur Vernehmlassung verabschiedet.<br />

Genehmigung Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 23. Mai 2006<br />

vom Senat der SAMW genehmigt.<br />

Impressum<br />

Gestaltung<br />

vista point, Basel<br />

Druck<br />

Schwabe, Muttenz<br />

1. Auflage 2000 (Juni 2006)<br />

Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

Fax: +41 61 269 90 39<br />

E-Mail: mail @ samw.ch<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website<br />

www.samw.ch verfügbar.<br />

16


MEDIZIN-<br />

ETHISCHE<br />

Palliative Care<br />

RICHT-<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Palliative Care<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 23. Mai 2006.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN 6<br />

1. Definition 6<br />

2. Anwendungsbereich 6<br />

3. Allgemeine Aspekte von Palliative Care 7<br />

4. Grundwerte und Haltungen 7<br />

4.1. Würde des Patienten 7<br />

4.2. Autonomie 8<br />

5. Entscheidungsprozesse 8<br />

6. Kommunikation 9<br />

7. Kontinuität und interdisziplinäre Vernetzung 10<br />

8. Palliative Care in verschiedenen Bereichen der Medizin 10<br />

8.1. Palliative Care in der Pädiatrie 11<br />

8.2. Palliative Care in der Intensivmedizin 13<br />

8.3. Palliative Care in der Onkologie 13<br />

8.4. Palliative Care in der Altersmedizin 14<br />

8.5. Palliative Care in der Psychiatrie 15<br />

9. Sterben und Tod 15<br />

9.1. Palliative Care bei Patienten am Lebensende 15<br />

9.2. Abschied und Trauer 17<br />

10. Forschung 17<br />

III. EMPFEHLUNGEN 18<br />

IV. ANHANG 19<br />

Literatur 19<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 20


I. PRÄAMBEL<br />

In verschiedenen medizin-ethischen Richtlinien, welche in den letzten Jahren von<br />

der SAMW publiziert wurden, ist von Palliative Care 1 die Rede. Die Definitionen<br />

sind uneinheitlich, das Verständnis für Palliative Care ist unterschiedlich und deren<br />

Stellenwert in der medizinischen Tätigkeit immer noch umstritten. Deshalb<br />

wurde angeregt, für diesen Bereich eigenständige medizin-ethische Richtlinien<br />

auszuarbeiten.<br />

Die Entwicklungen und Fortschritte in der Medizin führen nebst Erfolgen auch zu<br />

einer Zunahme von komplexen medizinischen Situationen. Die fortschreitende<br />

Spezialisierung bringt teilweise eine fragmentierte Sicht- und Behandlungsweise<br />

mit sich, welche die Gefahr in sich birgt, den Patienten 2 , seine Lebensqualität<br />

und sein Leiden aus den Augen zu verlieren. Lebensqualität kann nicht primär<br />

medizinisch definiert werden, sondern ist im lebensgeschichtlichen Kontext zu<br />

verstehen; das heisst die Sicht des Patienten ist entscheidend. Mit einem Ansatz,<br />

welcher neben körperlichen Symptomen auch psychische, soziale und spirituelle<br />

Aspekte ernst nimmt, strebt Palliative Care an, Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen<br />

oder chronisch fortschreitenden Krankheiten während des Krankheitsverlaufes<br />

bis zum Tod eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen.<br />

Dies gilt insbesondere auch für die Neonatologie, die Intensivmedizin, die Geriatrie<br />

und die Psychiatrie.<br />

Die nachfolgenden Richtlinien sollen die Anwendung von Palliative Care im medizinischen<br />

Alltag aller Fachbereiche unterstützen, 3 dies auch in Situationen, in<br />

denen noch kurative medizinisch-therapeutische Optionen sinnvoll sind. Ihr<br />

Ziel ist es, zu einer Haltung zu ermutigen, welche die Grenzen der Medizin anerkennt<br />

und sich dem Sterben des Patienten und dem häufig anklingenden Gefühl<br />

der Hilflosigkeit stellt.<br />

1 Palliative Care wird im umfassenden Sinn als Oberbegriff verwendet, weil es in der deutschen<br />

Sprache keinen entsprechenden Begriff gibt.<br />

2 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

3 Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder verbindliches<br />

Standesrecht.<br />

5


II.<br />

RICHTLINIEN<br />

1. Definition<br />

Unter Palliative Care wird eine umfassende Behandlung und Betreuung von<br />

Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen oder chronisch fortschreitenden<br />

Krankheiten verstanden. Ihr Ziel ist es, den Patienten eine möglichst gute<br />

Lebensqualität zu ermöglichen. Dies schliesst die Begleitung der Angehörigen<br />

mit ein. Leiden soll optimal gelindert werden und entsprechend den Wünschen<br />

des Patienten sind auch soziale, seelisch-geistige und religiös-spirituelle Aspekte<br />

zu berücksichtigen. Qualitativ hoch stehende Palliative Care ist auf professionelle<br />

Kenntnisse und Arbeitsweisen angewiesen und erfolgt soweit möglich an<br />

dem Ort, den der Patient sich wünscht. Ihr Schwerpunkt liegt in der Zeit, in der<br />

Sterben und Tod absehbar werden, doch ist es oft sinnvoll, Palliative Care vorausschauend<br />

und frühzeitig, eventuell bereits parallel zu kurativen Massnahmen<br />

einzusetzen.<br />

Im Einzelnen heisst dies, Palliative Care:<br />

– respektiert das Leben und seine Endlichkeit;<br />

– achtet die Würde und Autonomie des Patienten und stellt seine Prioritäten<br />

in den Mittelpunkt;<br />

– wird unabhängig vom Lebensalter jedem Patienten angeboten, der an<br />

einer unheilbar fortschreitenden Krankheit leidet;<br />

– strebt die optimale Linderung von belastenden Symptomen wie<br />

Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Angst oder Verwirrung an;<br />

– ermöglicht auch rehabilitative, diagnostische und therapeutische Massnahmen,<br />

die zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen;<br />

– unterstützt Angehörige bei der Krankheitsbewältigung und der<br />

eigenen Trauer.<br />

2. Anwendungsbereich<br />

Bei allen Krankheiten ohne Heilungsaussicht und begleitend in Situationen mit<br />

unklarer Heilungsaussicht soll Palliative Care integriert werden:<br />

– unabhängig vom Lebensalter für alle Menschen (vom Früh- und Neugeborenen<br />

bis zum alten Menschen);<br />

– sowohl in der Betreuung zuhause (z.B. durch ambulante Dienste) als auch<br />

in stationären Einrichtungen;<br />

– in allen medizinischen und pflegerischen Fachbereichen, sowie<br />

– vernetzt in der Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern,<br />

Thera peuten, Seelsorgern, Angehörigen 4 und Freiwilligen.<br />

4 Als Angehörige im Sinne dieser Richtlinien werden die einem Patienten nahe stehenden Personen,<br />

ins besondere Ehe- oder Lebenspartner, und nächste Verwandte oder enge Bezugspersonen bezeichnet.<br />

6


3. Allgemeine Aspekte von Palliative Care<br />

In der Medizin stellen sich Fragen der Palliative Care in allen Bereichen. Kurative Behandlungen<br />

und Palliative Care ergänzen sich häufig und bilden ein Ganzes. Eine<br />

scharfe Trennlinie zwischen kurativem und palliativem Ansatz existiert deshalb<br />

nicht. Ausschlaggebend ist die Änderung in der Haltung des Patienten sowie der Behandelnden<br />

beim Festlegen des Therapiezieles. Im Vordergrund des palliativen Ansatzes<br />

steht die Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Krankheit, dem persönlichen<br />

Schicksal des Patienten, mit seinem Umfeld, seiner Lebensgeschichte, seinem<br />

Glauben bzw. seinen Lebensüberzeugungen, speziell mit seinen Gedanken und Gefühlen<br />

gegenüber Leiden, Sterben und Tod (bio-psycho-sozialer Krankheitsbegriff).<br />

Palliative Care ist jedoch auch Missverständnissen, überhöhten Erwartungen und<br />

Gefahren ausgesetzt:<br />

Zu den Missverständnissen gehört, dass:<br />

– alle belastenden Symptome immer genügend gelindert werden können;<br />

– jede lindernde Behandlung bereits Palliative Care ist;<br />

– Palliative Care auf Sterbebegleitung reduziert wird;<br />

– Palliative Care gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf kurative Behandlungsansätze.<br />

Zu den überhöhten Erwartungen an Palliative Care gehört, dass:<br />

– der Wunsch nach begleitetem Suizid oder aktiver Sterbehilfe in allen<br />

Situationen zurücktritt;<br />

– das Sterben so beeinflusst werden kann, dass es immer zu einem<br />

friedlichen Sterben kommt.<br />

Zu den Gefahren gehört, dass:<br />

– sich Palliative Care auf das Verschreiben von Opioiden beschränkt;<br />

– Palliative Care ausschliesslich an Spezialisten delegiert wird;<br />

– Palliative Care zum Ersatz von sinnvollen kurativen Optionen wird;<br />

– Palliative Care aufgrund ökonomischer Überlegungen zur Vorenthaltung<br />

von medizinisch indizierten Massnahmen eingesetzt wird.<br />

4. Grundwerte und Haltungen<br />

Im Folgenden werden jene Grundwerte und Haltungen hervorgehoben, welche<br />

für Palliative Care von besonderer Bedeutung sind.<br />

4.1. Würde des Patienten<br />

Die Würde ist mit dem Menschsein gegeben, ist also unabhängig von der Bewusstseinslage<br />

eines Menschen oder einem bestimmten Kontext. In diesem Sinn ist<br />

Würde unverlierbar und muss bedingungslos respektiert werden. In Situationen<br />

der Schwäche – beispielsweise bei fortgeschrittener Erkrankung und im Sterben –<br />

ist sie allerdings leicht verletzbar.<br />

7


Die Orientierung an der Würde des Patienten zeigt sich insbesondere darin, dass<br />

die Behandelnden und Begleitenden:<br />

– den unheilbar kranken oder sterbenden Patienten in seiner Einzigartigkeit<br />

sehen und ihm individuell begegnen;<br />

– der besonderen Verletzlichkeit des Patienten sowohl im Verhalten als auch<br />

in jeder Form der Kommunikation Rechnung tragen;<br />

– sich auf Fragen von Sinn und Sinnlosigkeit sowie Endlichkeit einlassen und<br />

dem Patienten die Möglichkeit geben, auch existentielle Fragen anzusprechen.<br />

Die Achtung der Würde einer Person schliesst die Respektierung seiner Autonomie<br />

ein.<br />

4.2. Autonomie<br />

Unter Autonomie wird die Fähigkeit einer Person verstanden, ihren Willen auszudrücken<br />

und in Übereinstimmung mit ihren Werten und Überzeugungen zu<br />

leben. Sie ist abhängig vom Informationsstand, der aktuellen Situation und der<br />

Bereitschaft und Fähigkeit des Betroffenen, Verantwortung für das eigene Leben<br />

und Sterben zu übernehmen. Autonomie beinhaltet auch Verantwortung anderen<br />

gegenüber.<br />

Autonomie zu respektieren bedeutet für die Betreuenden:<br />

– dem biografischen Hintergrund der kranken Person Rechnung zu tragen;<br />

– die Familiendynamik im Auge zu behalten;<br />

– die kranke Person und ihre Angehörigen so klar und offen wie möglich<br />

zu informieren;<br />

– sich zu vergewissern, ob die Informationen verstanden wurden;<br />

– sich immer wieder zu vergewissern, ob der Wille der kranken Person richtig<br />

verstanden wurde und ihm im Rahmen des Möglichen entsprochen wird;<br />

– sich bei urteilsunfähigen Patienten an allfällig von ihnen im Voraus mündlich<br />

formulierten oder schriftlich dokumentierten Werte- und Willensäusserungen<br />

(z.B. Patientenverfügung 5 ) zu orientieren.<br />

5. Entscheidungsprozesse<br />

Der Entscheid über die Durchführung, den Abbruch oder das Unterlassen einer<br />

vorgeschlagenen medizinischen Massnahme liegt beim urteilsfähigen 6 Patienten,<br />

nachdem er umfassend und verständlich informiert worden ist (informed consent).<br />

Die für den Patienten notwendigen Entscheidungsgrundlagen werden in<br />

der Regel im Betreuungsteam erarbeitet. Dabei soll ein Resultat angestrebt werden,<br />

5 Vgl. «Patientenverfügungen». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

6 Die Urteilsfähigkeit wird im Hinblick auf eine bestimmte Handlung abgeschätzt und zwar im Zusammenhang<br />

mit dem Komplexitätsgrad dieser Handlung. Sie muss im Moment des Entscheides vorhanden<br />

sein. Auch Minderjährige oder Entmündigte können bezüglich Einwilligung oder Verweigerung einer Behandlung<br />

urteilsfähig sein.<br />

8


welches von allen Beteiligten mitgetragen werden kann. Wesentliche Beschlüsse<br />

werden schriftlich festgehalten, regelmässig überprüft und allenfalls angepasst.<br />

Dem Patienten wird für die Entscheidung – soweit möglich – ausreichend Zeit<br />

eingeräumt. Faktoren, welche den Entscheid beeinflussen können, wie beispielsweise<br />

Erwartungen Dritter oder das Gefühl, den anderen zur Last zu fallen, müssen<br />

angesprochen werden.<br />

Besonders schwierig sind Situationen, in welchen der betroffene Patient hinsichtlich<br />

einer medizinischen Massnahme nicht mehr urteilsfähig ist. Der behandelnde<br />

Arzt muss sicherstellen, dass abgeklärt wird, ob eine Patientenverfügung vorhanden<br />

ist. Hat sich der Patient in Bezug auf die in Frage stehende medizinische Massnahme<br />

nicht geäussert, so erstellt das Betreuungsteam unter Einbezug der vertretungsberechtigten<br />

Person 7 einen Behandlungsplan. Soweit möglich wird auch die<br />

urteilsunfähige Person in die Entscheidfindung einbezogen. Der Entscheid über<br />

den Behandlungsvorschlag wird letztlich von der Vertretungsperson getroffen.<br />

Diese muss nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen des Patienten<br />

entscheiden. Damit lastet eine hohe Verantwortung auf einer emotional stark involvierten<br />

Person. Es sollte deshalb oberstes Ziel sein, bezüglich Behandlungsvorschlag<br />

einen von allen Seiten getragenen Konsens zu erzielen.<br />

Bei schwierigen Entscheiden kann eine ethische Unterstützung 8 hilfreich sein.<br />

6. Kommunikation<br />

Zur palliativen Behandlung und Betreuung gehört wesentlich der Aspekt der offenen,<br />

adäquaten und einfühlsamen Kommunikation mit dem Patienten und auf<br />

dessen Wunsch mit seinen Angehörigen. Eine verständliche und wiederholte, stufenweise<br />

Aufklärung versetzt den Patienten in die Lage, realistische Erwartungen<br />

zu entwickeln und ermöglicht eine eigenständige Willensbildung und Entscheidung.<br />

Grundvoraussetzungen dazu sind Empathie und Wahrhaftigkeit gegenüber<br />

dem Patienten und die Bereitschaft, Möglichkeiten und Grenzen der kurativen<br />

wie der palliativen Behandlung offen zu legen.<br />

Manchmal möchte sich ein Patient nicht realistisch mit seiner Krankheit auseinandersetzen.<br />

Diese Haltung ist zu respektieren. Sie erlaubt dem Kranken, Hoffnungen<br />

zu hegen, die ihm helfen können, eine schwierige Situation besser auszuhalten.<br />

Hoffnung hat einen eigenständigen Wert, welcher palliative Wirkung<br />

entfalten kann.<br />

7 Das Gesetz erklärt folgende Personen bei medizinischen Massnahmen als vertretungsberechtigt: In erster<br />

Linie Personen, die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet wurden.<br />

In zweiter Linie der Beistand mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen, danach Angehörige<br />

und weitere Bezugspersonen, die dem Patienten regelmässig persönlich Beistand leisten (Ehegatte<br />

bzw. eingetragener Partner, Personen im gleichen Haushalt, Nachkommen, Eltern, Geschwister). Für minderjährige<br />

Patienten sind die Inhaber der elterlichen Sorge vertretungsberechtigt.<br />

8 Vgl. «Ethische Unterstützung in der Medizin». Empfehlungen der SAMW.<br />

9


Drücken Angehörige den Wunsch aus, den Kranken vor schlechten Nachrichten<br />

zu schonen, oder umgekehrt die Verleugnung der Krankheit durch den Patienten<br />

nicht zu berücksichtigen, müssen die Hintergründe für solche Wünsche thematisiert<br />

werden. Das Recht des Patienten auf Aufklärung bzw. Nicht-Wissen steht<br />

jedoch über den Wünschen der Angehörigen. Die Angehörigen sollen aber im<br />

Umgang mit dieser schwierigen Situation unterstützt werden.<br />

Die Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden ist mit einem Risiko von<br />

Spannungen und Konflikten zwischen Patient, Angehörigen und Betreuenden<br />

verbunden. Ein einheitlicher Informationsstand, regelmässige Gespräche sowie<br />

die Bestimmung einer Bezugsperson können hilfreich sein, um Spannungen zu<br />

vermindern oder Konflikte zu bewältigen.<br />

7. Kontinuität und interdisziplinäre Vernetzung 9<br />

In der Palliative Care sind für den Patienten und seine Angehörigen nebst den<br />

Ärzten und Pflegenden oft weitere Fachpersonen 10 sowie Freiwillige wichtige Säulen<br />

des Betreuungs- und Beziehungsnetzes. Für eine gute Zusammenarbeit ist die<br />

gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung unerlässlich. Dies erfordert die Wahrnehmung<br />

und die Anerkennung der eigenen Grenzen und Möglichkeiten.<br />

Die Sicherstellung der Kontinuität in der Behandlung und Begleitung stellt eine<br />

spezielle Herausforderung dar. Ermöglicht wird dies durch die Vernetzung aller involvierten<br />

Fachleute, nicht nur innerhalb der Institution, sondern auch zwischen<br />

Hausarzt, ambulanten und stationären Einrichtungen und den Institutionen<br />

untereinander. Durch die Bestimmung einer verantwortlichen Bezugs- und Ansprechperson<br />

für den Patienten können die organisatorischen Voraussetzungen<br />

dafür geschaffen werden. Der Hausarzt besitzt hier eine Schlüsselfunktion.<br />

Die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit entbindet die behandelnden<br />

Ärzte, Pflegenden und weiteren Fachpersonen nicht von ihrer Verantwortung<br />

für die Entscheidungen und Massnahmen in ihrem Zuständigkeitsbereich.<br />

8. Palliative Care in verschiedenen Bereichen der Medizin<br />

Palliative Care im Sinne der Symptomlinderung, aber auch als Unterstützung bei<br />

der Krankheitsbewältigung kann bei allen chronischen Erkrankungen notwendig<br />

sein. Die optimierte Therapie der Grundkrankheit ist meistens auch die beste<br />

Symptomlinderung; kurative und palliative Ansätze ergänzen sich. Viele Krankheiten<br />

wie chronische Herz-, Lungen- und Nierenkrankheiten, aber auch neuro-<br />

9 Mit Interdisziplinarität ist sowohl die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche als auch der verschiedenen<br />

Berufsgruppen gemeint.<br />

10 Als weitere Fachpersonen sind beispielsweise die Physio-, Ergo-, Kunst-, Musik-, Ernährungstherapeuten,<br />

Seelsorger und spiritueller Beistand gemäss Wunsch des Patienten, Psychotherapeuten und<br />

Sozialarbeiter zu erwähnen.<br />

10


logische Leiden können neben zunehmender Invalidisierung und Abhängigkeit<br />

zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Palliative Care bedeutet in diesen Fällen,<br />

dass neben der Erhaltung der Lebensqualität durch unterstützende und lindernde<br />

Massnahmen der Umgang mit möglichen Verschlechterungen und akut<br />

bedrohlichen Situationen mit allen Beteiligten rechtzeitig und vorausschauend<br />

diskutiert wird (Advance Care Planning). 11<br />

8.1. Palliative Care in der Pädiatrie<br />

Die Todesursachen im Kindes- und Jugendalter unterscheiden sich massgeblich<br />

von jenen im Erwachsenenalter und haben unterschiedliche Implikationen für<br />

die palliative Begleitung des Kindes oder des Jugendlichen und seiner Familie. Bezüglich<br />

Alter, Krankheits- und Todesursachen können drei Gruppen unterschieden<br />

werden: Früh- und Neugeborene, Kinder und Jugendliche sowie schwerst behinderte<br />

Kinder. 12<br />

Früh- und Neugeborene 13<br />

Die Hälfte der Todesfälle im Kindesalter betrifft Neugeborene, dies vor allem infolge<br />

Frühgeburtlichkeit, angeborenen Erkrankungen und Fehlbildungen. Unter<br />

einem grossen Zeitdruck müssen oft weitreichende Entscheidungen getroffen werden.<br />

Für Eltern ist die Situation sehr belastend, da sie weder mit ihrem Kind noch<br />

mit der medizinischen Situation vertraut sind. Ihrem Einbezug in die Entscheidungsprozesse<br />

muss deshalb besondere Sorgfalt gewidmet werden.<br />

In der Neonatologie ist deshalb folgendes zu beachten:<br />

– Für die Entscheidungsfindung wird soviel Zeit wie möglich eingeräumt. Vorläufige<br />

lebenserhaltende Massnahmen können hilfreich sein.<br />

– In die Entscheidung fliessen auch Überlegungen über mögliche Folgen des<br />

Überlebens des Kindes ein. Hierbei ist zu beachten, dass die Prognose in dieser<br />

Patientengruppe besonders schwierig zu stellen ist.<br />

– Zu erwartende Komplikationen werden frühzeitig angesprochen.<br />

– Der adäquaten Schmerz- und Symptomkontrolle wird besondere Aufmerksamkeit<br />

gewidmet, weil das Erkennen von Schmerzen bei diesen Patienten besonders<br />

schwierig ist.<br />

11 Dies beinhaltet beispielsweise das Ansprechen von Fragen der Indikation für weitere medikamentöse<br />

Interventionen, Hospitalisationen, Verlegungen, operative Massnahmen, Aufenthalte auf der Intensivstation,<br />

künstliche Beatmung oder Reanimationsmassnahmen.<br />

12 Wenn nachfolgend vom Kind gesprochen wird, ist immer auch der Jugendliche gemeint.<br />

13 Vgl. die Empfehlungen «Perinatale Betreuung an der Grenze der Lebensfähigkeit zwischen 22 und 26<br />

vollendeten Schwangerschaftswochen». Schweiz Ärztezeitung. 2012; 93(4): 97-100; vgl. Cignacco E,<br />

Stoffel L, Raio L, Schneider H, Nelle M. «Empfehlungen zur Palliativpflege von sterbenden Neugeborenen».<br />

Z Geburtsh Neonatol. 2004; 208: 155 –160; vgl. «Grenzfragen der Intensivmedizin». Medizinethische<br />

Richtlinien der SAMW; vgl. «Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten<br />

Langzeitpatienten». Medizin-ethische Richtlinien der SAMW.<br />

11


– Eltern erhalten Zeit und Raum um Abschied zu nehmen, wenn ihr Kind stirbt.<br />

Das Betreuungsteam begleitet sie in diesem Prozess.<br />

– Die Bestattung von früh- oder totgeborenen Kindern ist ein wichtiger Bestandteil<br />

der Trauerverarbeitung. Familien werden hierfür unterstützt, beraten und<br />

begleitet.<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Krebs- und Herzerkrankungen sowie Krankheitsfolgen aus der Neugeborenenperiode<br />

sind neben Unfällen und Suiziden die häufigsten Todesursachen bei Kindern<br />

und Jugendlichen.<br />

Folgende Aspekte spielen in der palliativen Betreuung eine wichtige Rolle:<br />

– Das Kind steht im Zentrum und wird in Entscheidungen – angepasst an Alter,<br />

Entwicklung, Befinden und am eigenen Bedürfnis – einbezogen. 14<br />

– Das Kind wird im Kontext seiner Familie gesehen.<br />

– Das kranke Kind entwickelt sich weiter und behält gesunde Anteile und Bedürfnisse<br />

nach gewohnter Beschäftigung. Hieraus erklärt sich die Wichtigkeit<br />

für die Aufrechterhaltung eines altersgemässen Alltages (z.B. Kindergartenoder<br />

Schulbesuch).<br />

– Dem sterbenden Kind wird ermöglicht, letzte Dinge zu regeln.<br />

– Abschiedsrituale sind für die zurückbleibende Familie von grosser Bedeutung.<br />

Die Familie, inklusive Geschwister, wird hierbei unterstützt.<br />

Schwerst behinderte Kinder 15<br />

Die Betreuung von Kindern mit angeborener oder erworbener schwerster körperlicher<br />

und geistiger Behinderung ist besonders anspruchsvoll und aufwändig.<br />

Diese Kinder werden häufig in sozialpädagogischen Langzeit-Einrichtungen<br />

betreut.<br />

Dabei ist folgendes zu beachten:<br />

– Neben dem sozialpädagogischen Ansatz kommt der Erkennung behandelbarer<br />

und häufig unterschätzter Symptome wie Schmerzen eine zentrale Bedeutung<br />

zu. Deshalb muss der Zugang zu adäquater ärztlicher und pflegerischer Betreuung<br />

gewährleistet sein.<br />

– Für die Behandlung dieser Kinder sind spezifische Kenntnisse nötig. Speziell<br />

entwickelte Instrumente, z.B. zur Schmerzbeurteilung, sind einzusetzen.<br />

14 Minderjährige können bezüglich der Behandlungseinwilligung urteilsfähig sein. Die Urteilsfähigkeit wird<br />

für die konkrete Situation und für die konkrete Handlung (Einwilligung) beurteilt.<br />

15 Vgl. «Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten». Medizinethische<br />

Richtlinien der SAMW.<br />

12


8.2. Palliative Care in der Intensivmedizin<br />

Das Betreuungsteam einer Intensivstation setzt sich für das Überleben eines Patienten<br />

ein, im Wissen um eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass der Patient trotz<br />

allem sterben wird. In vielen Fällen verlängert sich die Zeitspanne der Ungewissheit<br />

aufgrund der zunehmenden therapeutischen Möglichkeiten. In diesen Situatio nen<br />

ist das Team aufgefordert, angesichts der prognostischen Unsicherheit para l lel zu<br />

den therapeutischen auch palliative Massnahmen in Betracht zu ziehen.<br />

Palliative Care in der Intensivmedizin bedeutet insbesondere, dass:<br />

– eine adäquate Schmerz- und Symptomkontrolle alle anderen medizinischen<br />

Massnahmen ergänzt;<br />

– zu erwartende Komplikationen frühzeitig angesprochen werden;<br />

– Intensität und Grenzen der Therapie sowie die Erwartungen des Patienten in<br />

Bezug auf die Behandlung am Lebensende diskutiert werden;<br />

– trotz Zeitdruck Entscheidungsprozesse und Anpassungen der Behandlungsziele<br />

stattfinden können;<br />

– soweit möglich Patienten und Angehörige offen über die Schwere der Erkrankung<br />

und die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs informiert werden.<br />

8.3. Palliative Care in der Onkologie<br />

Im Gegensatz zu chronisch-degenerativen Leiden ist «Krebs» in unserem Bewusstsein<br />

noch häufig Sinnbild der Unheilbarkeit und des Todes. Diese metaphorische<br />

Bedeutung beeinflusst den Patienten, seine Angehörigen und seine Betreuer. Auch<br />

wenn in einer bestimmten Situation für alle Beteiligten palliative Massnahmen<br />

im Vordergrund stehen müssten, kann die Schwierigkeit im Umgang mit der Unvermeidlichkeit<br />

von Sterben und Tod behandelnde Ärzte und Patienten dazu verleiten,<br />

dennoch eine kaum erfolgversprechende Tumortherapie durchzuführen.<br />

Es besteht dann die Gefahr, dass therapeutischer Übereifer zu einer Vernachlässigung<br />

der palliativen Aspekte führt. Der wichtigste Teil eines solchen Therapieangebots<br />

besteht oft darin, die Hilflosigkeit erträglicher zu machen. Damit sich<br />

Krebskranke nicht aus unrealistischer Hoffnung einer aussichtslosen Therapie mit<br />

belastenden Nebenwirkungen unterziehen, ist die angemessene Information über<br />

die Vor- und Nachteile einer tumorreduzierenden Therapie und die Möglichkeiten<br />

und Grenzen von Palliative Care von grosser Bedeutung.<br />

Für Palliative Care in der Onkologie soll folgendes berücksichtigt werden:<br />

– Unheilbarer Krebs ist eine Krankheit mit begrenzter Überlebenszeit, die sich im<br />

körperlichen, psychischen und sozialen Bereich auswirkt.<br />

– Der Patient wird angemessen informiert über die Prognose mit oder ohne Therapie<br />

und die mögliche Einschränkung der Lebensqualität durch Nebenwirkungen<br />

der Therapie. Chemo- und Strahlentherapien können dem Patienten nicht nur<br />

mit kurativer sondern auch mit palliativer Zielsetzung vorgeschlagen werden. Der<br />

Nutzen und die Belastung durch Nebenwirkungen solcher Therapien sollen mit<br />

besonderer Sorgfalt abgewogen und mit dem Patienten besprochen werden.<br />

13


– Eine Sequentialität zwischen kurativem und palliativem Ansatz kann vermieden<br />

werden, wenn eine kompetente und adäquate Symptomkontrolle bereits<br />

zu einem Zeitpunkt einsetzt, in welchem noch eine Heilungschance besteht<br />

und wenn Verläufe angemessen antizipiert werden.<br />

– Spannungen und Konflikte zwischen Patienten, Betreuenden und Familienmitgliedern<br />

sind häufig. Sie sind in der Regel Ausdruck unterschiedlicher oder<br />

unerfüllbarer Erwartungen. Nur die wiederholte und authentische Information<br />

erlaubt es den Beteiligten, realistische Erwartungen zu entwickeln.<br />

– Der Verzicht auf eine unbegrenzte Weiterführung des Kampfes gegen den<br />

Krebs kann dem Patienten und seinen Angehörigen Raum und Zeit geben, um<br />

Abschied zu nehmen und wichtige Dinge zu regeln.<br />

8.4. Palliative Care in der Altersmedizin 16<br />

Die Lebensphase des Alters ist häufig verbunden mit chronischen Krankheiten<br />

und Multimorbidität. Durch die Fortschritte der Medizin existieren heute viele<br />

Möglichkeiten für komplexe Eingriffe und Therapien. Es besteht die Gefahr, den<br />

multimorbiden geriatrischen Patienten als Summe von Organstörungen zu betrachten<br />

und jede einzeln zu behandeln, was zu einer zunehmenden Anzahl eingesetzter<br />

Medikamente führt. Palliative Care unterstützt den geriatrischen Ansatz,<br />

Sinn der Behandlung, Compliance des Patienten und Interaktionen regelmässig<br />

zu überprüfen. Die Indikation für Interventionen ist vor allem am Einfluss auf die<br />

Lebensqualität und am Gewinn an Selbständigkeit zu messen und nicht an der<br />

medizinischen Machbarkeit. Andererseits dürfen keine Behandlungsoptionen nur<br />

auf Grund des Alters des Patienten ausgelassen werden.<br />

Chronische Schmerzen sind bei betagten Patienten häufig, werden aber oft ungenügend<br />

behandelt, weil die Patienten und das Betreuungsteam sie als unabänderliche<br />

Tatsache hinnehmen. Eine Erfassung mit geeigneten Instrumenten ist<br />

bei allen Patienten, insbesondere bei Demenzkranken, wichtig, um eine adäquate<br />

Schmerztherapie zu ermöglichen.<br />

Ältere, meist multimorbide Menschen, äussern oft Sterbewünsche. Aufgabe des<br />

Behandlungsteams ist es in dieser Situation, den Hintergrund des Wunsches zu<br />

ergründen, belastende Symptome zu lindern und allfällige Depressionen zu erkennen<br />

und zu behandeln. Sterbewünsche sind nicht primär als Suizidwünsche,<br />

sondern als Ausdruck existentieller Not zu betrachten.<br />

16 Vgl. «Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen». Medizin-ethische<br />

Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

14


Bei eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit sind nonverbale Willensäusserungen<br />

wie eine Nahrungs- oder Medikamentenverweigerung nach Ausschluss<br />

behandelbarer Ursachen zu respektieren. 17 Dokumentierte frühere Willensäusserungen<br />

(Patientenverfügung) sind grundsätzlich verbindlich.<br />

8.5. Palliative Care in der Psychiatrie<br />

Viele psychiatrische Leiden können chronisch verlaufen oder sind durch häufige<br />

Rezidive charakterisiert. Umso wichtiger ist in solchen Fällen ein palliativer Ansatz,<br />

der nicht in erster Linie das Bekämpfen der Krankheit zum Ziel hat, sondern<br />

den bestmöglichen Umgang mit der Symptomatik oder Behinderung. Oft kann<br />

die Lebensqualität verbessert und das Suizidrisiko gesenkt werden, wenn zusätzlich<br />

zu kurativen bzw. störungsorientierten Behandlungen eine palliative Unterstützung<br />

und Zuwendung stattfindet.<br />

Schwierige Situationen ergeben sich vor allem bei:<br />

– Therapierefraktären Depressionen mit wiederholtem Suizidwunsch;<br />

– Schweren Schizophrenien mit aus Sicht des Patienten ungenügender<br />

Lebensqualität;<br />

– Schwersten Anorexien;<br />

– Abhängigkeit von Suchtstoffen.<br />

Psychisch kranke Patienten können auch von somatischen Krankheiten betroffen<br />

sein. Es besteht dann das Risiko, dass deren Symptome übersehen bzw. nicht<br />

richtig eingeordnet werden. In diesen Situationen ist eine enge Kooperation von<br />

Psychiatern und Psychotherapeuten mit den Fachärzten anderer medizinischer<br />

Disziplinen notwendig.<br />

9. Sterben und Tod<br />

9.1. Palliative Care bei Patienten am Lebensende 18<br />

Patienten am Lebensende sind in besonderem Masse auf Palliative Care angewiesen.<br />

Was unter einem guten Sterben zu verstehen ist, kann nicht durch objektive<br />

Kriterien festgelegt werden, sondern ist von den individuell sehr unterschiedlichen<br />

Vorstellungen abhängig. Die Vorstellungen der Angehörigen und der Mitglieder<br />

des Betreuungsteams spielen bei der Beurteilung mit, dürfen aber nicht<br />

17 Vgl. «Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten». Medizinethische<br />

Richtlinien der SAMW. Kap. 4.4. insbesondere Kommentar ad 4.4.<br />

18 Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende». Medizin-ethische Richtlinien der<br />

SAMW, insbesondere auch die Definition von «Patienten am Lebensende» in Ziff. 1: «Damit sind Kranke<br />

gemeint, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur Überzeugung gekommen ist, dass ein<br />

Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäss innerhalb von Tagen oder einigen Wochen zum Tod führt.»<br />

15


entscheidend werden. Massgeblich sind die früheren Willensäusserungen des Patienten.<br />

Ein gutes Sterben kann auch durch optimale Palliative Care nicht garantiert<br />

werden, da es eng mit der Lebensgeschichte verknüpft ist. Medikamentöse<br />

und pflegerische Massnahmen sind mit dem Ziel der Symptomlinderung einzusetzen,<br />

belastende Massnahmen sollen unterlassen werden. Schmerzen und Leiden<br />

sollten gelindert werden, auch wenn dies in einzelnen Fällen zu einer Beeinflussung<br />

der Lebensdauer führen sollte. Die Beeinflussung der Lebensdauer,<br />

insbesondere deren Verkürzung, wird allgemein überschätzt.<br />

Behandlungsverzicht oder -abbruch<br />

Angesichts des Sterbeprozesses kann der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen<br />

oder deren Abbruch gerechtfertigt oder geboten sein. Ebenso besteht in den<br />

letzten Lebenstagen oft kein Bedürfnis mehr nach Flüssigkeit und Nahrung. Der<br />

Einsatz einer künstlichen Hydrierung erfordert eine sorgfältige Abwägung von erwarteter<br />

Wirkung und unerwünschten Nebenwirkungen. Bei der Entscheidungsfindung<br />

sollten Kriterien wie Prognose, voraussichtlicher Behandlungserfolg im<br />

Sinne der Lebensqualität sowie die Belastung durch die vorgeschlagene Therapie<br />

berücksichtigt werden.<br />

Sedation 19<br />

Palliative Care zielt darauf ab, die Fähigkeit des Patienten zur Kommunikation zu<br />

erhalten. Gelegentlich kann jedoch eine Sedation indiziert sein, um vorübergehend<br />

schwer behandelbare Symptome erträglich zu machen, bis entsprechende<br />

therapeutische Massnahmen die gewünschte Wirkung bringen.<br />

Sedation umschreibt die bewusste Verabreichung sedierender Medikamente in<br />

der kleinsten wirksamen Dosierung, in enger Zusammenarbeit mit einem kompetenten<br />

interdisziplinären Team, zur nachhaltigen Erleichterung eines oder mehrerer<br />

therapierefraktärer Symptome bei einem Patienten mit fortgeschrittener<br />

Erkrankung und limitierter Lebenszeit (Tage, Wochen) durch permanente oder<br />

zeitlich begrenzte Herabsetzung des Bewusstseinszustandes.<br />

Eine andauernde Sedation ist eine einschneidende Entscheidung. Sie wird, wann<br />

immer möglich, mit dem Patienten oder seiner Vertretungsperson vorbesprochen<br />

(Advance Care Planning).<br />

Für Angehörige oder die Betreuer ist es manchmal schwierig, das Leiden des Patienten<br />

auszuhalten. Dies darf aber kein Grund sein, eine Sedation einzuleiten,<br />

wenn sie nicht dem Wunsch des Patienten entspricht. Es wird empfohlen, klinikintern<br />

ein Entscheidungsprotokoll zu erstellen und zu befolgen, welches auch ein<br />

Nachgespräch mit Angehörigen und Betreuenden beinhaltet.<br />

19 Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende». Medizin-ethische Richtlinien,<br />

Kommentar zum Kapitel 3.1.<br />

16


In der besonderen Situation des Behandlungsabbruches (Extubation auf der Intensivstation),<br />

in welcher der Tod des Patienten absehbar wird, kann eine Sedation<br />

indiziert sein.<br />

Eine Sedierung am Lebensende darf nicht zur Lebensverkürzung eingesetzt werden,<br />

nimmt eine solche aber unter Umständen in Kauf. Sie setzt sich dadurch von<br />

der aktiven direkten Sterbehilfe ab.<br />

9.2. Abschied und Trauer<br />

Der Umgang mit Verstorbenen soll in der gleichen wertschätzenden Haltung erfolgen<br />

wie der Umgang mit Lebenden, unabhängig vom Ort des Sterbens.<br />

Dies bedeutet insbesondere, dass<br />

– im Umgang mit dem Leichnam die familiären, sozio-kulturellen und spirituellen<br />

Bedürfnisse der betroffenen Personen soweit als möglich berücksichtigt werden;<br />

– die Institution und ihre Mitarbeitenden ermöglichen, dass Angehörigen ihrem<br />

Bedürfnis entsprechend Raum und Zeit zur Verfügung steht um in angemessener<br />

Art und Weise Abschied von der verstorbenen Person zu nehmen. Den Angehörigen<br />

wird Unterstützung in ihrer Trauer angeboten oder vermittelt;<br />

– auch dem Betreuungsteam Aufmerksamkeit und Unterstützung gewidmet wird.<br />

10. Forschung<br />

Die Forschung in allen Bereichen von Palliative Care soll gefördert werden Forschung<br />

ist notwendig, um neue Methoden und Ansätze vor deren generellen Anwendung<br />

in der Praxis so objektiv wie möglich zu evaluieren. Angesichts der Subjektivität<br />

der gesammelten Grundlagen (z.B. Schmerz, Lebensqualität usw.) sollen<br />

die qualitativen und quantitativen Untersuchungsmethoden selbst vorab auf ihre<br />

Relevanz, Praktikabilität und Angemessenheit geprüft werden. Personen, welche<br />

palliativ behandelt werden, sind häufig besonders schutzbedürftig.<br />

17


III.<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

Die nachstehenden Empfehlungen richten sich insbesondere an die Institutionen<br />

des Gesundheitswesens, der Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie an politische<br />

Instanzen und Kostenträger.<br />

Nachfolgende Rahmenbedingungen werden als unerlässlich für die Umsetzung<br />

von Palliative Care im ambulanten und stationären Bereich erachtet:<br />

1. Die Förderung und Unterstützung der Palliative Care durch eidgenössische<br />

und kantonale Gesundheitsbehörden sowie die organisatorische und finanzielle<br />

Unterstützung von Palliative-Care-Netzwerken.<br />

2. Die Verankerung der Palliative Care als Ausbildungsinhalt in der Ausbildung<br />

(in den medizinischen Fakultäten, den Schulen für Pflegeberufe und den Therapieausbildungen),<br />

in der Weiterbildung (Weiterbildungscurricula der Fachgesellschaften,<br />

höhere Fachschulen der Pflege) und in der kontinuierlichen<br />

Fortbildung (Fachgesellschaften, <strong>FMH</strong>, SBK usw.).<br />

3. Das grundsätzliche Überdenken der Finanzierung von Palliative Care im stationären<br />

und ambulanten Bereich. Die Entscheidung für den Verzicht auf kurative<br />

Anstrengungen in aussichtslosen Situationen zu Gunsten eines palliativen<br />

Ansatzes darf für den Patienten nicht zu einer zusätzlichen finanziellen<br />

Belastung führen.<br />

4. Integration von Palliative Care in bestehende Behandlungs- und Pflegekonzepte<br />

und laufende Überprüfung der Qualität der angebotenen Palliative Care.<br />

5. Die Förderung der Forschung in allen Bereichen von Palliative Care.<br />

6. Die Information der Öffentlichkeit über Inhalte und Möglichkeiten der Palliative<br />

Care durch Berufsverbände und interessierte Organisationen (z.B. Krebsund<br />

Lungenliga, Herzstiftung usw.).<br />

18


IV.<br />

ANHANG<br />

Literatur<br />

Das Freiburger Manifest.<br />

Eine nationale Strategie für die Entwicklung von Palliative Care in der Schweiz. Freiburg 2001.<br />

Schweiz. Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung (SGPMP).<br />

Standards: Grundsätze und Richtlinien für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung in der Schweiz.<br />

2001.<br />

Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung der SGPMP.<br />

Aus- und Weiterbildung in «Palliative Care». Nationale Empfehlungen. 2002.<br />

The Barcelona Declaration on Palliative Care.<br />

Dec. 1995.<br />

WHO.<br />

Definition of Palliative Care. www.who.int/cancer/palliative/definition/en<br />

WHO Europe.<br />

Better Palliative Care for older people. 2004. www.euro.who.int/document/E82933.pdf<br />

WHO Europe.<br />

Palliative Care. The solid facts. 2004. www.euro.who.int/document/E82931.pdf<br />

EAPC Task Force.<br />

A Guide for the Development of Palliative Nurse Education in Europe.<br />

www.eapcnet.eu/LinkClick.aspx?fileticket=e9JnEa7YZDM%3D<br />

Council of Europe.<br />

Recommendation Rec (2003)24 of the Committee Ministers to member states on the organisation<br />

of palliative care. https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=Rec(2003)24&Language=lanEnglish&S<br />

ite=COE&BackColorInternet=DBDCF2&BackColorIntranet=FDC864&BackColorLogged=FDC864<br />

Council of Europe.<br />

Recommendation 1418 (1999). Protection of the human rights and dignity of the terminally ill and<br />

the dying. http://assembly.coe.int/main.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta99/EREC1418.htm<br />

American Academy of Pediatrics (AAP). Committee on Bioethics and<br />

Committee on Hospital Care.<br />

Palliative Care for children. Recommendations. Pediatrics. 2000; 106(2): 351 – 357.<br />

19


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 13. Juni 2003 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission<br />

mit der Ausarbeitung von Richtlinien zu Palliative Care beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Dr. med. Roland Kunz, Geriatrie/Palliative Care, Affoltern a. Albis (Vorsitz)<br />

Dr. med. Urs Aemissegger, Hausarztmedizin, Winterthur<br />

Dr. med. Eva Bergsträsser, Pädiatrie/Onkologie, Zürich<br />

Dr. med. Christian Hess, Innere Medizin, Affoltern am Albis<br />

Prof. Dr. med. Christoph Hürny, Geriatrie/Psycho-Onkologie, St.Gallen<br />

Christine Kaderli, Pflege Onkologie, Nussbaumen<br />

Dr. med. Hans Neuenschwander, Palliative Care/Onkologie, Lugano<br />

Françoise Porchet, M. en soins palliatifs et thanatologie, Lausanne<br />

Susan Porchet, M.A. Musiktherapie/Ausbildung Palliative Care, Birchwil<br />

Prof. Claude Regamey, Innere Medizin, Fribourg, Präsident ZEK ab 1.1.2006<br />

PD Dr. med. Bara Ricou, Intensivmedizin, Genf<br />

Lic. iur. Michelle Salathé, Recht, Basel<br />

Nelly Simmen, Msc, Pflege Palliative Care, Bern<br />

Dr. theol. Plasch Spescha, Spitalseelsorge und Ethik, Bern<br />

Prof. Dr. med. Michel B. Vallotton, Innere Medizin, Genf, Präsident ZEK bis 31.12.2005<br />

Beigezogene Experten<br />

Nationalrätin Christine Egerszegi, Mellingen<br />

Prof. Dr. med. Daniel Hell, Zürich<br />

Dr. med. Gérard Pfister, Genf<br />

Prof. Dr. med. Rudolf Ritz, Basel<br />

Prof. Dr. med. Hannes Stähelin, Basel<br />

Prof. Dr. med. Fritz Stiefel, Lausanne<br />

Prof. Dr. med. Andreas Stuck, Bern<br />

Dr. med. Philipp Weiss, Basel<br />

Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern<br />

Vernehmlassung<br />

Am 24. November 2005 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser Richtlinien<br />

zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 23. Mai 2006 vom Senat der SAMW<br />

genehmigt.<br />

Anpassungen<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht, Art. 360 ff.; Änderung vom 19. Dezember 2008).<br />

20


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

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Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. – 5. Auflage 15 000<br />

6. Auflage 3000 D, 1000 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


Version '13<br />

Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Zusammenarbeit<br />

Ärzteschaft – Industrie<br />

2


“A useful criterion in determining acceptable activities<br />

and relationships is: would you be willing to have these<br />

arrangements generally known?”<br />

“Physicians and the Pharmaceutical Industry”, Guidelines of<br />

the American College of Physicians, 1990


Richtlinien der Schweizerischen Akademie der<br />

Medizinischen Wissenschaften<br />

Zusammenarbeit<br />

Ärzteschaft – Industrie<br />

Vom Senat genehmigt am 29. November 2012. Diese Richtlinien ersetzen die<br />

Richtlinien der SAMW zur «Zusammenarbeit Ärzteschaft – Industrie» von 2006.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

0. Präambel2<br />

Grundsätze 3<br />

I. Klinische Forschung4<br />

Einleitung 4<br />

Richtlinien 4<br />

II. Aus-, Weiter- und Fortbildung8<br />

Einleitung 8<br />

Richtlinien 9<br />

III. Expertentätigkeit12<br />

Einleitung 12<br />

Richtlinien 12<br />

IV. Annahme von Geld- oder Naturalleistungen14<br />

Einleitung 14<br />

Richtlinien 14<br />

v. <strong>Anhang</strong>15<br />

Glossar 15<br />

Relevante Bestimmungen und Behörden 17<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 20


0. Präambel<br />

Die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten 1 mit der Industrie ist seit langem<br />

etabliert. Sie liegt grundsätzlich im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung<br />

und trägt vielfach zu einer Mehrung des Wissens bei. Diese Zusammenarbeit kann<br />

Interessenkonflikte und Abhängigkeiten mit sich bringen oder in Ausnahmefällen<br />

zu Konflikten mit dem Gesetz führen.<br />

Interessenkonflikte können materieller, psychologischer oder sozialer Natur sein.<br />

Sie sind nicht eine Folge eines bestimmten Handelns oder Unterlassens. Es ist dabei<br />

auch nicht entscheidend, ob sich eine Person in einer bestimmten Situation<br />

beeinflusst fühlt.<br />

Die SAMW veröffentlichte 2002 erstmals «Empfehlungen zur Zusammenarbeit<br />

Ärzteschaft – Industrie». Sie wurden 2005 teilrevidiert und in «Richtlinien» umbenannt,<br />

die ab 2006 galten. Diese Richtlinien flossen damals in die Standesordnung<br />

der <strong>FMH</strong> ein. Ausserdem setzte die SAMW damals eine Beratende Kommission<br />

für die Zusammenarbeit Ärzteschaft-Industrie 2 ein. Diese begleitete seither<br />

die praktische Anwendung und Interpretation der Richtlinien. 3<br />

In der Praxis wurden weiterer Präzisierungsbedarf und Lücken festgestellt. Daher<br />

beschloss die SAMW 2012, die Richtlinien zu revidieren. Neben der Überarbeitung<br />

und Ergänzung verschiedener Abschnitte wurde insbesondere das Kapitel «Expertentätigkeit»<br />

hinzugefügt.<br />

Die Richtlinien gelten für die Beziehungen der Ärzteschaft mit Zulieferern auf dem<br />

Gesundheitsmarkt, d.h. insbesondere mit Unternehmen der Pharma-, der Medizinprodukte-<br />

und der IT-Industrie. Sie sollen dabei zum richtigen Umgang mit Interessenkonflikten<br />

bei der Abgeltung von Leistungen von Ärzten durch finanzielle<br />

oder anderweitige Leistungen beitragen. Die Richtlinien sollen nicht verbieten,<br />

sondern durch das Empfehlen angemessener Verhaltensweisen im beruflichen<br />

Alltag zur Objektivität und Qualität der genannten Tätigkeiten, zur Transparenz,<br />

zur Vermeidung von Abhängigkeiten und zum bewussten Umgang mit Interessenkonflikten<br />

beitragen.<br />

1 Im Interesse der leichteren Lesbarkeit des Textes wird im Folgenden durchwegs die männliche<br />

Bezeichnung von Personen verwendet. Die entsprechenden Texte betreffen immer auch die weiblichen<br />

Angehörigen der genannten Personengruppen.<br />

2 www.samw.ch/de/Portraet/Kommissionen/Beratende-Kommission.html<br />

3 Swissmedic als zuständige Vollzugsbehörde publizierte in der Schweizerischen Ärztezeitung einen<br />

ergänzenden Beitrag zu ihrer Auslegung des Vorteilsverbots von Art. 33 HMG (www.saez.ch/docs/saez/<br />

archiv/de/2007/2007-39/2007-39-416.PDF).<br />

2


Die SAMW ist sich bewusst, dass solche Richtlinien nie für alle Einzelfälle direkt<br />

anwendbare Lösungen bieten können. Sie sind in der Praxis von allen Beteiligten<br />

im Sinne ihres Geistes nach bestem Wissen und Gewissen anzuwenden und einzuhalten.<br />

Deshalb sind die Ärzteschaft und Industrie als Partner aufgerufen, ihre Beziehungen<br />

in diesem wohlverstandenen Sinn zu gestalten und wo nötig zu verbessern.<br />

Grundsätze<br />

Entscheidend ist, dass die Beteiligten bei Interessenkonflikten nach folgenden<br />

Prinzipien vorgehen:<br />

– Trennungsprinzip: Ärztliches Handeln insbesondere gegenüber Patienten muss<br />

von versprochenen oder erhaltenen geldwerten Leistungen oder Vorteilen unabhängig<br />

sein. Die entsprechenden Vorgänge und Abläufe sind klar voneinander<br />

zu trennen.<br />

– Transparenzprinzip: Versprochene oder erhaltene geldwerte Leistungen oder<br />

Vorteile, insbesondere solche ohne direkte Gegenleistung, müssen offengelegt<br />

werden.<br />

– Äquivalenzprinzip: Leistung und Gegenleistung müssen in einem angemessenen<br />

Verhältnis zueinander stehen.<br />

– Dokumentationsprinzip: Alle Leistungen müssen schriftlich vereinbart werden.<br />

Dabei wird detailliert festgelegt, welcher Art die Leistung und das Entgelt dafür<br />

sind und welche Leistungen zu welchem Zweck konkret erbracht werden. Betreffen<br />

solche Vereinbarungen Mitarbeitende von Institutionen im Gesundheitswesen,<br />

so sind sie von deren Arbeitgeber oder Vorgesetzten zu genehmigen.<br />

– Vier-Augen-Prinzip: Wichtige Entscheidungen sollten nicht von einer einzelnen<br />

Person getroffen werden dürfen. Ziel ist es, das Risiko von Fehlern und Missbrauch<br />

zu reduzieren. Alle Verträge und finanzielle Transaktionen werden von<br />

2 Personen jeder Institution unterzeichnet.<br />

– Kontentrennungsprinzip: Drittmittel für Forschung und Lehre sind jeweils separat<br />

zu führen. Alle diesbezüglichen Transaktionen müssen transparent und revisionsfähig<br />

sein.<br />

Die Offenlegung von Interessenkonflikten bei der Zusammenarbeit von Ärzten mit<br />

der Industrie ist ein notwendiger erster Schritt zum richtigen Umgang damit. Für<br />

Ärzte in Forschung, Klinik und Praxis geht es dabei nicht nur um Rechtsfragen,<br />

sondern auch um ihre Berufsethik. Indem sich die Ärzteschaft selber Leitplanken<br />

gibt, mit denen die staatlichen Vorschriften durch eigenverantwortliche Verhaltensregeln<br />

präzisiert und ergänzt werden, unterstreicht sie ihren Willen zur Unabhängigkeit<br />

und Glaubwürdigkeit ihres Berufsstandes.<br />

3


I. Klinische Forschung<br />

Einleitung<br />

Die klinische Forschung bezweckt, Erkrankungen des Menschen auf wissenschaftlicher<br />

Basis zu verstehen und dieses Wissen zur Entwicklung wirksamer Erkennungs-,<br />

Präventions- und Behandlungsmethoden praxistauglich zu machen. Die<br />

klinische Forschung ist die unabdingbare Grundlage jeglichen Fortschritts in der<br />

Medizin.<br />

Klinische Forschung ist ein komplexer, sich über mehrere Stufen und Jahre erstreckender<br />

Prozess zur Entwicklung neuer, besserer und sicherer präventiver, diagnostischer<br />

und therapeutischer Produkte und Verfahren; sie wird an Universitäten,<br />

Kliniken, Forschungsinstitutionen und in Arztpraxen durchgeführt. Die<br />

Durchführung klinischer Forschung richtet sich nach strengen wissenschaftlichen,<br />

ethischen und rechtlichen Anforderungen, vor allem zur Gewährleistung<br />

des Schutzes der Versuchspersonen (vgl. <strong>Anhang</strong>).<br />

Die Zusammenarbeit klinischer Forscher mit der Industrie oder mit von ihr beauftragten<br />

Forschungsinstituten ist in vielen Bereichen eine wichtige Voraussetzung<br />

für innovative Forschung. Die Aussicht, mit einem Versuch oder dessen Ergebnissen<br />

finanzielle Vorteile oder Bekanntheit zu erlangen, kann Forscher jedoch<br />

dazu verleiten, bei der Planung, Durchführung oder Auswertung eines Versuches<br />

inkorrekt zu handeln. Die zur Gewährleistung der Qualität der Forschungsvorhaben<br />

und zum Schutz der darin einbezogenen Versuchspersonen geltenden Regeln 4<br />

bedürfen deshalb der Ergänzung durch Richtlinien, die zur Objektivität der Forschung,<br />

zur Vermeidung von Abhängigkeiten und zum bewussten Umgang mit<br />

Interessenkonflikten beitragen.<br />

Richtlinien<br />

1. Klinische Forschung orientiert sich an wissenschaftlichen und ethischen Standards.<br />

Klinische Forschung muss den jeweils aktuellen wissenschaftlichen und ethischen<br />

Anforderungen, den gesetzlichen Vorschriften und den international anerkannten<br />

Grundsätzen der «Good Clinical Practice» (GCP) bzw. «Guten Praxis<br />

der Klinischen Versuche» 5 entsprechen. Forschende verfügen von Gesetzes wegen<br />

über eine ihrer Funktion und Verantwortung im Forschungsprojekt entsprechende<br />

GCP-Ausbildung.<br />

4 Humanforschungsgesetz (HFG), Heilmittelgesetz (HMG), Leitlinien «Good Clinical Practice» (GCP)<br />

5 Zusätzlich muss gemäss Art. 9 Abs. 2 Bst. l VKlin die Prüferin oder der Prüfer über die erforderliche Ausbildung<br />

oder Erfahrung in der Guten Praxis der klinischen Versuche verfügen.<br />

4


2. Institutionen, die klinische Forschung betreiben, evaluieren regelmässig<br />

deren Qualität.<br />

Die wissenschaftliche Qualität klinischer Versuche ist aufgrund ihrer Originalität<br />

und Methodik sowie ihrer Resultate (einschliesslich der Offenlegung negativer Ergebnisse)<br />

zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind dabei die Qualität der Publikation<br />

und die Bedeutung der aus der Forschung resultierenden Erkenntnisse.<br />

3. Alle klinischen Versuche werden in einem öffentlich zugänglichen<br />

Register erfasst.<br />

Die Erfassung bezweckt insbesondere,<br />

– die korrekte und vollständige Veröffentlichung der Ergebnisse zu<br />

gewährleisten,<br />

– dass Protokolländerungen wissenschaftlich nachvollziehbar und<br />

begründet sind, und<br />

– nachträgliche, GCP-widrige Veränderungen am Versuchsprotokoll<br />

zu erkennen.<br />

Dem Register sollen die relevanten Kenngrössen zu einem Versuch entnommen<br />

werden können 6 .<br />

4. Der verantwortliche Forscher und seine Mitarbeiter haben kein finanzielles<br />

Interesse am Versuch oder dessen Ergebnis.<br />

Die an einem Versuch beteiligten Forscher legen gegenüber der Institution, an<br />

der sie tätig sind, ihre mit dieser Beteiligung verbundenen finanziellen Interessen<br />

offen. Insbesondere dürfen der für einen Versuch verantwortliche Forscher und<br />

seine Mitarbeiter nicht gleichzeitig Inhaber, Teilhaber, Verwaltungsrat oder bedeutender<br />

Aktionär eines Unternehmens sein, welches das zu prüfende Verfahren<br />

anwendet oder das zu prüfende Produkt herstellt oder vertreibt. Begründete Ausnahmen<br />

von dieser Regelung müssen von der Institution, an der die Forscher tätig<br />

sind, bewilligt werden.<br />

5. Die Durchführung und Finanzierung von Versuchen werden vertraglich geregelt<br />

Jeder Versuch, der im Auftrag eines Dritten (der damit zum Sponsor wird) durchgeführt<br />

und von diesem finanziert wird, ist in einem schriftlichen Vertrag geregelt.<br />

Der Vertrag ist durch den verantwortlichen Forscher und, wo zutreffend, durch den<br />

zuständigen Vertreter der Institution, für die der Forscher tätig ist, sowie durch den<br />

Sponsor zu unterzeichnen.<br />

6 Die Registrierung klinischer Versuche wird ab Inkrafttreten des Humanforschungsgesetzes samt<br />

Verordnungen dazu vorgeschrieben sein<br />

5


Im Vertrag sind festzuhalten:<br />

– der klinische Versuch, der Gegenstand des Vertrags ist;<br />

– die gegenseitigen Pflichten und Verantwortlichkeiten;<br />

– die Leistungen und Gegenleistungen bei der Durchführung des Versuchs;<br />

– die Abgeltung, wobei deren Höhe der tatsächlich erbrachten Leistung<br />

angemessen sein soll;<br />

– der uneingeschränkte Zugang des verantwortlichen Forschers zu allen<br />

für die Durchführung des Versuchs und zum Schutz der beteiligten<br />

Versuchspersonen relevanten Daten;<br />

– der Zugang zu den statistischen Auswertungen;<br />

– die Pflicht, die Versuchsergebnisse zu veröffentlichen oder öffentlich<br />

zugänglich zu machen;<br />

– die Gewährleistung der Publikationsfreiheit des Forschers;<br />

– die Voraussetzungen, unter denen der Versuch gegebenenfalls abgebrochen<br />

werden kann oder muss;<br />

– die Sicherstellung der Haftung bei Schäden, die aus dem klinischen Versuch<br />

entstehen können;<br />

– die Rechte an der späteren Nutzung der Daten bzw. Versuchsergebnisse.<br />

6. Die Abgeltung von Versuchen, die an Institutionen durchgeführt werden,<br />

geht an institutionelle Drittmittelkonten.<br />

Alle von Sponsoren im Zusammenhang mit klinischen Versuchen erbrachten finanziellen<br />

Leistungen werden auf dafür bestimmte Konten verbucht. Die Institution<br />

(Universität, Departement, Klinik, Stiftung u.a.), für welche der verantwortliche<br />

Forscher tätig ist, regelt den Zugriff auf diese Konten.<br />

7. Bei der Publikation einer wissenschaftlichen Arbeit zeichnen diejenigen<br />

Forschenden als Autoren verantwortlich, die einen wesentlichen Beitrag dazu<br />

geleistet haben.<br />

In der Publikation soll als Autor genannt werden, wer an der Planung, Datensammlung,<br />

Auswertung und/oder Manuskript-Erstellung massgeblich beteiligt<br />

war. Wenn Drittpersonen (sog. Medical Writers) an der Publikation mitwirken,<br />

sind sie namentlich aufzuführen und ihre allfällige Verbindung zu einem industriellen<br />

oder andern Sponsor offen zu legen. Gefälligkeitsautorschaft (sog. «guest<br />

authors») ist nicht statthaft.<br />

Die Mitwirkung von «Ghost Writers», die in der Publikation nicht als mitwirkende<br />

Drittpersonen aufgeführt werden, ist nicht akzeptabel.<br />

6


8. Bei der Publikation und Präsentation von Ergebnissen eines Versuchs ist<br />

dessen finanzielle oder materielle Unterstützung offen zu legen.<br />

In den Publikationen von Versuchsergebnissen ist in einer Anmerkung oder Fussnote<br />

für die Leserschaft deutlich erkennbar zu machen, wer den Versuch finanziert<br />

hat. Bei der Vorstellung von Versuchsergebnissen an Vorträgen, Kongressen und<br />

dergleichen ist deutlich auf diese Tatsache hinzuweisen; ebenso sind allfällige Interessebindungen<br />

der Autoren offen zu legen.<br />

9. Die Interpretation der Ergebnisse eines Versuchs muss von den Interessen<br />

desjenigen unabhängig sein, der ihn finanziell oder materiell unterstützt.<br />

Bei der Interpretation von Versuchsergebnissen in Publikationen und bei Präsentationen<br />

sind Interessenkonflikte zu vermeiden. Der verantwortliche Forscher muss<br />

deshalb besondere Sorgfalt darauf verwenden,<br />

– die im Versuch festgestellten erwünschten und unerwünschten Wirkungen<br />

eines Produktes oder Verfahrens tatsachengetreu zu dokumentieren und<br />

kritisch zu diskutieren;<br />

– das Kosten-Nutzen-Verhältnis des geprüften Produktes oder Verfahrens<br />

möglichst objektiv darzustellen.<br />

10. Forscher wirken nicht mit beim Marketing von Produkten, an deren<br />

Prüfung sie beteiligt waren.<br />

Für einen Versuch verantwortliche oder daran beteiligte Forscher dürfen ihre Unabhängigkeit<br />

und Glaubwürdigkeit nicht in Frage stellen, indem sie sich an Marketingaktionen<br />

für das geprüfte Produkt oder Verfahren beteiligen.<br />

7


II. Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

Einleitung<br />

Der Medizin stehen immer mehr diagnostische und therapeutische Mittel zur Verfügung.<br />

Die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Ärzte muss sich dieser Entwicklung<br />

laufend anpassen. Die Fortbildung soll den Teilnehmern objektive und ausgewogene,<br />

für die Betreuung der Patienten nützliche und notwendige Kenntnisse, Fertigkeiten<br />

und Fähigkeiten vermitteln; sie ist eine Voraussetzung für eine angemessene<br />

Ausübung der ärztlichen Tätigkeit.<br />

Die gesetzlich vorgeschriebene Fortbildung bedeutet für die Ärzte eine erhebliche<br />

zusätzliche Leistung. In Betracht fallen der finanzielle Aufwand für die Fortbildungsveranstaltungen<br />

sowie der Arbeitszeit- und Einnahmenausfall. Die Finanzierung<br />

dieser Kosten ist weder für die Spitäler noch für die praktizierenden Ärzte<br />

sichergestellt. Neues Wissen stellt eine Bereicherung der ärztlichen Tätigkeit dar<br />

und liegt demnach im Interesse des einzelnen Arztes.<br />

Ein bedeutender Teil der Fortbildungsveranstaltungen wird von der pharmazeutischen<br />

Industrie und der Medizinproduktebranche (in der Folge Industrie resp.<br />

Unternehmen genannt) finanziell unterstützt («gesponsert») oder auch organisiert.<br />

Dies ist für viele Ärzte und Institutionen zur Selbstverständlichkeit geworden,<br />

kann aber zu Abhängigkeiten und Interessenkonflikten führen. Deshalb sind<br />

auch für diesen Bereich Leitplanken sinnvoll.<br />

In der medizinischen Ausbildung und in der Weiterbildung gelten in Bezug auf<br />

die Unterstützung durch die Industrie die gleichen Überlegungen wie bei der Fortbildung.<br />

8


Richtlinien<br />

1. Den Antrag auf Anerkennung einer Fortbildungsveranstaltung bei den zuständigen<br />

Organen (Fachgesellschaften, kantonale Ärztegesellschaften, SIWF)<br />

stellen die veranstaltenden Ärzte oder die ärztlichen Fachgremien.<br />

Es ist Aufgabe des Veranstalters, die Anerkennung der Fortbildung bei der zuständigen<br />

Fachgesellschaft zu beantragen. Eine Anerkennung wird nur für Fortbildungen<br />

gewährt, die den vorliegenden Richtlinien vollumfänglich genügen. Veranstaltungen<br />

orientieren sich an den Zielen der Fortbildungsordnung (FBO) 7 des<br />

Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) 8 sowie den<br />

Fortbildungsprogrammen der Fachgesellschaften.<br />

2. Fortbildungsveranstaltungen werden nur anerkannt, wenn Inhalt und Ablauf<br />

durch Ärzte bzw. ärztliche Fachgremien bestimmt oder entscheidend mitbestimmt<br />

werden.<br />

Dafür gelten namentlich folgende Bedingungen:<br />

– Veranstalter sind im jeweiligen Fachgebiet kompetente Organisationen, Institutionen<br />

oder Personen und nicht die Industrie.<br />

– Fortbildungsveranstaltungen sollten durch die Teilnehmerbeiträge und die veranstaltende<br />

Institution finanziert werden. Bedarf es weiterer finanzieller Unterstützung<br />

durch Sponsoren, so sind dafür mehrere, von einander unabhängige<br />

Unternehmen vorzusehen.<br />

– Es wird in der Regel eine Teilnahmegebühr erhoben. Bei kürzeren (halbtägigen)<br />

Fortbildungsveranstaltungen kann darauf verzichtet werden.<br />

– Die Vereinbarungen zwischen Veranstalter und Sponsoren sind schriftlich festgehalten.<br />

– Die Veranstalter und nicht die Sponsoren bestimmen das Programm (Inhalt und<br />

Ablauf) und wählen die Referenten aus. Von Sponsoren veranstaltete Satelliten-<br />

Symposien sind als solche zu bezeichnen, auf Randzeiten zu legen, und werden<br />

nicht als Fortbildung anerkannt.<br />

– Die Teilnehmer sollen Gelegenheit haben, Fortbildungsveranstaltungen zu evaluieren.<br />

– Ein allfälliges Rahmenprogramm ist von deutlich untergeordneter Bedeutung.<br />

Rahmenprogramm und Fachteil müssen klar getrennt sein.<br />

– Die Zusage von Credits für eine Fortbildungsveranstaltung muss vor dem Versand<br />

der Einladung dazu geklärt sein. Einladungen zu Fortbildungsveranstaltungen<br />

mit dem Hinweisen wie «Credits beantragt» sind nicht zulässig. Die Beantwortung<br />

von Credits-Anfragen durch die zuständigen Organe sollte innerhalb<br />

von vier Wochen erfolgen.<br />

7 www.fmh.ch/files/pdf6/fbo_d.pdf<br />

8 www.fmh.ch/bildung-siwf.html<br />

9


Zur Vermeidung administrativer Umtriebe können die Fachgesellschaften regelmässig<br />

durchgeführte eigene Fortbildungsveranstaltungen oder solche von Spitälern<br />

oder Spitalabteilungen en bloc oder im Voraus anerkennen; Voraussetzung<br />

dafür ist die schriftliche Zusicherung der betreffenden Fachgesellschaft oder der<br />

Spitäler und Spitalabteilungen, dass diese Fortbildungsveranstaltungen den Anforderungen<br />

der vorliegenden Richtlinien entsprechen.<br />

3. Die Möglichkeiten der Prävention, Diagnose und Therapie werden<br />

grundsätzlich nach den Kriterien der evidenz-basierten Medizin (EBM) und<br />

unter Berücksichtigung ihrer Wirtschaftlichkeit dargestellt.<br />

Die Themen sollen objektiv nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

und von verschiedenen Seiten her (interdisziplinär) behandelt werden.<br />

Die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sollen vollständig und grundsätzlich<br />

nach den Kriterien der EBM dargestellt werden.<br />

4. Stehen für die besprochene Prävention, Diagnose oder Therapie mehrere<br />

wirksame Arzneimittel, Medizinprodukte oder Verfahren zur Verfügung, so ist ein<br />

objektiver Vergleich anzustreben.<br />

In den Referaten werden Arzneimittel grundsätzlich mit der international anerkannten<br />

Wirkstoffbezeichnung 9 erwähnt.<br />

5. Finanzielle Mittel aus dem Sponsoring werden auf ein dafür bestimmtes Konto<br />

des Veranstalters (Universität, Institution, Stiftung, Fachgesellschaft, regionale<br />

Ärztevereinigung usw.) verbucht und für die Organisation von Fortbildungsveranstaltungen,<br />

Honorierung der Referenten und deren Spesen verwendet.<br />

In Spitälern stattfindende ganz- oder mehrtägige Fortbildungsveranstaltungen,<br />

die von der Industrie unterstützt werden, sind von der dafür zuständigen Stelle<br />

zu genehmigen.<br />

Die Kontrolle der Finanzen ist Sache der Veranstalter. Den Sponsoren und den<br />

Fachgesellschaften sind Budget und Rechnung auf Anfrage vorzulegen.<br />

6. Die an Fortbildungsveranstaltungen als Zuhörer (d.h. ohne Präsentation,<br />

Poster, Referat, Sitzungsleitung o.ä.) teilnehmenden Ärzte leisten eine angemessene<br />

Kostenbeteiligung.<br />

Im Interesse ihrer Unabhängigkeit bezahlen die Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung<br />

oder deren Arbeitgeber einen angemessenen Beitrag an die Kosten für<br />

Teilnahmegebühr, Reise und Unterkunft, d.h. in der Regel mindestens ein Drittel<br />

dieser Kosten.<br />

9 International Nonproprietary Names for pharmaceutical substances (INN) / Dénominations communes<br />

internationales des Substances pharmaceutiques (DCI) (www.who.int/medicines/services/inn/en/)<br />

10


Die ganze oder teilweise Rückerstattung der Kostenbeteiligung und/oder eine<br />

Vergütung der indirekten Kosten eines Teilnehmers (Arbeitszeit- oder Einkommensausfall)<br />

durch einen Sponsor sind nicht zulässig.<br />

Angestellte Ärzte, deren Teilnahme an einer Veranstaltung ein Unternehmen finanziell<br />

unterstützen will, informieren ihre vorgesetzte Stelle über den Umfang<br />

der Unterstützung und den Sponsor. Bei Ärzten in Weiterbildung ergeht die Einladung<br />

in der Regel an die Institution, und diese entscheidet über die Teilnahme.<br />

Die Kosten für zusätzliche Hotelaufenthalte, Reisen oder andere Aktivitäten, die<br />

mit der Veranstaltung keinen inhaltlichen Zusammenhang haben, gehen vollumfänglich<br />

zulasten der Teilnehmer bzw. allfälliger Begleitpersonen.<br />

7. Referenten und Organisatoren legen allfällige persönliche oder institutionelle<br />

kommerzielle Interessen, finanzielle Verbindungen zum Sponsor, Beratertätigkeit<br />

im Auftrag des Sponsors oder Forschungsunterstützung durch den Sponsor offen.<br />

Referentenhonorare sollen angemessen sein.<br />

Im Programm und in den Unterlagen einer Veranstaltung werden alle Sponsoren<br />

aufgeführt.<br />

Referenten legen ihre Interessenbindungen dem Veranstalter, der Fachgesellschaft<br />

sowie vor Beginn ihrer Präsentation den Teilnehmern auf geeignete Weise offen.<br />

8. Schaffen Medizinische Fakultäten bzw. deren Universitäten eine Lehr- und/<br />

oder Forschungsstelle (Professur), die durch Unternehmen oder andere Drittmittel<br />

finanziert wird, so bestimmen sie schriftlich die Rahmenbedingungen dafür.<br />

Dabei ist die Unabhängigkeit von Lehre und Forschung zu gewährleisten.<br />

9. Die Medizinischen Fakultäten sorgen dafür, dass unangemessene Interaktionen<br />

zwischen Medizinstudierenden und Industrie-Unternehmen unterbleiben.<br />

Die Fakultäten achten insbesondere darauf, dass Studierende während ihrer Ausbildung<br />

und im weiteren Zusammenhang damit nicht von Industrieunternehmen<br />

mit Geschenken, anderweitigen geldwerten Vorteilen oder sonst in ungebührlicher<br />

Weise beeinflusst werden. Zudem sensibilisieren sie die Studierenden für mögliche<br />

Interessenkonflikte bei der Zusammenarbeit Ärzteschaft-Industrie.<br />

10. Die Kaderärzte von Spitälern achten darauf, dass Kontakte von Industrievertretern<br />

mit Spitalpersonal in einem institutionellen Rahmen stattfinden.<br />

Kontakte zwischen Industrievertretern und Spitalpersonal, insbesondere Assistenzärzten,<br />

sollen in der Regel in den Räumen des Spitals stattfinden. Die Kaderärzte<br />

achten darauf, über solche Kontakte und deren Inhalt informiert zu werden.<br />

11


III. Expertentätigkeit<br />

Einleitung<br />

Ärzte werden beigezogen, wenn es spezifische medizinische Fragen zu bearbeiten<br />

gibt, zu deren Beantwortung ihre Expertise unerlässlich ist. Die entsprechenden<br />

Anfragen stammen von unterschiedlichen Seiten. Beispiele dafür sind folgende:<br />

Eine staatliche Behörde will eine Empfehlung zum Gesundheitsverhalten veröffentlichen;<br />

ein Industrieunternehmen will eine Forschungsfrage bearbeiten oder<br />

ein neues Produkt lancieren; oder eine Fachgesellschaft will Guidelines ausarbeiten.<br />

Dabei können immer Interessenkonflikte entstehen.<br />

Richtlinien<br />

1. Im Hinblick auf die Mitarbeit in einem Advisory Board (oder einem<br />

ähnlichen Gremium, siehe Glossar) sollen Bedarf und Begründung für eine<br />

solche Beratungstätigkeit geklärt werden.<br />

Zu prüfen ist namentlich:<br />

– ob der Zweck der Beratung klar umschrieben und gerechtfertigt ist; zu<br />

vermeiden sind namentlich Advisory Boards für Marketingzwecke;<br />

– Dauer und Begründung der Beratungstätigkeit;<br />

– ob die eigene fachliche Kompetenz hinreicht, um sich zum Beratungsgegenstand<br />

glaubwürdig äussern zu können;<br />

– ob Interessenkonflikte bestehen;<br />

– aufgrund welcher Kriterien die Auswahl von Experten (inkl. Anzahl) erfolgt.<br />

Gegebenenfalls ist auf die Teilnahme an einem Advisory Board zu verzichten.<br />

2. Eine Beratungsleistung erfolgt grundsätzlich auf Basis eines Vertrags, der<br />

insbesondere Art, Zweck und Umfang der Beratungsleistung, das Honorar, die<br />

Unabhängigkeit des Experten sowie Transparenzbestimmungen dokumentiert.<br />

3. Die Höhe des Honorars, die für die Tätigkeit in einem Advisory Board oder<br />

ähnlichen Gremium vereinbart wird, soll der erbrachten Leistung entsprechen.<br />

4. Mitglieder von Gremien, die für die Ausarbeitung von Guidelines oder<br />

Leitlinien zuständig sind, legen zu Beginn und danach periodisch ihre Interessenkonflikte<br />

offen; diese Angaben werden zusammen mit den Guidelines oder<br />

Leitlinien veröffentlicht.<br />

12


5. Ein Arzt beteiligt sich an einer Beobachtungsstudie oder an einer Online-<br />

Befragung nur, wenn dabei eine relevante wissenschaftliche Fragestellung<br />

bearbeitet wird und es sich nicht um eine Form von Marketing handelt.<br />

6. Mitglieder von institutionsinternen Gremien, die für den Einkauf von Heilmitteln<br />

zuständig sind, müssen ihre Interessenbindungen offenlegen.<br />

Bei absehbaren Interessenkonflikten soll das betreffende Mitglied am Entscheid<br />

nicht mitwirken.<br />

7. Experten und «Opinion Leaders» lassen sich nicht als Autoren auf Publikationen<br />

setzen, an denen sie nicht massgeblich beteiligt waren und für deren Inhalt sie<br />

nicht vollumfänglich bürgen können (keine sog. «guest authors»).<br />

13


IV. Annahme von Geld- oder Naturalleistungen<br />

Einleitung<br />

Artikel 38 der <strong>FMH</strong>-Standesordnung hält fest, dass «die Annahme von Geschenken<br />

[…] oder von anderen Vorteilen [...] von Dritten, die den Arzt oder die Ärztin<br />

in ihren ärztlichen Entscheidungen beeinflussen können und das übliche Mass<br />

kleiner Anerkennungen übersteigen, [...] unzulässig» ist.<br />

Auch der Gesetzgeber hat in diesem Zusammenhang in verschiedenen Gesetzen<br />

Bestimmungen erlassen (Art.33 Heilmittelgesetz, Art. 56 Abs. 3 Krankenversicherungsgesetz,<br />

Art. 322ter ff. Strafgesetzbuch; kantonale Bestimmungen). Die folgenden<br />

Richtlinien sind als Umsetzungshilfe für die Praxis zu verstehen und zu<br />

beachten.<br />

Richtlinien<br />

1. Ärzte in Klinik, Praxis und Forschung nehmen von der Industrie keine Geldoder<br />

Naturalleistungen entgegen, die das Mass finanziell unbedeutender kleiner<br />

Anerkennungen übersteigen.<br />

An öffentlichen Spitälern ordnen interne Regeln die Entgegennahme von Geldoder<br />

Naturalleistungen. Sie bestimmen innerhalb der Institution, welche Zuwendungen<br />

von der vorgesetzten Stelle zu genehmigen sind und welche ihr nur zu<br />

melden sind (z.B. durch Bezeichnung von Obergrenzen oder durch Erstellen einer<br />

«Positivliste»).<br />

Bei allen grösseren Einkäufen und Aufträgen braucht es eine Kollektivunterschrift<br />

(Vier-Augen-Prinzip). Die Annahme von Geld- und Naturalleistungen und das<br />

Einkaufswesen der Institution sind strikte zu trennen.<br />

Alle Vereinbarungen über die Entgegennahme von Geld- oder Naturalleistungen<br />

oberhalb einer institutionsintern festgelegten Grenze haben schriftlich zu erfolgen.<br />

Diese Vereinbarungen enthalten auch die Zusicherung, dass keine (mündlichen<br />

oder stillschweigenden) Nebenabsprachen getroffen wurden. Zusätzlich<br />

werden auch die erlaubten Verwendungszwecke der auf dem Spendenkonto einbezahlten<br />

Gelder festgelegt. Das Verfügungsrecht über das Konto ist institutionsintern<br />

zu regeln.<br />

2. Ärzte gehen mit Gratismustern korrekt und zweckentsprechend um.<br />

Ärzte sollen sich bewusst sein, dass Arzneimittelmuster das Verschreibungsverhalten<br />

beeinflussen.<br />

14


v. <strong>Anhang</strong><br />

Glossar<br />

Advisory Board<br />

Aus Ärzten und andern Fachleuten bestehendes Gremium, das ein Unternehmen oder<br />

eine andere Organisation im Zusammenhang mit medizinischen Fragen berät. Andere Bezeichnungen<br />

dafür sind u.a. Concept Board, Expert Panel, Executive Council oder Round Table.<br />

Arzneimittel<br />

Produkte chemischen oder biologischen Ursprungs, die zur medizinischen Einwirkung auf den<br />

menschlichen oder tierischen Organismus bestimmt sind oder angepriesen werden, insbesondere<br />

zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und<br />

Behinderungen; zu den Arzneimitteln gehören auch Blut und Blutprodukte (Art. 4 Abs. 1 Bst. a<br />

HMG).<br />

Ausbildung<br />

Universitäre Grundausbildung (Studium)<br />

Drittmittel<br />

Finanzielle Unterstützung, die einer Person oder einer Institution von externer Stelle unter<br />

Vereinbarung einer direkten Gegenleistung (zweckgebunden, Projektfinanzierung) zur<br />

Verfügung gestellt wird und die für beide Parteien denselben Wert besitzt (im Gegensatz zu<br />

Sponsoring).<br />

Fortbildung<br />

Kontinuierliche Aufdatierung und Erweiterung der beruflichen Qualifikation nach abgeschlossener<br />

Weiterbildung; sie hat das Ziel, die Qualität der Berufsausübung zu sichern.<br />

Fortbildungsveranstaltung<br />

z.B. Kongress, Tagung, Treffen von Ärzten zum Erfahrungsaustausch («Qualitätskränzli»), Internetbasiertes<br />

Fortbildungsangebot.<br />

GCP<br />

Good Clinical Practice; Leitlinien zur «Guten Praxis der klinischen Versuche», mit denen einerseits<br />

der Schutz der Versuchspersonen sichergestellt und andererseits die Qualität der Ergebnisse<br />

gewährleistet werden soll.<br />

Generic Name<br />

International anerkannte Wirkstoffbezeichnung (International Nonproprietary Name [INN];<br />

Dénomination commune internationale [DCI])<br />

Geschenke<br />

Zuwendungen ohne Leistungsvereinbarung und ohne Zweckbestimmung<br />

Heilmittel<br />

Oberbegriff für Arzneimittel und Medizinprodukte<br />

HFG<br />

Bundesgesetz über die Forschung am Menschen (Humanforschungsgesetz)<br />

Institution<br />

z.B. Universität, Spital, Netzwerk<br />

15


Klinische Forschung<br />

Forschung mit Versuchspersonen oder mit Material menschlichen Ursprungs; der Forscher<br />

hat also dabei (im Gegensatz zur Grundlagenforschung) Kontakt mit Menschen. Zur klinischen<br />

Forschung zählen u.a. patienten-orientierte Forschung, epidemiologische Studien, Outcome-<br />

Forschung sowie Versorgungsforschung.<br />

Klinischer Versuch<br />

Forschungsprojekt mit Personen, das diese prospektiv einer gesundheitsbezogenen Intervention<br />

zuordnet, um deren Wirkungen auf die Gesundheit oder auf den Aufbau und die Funktion des<br />

menschlichen Körpers zu untersuchen.<br />

Medizinprodukte<br />

Produkte, einschliesslich Instrumente, Apparate, In-vitro-Diagnostika, Software und andere<br />

Gegenstände oder Stoffe, die für die medizinische Verwendung bestimmt sind oder angepriesen<br />

werden und deren Hauptwirkung nicht durch ein Arzneimittel erreicht wird (Art. 4 Abs. 1 Bst. b<br />

HMG).<br />

Sponsor<br />

Person oder Organisation, die für die Einleitung, das Management oder die Finanzierung eines<br />

klinischen Versuchs die Verantwortung übernimmt (Art. 5 Bst. b VKlin).<br />

Sponsoring<br />

Finanzielle Unterstützung einer Veranstaltung, eines Projektes, einer Publikation oder anderer<br />

Leistungen ohne direkte gleichwertige Gegenleistung, jedoch mit Zweckbestimmung, mit oder<br />

ohne Auflagen zur Deklaration.<br />

Versuchsperson<br />

Personen, die an einem klinischen Versuch teilnehmen und bei denen entweder das zu prüfende<br />

Heilmittel angewendet wird oder die einer Kontrollgruppe zugeteilt sind (Art. 5 Bst. d VKlin).<br />

Weiterbildung<br />

Eine bezüglich Dauer und Inhalt gegliederte, evaluierbare Tätigkeit, mit der die erworbenen<br />

Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten im Hinblick auf eine selbständige Berufsausübung vertieft<br />

und erweitert werden sollen und die sich an das Studium anschliesst.<br />

16


Relevante Bestimmungen und Behörden<br />

Ad I. Klinische Forschung<br />

Nationale und internationale Regeln für die Durchführung klinischer Versuche<br />

Wissenschaftliche Integrität. Grundsätze und Verfahrensregeln. Akademien der Wissenschaften<br />

Schweiz, 2008.<br />

www.akademien-schweiz.ch/index/Portrait/Kommissionen-AG/Wissenschaftliche-<br />

Integritaet.html<br />

Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki. «Ethische Grundsätze für die medizinische<br />

Forschung am Menschen» (revidierte Fassung Oktober 2008)<br />

Originaltext: www.wma.net/en/30publications/10policies/b3/<br />

deutsch: www.bundesaerztekammer.de/downloads/deklhelsinki2008.pdf<br />

Guideline for Good Clinical Practice, International Conference on Harmonisation of Technical<br />

Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH)<br />

Originaltext: www.ich.org/fileadmin/Public_Web_Site/ICH_Products/Guidelines/Efficacy/E6_R1/<br />

Step4/E6_R1__Guideline.pdf<br />

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die<br />

Anwendung von Biologie und Medizin (Bioethik-Konvention)<br />

Originaltext: conventions.coe.int/treaty/en/treaties/html/164.htm<br />

deutsch: www.ruhr-uni-bochum.de/zme/Europarat.htm#dt-0298<br />

The CONSORT statement. Revised recommendations for improving the quality of reports of<br />

parallel-group randomised trials. The Lancet 2001; 357: 1191–1194<br />

International Committee of Medical Journals Editors. Uniform requirements for manuscripts<br />

submitted to biomedical journals. New England Journal of Medicine 1997; 336: 309 – 315<br />

Clinical Trial Registration. A Statement from the International Committee of Medical Journal<br />

Editors. Editorial. Annals of Internal Medicine 2004; 141: 477– 478<br />

17


Arzneimittel-Zulassungsbehörden, Gesetze und weitere Vorschriften<br />

Schweiz<br />

Schweizerisches Heilmittelinstitut, Swissmedic<br />

www.swissmedic.ch<br />

Bundesgesetz über die Arzneimittel und Medizinprodukte, Heilmittelgesetz (HMG)<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/c812_21.html<br />

Verordnung vom 17. Oktober 2001 über klinische Versuche mit Heilmitteln (VKlin)<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/c812_214_2.html<br />

Verordnung vom 17. Oktober 2001 über die Arzneimittelwerbung (AWV)<br />

www.admin.ch/ch/d/sr/c812_212_5.html<br />

Bundesgesetz über die Forschung am Menschen (vom Parlament verabschiedet am 30. 9. 2011;<br />

tritt voraussichtlich Anfang 2014 in Kraft)<br />

Europäische Union<br />

European Medical Evaluation Agency, EMA<br />

www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/home/Home_Page.jsp&mid=<br />

Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Oktober 2001<br />

zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die<br />

Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit<br />

Humanarzneimitteln<br />

Übersicht: ec.europa.eu/health/documents/eudralex/vol-1/index_en.htm<br />

deutsch: ec.europa.eu/health/files/eudralex/vol-1/dir_2001_83_cons2009/2001_83_<br />

cons2009_de.pdf<br />

USA<br />

Federal Drug Administration, FDA<br />

www.fda.gov/<br />

Good Clinical Practice in FDA Regulated Clinical Trials<br />

www.fda.gov/oc/gcp/default.htm<br />

Kodizes der Industrie<br />

Verhaltenskodex der pharmazeutischen Industrie in der Schweiz (Pharmakodex) vom<br />

4. Dezember 2003 (mit nachträglichen Änderungen)<br />

www.sgci.ch/plugin/template/sgci/*/11386<br />

Kodex der FASMED (Medizinprodukteindustrie)<br />

www.fasmed.ch/fileadmin/pdf/polit_dossiers/Medien/FASMED%20CBC%2026.05.2010.pdf<br />

EFPIA Code of Practice on the promotion of prescription-only medicines to, and interactions<br />

with, healthcare professionals<br />

www.efpia.eu/content/default.asp?PageID=559&DocID=11731<br />

Eucomed Guidelines on Interactions with Healthcare Professionals<br />

www.eucomed.org/key-themes/ethics<br />

18


Ad II. Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

Internationale Empfehlungen und Richtlinien<br />

World Medical Association (WMA). Statement concerning the Relationship between Physicians<br />

and Commercial Enterprises. 2009.<br />

www.wma.net/en/30publications/10policies/r2/<br />

Canadian Medical Association. CMA Policy. Physicians and the Pharmaceutical Industry.<br />

Update 2001.<br />

www.cma.ca<br />

Physician-Industry Relations<br />

Part 1: Individual Physicians. Ann Int Med; 2002, 136: 396, Physician-Industry Relations.<br />

Part 2: Organizational Issues. Ann Int Med 2002; 136: 403<br />

Empfehlungen der Arzneimittel-Zulassungsbehörde<br />

Zum Verbot des Versprechens und Annehmens geldwerter Vorteile gemäss Artikel 33 des<br />

Heilmittelgesetzes insb. in Zusammenhang mit der Unterstützung der Weiter- und Fortbildung<br />

von Medizinalpersonen durch die Pharmaindustrie.<br />

www.swissmedic.ch/marktueberwachung/00091/00241/01468/index.html?lang=de<br />

Kodizes der Industrie<br />

Verhaltenskodex der pharmazeutischen Industrie in der Schweiz (Pharmakodex) vom<br />

4. Dezember 2003 (mit nachträglichen Änderungen)<br />

www.sgci.ch/plugin/template/sgci/*/11386<br />

Kodex der FASMED (Medizinprodukteindustrie)<br />

www.fasmed.ch/fileadmin/pdf/polit_dossiers/Medien/FASMED%20CBC%2026.05.2010.pdf<br />

EFPIA Code of Practice on the promotion of prescription-only medicines to, and interactions<br />

with, healthcare professionals<br />

www.efpia.eu/content/default.asp?PageID=559&DocID=11731<br />

Eucomed Guidelines on Interactions with Healthcare Professionals<br />

www.eucomed.org/key-themes/ethics<br />

Ad III. Annahme von Geld- oder Naturalleistungen<br />

Relevante Gesetzestexte<br />

Art. 33 Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 12.12.2000 (HMG)<br />

Art 322ter ff. Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21.12.1937 (StGB)<br />

Art. 56 Abs. 3 Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18.3.1994 (KVG)<br />

19


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Die vorliegenden Richtlinien der SAMW treten am 1. Februar 2013 in Kraft; sie<br />

ersetzen die analogen Richtlinien von 2006.<br />

Mitglieder der für die Fassung 2006 verantwortlichen Arbeitsgruppe<br />

Dr. Hermann Amstad, SAMW, Basel<br />

Prof. Christoph Beglinger, Universitätsspital Basel<br />

Prof. Jérôme Biollaz, Universitätsspital Lausanne<br />

Dr. Max Giger, <strong>FMH</strong>, Winterthur<br />

Dr. iur. Dieter Grauer, SGCI Chemie Pharma Schweiz, Zürich<br />

Fürsprecher Hanspeter Kuhn, <strong>FMH</strong>, Bern<br />

Prof. Urban Laffer, Regionalspital Biel<br />

Prof. Thomas Lüscher, Universitätsspital Zürich<br />

Dr. iur. Jürg Müller, Rechtsdienst, Universitätsspital Basel<br />

lic.iur. Michelle Salathé, SAMW, Basel<br />

Prof. Werner Stauffacher, SAMW, Basel<br />

Dr. Urs Strebel, Kreisspital Männedorf<br />

Mitglieder der auch für die Fassung 2012 verantwortlichen<br />

Beratenden Kommission für die Umsetzung der Richtlinien<br />

«Zusammenarbeit Ärzteschaft-Industrie»<br />

Prof. Walter Reinhart, Chur (Vorsitz)<br />

Dr. Gilbert Abetel, Orbe<br />

Prof. Anne-Françoise Allaz, Genf<br />

Dr. Hermann Amstad, Basel<br />

Prof. Jerôme Biollaz, Lausanne<br />

Dr. iur. Dieter Grauer, scienceindustries, Zürich<br />

Prof. Hans-Rudolf Koelz, Uitikon Waldegg<br />

Prof. Thomas Lüscher, Zürich<br />

Dr. Christian Marti, Winterthur<br />

Dr. Alain Michaud, Nyon<br />

Dr. iur. Jürg Müller, Basel<br />

Prof. Reto Obrist, Sierre<br />

Dr. Gert Printzen, Luzern<br />

Dr. Urs Strebel, Männedorf<br />

Dr. Markus Trutmann, Biel<br />

Fachliche Beratung<br />

Dr. Peter Kleist, GlaxoSmithKline, Münchenbuchsee<br />

Genehmigung<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 29. November 2012.<br />

Kontakt<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel. +41 61 269 90 30<br />

Fax +41 61 269 90 39<br />

E-Mail mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

20


Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

E-Mail: mail@samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Kreis Druck, Basel<br />

Auflage<br />

1200 D, 600 F<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


MEDIZIN-<br />

ETHISCHE<br />

Reanimations-<br />

RICHTentscheidungen<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Reanimationsentscheidungen<br />

Vom Senat der SAMW am 27. November 2008 genehmigt.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und<br />

Pflegefachmänner SBK empfiehlt seinen Mitgliedern und allen<br />

Pflegenden, diese Richtlinien zu achten und anzuwenden.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN 7<br />

1. Geltungsbereich 7<br />

2. Reanimationsentscheid 8<br />

2.1. Ethische Überlegungen 8<br />

2.2. Medizinische Einschätzung 8<br />

2.3. Recht auf Selbstbestimmung 9<br />

2.4. Gespräch über Reanimation 10<br />

2.5. Entscheidfindung 14<br />

2.6. Dokumentation 14<br />

2.7. Überprüfung 15<br />

2.8. Konfliktsituationen 15<br />

3. Vorgehen in der Situation eines Herzkreislaufstillstandes 16<br />

3.1. Rechtliche Rahmenbedingungen 16<br />

3.2. Prognostische Faktoren 17<br />

3.3. Abbruch der Reanimationsmassnahmen 18<br />

3.4. Umgang mit Angehörigen 19<br />

3.5. Nachbesprechung im Team 19<br />

III. EMPFEHLUNGEN 20<br />

1. An die Verantwortlichen für die medizinische und<br />

pflegerische Aus-, Weiter- und Fortbildung 20<br />

2. An die Institutionen des Gesundheitswesens (Rettungsdienste,<br />

Notfallstationen, Akutspitäler, Alters- und Pflegeheime usw.) 20<br />

3. An politische Instanzen und Kostenträger 20<br />

IV. ANHANG 21<br />

1. Reanimationsresultate bei Erwachsenen 21<br />

1.1. Grundsätzliches 21<br />

1.2. Resultate 21<br />

1.3. Kommentar 23<br />

2. Reanimationsresultate bei Kindern 24<br />

2.1. Grundsätzliches 24<br />

2.2. Resultate 25<br />

3. Quellennachweis zum <strong>Anhang</strong> 26<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 28


I. PRÄAMBEL<br />

In der Schweiz sterben etwa 60 000 Menschen pro Jahr. Der grösste Teil dieser<br />

Todes fälle ist auf einen Herzkreislaufstillstand in Folge einer vorbestehenden,<br />

schweren, zum Tode führenden Krankheit zurückzuführen. Bei einer statistisch<br />

nicht exakt erfassten, ca. zehnmal kleineren Anzahl von Personen kommt es dagegen<br />

ganz plötzlich, ohne vorausgehende alarmierende Krankheitszeichen und<br />

nicht selten ausserhalb eines Spitals, zu einem akuten Herzkreislaufstillstand.<br />

Dank moderner Reanimationsmassnahmen können einige (in der Schweiz sind<br />

dies zur Zeit weniger als 10%) dieser Patienten 1 gerettet werden. Dabei sind die<br />

sofortige Verfügbarkeit und die Qualität der möglichst rasch eingeleiteten Reanimationsmassnahmen<br />

entscheidend für das Resultat.<br />

Theoretisch kann in jeder Situation eines Herzkreislaufstillstands versucht werden,<br />

die betroffene Person zu reanimieren. Es stellen sich jedoch unausweichlich<br />

ganz grundsätzliche Fragen: die Frage nach den individuellen Erfolgschancen,<br />

jene nach der individuellen Zweckmässigkeit des Reanimationsversuches und die<br />

Frage, ob ein Reanimationsversuch in der gegebenen Situation auch wirklich dem<br />

Willen des betroffenen Patienten entspricht.<br />

Es hängt von der Ausgangssituation und den Begleitumständen ab, ob eine Person<br />

erfolgreich reanimiert werden kann oder nicht. Diese Faktoren können weder<br />

im Voraus noch in der Akutsituation verlässlich abgeschätzt werden. In der<br />

Öffentlichkeit werden die Begleitumstände einer Reanimation und deren Resultate<br />

oft verzerrt und allzu optimistisch dargestellt. So hat der gesellschaftliche Erwartungsdruck<br />

angesichts der medizinischen Möglichkeiten dazu geführt, dass<br />

sich Ärzte und weitere Fachpersonen, insbesondere auch professionelle Nothelfer,<br />

zunehmend verpflichtet fühlen, bei jedem Patienten mit Herzkreislaufstillstand<br />

unverzüglich Reanimationsmassnahmen einzuleiten. Reanimationsmassnahmen<br />

sind aber nicht in jedem Fall medizinisch indiziert und sie sind nicht<br />

von jedem Patienten gewollt.<br />

Reanimationsentscheidungen sind oft für alle Beteiligten mit einer grossen emotionalen<br />

Belastung verbunden. Insbesondere kann für Ärzte und weitere Fachpersonen<br />

ein Dilemma entstehen zwischen der Pflicht zur Lebensrettung, der Pflicht,<br />

nicht zu schaden und der Respektierung des Patientenwillens.<br />

1 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

5


Weil beim Eintritt eines Herzkreislaufstillstands keine Zeit für eine Güterabwägung<br />

bleibt, sollte das Gespräch über allfällige Reanimationsmassnahmen frühzeitig<br />

geführt werden. Die Festlegung des Vorgehens im Voraus ermöglicht den<br />

Einbezug des Patienten in die Entscheidungsfindung. Der Reanimationsentscheid<br />

muss transparent und nachvollziehbar sein. Er muss die Würde des Patienten,<br />

das Recht auf Leben und das Recht auf Selbstbestimmung respektieren,<br />

und er darf nicht von fremdbestimmten Wertvorstellungen oder ökonomischen<br />

Überlegungen beeinflusst sein.<br />

In den vorliegenden Richtlinien geht es vor allem um die prospektive Entscheidung<br />

über Reanimationsmassnahmen im Hinblick auf einen allfälligen Herzkreislaufstillstand.<br />

Die Richtlinien unterstützen den Prozess der Entscheidungsfindung<br />

und geben Hilfestellung für das Gespräch über Reanimationsversuche.<br />

Sie enthalten zusätzlich auch Handlungsanleitungen für die Entscheidungsfindung<br />

in der Situation eines Herzkreislaufstillstands.<br />

6


II.<br />

RICHTLINIEN<br />

1. Geltungsbereich<br />

Die vorliegenden Richtlinien wenden sich primär an Ärzte 2 und Fachpersonen,<br />

insbesondere an Pflegende und professionelle Nothelfer innerhalb und ausserhalb<br />

von Institutionen des Gesundheitswesens. Sie befassen sich zunächst mit<br />

dem Entscheid über den Einsatz oder das Unterlassen von Massnahmen zur kardiopulmonalen<br />

Reanimation 3 bei einem Atem- oder Herzkreislaufstillstand 4 bei<br />

Erwachsenen und Kindern. Sie beschreiben primär den Prozess, der zur Entscheidung<br />

führt, ob bei Eintritt eines Herzkreislaufstillstands Reanimationsmassnahmen<br />

eingeleitet werden oder nicht. Diese Ausführungen gelten insbesondere für<br />

Institutionen. Sie sind sinngemäss auf die Hausarztpraxis übertragbar. Des Weiteren<br />

enthalten die Richtlinien Anleitungen zum Vorgehen in der Akutsituation<br />

eines unerwarteten Herzkreislaufstillstands innerhalb oder ausserhalb einer Institution.<br />

Der Entscheid, Reanimationsversuche in gegebener Situation zu unterlassen<br />

(«DNAR 5 -Entscheid» oder «Rea-Nein»), darf keinen Einfluss auf die medizinische<br />

Behandlung und Betreuung des Patienten ausserhalb eines akuten Herzkreislaufstillstands<br />

haben. Dies gilt auch für Massnahmen, die einen Herzkreislaufstillstand<br />

verhindern sollen. Entscheidungen über Diagnostik und Behandlungen,<br />

welche nicht in einem direkten Zusammenhang mit einem akuten Herzkreislaufstillstand<br />

stehen, wie z.B. intensivmedizinische und palliative Massnahmen 6 fallen<br />

deshalb nicht in den Geltungsbereich der vorliegenden Richtlinien.<br />

Reanimationsbemühungen bei Neugeborenen stellen eine spezifische Thematik<br />

dar und werden in den vorliegenden Richtlinien nicht behandelt. 7<br />

2 Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder verbindliches<br />

Standesrecht.<br />

3 Nachfolgend wird vereinfachend von «Reanimation» gesprochen.<br />

4 In der Folge als Herzkreislaufstillstand bezeichnet. Ein Herzkreislaufstillstand ist gekennzeichnet durch<br />

fehlende mechanische Herzaktivität, welche klinisch anhand von Bewusstlosigkeit, fehlender Atmung<br />

oder Schnappatmung und fehlendem Puls diagnostiziert wird.<br />

5 Anstatt von DNAR «Do Not Attempt Resuscitation» kann auch von «Allow Death by Spontaneous<br />

Circulatory Arrest» gesprochen werden.<br />

6 Vgl. «Grenzfragen der Intensivmedizin», «Palliative Care» sowie «Betreuung von Patientinnen und<br />

Patienten am Lebensende», medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

7 Diesbezüglich bestehen bereits Richtlinien, vgl. die Empfehlungen «Perinatale Betreuung an der Grenze<br />

der Lebensfähigkeit zwischen 22 und 26 vollendeten Schwangerschaftswochen». Schweiz Ärztezeitung.<br />

2012; 93(4): 97 – 100. Vgl. auch «Die Betreuung und Reanimation des Neugeborenen». Paediatrica. 2007;<br />

18: 36 – 45.<br />

7


2. Reanimationsentscheid<br />

2.1. Ethische Überlegungen<br />

Reanimationsentscheidungen haben ihre ethische Grundlage in drei medizinethischen<br />

Prinzipien, die in einer konkreten Entscheidungssituation miteinander<br />

in Konflikt geraten können, nämlich den Prinzipien der Fürsorge und des Nichtschadens<br />

sowie der Pflicht zur Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des<br />

Patienten. Das Prinzip der Fürsorge verpflichtet dazu, das Leben des Patienten<br />

nach Möglichkeit zu erhalten und ist Grundlage für das Einleiten von Reanimationsbemühungen<br />

in Notfallsituationen ohne Vorkenntnisse. Die Verpflichtung<br />

nicht zu schaden ist die Grundlage für das Unterlassen von Reanimationsbemühungen,<br />

wenn diese den Patienten unnötig belasten würden. Die Pflicht zur Respektierung<br />

des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten erfordert schliesslich,<br />

Reanimationsversuche zu unterlassen, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht.<br />

Der Reanimationsentscheid erfordert eine sorgfältige Abwägung, welche<br />

den obgenannten Prinzipien Rechnung trägt.<br />

2.2. Medizinische Einschätzung<br />

Die wichtigsten medizinischen Kriterien für die Entscheidung, ob Reanimationsmassnahmen<br />

indiziert sind oder nicht, sind die unmittelbaren und die längerfristigen<br />

Überlebenschancen sowie der zu erwartende Gesundheitszustand des Patienten<br />

nach einer allfälligen Reanimation (vgl. <strong>Anhang</strong>). Entscheidend ist die<br />

Ausgangssituation. Es ist von Bedeutung, ob ein Herzkreislaufstillstand als natürliches<br />

Ereignis am Lebensende als Folge einer schweren Krankheit oder überraschend<br />

bei einem bis anhin «Gesunden» auftritt.<br />

Besteht eine Chance, dass ein Patient ohne schwerwiegende neurologische Folgeschäden<br />

des Herzkreislaufstillstands weiterleben kann, ist ein Reanimationsversuch<br />

aus medizinischer Sicht indiziert. Bei Patienten am Lebensende 8 sind<br />

Reanimationsbemühungen hingegen nicht sinnvoll. Schwieriger ist die Beurteilung<br />

bei Patienten mit einer unheilbaren, progressiv verlaufenden Krankheit,<br />

die sich über Monate oder Jahre erstrecken kann. In solchen Situationen ist der<br />

Wille, resp. der mutmassliche Wille des Patienten ausschlaggebend für die zu treffende<br />

Entscheidung.<br />

8 Damit sind Kranke gemeint, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur Überzeugung<br />

gekommen ist, dass ein Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäss innerhalb von Tagen oder<br />

wenigen Wochen zum Tod führt. Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende».<br />

Medizin-ethische Richtlinien der SAMW.<br />

8


2.3. Recht auf Selbstbestimmung<br />

Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet, dass jede urteilsfähige Person das Recht<br />

hat, sich für oder gegen Reanimationsversuche auszusprechen. Dies schliesst ein,<br />

dass eine Person Reanimationsbemühungen ablehnen kann, auch wenn diese aufgrund<br />

der medizinischen Einschätzung indiziert wären. Der Wille des Patienten<br />

muss in diesem Fall respektiert werden. Das Selbstbestimmungsrecht stösst aber<br />

an eine Grenze, wenn die betroffene Person das «Unmögliche» einfordert, d.h.<br />

Behandlungen, die chancenlos und damit aus medizinischer Sicht nicht indiziert<br />

sind.<br />

Urteilsfähigkeit<br />

Die Urteilsfähigkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für die Verbindlichkeit<br />

einer Willensäusserung. Sie muss im Gesamtkontext in der konkreten Situation<br />

und im Hinblick auf die zu treffende Entscheidung beurteilt werden. Urteilsfähigkeit<br />

im Hinblick auf Reanimationsmassnahmen bedeutet, dass die Person in der<br />

Lage ist, die Tragweite einer Entscheidung über Reanimationsmassnahmen abzuschätzen<br />

und dass sie ohne äusseren Druck einen Willen bilden und diesen auch<br />

äussern kann. Bei Erwachsenen und Jugendlichen wird Urteilsfähigkeit grundsätzlich<br />

vermutet. Bestehen im Einzelfall ernsthafte Zweifel an der Urteilsfähigkeit<br />

eines Patienten, ist eine vertiefte fachärztliche Abklärung, eventuell unter Beizug<br />

von dem Patienten nahe Stehenden oder Dritten, zu empfehlen. Ein Widerspruch<br />

zwischen aktuellen und früheren Willensäusserungen eines Patienten berechtigt<br />

allein noch nicht zur Annahme fehlender Urteilsfähigkeit.<br />

Urteilsunfähige Patienten<br />

Ist eine Person nicht mehr urteilsfähig, gilt der in einer allfälligen Patientenverfügung<br />

9 zu dieser Situation geäusserte Patientenwille. Der Arzt muss die Patientenverfügung<br />

beachten, sofern diese nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstösst<br />

bzw. keine begründeten Zweifel bestehen, dass sie nicht auf freiem Willen beruht<br />

oder nicht dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht.<br />

9 Vgl. «Patientenverfügungen». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

9


Fehlt eine schriftliche Patientenverfügung oder ist sie ungültig, so entscheidet<br />

die vertretungsberechtigte Person 10 , ausser es liege eine Notfallsituation vor. Die<br />

vertretungsberechtigte Person bzw. der Arzt müssen bei ihrer Entscheidungsfindung<br />

den mutmasslichen Willen des Patienten berücksichtigen. Um diesen zu<br />

eruieren, sind – soweit es die zeitlichen Umstände erlauben – Bezugspersonen des<br />

Patienten (Angehörige, Hausarzt u.a.) einzubeziehen. Wichtige Hinweise geben<br />

frühere Willensäusserungen des Patienten, seine Vorstellungen von Sterben und<br />

Tod und seine Akzeptanz von eingeschränkter Lebensqualität. Von Bedeutung<br />

ist, wie der Patient selber entscheiden würde, wenn er dazu in der Lage wäre (individuell-mutmasslicher<br />

Wille). Bei Patienten, die nie urteilsfähig waren und in<br />

Situationen, in welchen der mutmassliche Wille des Patienten nicht eruiert werden<br />

kann, ist vom wohlverstandenen Interesse des Patienten auszugehen.<br />

2.4. Gespräch über Reanimation 11<br />

Erwachsene<br />

Im Gespräch mit dem Patienten über seine Krankheit, deren Prognose sowie über<br />

seine Erwartungen in Bezug auf die Behandlung und Betreuung sollen nach Möglichkeit<br />

auch Herzkreislaufstillstand und ein allfälliger Reanimationsversuch thematisiert<br />

werden. Da dies Ängste auslösen kann, sollte sorgfältig abgeklärt werden,<br />

inwieweit sich die betreffende Person mit dem Thema auseinandersetzen<br />

möchte.<br />

Aus praktischen Gründen kann jedoch nicht mit allen Patienten über Herzkreislaufstillstand<br />

und Reanimation gesprochen werden. Bei vielen Patienten ist dies<br />

auch nicht sinnvoll.<br />

Spitalpatienten sind in der allgemeinen Informationsbroschüre, die das Spital<br />

abgibt, darüber zu informieren, dass bei einem unerwarteten Herzkreislaufstillstand<br />

grundsätzlich Reanimationsmassnahmen eingeleitet werden, es sei denn<br />

es wurde vorher etwas anderes vereinbart. Sie müssen zudem darüber informiert<br />

werden, dass sie mit dem zuständigen Arzt das Gespräch suchen sollen, falls sie<br />

damit nicht einverstanden sind.<br />

10 Das Gesetz erklärt folgende Personen bei medizinischen Massnahmen als vertretungsberechtigt:<br />

In erster Linie Personen, die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet<br />

wurden, in zweiter Linie der Beistand mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,<br />

danach An gehörige und weitere Bezugspersonen, die dem Patienten regelmässig persönlich Bei -<br />

stand leisten (Ehegatte bzw. eingetragener Partner, Personen im gleichen Haushalt, Nachkommen,<br />

Eltern, Geschwister). Für minderjährige Patienten sind die Inhaber der elterlichen Sorge vertretungsberechtigt.<br />

11 Vgl. auch den Beitrag von Ghelli R, Gerber AU. Wiederbelebung – ja oder nein: Was sagt der Patient<br />

dazu. Schweiz. Ärztezeitung. 2008; 89(39): 1667 – 1669.<br />

10


In Situationen, in welchen Reanimationsversuche medizinisch nicht indiziert wären<br />

(vgl. Kap. 2.2.), muss der zuständige Arzt 12 das Gespräch mit dem Patienten<br />

suchen. 13 Dieses soll mit der notwendigen Sorgfalt und Empathie geführt werden.<br />

Im Vordergrund sollte nicht die Frage allfälliger Reanimationsbemühungen<br />

stehen, sondern die Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Behandlung<br />

und die Erwartungen und Wünsche des Patienten.<br />

Das Gespräch über Reanimationsmassnahmen ist anspruchsvoll. Der Arzt muss<br />

den Patienten über die medizinische Einschätzung (vgl. Kap. 2.2.) informieren.<br />

Dazu gehört auch eine möglichst objektive und realistische Information über die<br />

Behandlungsmöglichkeiten und -grenzen, die Prognose und das Schaden- und<br />

Nutzenpotenzial allfälliger Reanimationsmassnahmen. Ängste des Patienten und<br />

seiner Angehörigen sind ernst zu nehmen. Es muss insbesondere auch klargestellt<br />

werden, dass ein DNAR-Entscheid andere Behandlungsentscheide nicht beeinflusst.<br />

Kinder und Jugendliche<br />

Bei den meisten Kindern und Jugendlichen ist anlässlich einer Hospitalisation<br />

kein Gespräch über Reanimation notwendig, da das Risiko für das Eintreten eines<br />

Herzkreislaufstillstands sehr gering ist und meist keine Grunderkrankungen vorliegen,<br />

die Reanimationsversuche als medizinisch nicht indiziert erscheinen lassen.<br />

Das Gespräch muss aber dann gesucht werden, wenn absehbar ist, dass Reanimationsmassnahmen<br />

erfolglos wären oder für den Patienten der potenzielle<br />

Schaden einer Reanimation den Nutzen überwiegen würde.<br />

Ältere Kinder und Jugendliche müssen in angemessener Weise in Gespräche über<br />

medizinische Massnahmen einbezogen werden und haben ein Recht auf Berücksichtigung<br />

ihres Willens. Dies gilt auch für den Reanimationsentscheid. Für die<br />

Beurteilung, in welchem Ausmass neben den Eltern auch die betroffenen Kinder<br />

und Jugendlichen an solchen Gesprächen beteiligt werden, soll neben der Entwicklungsstufe<br />

auch die individuelle Belastbarkeit berücksichtigt werden.<br />

In den meisten Fällen kann ein Konsens erreicht werden; oftmals sind dazu aber<br />

mehrere Gespräche notwendig. Kann auch mit professioneller Unterstützung<br />

keine Einigung erzielt werden, soll die zuständige Aufsichtsbehörde einbezogen<br />

werden.<br />

12 Welches der «zuständige Arzt» ist, muss institutionsintern definiert werden.<br />

13 Vgl. auch den Abschnitt «Patienten am Lebensende» am Ende des Kapitels 2.4.<br />

11


Patienten unter Herzkreislaufüberwachung<br />

Bei Patienten mit einem kardialen Problem, die unter enger Herzkreislaufüberwachung,<br />

beispielsweise im Rahmen einer Operation, im Herzkatheterlabor oder auf<br />

der kardiologisch oder kardiochirurgischen Intensivstation stehen, ist die Wahrscheinlichkeit<br />

einer erfolgreichen Reanimation mit ca. 70% überdurchschnittlich<br />

hoch. Im Gegensatz dazu sind Reanimationsmassnahmen bei Patienten, bei<br />

welchen das primäre Problem nicht kardialer Natur ist, häufig erfolglos, da dort<br />

der Kreislaufstillstand in der Regel als Endpunkt schwerwiegender systemischer<br />

Ereignisse auftritt (vgl. <strong>Anhang</strong>).<br />

Liegt bei einem Patienten, der sich einer diagnostischen oder therapeutischen Intervention<br />

unterziehen möchte, ein DNAR-Entscheid vor, so muss dieser im Rahmen<br />

der Aufklärung zum betreffenden Eingriff vor der Intervention thematisiert<br />

und das Risiko eines Herzkreislaufstillstands vorbesprochen werden. Der Patient<br />

soll über die besseren Erfolgsaussichten in der spezifischen Situation informiert<br />

werden. Lehnt er Reanimationsbemühungen dennoch ab, muss sein Wille respektiert<br />

werden. Es kann dann zur Situation kommen, dass der Patient im «monitorisierten<br />

Herzkreislaufstillstand» stirbt. Es ist deshalb wichtig, dass nicht nur<br />

der Wille des Patienten und der begründete DNAR-Entscheid, sondern auch der<br />

Inhalt des Informationsgesprächs klar im Patientendossier festgehalten werden<br />

und das Interventionsteam ebenso klar informiert wird. Handelt es sich bei der<br />

geplanten Intervention um einen Wahleingriff, kann der Arzt diesen aus Gewissensgründen<br />

ablehnen. In dieser Situation ist er jedoch verpflichtet, dem Patienten<br />

Alternativen anzubieten (z.B. einen Arztwechsel).<br />

Menschen mit Behinderung<br />

Bei Menschen mit Behinderung kann die Beurteilung des zu erwartenden Gesundheitszustands<br />

nach einer allfälligen Reanimation durch die bereits bestehende<br />

Beeinträchtigung zusätzlich erschwert sein. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass Gesunde die Lebensqualität oft anders einschätzen als die Betroffenen selber.<br />

Dies spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn der Patient urteilsunfähig<br />

ist und Dritte für ihn entscheiden müssen. Im Gespräch mit den Betreuungspersonen<br />

von urteilsunfähigen Patienten mit Behinderung muss versucht werden,<br />

ein möglichst klares Bild der Lebensqualität des Patienten in seinem Betreuungskontext<br />

zu gewinnen und daraus auf sein wohlverstandenes Interesse zu schliessen.<br />

Keinesfalls dürfen die persönlichen Vorstellungen von Lebensqualität der<br />

beteiligten Medizinalpersonen ausschlaggebend sein für den Entscheid über Reanimationsmassnahmen.<br />

Werden Reanimationsbemühungen aufgrund der medizinischen<br />

Einschätzung als nicht sinnvoll erachtet, ist besondere Sorgfalt notwendig.<br />

12


Ist der mutmassliche Wille des Betroffenen bekannt, muss er berücksichtigt werden.<br />

Bei Patienten, die nie urteilsfähig waren, entscheidet die vertretungsberechtigte<br />

Person nach den wohlverstandenen Interessen der urteilsunfähigen Person<br />

über medizinische Massnahmen.<br />

Ä ltere, pflegebedürftige Patienten in Institutionen der Langzeitpflege 14<br />

Mit älteren, pflegebedürftigen Patienten, die in eine Institution der Langzeitpflege<br />

eintreten, sollte grundsätzlich auch über das Vorgehen bei einem Herzkreislaufstillstand<br />

gesprochen und deren Wille eruiert werden. Fehlen innerhalb der Institution<br />

die Voraussetzungen für die Durchführung von Reanimationsmassnahmen,<br />

müssen die neu eintretenden Patienten und bei deren Urteilsunfähigkeit die<br />

Bezugspersonen über diese Situation informiert werden.<br />

In jedem Fall, das heisst auch bei Patienten, welche Reanimationsmassnahmen ablehnen,<br />

sollte sichergestellt sein, dass potenziell behandelbare, akute Zwischenfälle,<br />

die phänomenologisch einem akuten Herzkreislaufstillstand gleichen (wie z.B.<br />

Bolus-Aspiration), unverzüglich mit der notwendigen Sorgfalt behandelt werden.<br />

Patienten am Lebensende<br />

Bei Patienten am Lebensende 15 steht Palliative Care 16 im Zentrum. Oft erschweren<br />

es emotionale und psychologische Faktoren dem Patienten, seinen Angehörigen<br />

und den Mitgliedern des Betreuungsteams 17 zu erkennen und zu akzeptieren,<br />

dass das Lebensende nahe ist. Das Gespräch im Betreuungsteam kann zur Klärung<br />

beitragen. Ebenso wichtig ist das einfühlsame Gespräch mit dem Patienten und<br />

dessen Angehörigen über Erwartungen, Wünsche und Ängste.<br />

14 Vgl. «Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen». Medizin-ethische<br />

Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

15 Zur Definition von «Patienten am Lebensende» vgl. Fussnote 8.<br />

16 Vgl. «Palliative Care». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

17 Unter «Betreuungsteam» wird das interdisziplinäre und interprofessionelle Team verstanden,<br />

welches einen Patienten betreut.<br />

13


2.5. Entscheidfindung<br />

Der Reanimationsentscheid muss grundsätzlich im Betreuungsteam diskutiert<br />

werden. Lehnt der urteilsfähige Patient Reanimationsmassnahmen ausdrücklich<br />

ab, muss dies von Allen respektiert werden.<br />

Ist ein Patient nicht urteilsfähig, muss der Arzt sicherstellen, dass abgeklärt wird,<br />

ob eine Patientenverfügung vorhanden ist. Liegt eine gültige Patientenverfügung<br />

vor, sind die darin enthaltenen Weisungen zu beachten. Fehlt eine Patientenverfügung,<br />

so entscheidet die nach Gesetz vertretungsberechtigte Person nach dem<br />

mutmasslichen Willen und den Interessen des Patienten (vgl. Kap. 2.3.). Der Arzt<br />

informiert die vertretungsberechtigte Person über alle Umstände, die im Hinblick<br />

auf die vorgesehenen medizinischen Massnahmen wesentlich sind. Soweit möglich<br />

wird auch der urteilsunfähige Patient in die Entscheidfindung einbezogen.<br />

2.6. Dokumentation<br />

Der Reanimationsentscheid muss klar als «Rea-Ja» oder «Rea-Nein» im ärztlichen<br />

und pflegerischen Patientendossier festgehalten werden. Der Entscheid «Rea-<br />

Nein» (oder «DNAR») bedeutet ausschliesslich, dass im Falle eines dokumentierten<br />

Herzkreislaufstillstandes elektromechanische kardiopulmonale Reanimationsversuche<br />

zu unterlassen sind. Zwischenstufen mit eingeschränkten<br />

Reanimationsmassnahmen 18 sind auf Grund der genannten Definition abzulehnen.<br />

Für Patienten unter laufender Herzkreislaufmonitorisierung (z.B. auf einer<br />

Intensivstation) müssen Ausnahmeregeln erarbeitet werden, welche den individuellen<br />

Situationen Rechnung tragen.<br />

Der zuständige Arzt muss den Eintrag in der Patientendokumentation datieren<br />

und unterschreiben; dabei soll er auch festhalten, ob eine verbindliche Willensäusserung<br />

des Patienten vorliegt. In komplexen Situationen sollte der Entscheid<br />

sowohl in der Pflegedokumentation wie im Patientendossier des Arztes (bei ambulanten<br />

Patienten im Dossier des Hausarztes) ausführlicher begründet werden. 19<br />

18 In gewissen Spitälern wird der Reanimationsentscheid nicht nur mit «ja» oder «nein» festgelegt,<br />

sondern weiter differenziert. Diese Zwischenstufen umfassen z.B. «Reanimation elektromechanisch<br />

ohne Intubation», «Reanimation nur medikamentös», «keine mechanische Reanimation».<br />

19 Vgl. den Vorschlag bei Ghelli R, Gerber AU. Wiederbelebung – ja oder nein: Was sagt der Patient dazu.<br />

Schweiz. Ärztezeitung 2008; 89(39): 1667 – 1669.<br />

14


2.7. Überprüfung<br />

Der Entscheid über den Einsatz oder das Unterlassen von Reanimationsmassnahmen<br />

muss regelmässig überprüft werden. Dies gilt insbesondere auch für ambulante<br />

Patienten, welche an einer chronisch progredienten Krankheit leiden. Der<br />

Verlauf der Krankheit, die Notwendigkeit von Eingriffen, das (Nicht-)Ansprechen<br />

auf eine Therapie und deren Verträglichkeit sowie das Auftreten von Komplikationen<br />

und Folgekrankheiten erfordern oft eine Neubeurteilung des Reanimationsentscheides.<br />

Nicht selten führt die Auseinandersetzung des Patienten mit seiner<br />

Krankheit zu einer Willensänderung. Auch wenn ein früherer Beschluss Bestand<br />

hat, sollte er regelmässig aktualisiert und kommuniziert werden. Im Spital soll<br />

die Überprüfung regelmässig, insbesondere bei jedem Stationswechsel des Patienten<br />

erfolgen, bei kritisch kranken Patienten der Situation angepasst häufiger.<br />

Der aktualisierte Eintrag muss vom zuständigen Arzt datiert und unterschrieben<br />

werden. Wird ein Patient von einem neuen Betreuungsteam übernommen und<br />

besteht Unsicherheit bezüglich des Reanimationsentscheids, soll es mit dem vorbehandelnden<br />

Team Rücksprache nehmen. Bei Zweifeln muss der Entscheid in<br />

angemessener Form mit dem Patienten – bei Urteilsunfähigkeit mit dessen Vertreter<br />

– erneut besprochen werden.<br />

Bei Verlegung eines Patienten muss das Transportteam über einen bestehenden<br />

DNAR-Entscheid und dessen Begründung informiert werden. Basiert dieser auf<br />

dem Willen des Patienten, ist er auch für das Transportteam verbindlich.<br />

2.8. Konfliktsituationen<br />

Gelegentlich fordern Patienten oder Angehörige Reanimationsversuche auch in<br />

Situationen, in welchen diese aus medizinischer Sicht nicht indiziert sind. Ausserdem<br />

kann es vorkommen, dass Angehörige die ablehnende Haltung eines Patienten<br />

gegenüber Reanimationsversuchen nicht akzeptieren. Solche Situationen<br />

sind ein Indiz für einen erhöhten Bedarf an Information. Oft geht es darum, Missverständnisse<br />

zu klären und dem Patienten und seinen Angehörigen in mehreren<br />

Gesprächen die therapeutischen Grenzen der kurativen Medizin und die Möglichkeiten<br />

der Palliative Care aufzuzeigen. 20<br />

Bei Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Betreuungsteams muss sorgfältig<br />

abgeklärt werden, worauf diese beruhen. Unterschiedliche Wertvorstellungen und<br />

Handlungsoptionen sollen diskutiert werden. In Konfliktsituationen sollte eine<br />

ethische Unterstützung 21 beigezogen werden.<br />

20 Vgl. Quill TE, Arnold R, Back AL. Discussing treatment preferencies with patients who want everything.<br />

Ann Int Med. 2009; 151(5): 345 – 349.<br />

21 Vgl. «Ethische Unterstützung in der Medizin». Empfehlungen der SAMW.<br />

15


3. Vorgehen in der Situation eines Herzkreislaufstillstandes<br />

Der akute Herzkreislaufstillstand stellt immer eine Notfallsituation dar, die ein<br />

rasches Entscheiden und Handeln erfordert. Insbesondere bei Personen, die im<br />

öffentlichen Raum einen Herzkreislaufstillstand erleiden, fehlen in der Regel jegliche<br />

Hinweise auf allfällige Vorerkrankungen des Patienten oder seinen Willen.<br />

Innerhalb eines Spitals hingegen sollte grundsätzlich bei jedem Patienten aus<br />

dem Patientendossier sofort ersichtlich sein, ob Reanimationsmassnahmen eingeleitet<br />

werden sollen oder nicht (vgl. Kap. 2.).<br />

Grundvoraussetzung für den Einsatz von Reanimationsmassnahmen ist die klinisch<br />

korrekte Diagnose des Herzkreislaufstillstands. Angesichts der Dringlichkeit<br />

muss die Entscheidung in Sekundenschnelle getroffen werden; ein Zeitverlust<br />

durch Abklärungen würde die Prognose verschlechtern. Im Zweifelsfall muss<br />

deshalb unverzüglich mit adäquaten kardiopulmonalen Reanimationsmassnahmen<br />

begonnen werden.<br />

3.1. Rechtliche Rahmenbedingungen<br />

Gemäss geltendem Recht 22 besteht in einer Notfallsituation eine allgemeine<br />

Pflicht zur Hilfeleistung. Dabei werden an Ärzte und Fachpersonen des Gesundheitswesens<br />

ihren Fachkenntnissen entsprechend höhere Anforderungen gestellt<br />

als an medizinische Laien.<br />

Ist in der Notfallsituation der Wille der betroffenen Person nicht bekannt und<br />

kann der mutmassliche Wille nicht rechtzeitig erfragt werden, muss vom Lebenswillen<br />

des Patienten ausgegangen und entsprechend gehandelt werden.<br />

Der Wille des Patienten ist jedoch auch in einer Notfallsituation verpflichtend für<br />

die behandelnden Personen. Bestehen klare Hinweise, dass eine Person Wiederbelebungsversuche<br />

ablehnt, so dürfen keine Reanimationsmassnahmen durchgeführt<br />

werden. Stellt sich dies erst im Laufe der Reanimationsbemühungen, z.B.<br />

anhand einer Patientenverfügung oder aufgrund der Aussage einer vertretungsberechtigten<br />

Person, heraus, muss die Reanimation abgebrochen werden. Wird<br />

der Patientenverfügung nicht entsprochen, so muss dies vom betreffenden Nothelferteam<br />

in der Krankenakte klar begründet werden.<br />

22 Die Nothilfepflicht leitet sich aus Art. 128 Strafgesetzbuch ab: Wer einem Menschen, der in unmittelbarer<br />

Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden<br />

könnte, wird mit Gefängnis oder Busse bestraft.<br />

16


DNAR-Embleme irgendwelcher Art (Bsp. Tätowierung, Hautstempel, Halsketten-<br />

Anhänger etc.) haben nicht die Rechtskraft einer Patientenverfügung (fehlende<br />

Schriftlichkeit, Datum, Unterschrift) sondern sind als starker Hinweis auf das Vorliegen<br />

einer solchen zu verstehen. Die Reanimationsequipe muss deshalb, wenn<br />

sie ein DNAR-Emblem antrifft, unverzüglich die Suche nach der Patientenverfügung<br />

veranlassen. Lebensrettende Sofortmassnahmen dürfen aber nicht verzögert<br />

werden, solange nicht klar geworden ist, dass der Patient diese wirklich ablehnt.<br />

Neben einer Patientenverfügung oder der Aussage einer vertretungsberechtigten<br />

Person, die verbindlichen Charakter haben, sind auch die Äusserungen von Personen,<br />

die mit dem Patienten zusammenleben, zu berücksichtigen, insbesondere<br />

wenn die Umstände die Sinnhaftigkeit einer Reanimation fraglich erscheinen lassen.<br />

Ein Notruf, der den Wunsch nach medizinischer Unterstützung bei der Begleitung<br />

eines Sterbenden bedeutet, soll nicht als Verpflichtung zur Reanimation<br />

missdeutet werden.<br />

Bei einem Herzkreislaufstillstand, der in Folge eines Suizidversuchs eingetreten<br />

ist, darf in der Regel allein aufgrund der suizidalen Handlung nicht auf eine Ablehnung<br />

von Reanimationsmassnahmen geschlossen werden. Die Vorgeschichte<br />

des Suizids, die Methode, die Zeitdauer des Suizidwunsches, die Urteilsfähigkeit<br />

usw. erfordern eine sorgfältige Abwägung. Ist eine solche in der Notfallsituation<br />

nicht möglich, so muss ein Reanimationsversuch durchgeführt werden. Die Interpretation<br />

einer allenfalls vorliegenden Patientenverfügung ist in diesem Fall<br />

besonders schwierig, da in der Situation des Suizids nicht ohne weiteres von der<br />

Vermutung ausgegangen werden kann, dass diese im Zustand der Urteilsfähigkeit<br />

erstellt wurde.<br />

3.2. Prognostische Faktoren<br />

Für die Beurteilung der Erfolgschancen von Reanimationsbemühungen sind die<br />

nachfolgenden prognostischen Faktoren relevant. 23 Diese können im Voraus aber<br />

nur begrenzt abgeschätzt werden.<br />

Günstige prognostische Faktoren:<br />

− kurzes Intervall zwischen Eintreten des Herzkreislaufstillstands, Beginn der Reanimationsmassnahmen<br />

und erster Defibrillation (beobachteter Kollaps des Patienten;<br />

Herzkreislaufstillstand im Rahmen einer diagnostischen oder therapeutischen<br />

Intervention usw.);<br />

− Tachykarde Herzrhythmus-Störung (Kammertachykardie, Kammerflimmern);<br />

− guter gesundheitlicher Vorzustand des Patienten.<br />

23 Vgl. American Heart Association Guidelines for Cardiopulmonary Resuscitation and Emergency<br />

Cardiovascular Care. Circulation. 2005; 112 (suppl IV): IV-206.<br />

17


Schlechte prognostische Faktoren:<br />

− gesicherte Hinweise auf einen Herzkreislaufstillstand ohne wirksame Reanimationsmassnahmen<br />

während mehr als zehn Minuten (nach Ausschluss von<br />

Hypothermie [Unterkühlung] und ohne Hinweise auf Intoxikation);<br />

− fehlende elektrische Herzaktion (Asystolie);<br />

− pulslose elektrische Aktivität (PEA);<br />

− schwere Komorbidität und schlechter gesundheitlicher Vorzustand vor<br />

dem Herzkreislaufstillstand;<br />

− sichere Kenntnis einer unmittelbar lebensbedrohlichen, nicht<br />

behandelbaren Vorerkrankung;<br />

− spezielle Umstände des Herzkreislaufstillstands (z.B. Polytrauma).<br />

Die aufgeführten prognostischen Faktoren sind auch für Kinder und Jugendliche<br />

relevant. Insbesondere bei Kleinkindern geht einem Herzkreislaufstillstand häufig<br />

ein Atemstillstand voraus. In dieser Situation sind die Erfolgsaussichten einer<br />

Reanimation hoch, wenn die Massnahmen (assistierte resp. künstliche Beatmung)<br />

vor dem Herzkreislaufstillstand einsetzen (vgl. <strong>Anhang</strong>).<br />

3.3. Abbruch der Reanimationsmassnahmen<br />

Neben dem Patientenwillen (vgl. Kap. 3.1.) und ungünstigen prognostischen<br />

Faktoren (vgl. Kap. 3.2.) ist der fehlende Erfolg der Reanimation ein weiterer<br />

Grund für einen Abbruch der Reanimationsbemühungen. Eine Reanimation ist<br />

erfolglos, wenn während 20 Minuten trotz ununterbrochenen, lege artis durchgeführten<br />

Reanimationsmassnahmen nie eine Rückkehr der Herzaktion mit<br />

spontanem Kreislauf erreicht wird und der Patient klinische Zeichen des Todes<br />

(Pulslosigkeit, Koma usw.) aufweist. Tritt unter der Reanimation vorübergehend<br />

wieder eine spontane, kreislaufwirksame Herzaktion auf, beginnt die zwanzigminütige<br />

Reanimationsfrist neu. 24 Bei Vorliegen besonderer Umstände (Hypothermie<br />

vor Eintreten des Herzkreislaufstillstands, Verdacht auf Intoxikation oder<br />

metabolische Entgleisung, Kinder mit wiederkehrendem oder persistierendem<br />

Kammerflimmern) ist es sinnvoll, den Reanimationsversuch über einen längeren<br />

Zeitraum hinweg durchzuführen.<br />

Der Entscheid, einen Reanimationsversuch abzubrechen, soll möglichst von<br />

einem Arzt gefällt werden. Dieser sollte die emotionale Ausnahmesituation aller<br />

am Reanimationsversuch Beteiligter berücksichtigen und die Entscheidung in respektvoller<br />

Weise vornehmen.<br />

24 Vgl. «Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen». Medizin-ethische Richtlinien<br />

der SAMW.<br />

18


Nach einer erfolglosen Reanimation ausserhalb einer Institution stellt sich die<br />

Frage nach dem Transport des Verstorbenen. Zur Entlastung der Angehörigen<br />

soll die Möglichkeit des Transports des Verstorbenen mit der Ambulanz wohlwollend<br />

geprüft werden.<br />

3.4. Umgang mit Angehörigen<br />

Im Zentrum der Reanimationsbemühungen steht der Patient, doch sind die nächsten<br />

Angehörigen ebenso betroffen. Angehörige, die während der Reanimation<br />

anwesend sind oder die nach erfolgloser Reanimation vom Verstorbenen Abschied<br />

nehmen wollen, sollen angemessen unterstützt werden. Die Berücksichtigung<br />

des kulturellen und religiösen Hintergrundes von Patient und Familie ist in<br />

dieser Situation besonders wichtig.<br />

3.5. Nachbesprechung im Team<br />

Reanimationssituationen sind für alle und insbesondere auch für das Betreuungsteam<br />

innerhalb und ausserhalb einer Institution eine Belastung. Gelegentlich<br />

bleibt ein Gefühl zurück, versagt zu haben. Im Rahmen der emotionalen Belastung<br />

drohen Schuldzuweisungen. Hilfreich ist in solchen Situationen eine Nachbesprechung<br />

(Fallbesprechung). Diese sollte nicht nur die Qualität der medizinischen<br />

Leistungen thematisieren, sondern auch den Entscheidungsprozess, den<br />

Kommunikationsprozess zwischen Ärzten, Pflegenden und den weiteren involvierten<br />

Fachpersonen, die Betreuung der Angehörigen, die emotionale Belastung<br />

des Nothelferteams und den Umgang mit Sterben und Tod.<br />

19


III.<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

Nachfolgend werden Empfehlungen an unterschiedliche Adressaten aufgelistet,<br />

um die Umsetzung der vorliegenden Richtlinien zu unterstützen:<br />

1. An die Verantwortlichen für die medizinische und<br />

pflegerische Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

– Sicherstellung von periodischen Schulungen und Training in aktuellen Reanimationsmassnahmen;<br />

– Schulung und Training der Kommunikation mit Patienten und Angehörigen in:<br />

– Gesprächsführung zur Erhebung der Erwartungen des Patienten an Ärzte und<br />

Pflegende (Klärung des Patientenwillens im Hinblick auf die Reanimation)<br />

sowie bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen der Medizin und insbesondere<br />

der Wiederbelebungsmassnahmen;<br />

– Grundlagen der Patientenrechte, inkl. Patientenverfügung;<br />

– Förderung der Entscheidungskompetenz bezüglich Indikation und Abbruch<br />

von Reanimationsmassnahmen in interdisziplinären Veranstaltungen.<br />

2. An die Institutionen des Gesundheitswesens (Rettungsdienste,<br />

Notfallstationen, Akutspitäler, Alters- und Pflegeheime usw.)<br />

– Erstellen von institutionsinternen, institutionsspezifischen Weisungen in<br />

Ergänzung zu den vorliegenden Richtlinien;<br />

– Information in der Spitalbroschüre resp. den allgemeinen Informationen<br />

von Alters- und Pflegeheimen;<br />

– Einführung einer Rubrik «Reanimationsentscheid» im Patientendossier;<br />

– Förderung der interdisziplinären und interprofessionellen Gesprächskultur<br />

durch aktiven Einbezug aller Beteiligten in den Entscheidungsprozess und Institutionalisierung<br />

von Fallbesprechungen.<br />

3. An politische Instanzen und Kostenträger<br />

– Sicherstellung einer Wahlmöglichkeit für ein Alters- oder Pflegeheim mit einem<br />

Reanimationsangebot.<br />

20


IV.<br />

ANHANG<br />

1. Reanimationsresultate bei Erwachsenen<br />

1.1. Grundsätzliches<br />

Gute Kenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen von Reanimationsmassnahmen<br />

stellen die medizinischen Grundlagen für die Erarbeitung und das Festlegen<br />

von Reanimationsentscheiden dar. Sowohl Laien als auch viele Fachpersonen<br />

wissen jedoch wenig über den tatsächlichen Erfolg von Reanimationsmassnahmen.<br />

Dies gilt ebenfalls für Faktoren, welche letztlich über Erfolg oder Misserfolg<br />

entscheiden. Die Kenntnisse der Erfolgskriterien in unterschiedlichen Situationen<br />

sind jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für die differenzierte Entscheidungsfindung.<br />

Grundsätzlich müssen bei der Analyse der Reanimationsresultate die Begleitumstände<br />

mitberücksichtigt werden, d.h. der Ort des Wiederbelebungsversuchs (ausserhalb<br />

oder innerhalb des Spitals oder gar auf einer Intensivstation), die Ursache<br />

des Kreislaufstillstands (kardial oder nicht kardial), der initial beobachtete Herzrhythmus<br />

(Kammertachykardie/Kammerflimmern, Asystolie oder anderes), ob<br />

der Kreislaufstillstand beobachtet wurde, das Intervall zwischen Eintritt des Herzkreislaufstillstandes<br />

und dem Beginn adäquater Reanimationsmassnahmen und<br />

ob die ersten Hilfspersonen über die Kenntnisse der Wiederbelebungsmassnahmen<br />

verfügen oder nicht.<br />

Neben den Begleitumständen ist die Ursache des Herzkreislaufstillstandes in vielen<br />

Fällen entscheidend: Kreislaufstillstände aufgrund von Herzrhythmusstörungen<br />

haben eine etwas günstigere Prognose, während ein Kreislaufstillstand<br />

infolge hämorrhagischem Schock (z.B. nach Trauma) oder im Rahmen einer progredienten<br />

Allgemeinzustandsverschlechterung (z.B. konsumierendes Leiden, sequentielles<br />

multiples Organversagen auf der Intensivstation) in der Regel nicht<br />

erfolgreich behoben werden kann.<br />

1.2. Resultate<br />

Als Erfolg einer Reanimation wird in der Regel die Entlassung des Patienten aus<br />

dem Spital unter Angabe seiner neurologischen Funktionen bezeichnet. Der eigentliche<br />

Erfolg besteht im Überleben ohne relevante neurologische Folgeschäden<br />

des Herzkreislaufstillstands. Schwere Behinderung, Koma und vegetativer Zustand<br />

gelten als Misserfolg.<br />

21


Wiederbelebungsversuche ausserhalb des Spitals<br />

Europäische Daten über Wiederbelebungsversuche und -erfolge ausserhalb des<br />

Spitals werden nach Utstein Style [1] erhoben und analysiert. Für das Jahr 2005<br />

zeigen sie folgende Resultate (vgl. Tabelle): Zwischen 34 und 98% der Patienten<br />

mit Kreislaufstillstand (Mittel: 67%, CH 71%) wurden durch eine professionelle<br />

Notfallequipe reanimiert. Zwischen 48 und 92% der Patienten (Mittel 75%,<br />

CH 71%) hatten einen Kreislaufstillstand aufgrund kardialer Ursache, wobei der<br />

Kollaps in 46 bis 89% (Mittel 67%, CH 69%) von Laien beobachtet wurde. Der<br />

primär diagnostizierte Rhythmus war in 16 bis 57% (Mittel 34%, CH 41%) ein<br />

Kammerflimmern. Bei den Patienten, bei denen der Kreislaufstillstand beobachtet<br />

wurde, konnte durch Wiederbelebungsmassnahmen in 31 bis 65% (Mittel<br />

38% CH 31%) ein spontaner Kreislauf wiederhergestellt werden, wobei 0 bis 23%<br />

der Patienten (Mittel 7,4%, CH 3,4%) das Spital verliessen. Nach einem Jahr waren<br />

lediglich 0 bis 16% (Mittel 5,1%, CH 0,3%) der Betroffenen noch am Leben.<br />

Über die neurologischen Beeinträchtigungen der Betroffenen liegen bei dieser<br />

Auswertung keine Daten vor [2].<br />

Reanimationsmassnahmen durch<br />

professionelle Nothelfer<br />

Europa<br />

Mittelwert und<br />

95% – CI (%)<br />

Schweiz<br />

Mittelwert (%)<br />

67 (34 – 98) 71<br />

Herzkreislaufstillstand kardialer Ursache 75 (48 – 92) 71<br />

Beobachteter Kollaps 67 (46 – 89) 69<br />

Resultate bei Patienten mit beobachtetem Kollaps und Reanimationsmassnahmen<br />

durch professionelles Nothelferteam<br />

Spontaner Kreislauf wiederhergestellt 38 (31 – 65) 31<br />

Überleben bis Spitalaustritt 7,4 (0 – 23) 3,4<br />

Überleben nach 1 Jahr 5,1 (0 – 16) 0,3<br />

22


Wiederbelebungsversuche innerhalb des Spitals<br />

Im Durchschnitt sind Überlebensraten nach kardiopulmonaler Reanimation innerhalb<br />

des Spitals höher als ausserhalb. Aber auch innerhalb eines Spitals sind die<br />

zeitlichen und örtlichen Umstände von entscheidender Bedeutung sowohl für die<br />

1-Monats Überlebensrate wie für ein intaktes neurologisches Überleben. So liegen<br />

die Spitalüberlebensraten insbesondere bei Reanimationen im Katheterlabor und<br />

auf Herzüberwachungsstationen vor allem bei Infarktpatienten mit Kammerflimmern<br />

ohne Linksherzinsuffizienz [3, 4] sowie in kardiochirurgischen Intensivstationen<br />

[5] bei über 70%. Andererseits haben Patienten, die wegen nicht-kardialer<br />

Ursache auf einer Intensivstation liegen, trotz Monitorisierung und unmittelbar<br />

einsetzender Reanimationsmassnahmen wenig Aussichten, einen Kreislaufstillstand<br />

unbeschadet zu überleben. Dies gilt inbesondere bei sich verschlechternden<br />

physiologischen Funktionen oder einem progredienten multiplen Organversagen<br />

(Überlebensraten zwischen 0 und 2%) [6 – 9].<br />

Ebenso spielt der primäre Rhythmus eine zentrale Rolle. So zeigen die Daten des<br />

National Registry of Cardiopulmonary Resuscitation der USA eine Wiederherstellung<br />

des Kreislaufs bei 44% der Betroffenen mit einer Spitalentlassungsrate von<br />

34%, wenn der initiale Rhythmus ein Kammerflimmern, und bei 10%, wenn der<br />

initiale Rhythmus eine Asystolie oder pulslose elektrische Aktivität war [10].<br />

1.3. Kommentar<br />

Wir nehmen an, dass ausserhalb des Spitals pro Jahr und pro Tausend Personen<br />

schätzungsweise 0,5 – 1 akute Herzkreislaufstillstände kardialer Ursache auftreten.<br />

Davon überleben weltweit, so auch in der Schweiz, weniger als 5%. Exemplarische<br />

Rettungssysteme wie z.B. Seattle/USA erreichen bessere Überlebensraten. Der Unterschied<br />

zwischen der weltweit generell tiefen Überlebensrate und der maximal<br />

zu erreichenden widerspiegelt die Funktionstüchtigkeit der «Überlebenskette» 25<br />

sowie die Qualität der durchgeführten Reanimationsmassnahmen. Dasselbe gilt<br />

auch für die Resultate innerhalb des Spitals. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen,<br />

dass sich Spitalpatienten (z.B. auch auf einer Intensivstation) bezüglich ihres Gesundheitszustandes<br />

von ambulanten wesentlich unterscheiden, was die Prognose<br />

häufig ungünstig beeinflusst.<br />

Eine erfolgreiche Reanimation hat nicht nur das Überleben an sich, sondern viel<br />

mehr das neurologisch intakte und qualitativ gute Überleben zum Ziel. Neurologisch<br />

schlechte Resultate sind Folge des zerebralen Sauerstoffmangels. Dafür verantwortlich<br />

sind nicht nur die Komorbiditäten des Patienten, sondern vor allem<br />

auch zu spät und/oder insuffizient durchgeführte Reanimationsmassnahmen. Leider<br />

existieren dazu kaum Daten und die bestehenden wurden zudem meist nur<br />

25 Die Überlebenskette umfasst die folgenden vier Glieder:<br />

1. Rasches Erkennen eines Herzkreislaufstillstands;<br />

2. Rascher Beginn der Reanimationsbemühungen;<br />

3. Frühdefibrillation;<br />

4. Einleitung rascher weiterführender Massnahmen («advanced life support»).<br />

23


an kleinen Kollektiven erhoben. Häufig zeigen die Überlebenden eine gute neurologische<br />

Erholung. Nach primär erfolgreicher Reanimation (bezüglich Wiederherstellen<br />

des Herz-Kreislaufs) verbleibt jedoch noch eine relevante Anzahl von<br />

Personen mit mittleren bis schweren neurologischen Störungen.<br />

Eine Verbesserung dieser Situation ist möglich. So müssen in der Schweiz die<br />

«Überlebenskette» sowie die Schulung und die Qualität der Reanimationsmassnahmen<br />

optimiert werden. Zudem kann der vermehrte Einsatz neuer Methoden<br />

zur zerebralen Reanimation (wie z.B. die milde Hypothermie) die neurologischen<br />

Spätresultate nach einer kardiopulmonalen Reanimation weiter verbessern.<br />

Der «optimale Reanimationspatient» erfüllt folgende Kriterien: Er ist vorbestehend<br />

gesund, erleidet einen beobachteten Kreislaufstillstand aufgrund einer<br />

Kammertachykardie resp. eines Kammerflimmerns, wird unverzüglich Herzkreislauf-reanimiert<br />

(Bystander-CPR) und lege artis defibrilliert, worauf sich möglichst<br />

schnell (maximal innerhalb von 10 Minuten) wieder ein spontaner und suffizienter<br />

Kreislauf einstellt. Erholt sich der Patient neurologisch nicht innerhalb von<br />

wenigen Minuten, wird er unter milder Unterkühlung (24 Stunden) für eine absehbare<br />

Zeit sediert und künstlich beatmet.<br />

2. Reanimationsresultate bei Kindern<br />

2.1. Grundsätzliches<br />

Bei Neugeborenen und Kindern gibt es im Vergleich zu Erwachsenen wesentliche<br />

Unterschiede bezüglich Epidemiologie, Ätiologie und Prognose eines Herzkreislaufstillstandes.<br />

Ein plötzlich auftretender Herzkreislaufstillstand aufgrund<br />

einer primären Rhythmusstörung ist bei Kindern selten; er ist in der Regel das<br />

terminale Ereignis nach progredienter respiratorischer Insuffizienz, plötzlichem<br />

Atemstillstand oder dekompensiertem Schock (sog. asphyxial arrest) [11 – 13].<br />

Aus diesem Umstand erklärt sich die Tatsache, dass die Erfolgsrate einer kardiopulmonalen<br />

Reanimation beim Kind mit Atemstillstand, aber noch vorhandener<br />

Herzaktivität, hoch ist (neurologisch intaktes Überleben >70%) [14 – 16],<br />

während die Chancen auf ein neurologisch intaktes Überleben bei bereits eingetretenem<br />

Herzkreislaufstillstand leider sehr gering sind (


2.2. Resultate<br />

Wiederbelebungsversuche ausserhalb des Spitals<br />

In einer Analyse von 41 zwischen 1964 – 2004 publizierten Studien beschrieben<br />

Donoghue et al. 5368 pädiatrische Patienten mit präklinischem (out-of-hospital)<br />

Herzkreislaufstillstand [23]. Ätiologisch im Vordergrund stehen plötzlicher Kindstod<br />

(SIDS, respektive ALTE), Trauma, Atemwegsobstruktionen und Ertrinkungsunfälle<br />

[24]. Als initialer Herzrhythmus fand sich bei 79% eine Asystolie, gefolgt<br />

von pulsloser elektrischer Aktivität (13%) und Kammerflimmern oder pulsloser<br />

Kammertachykardie (8%). Insgesamt überlebten 12,1% der Patienten bis zur Entlassung<br />

aus dem Spital und 4% waren neurologisch intakt. Vergleichsweise bessere<br />

Überlebenschancen fanden sich in der Subgruppe der Ertrinkungsunfälle<br />

(Überlebensrate 23%, neurologisch intakt 6%), wobei vor allem Ertrinkungsunfälle<br />

in sehr kalten Gewässern eine Sonderstellung einnehmen (günstige Prognose<br />

auch nach prolongierter Reanimation möglich) [24, 25]; deutlich schlechtere Prognosen<br />

hingegen haben pädiatrische Patienten mit Herzkreislaufstillstand nach<br />

Trauma (Überlebensrate 1,1%, neurologisch intakt 0,3%). Ähnlich wie bei Erwachsenen<br />

ist der Reanimationserfolg besser in Situationen, in denen das Ereignis beobachtet<br />

wird und die Reanimationsbemühungen ohne Verzögerung einsetzen.<br />

Wiederbelebungsversuche innerhalb des Spitals<br />

Tritt ein Herzkreislaufstillstand bei einem Kind im Spital auf, variiert die Prognose<br />

je nach Grunderkrankung erheblich. In Kinderkliniken ohne Kinderherzchirurgie<br />

stehen schwere Atemstörungen (61%) und Schockzustände (29%) als auslösende<br />

Ursachen eines Herzkreislaufstillstandes im Vordergrund und Asystolie (55%) und<br />

Bradykardie (33%) sind die häufigsten initialen Rhythmusstörungen [26]. In einer<br />

gemischten Patientenpopulation liegen die Überlebensraten nach kardiopulmonaler<br />

Reanimation bei 16 – 25%, wobei die Angaben über neurologisch intaktes<br />

Überleben zwischen 0 – 7% schwanken [26, 27]. Ist ein Atemversagen auslösende<br />

Ursache und eine Bradykardie der initiale Herzrhythmus, liegt die Überlebensrate<br />

bei etwa 50%; am andern Ende des Spektrums steht die Prognose eines Herzkreislaufstillstandes,<br />

welcher im Rahmen eines septischen Schocks auftritt (Überlebensrate<br />

8%) [26]. In Kliniken mit angeschlossener Herzchirurgie sind primäre<br />

Herzrhythmusstörungen (Kammerflimmern, Kammertachykardie) relativ häufig<br />

Ursache eines Herzkreislaufstillstandes (27%) [28] und der Reanimationserfolg auf<br />

der Intensivstation beträgt bei primär auftretender Kammerarrhythmie 35 – 40%.<br />

Die in dieser Situation erfolgreich reanimierten Kinder sind zu 60 – 90% ohne bleibende,<br />

schwere neurologische Schäden [28, 29].<br />

25


3. Quellennachweis zum <strong>Anhang</strong><br />

1 Jacobs I, Nadkarni V.<br />

Cardiac arrest and cardiopulmonary resuscitation outcome reports: update and simplification of<br />

the Utstein templates for resuscitation registries. A statement for healthcare professionals<br />

from a task force of the international liaison committee on resuscitation. Resuscitation. 2004;<br />

63(3): 233 – 49.<br />

2 Fredrikson M, Herlitz J, Nichol G, et al.<br />

Variation in outcome in studies of out of hospital cardiac arrest: A review of studies conforming<br />

to the Utstein Guidelines. Am J Emerg Med. 2005; 21: 276 – 81.<br />

3 Dubois C, Smeets JP, Demoulin JC, et al.<br />

Incidence, clinical significance and prognosis of ventricular fibrillation in the early phase of<br />

myocardial infarction. Eur Heart J. 1986; 7: 945 – 51.<br />

4 Timerman A, Sauaia N, Soares Piegas L, Ramos RF, Gun C, Silva Santos E, et al.<br />

Prognostic Factors of the Results of Cardiopulmonary Resuscitation in a Cardiology<br />

Hospital. Arq. Bras. Cardiol. 2001; 77: 152 – 60.<br />

5 Anthi A, Tzelepis GE, Alivizatos P, Michalis A, Palatianos GM, Geroulanos S.<br />

Unexpected cardiac arrest after cardiac surgery: incidence, predisposing causes, and outcome<br />

of open chest cardiopulmonary resuscitation. Chest. 1998; 113: 15 –19.<br />

6 Smith DL, Kim K, Cairns BA, et al.<br />

Prospective analysis of outcome after cardiopulmonary resuscitation in critically ill surgical<br />

patients. Crit Care Clin. 1994; 10: 179 – 95.<br />

7 Landry FJ, Parker JM, Phillips YY.<br />

Outcome of cardiopulmonary resuscitation in the intensive care setting. Crit Care Med. 1997;<br />

25: 1951– 5.<br />

8 Wallace SK, Ewer MS, Price KJ, Freeley TW.<br />

Outcome and cost implications of CPR in ICU of a comprehensive cancer center. Support Care<br />

Cancer. 2002; 10: 425 – 9.<br />

9 Myrianthefs P, Kalafati M, Lkmomdoh C, Minasidoii E, Evagelopouloc P,<br />

Karatzas S, et al.<br />

Efficacy of CPR in a general, adult ICU. Resuscitation. 2003; 57: 43 – 8.<br />

10 Perbedy MA, Kaye W, Ornato JP, Larkin GL, Nadkarni V, Elizabeth M, et al.<br />

Cardiopulmonary resuscitation of adults in the hospital: a report of 14720 cardiac arrests from<br />

the National Registry of Cardiopulmonary Resuscitation. Resuscitation. 2003; 58: 297– 308.<br />

11 European Resuscitation Council.<br />

Part 9: pediatric basic life support. Resuscitation. 2000; 46(1– 3): 301– 41.<br />

12 American Heart Association (AHA).<br />

Guidelines for cardiopulmonary resuscitation (CPR) and emergency cardiovascular care (ECC) of<br />

pediatric and neonatal patients: pediatric basic life support. Pediatrics. 2006; 117(5): e989 –1004.<br />

13 American Heart Association (AHA).<br />

Guidelines for cardiopulmonary resuscitation (CPR) and emergency cardiovascular care (ECC) of<br />

pediatric and neonatal patients: pediatric advanced life support. Pediatrics. 2006; 117(5):<br />

e1005 – 28.<br />

14 Lopez-Herce J, Garcia C, Dominguez P, et al.<br />

Outcome of out-of-hospital cardiorespiratory arrest in children. Pediatr Emerg Care. 2005;<br />

21(12): 807–15.<br />

26


15 Lopez-Herce J, Garcia C, Rodriguez-Nunez A, et al.<br />

Long-term outcome of paediatric cardiorespiratory arrest in Spain. Resuscitation. 2005;<br />

64(1): 79 – 85.<br />

16 Zaritsky A.<br />

Cardiopulmonary resuscitation in children. Clin Chest Med. 1987; 8(4): 561–71.<br />

17 Dieckmann RA, Vardis R.<br />

High-dose epinephrine in pediatric out-of-hospital cardiopulmonary arrest. Pediatrics.<br />

1995; 95(6): 901–13.<br />

18 Herlitz J, Engdahl J, Svensson L, Young M, Angquist KA, Holmberg S.<br />

Characteristics and outcome among children suffering from out of hospital cardiac arrest in<br />

Sweden. Resuscitation. 2005; 64(1): 37 – 40.<br />

19 Mogayzel C, Quan L, Graves JR,Tiedeman D, Fahrenbruch C, Herndon P.<br />

Out-of-hospital ventricular fibrillation in children and adolescents: causes and outcomes.<br />

Ann Emerg Med. 1995; 25(4): 484 – 91.<br />

20 O’Rourke PP.<br />

Outcome of children who are apneic and pulseless in the emergency room. Crit Care Med.<br />

1986; 14(5): 466 – 8.<br />

21 Schindler MB, Bohn D, Cox PN, et al.<br />

Outcome of out-of-hospital cardiac or respiratory arrest in children. N Engl J Med. 1996; 335(20):<br />

1473 – 9.<br />

22 Sirbaugh PE, Pepe PE, Shook JE, et al.<br />

A prospective, population-based study of the demographics, epidemiology, management, and outcome<br />

of out-of-hospital pediatric cardiopulmonary arrest. Ann Emerg Med. 1999; 33(2): 174 – 84.<br />

23 Donoghue AJ, Nadkarni V, Berg RA, et al.<br />

Out-of-hospital pediatric cardiac arrest: an epidemiologic review and assessment of current<br />

knowledge. Ann Emerg Med. 2005; 46(6): 512 – 22.<br />

24 Kuisma M, Suominen P, Korpela R.<br />

Paediatric out-of-hospital cardiac arrests-epidemiology and outcome. Resuscitation. 1995; 30(2):<br />

141– 50.<br />

25 Idris AH, Berg RA, Bierens J, et al.<br />

Recommended guidelines for uniform reporting of data from drowning: the «Utstein style».<br />

Resuscitation. 2003; 59(1): 45 – 57.<br />

26 Reis AG, Nadkarni V, Perondi MB, Grisi S, Berg RA.<br />

A prospective investigation into the epidemiology of in-hospital pediatric cardiopulmonary<br />

resuscitation using the international Utstein reporting style. Pediatrics. 2002; 109(2): 200 – 9.<br />

27 de Mos N, van Litsenburg RR, McCrindle B, Bohn DJ, Parshuram CS.<br />

Pediatric in-intensive-care-unit cardiac arrest: incidence, survival, and predictive factors. Crit Care<br />

Med. 2006; 34(4): 1209 –15.<br />

28 Samson RA, Nadkarni VM, Meaney PA, Carey SM, Berg MD, Berg RA.<br />

Outcomes of in-hospital ventricular fibrillation in children. N Engl J Med. 2006; 354(22): 2328 – 39.<br />

29 Parra DA,Totapally BR, Zahn E, et al.<br />

Outcome of cardiopulmonary resuscitation in a pediatric cardiac intensive care unit. Crit Care Med.<br />

2000; 28(9): 3296 – 300.<br />

27


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 15. April 2005 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission mit der Ausarbeitung von medizin-ethischen Richtlinien<br />

betreffend Reanimationsentscheidungen beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Prof. Dr. med. Andreas U. Gerber, Burgdorf (Vorsitz)<br />

Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Zürich<br />

PD Dr. med. Thomas M. Berger, Luzern<br />

Lic. iur. Nathalie Brunner, Neuenburg<br />

Dr. med. Daniel Grob, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Urban T. Laffer, Biel<br />

Angelika Lehmann, Intensivpflege BNS, Basel<br />

PD Dr. med. Joseph Osterwalder, St. Gallen<br />

Prof. Dr. med. Claude Regamey, Präsident ZEK, Fribourg<br />

lic. iur., MAE, Michelle Salathé, SAMW, Basel<br />

Dr. med. Martin Siegemund, Basel<br />

Prof. Dr. med. Reto Stocker, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Peter Stulz, Luzern<br />

Prof. Dr. med. Martin von Planta, Basel<br />

Dr. med. Philipp Weiss, Basel<br />

Dr. med. Regula Zürcher Zenklusen, Neuenburg<br />

Beigezogener Experte<br />

Dr. med. Sven Staender, Männedorf<br />

Vernehmlassung<br />

Am 20. Mai 2008 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung<br />

dieser Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 27. November 2008<br />

vom Senat der SAMW genehmigt.<br />

Anpassung<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht; Änderung vom 19. Dezember 2008).<br />

28


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

T +41 61 269 90 30<br />

mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. – 2. Auflage 6000<br />

3. Auflage 2000 D, 1000 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


Verwendung von Leichen<br />

und Leichenteilen in der<br />

medi zinischen Forschung<br />

sowie Aus-, Weiter- und<br />

Fortbildung<br />

Empfehlungen der SAMW 1<br />

1 Diese Empfehlungen wurden vom Senat der Schweizerischen Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) am 27. November 2008 genehmigt;<br />

sie bilden einen <strong>Anhang</strong> zu den medizinisch-ethischen Richtlinien<br />

und Empfehlungen «Biobanken: Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung<br />

von menschlichem biologischem Material».<br />

Der Arbeitsgruppe, welche diese Empfehlungen ausgearbeitet hat, gehörten<br />

folgende Persönlichkeiten an: Prof. Volker Dittmann, Basel (Vorsitz); Prof.<br />

Jean Henri Fasel, Genf; Prof. Jean-Pierre Hornung, Lausanne; Me Charles<br />

Joye, Lausanne; Prof. Robert Maurer, Illnau; Prof. Brigitte Tag, Zürich.<br />

Die deutsche Version ist die Stammversion.


1. Einleitung und Problembeschreibung<br />

Die Verwendung von Leichen und Leichenteilen in der medizinischen<br />

Forschung sowie Aus-, Weiter- und Fortbildung ist<br />

gängige Praxis und geht auf eine teils jahrhundertealte Tradition<br />

zurück. Eine Umfrage der SAMW hat ergeben, dass in nahezu<br />

allen schweizerischen Instituten für Anatomie, Pathologie<br />

und Rechtsmedizin Forschung sowie Unterricht an Leichen<br />

erfolgen. Probleme entstehen in der Regel dann, wenn zum<br />

Beispiel im Zusammenhang mit einer rechtsmedizinischen<br />

oder klinischen Obduktion an einem Leichnam Handlungen<br />

wie Punktions-, Intubations- oder Operationsübungen vorgenommen<br />

werden, die über die routinemässige pathologischanatomische<br />

Diagnostik hinausgehen.<br />

Unproblematisch erscheint demgegenüber die Verwendung<br />

von Leichen in anatomischen Instituten zu Forschungs- und<br />

Unterrichtszwecken, soweit ein auf einer angemessenen Aufklärung<br />

beruhendes schriftliches Vermächtnis des Körperspenders<br />

vorliegt.<br />

Nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Öffentlichkeit<br />

haben in letzter Zeit Medienberichte für Beunruhigung<br />

und Empörung gesorgt, die dargestellt haben, dass angeblich<br />

weltweit ein schwunghafter Handel mit Leichenteilen zweifelhafter<br />

Herkunft erfolgt. 2 Auch in der Schweiz wurde ein<br />

Fall bekannt, bei dem aus den USA 40 tiefgefrorene Füsse<br />

für Operationsübungen importiert worden waren. In der folgenden<br />

Diskussion wurde deutlich, dass eine verbreitete Unkenntnis<br />

über bereits bestehende Regelungen herrscht. 3<br />

Aufgrund einer konkreten Anfrage zum korrekten Vorgehen<br />

insbesondere bei der an sich erwünschten und vielfach notwendigen<br />

Kooperation von Universitätsinstituten mit Partnern<br />

aus der Industrie hat sich die SAMW entschlossen, eine<br />

Arbeitsgruppe zu beauftragen, Empfehlungen für den Umgang<br />

mit Leichen und Leichenteilen in der medizinischen<br />

Forschung sowie Aus-, Weiter- und Fortbildung zu erarbeiten.<br />

Ziel der Empfehlungen ist nicht eine zwingende Normierung<br />

des Verhaltens; vielmehr sollen sie die Akteure in diesem Bereich<br />

in die Lage versetzen, ihr Handeln so zu gestalten, dass<br />

weder aus ethischer noch aus rechtlicher Sicht Einwände bestehen.<br />

2 Die Zeit, 15.2.2007: Frische Leichenteile weltweit; Tagesspiegel, 11.10.2006:<br />

Illegaler Handel mit Leichenteilen<br />

3 NZZ am Sonntag, 12.2.2006: Die Schweiz importierte Leichenteile; OnlineRreports.ch,<br />

28.2.2006: 40 Füsse von US-Leichen erhitzen die politischen Gemüter<br />

2


2. Rechtliche Rahmenbedingungen<br />

Der Umgang mit der Leiche ist nicht abschliessend geregelt.<br />

Es gelten internationale, europäische und nationale Normen,<br />

die sich zum Teil ergänzen, überschneiden und dennoch den<br />

Umgang mit der Leiche nur fragmentarisch regeln.<br />

Nach dem Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin<br />

(kurz: BMÜ) 4 und dem Zusatzprotokoll über die<br />

Transplantation von Organen und Geweben menschlichen<br />

Ursprungs (kurz: TP) 5 dürfen der menschliche Körper und Teile<br />

davon nicht zur Gewinnerzielung verwendet werden 6 ; davon<br />

nicht betroffen ist die Abgeltung notwendiger Aufwendungen<br />

für Material und Dienstleistungen. Zudem gilt grundsätzlich<br />

ein Handelsverbot. 7 Die Entnahme von Teilen des menschlichen<br />

Körpers bedarf grundsätzlich der Einwilligung. 8 Zudem<br />

dürfen sie nur zu dem Zweck aufbewahrt werden, zu dem sie<br />

entnommen wurden; jede andere Verwendung setzt angemessene<br />

Informations- und Einwilligungsverfahren voraus. 9<br />

Teilregelungen zum Umgang mit der Leiche finden sich auch<br />

im EU-Recht, insbesondere der EU-Richtlinie 2004/23/EG 10<br />

sowie den hierauf bezogenen Ausführungsbestimmungen. 11<br />

Sie regeln u.a. die Rahmenbedingungen für die Transplantationsmedizin<br />

und die Forschung mit Substanzen Verstorbener.<br />

Im nationalen Recht sind Teilbereiche zum Umgang mit der Leiche<br />

in verschiedenen Gesetzen geregelt. Die Bundes ver fassung<br />

schützt die Leiche durch die Artikel zur Men schenwürde, 12 Schutz<br />

der Gesundheit, 13 Trans plan ta tions medizin, 14 Zivilrecht, Straf-<br />

4 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im<br />

Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin. Die Schweiz hat das Übereinkommen<br />

am 7. Mai 1999 unterzeichnet. Die Bundesversammlung hat mit Beschluss<br />

vom 20. März 2008 den Bundesrat ermächtigt, das Übereinkommen zu ratifizieren.<br />

5 Strassburg, 24. Januar 2002, ETS Nr. 186. Auch das vom Ministerkomitee am<br />

8. November 2001 verabschiedete, am 1. Mai 2006 in Kraft getretene Zusatzprotokoll<br />

wurde von der Schweiz am 11. Juli 2002 unterzeichnet. Beide Texte wurden von<br />

der Schweiz zwar unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert.<br />

6 Art. 21 BMÜ.<br />

7 Art. 21, 22 TP.<br />

8 Vgl. Art. 16 – 18 BMÜ.<br />

9 Art. 22 BMÜ.<br />

10 Zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung,<br />

Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen<br />

Geweben und Zellen, vgl.<br />

http://www.bag.admin.ch/transplantation/00694/00727/01859/index.html?lang=de.<br />

11 EU-Richtlinie 2006/17/EG, Richtlinie 2004/23/EG sowie die Empfehlungen<br />

des Europarates zur Forschung mit biologischem Material vom 15.03.2006.<br />

12 Art. 7 BV.<br />

13 Art. 118 BV.<br />

14 Art. 119a BV.<br />

3


echt 15 und Wirtschaftsfrei heit 16 . Seit dem 1. Juli 2007 gilt zudem<br />

das Transplantationsgesetz 17 . Es soll den missbräuchlichen Umgang<br />

der Transplantationsmedizin beim Menschen, insbesondere<br />

den Handel mit den Körpersubstanzen, verhindern und die<br />

Menschenwürde, die Persönlichkeit und die Gesundheit schützen.<br />

18 Die wesentlichen Grundsätze der postmortalen Spende<br />

sind auf der Grundlage der erweiterten Zustimmungslösung in<br />

Art. 8 ff. Transplantationsgesetz geregelt. 19 Der Umgang mit der<br />

Leiche hat weiterhin Berührungspunkte zum Datenschutzrecht<br />

des Bundes und der Kantone und zur Heilmittelgesetzgebung.<br />

Darüber hinaus schützt das Strafgesetzbuch die Leiche vor einigen<br />

unbefugten Eingriffen. Gemäss Art. 262 StGB ist u.a. strafbar,<br />

wer einen Leichnam verunehrt oder öffentlich beschimpft<br />

oder wer einen Leichnam oder Teile eines Leichnams gegen den<br />

Willen des Berechtigten wegnimmt. Zusätzlich können weitere<br />

Tatbestände relevant sein, so z.B. die ärztliche Schweigepflicht,<br />

Art. 321 StGB, das Forschungsgeheimnis, Art. 321 bis StGB, sowie<br />

die Eigentums- und Vermögensdelikte, Art. 137, 139 StGB. Auch<br />

das Zivilrecht hält allgemeine Bestimmungen zum Umgang mit<br />

der Leiche bereit. Zu erwähnen sind der Schutz der Persönlichkeit<br />

20 oder die allgemeinen Bestimmungen des Sachenrechts. 21<br />

Die Frage, ob die Leiche eigentumsfähig oder herrenlos ist und<br />

unter welchen Voraussetzungen Gewebe, das legal entnommen<br />

wurde, für Forschungs- oder sonstige Zwecke aufbewahrt und<br />

weiterverwendet werden darf, ist bislang aber nicht hinlänglich<br />

beantwortet.<br />

Darüber hinaus fällt der Umgang mit dem toten Körper in die<br />

Gesetzgebungskompetenz der Kantone. Das Bestattungswesen<br />

ist in vielfältigen kantonalen und kommunalen Erlassen<br />

normiert, die Gesundheitsgesetze sowie Patientinnen- und<br />

15 Art. 122, Art. 123 BV.<br />

16 Art. 27, Art. 94 und Art. 95 BV.<br />

17 Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über die Transplantation von Organen,<br />

Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz), SR 810.21 sowie die<br />

hierauf bezogenen Verordnungen.<br />

18 Art. 1 Abs. 3 Transplantationsgesetz.<br />

19 D.h. die postmortale Entnahme der Körpersubstanzen ist an die Bedingung geknüpft,<br />

dass die spendende Person vor ihrem Tod der Entnahme zugestimmt hat, Art. 8 Abs.<br />

1. Liegt keine Willensäusserung vor, so geht das Bestimmungsrecht auf die<br />

nächsten Angehörigen über. Sie können unter Beachtung des mutmasslichen Willens<br />

der verstorbenen Person über das «ob» und «den Umfang» der Organentnahme<br />

entscheiden.<br />

20 Z.B. Art. 27 und 28 ZGB.<br />

21 Art. 641 ff. ZGB.<br />

4


Patientengesetze enthalten zudem Sonderregelungen. 22 Ansonsten<br />

begrenzen kantonale Polizeigesetze den Umgang mit<br />

der Leiche, indem dadurch z.B. unmittelbar drohende oder<br />

eingetretene schwere Störungen der öffentlichen Sicherheit<br />

und Ordnung abgewehrt oder beseitigt werden können.<br />

3. Empfehlungen<br />

3.1. «Informierte Einwilligung» als Prinzip<br />

In der modernen biomedizinischen Ethik ist unbestritten, dass<br />

es grundsätzlich bei allen Eingriffen in die körperliche Integrität,<br />

sei es zu Lebzeiten oder nach dem Tode, zur Wahrung der<br />

Persönlichkeitsrechte jedes Menschen einer rechtswirksamen<br />

Einwilligung bedarf. Diese setzt eine angemessene Aufklärung<br />

über alle wichtigen Umstände des geplanten Eingriffs voraus<br />

(informed consent). Hierzu gehören insbesondere auch Informationen<br />

über Art, Umfang und Folgen eines Eingriffs. Hat<br />

ein Verstorbener zu Lebzeiten keine entsprechende Erklärung<br />

abgegeben, so können auch die nächsten Angehörigen nach<br />

entsprechender Aufklärung zustimmen, wobei sie den mutmasslichen<br />

Willen des Verstorbenen zu beachten haben. Im<br />

Zweifelsfall hat der Wille der verstorbenen Person Vorrang vor<br />

dem der Angehörigen. Aus dem Umstand, dass es in der Regel<br />

Aufgabe des (letzt)behandelnden Arztes (und nicht des Pathologen)<br />

ist, die notwendige Einwilligung einzuholen, können<br />

Konfliktfelder entstehen, die es anzusprechen gilt.<br />

3.2. Forschung<br />

Noch immer ist es vielerorts gängige Praxis, dass mit menschlichem<br />

Material, welches aus anderem Anlass gewonnen wurde<br />

(z.B. Operationspräparate, Amputate, Biopsien, bei klinischen<br />

Obduktionen entnommene Gewebe oder Organe), ohne weitere<br />

Informationen oder gar Zustimmung der betroffenen Personen<br />

Forschungsvorhaben durchgeführt werden. Hiergegen<br />

bestehen vor dem Hintergrund der dargestellten bioethischen<br />

Grundprinzipien und der international geltenden Regelwerke<br />

schwer wiegende Bedenken. Die SAMW vertritt die Ansicht<br />

(und gewisse Kantone schreiben es zwingend vor), dass das<br />

Prinzip der informierten Einwilligung auch und gerade im<br />

Rahmen von Forschungsvorhaben strikt zu beachten ist. Aus-<br />

22 Eine Zusammenstellung findet sich bei Bär/ Keller-Sutter,<br />

Leichenschau, Obduktion und Transplantation, in: Poledna/Kuhn (Hrsg.),<br />

Arztrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2007, S. 767, 775 f.<br />

5


führliche Erläuterungen dazu finden sich z.B. in den SAMW-<br />

Richtlinien über Biobanken 23 . Ausserdem braucht es für solche<br />

Forschungsvorhaben in vielen Kantonen eine Bewilligung der<br />

zuständigen Ethikkommission.<br />

3.3. Aus-, Weiter- und Fortbildung von<br />

medizinischem Fachpersonal<br />

Neben der Lehre im Rahmen des Studiums der medizinischen<br />

Fächer gehört zweifellos auch die Weiter- und Fortbildung<br />

zum genuinen durch Gesetze und Reglemente definierten<br />

Aufgabenbereich anatomischer, rechtsmedizinischer und pathologischer<br />

Institute. Auch hier gelten die für die Forschung<br />

dargestellten Bedingungen, wobei es für die zustimmungsberechtigte<br />

Person durchaus einen Unterschied machen kann,<br />

ob die Einwilligung nur für die Forschung oder auch für Unterricht<br />

und Lehre erteilt werden soll. Daraus folgt, dass eine<br />

Einwilligung für die Verwendung menschlichen biologischen<br />

Materials im Rahmen von Forschungsprojekten nicht automatisch<br />

auch die Zustimmung zur Verwendung in Lehr- und<br />

Fortbildungsveranstaltungen impliziert und umgekehrt, das<br />

heisst, die Einwilligungserklärungen müssen entsprechend<br />

präzise abgefasst sein. Lehrveranstaltungen in unmittelbarem<br />

Zusammenhang mit Obduktionen (wie z.B. klinisch-pathologische<br />

Demonstrationen) bedürfen keiner gesonderten Zustimmung.<br />

Im Gegensatz zu den meisten anderen Instituten, die mit<br />

Verstorbenen arbeiten, verfügen die schweizerischen anatomischen<br />

Institute über vergleichbare schriftliche Erklärungen<br />

zur Körperspende, in denen nicht nur auf die Verwendung des<br />

Körpers in der Forschung, sondern auch auf die Ausbildung<br />

von Ärzten hingewiesen wird. Zudem werden entweder ausführliche<br />

schriftliche Begleitinformationen abgegeben oder<br />

ein persönliches Informationsgespräch angeboten, in denen<br />

alle notwendigen Details dargestellt werden. Die SAMW empfiehlt<br />

den anderen Instituten, die Leichen oder Leichenteile in<br />

der Aus-, Weiter- oder Fortbildung verwenden, analoge Vorgehensweisen<br />

anzuwenden.<br />

23 SAMW 2006: «Biobanken: Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung von menschlichem<br />

biologischem Material». Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

6


3.4. Kurse in der Verantwortung externer Anbieter<br />

Zwischen der Industrie und den anatomischen, pathologischen<br />

und rechtsmedizinischen Instituten besteht an vielen<br />

Orten eine intensive Zusammenarbeit. Diese ist insbesondere<br />

im Sinne einer Innovation von Medizinprodukten wie zum<br />

Beispiel Implantaten oder der Optimierung von Operationsverfahren<br />

auch im Interesse zukünftiger Patienten notwendig<br />

und durchaus erwünscht. Aus Sicht der SAMW bestehen<br />

keine Bedenken dagegen, wenn die Institute für derartige<br />

Kurse Räume, Material und Personal zur Verfügung stellen<br />

oder Kurse an anderen geeigneten Örtlichkeiten durchgeführt<br />

werden, soweit dabei die Verantwortlichkeiten eindeutig festgelegt<br />

und die in diesen Empfehlungen dargestellten Regeln<br />

eingehalten werden.<br />

3.5. Sammlung und Weitergabe von Leichenteilen<br />

inklusive Import<br />

Grundsätzlich gelten hier auch die SAMW-Richtlinien über<br />

Biobanken (siehe Fussnote 22), die ausführliche Hinweise u.a.<br />

zu Qualitätsstandards, Datenschutz und insbesondere Weitergabe<br />

von Proben und Daten enthalten. Demnach ist auch der<br />

Import von Leichen oder Leichenteilen möglich. Voraussetzung<br />

ist aber, dass die in der Schweiz verantwortliche Person<br />

über eine hinreichend ausführliche schriftliche Erklärung des<br />

Lieferanten verfügt, aus der hervorgeht, dass für alle gelieferten<br />

Leichen oder Leichenteile rechtsgültige Erklärungen der<br />

jeweiligen Spender oder Zustimmungsberechtigten vorliegen,<br />

die den in der Schweiz geltenden Bestimmungen entsprechen<br />

und aus denen insbesondere hervorgeht, dass die Spender<br />

auch mit einem Export ins Ausland einverstanden waren.<br />

7


<strong>Anhang</strong><br />

Rechtliche Rahmenbedingungen zur Verwendung von<br />

Leichen und Leichenteilen in der medizinischen Forschung<br />

sowie Aus-, Weiter- und Fortbildung<br />

Prof. Dr. iur. utr. Brigitte Tag, Universität Zürich<br />

Einführung<br />

Der Umgang mit der Leiche ist nicht in einem einheitlichen Gesetz abschliessend<br />

geregelt. Vielmehr finden sich sowohl auf internationaler, europäischer<br />

wie nationaler Ebene Normen, die sich zum Teil ergänzen und überschneiden,<br />

dennoch aber nur fragmentarisch den Umgang mit dem toten menschlichen<br />

Körper regeln.<br />

Europäische Regelungen<br />

Zentrale Aussagen zum Umgang mit Substanzen menschli cher Herkunft liefern<br />

das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin oder Bioethikkonvention<br />

(BMÜ) 1 und das Zusatzprotokoll des Europarates über die<br />

Transplantation von Organen und Geweben menschlichen Ursprungs, kurz<br />

Transplantationsprotokoll (TP). 2 Beide Texte wurden von der Schweiz unterschrieben<br />

und befinden sich derzeit in der Ratifizierung. 3 Art. 21 BMÜ bestimmt,<br />

dass der menschliche Körper und Teile davon als solche nicht zur Erzielung<br />

eines finanziellen Gewinns verwendet werden dürfen. Ergänzend regeln<br />

Art. 21, 22 TP das Handelsverbot und seine Grenzen. Art. 22 BMÜ betrifft den<br />

Schutz der Weiterverwendung von menschlichen Körpern und Teilen davon.<br />

Die Norm regelt explizit, dass, wenn bei einer Intervention ein Teil des menschlichen<br />

Körpers entnommen wird, er nur zu dem Zweck aufbewahrt werden<br />

darf, zu dem er entnommen worden ist; jede andere Verwendung setzt angemessene<br />

Informations- und Einwilligungsverfahren voraus. Art. 16 – 18 regeln<br />

die Rahmenbedingungen der postmortalen Entnahme von Organen und Geweben,<br />

namentlich die Feststellung des Todes, die nach der Rechtsordnung erforderliche<br />

Einwilligung in die Organ- und Gewebeentnahme sowie die Achtung<br />

des menschlichen Körpers.<br />

Darüber hinaus finden sich Teilregelungen zum gesollten Umgang mit der Leiche<br />

im EU-Recht. Im Vordergrund steht die EU-Richtlinie 2004/23/EG zur Festlegung<br />

von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung,<br />

Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen<br />

Geweben und Zellen. Diese Richtlinie gilt für Gewebe und Zellen zur<br />

Verwendung beim Menschen, einschliesslich menschlicher Gewebe und Zellen,<br />

die für die Zubereitung von kosmetischen Mitteln verwendet werden. Sie<br />

gilt nicht für die forschungsbedingte Nutzung menschlicher Gewebe und Zellen,<br />

es sei denn, diese Substanzen menschlicher Herkunft sollen in klinischen<br />

Versuchen im oder am menschlichen Körper eingesetzt werden. Die EU-Richtlinie<br />

2006/17/EG regelt die Durchführung der Richtlinie 2004/23/EG hinsichtlich<br />

technischer Vorschriften für die Spende, Beschaffung und Testung von<br />

menschlichen Geweben und Zellen. 4 Die Richtlinie 2006/86/EG der Kommission<br />

vom 24. 10. 2006 dient der Umsetzung der Richtlinie 2004/23/EG hinsichtlich<br />

der Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit, der Meldung schwer wiegen<br />

der Zwischenfälle und unerwünschter Reaktionen so wie bestimmter technischer<br />

Anforderungen an die Kodierung, Verarbeitung, Konservierung, Lag erung<br />

und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen. Diese Richtlinien unterbreiten<br />

u.a. Rahmenbedingungen für die Transplantations medizin und die<br />

Forschung mit Substanzen Verstorbener. Sie spiegeln sich daher im Transplantationsgesetz<br />

wie dem Entwurf eines künftigen Humanforschungsgesetzes<br />

wider. Die am 15. 03. 2006 vom Ministerkomitee des Europarates verabschie-<br />

8


deten Empfehlungen des Europarates zur Forschung mit biologischem Material<br />

unterstreichen in Art. 7 das bereits in Art. 21 BMÜ festgelegte Verbot finanziellen<br />

Gewinns bezogen auf biologisches Material. Art. 13 bestimmt, dass die<br />

postmortale Entnahme von Körpermaterial zu Forschungszwecken nicht ohne<br />

entsprechende Einwilligung bzw. Bewilligung geschehen und bei Widerspruch<br />

des Verstorbenen zu Lebzeiten nicht erfolgen darf. Darüber hinaus werden<br />

Grundsätze zur Aufbewahrung von Substanzen menschlicher Herkunft in Biobanken<br />

sowie zur Forschung mit diesen Substanzen aufgestellt, die grundsätzlich<br />

auch für postmortal gewonnene Substanzen und Daten Anwendung finden.<br />

Nationales Recht<br />

Im nationalen Recht sind Teilbereiche zum Umgang mit der Leiche in verschiedenen<br />

Gesetzen geregelt.<br />

Die Bundesverfassung entfaltet den Schutz der Leiche fragmentarisch im Lichte<br />

einzelner Bestimmungen. Zentral sind hierbei Art. 7 Menschenwürde, Art. 118<br />

Schutz der Gesundheit, Art. 119a Transplantationsmedizin, Art. 122 Zivilrecht,<br />

Art. 123 Strafrecht, Art. 27 Wirtschaftsfreiheit, Art. 94 Grundsätze der Wirtschaftsordnung,<br />

Art. 95 Privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit.<br />

Nach Art. 7 BV ist die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Diese<br />

Bestimmung wird ergänzt durch Art. 119a Abs. 1 BV, 5 wonach die Menschenwürde<br />

auch im Bereich der Transplantationsmedizin zu schützen ist. Art. 119a<br />

ermächtigt zudem den Bund zur Regelung der Transplantationsmedizin, und<br />

damit auch zum Umgang mit postmortal entnommenen Organen, Geweben<br />

und Zellen. Der Schutz der Bevölkerung vor Krankheitserregern, verursacht<br />

durch den Umgang mit Leichen, kann auf Art. 118 gestützt werden.<br />

Aus den (zivil- und strafrechtlichen) Kompetenzen des Bundes zur Gesetzgebung<br />

auf dem Gebiet des Zivil- und Strafrechts, Art. 122 und Art. 123, lassen<br />

sich namentlich die folgenden Bereiche des Umgangs mit der Leiche einer<br />

Regelung zuführen: persönlichkeitsbezogene Aspekte beim Umgang mit der<br />

Leiche sowie der Einbezug von Angehörigen, z.B. bei der Entscheidung zu<br />

einer Organ- oder Gewebeentnahme; die Bestimmung des Todeszeitpunktes<br />

und die Zuständigkeit zur Todesfeststellung; die Unentgeltlichkeit der Organund<br />

Gewebespende als spezifische Beschränkung im Bereich des Vertragsrechts;<br />

allfällige Entnahmeverbote, datenschutzrechtliche Aspekte, Ab si ch e-<br />

rung von Geboten und Verboten durch strafrechtliche Sanktionen. Die Grundsätze<br />

der Wirtschaftsfreiheit, Art. 27, eröffnen im Rahmen der Gesetze grds.<br />

auch den privatwirtschaftlichen Umgang mit Substanzen menschlicher Herkunft,<br />

Art. 94 f. ermöglichen dem Bund, gegen sozialschädliche Umtriebe Vorkehrungen<br />

zu entfalten. Diese Vorschriften können auch dem Schutz von<br />

Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, öffentlicher Ordnung und Sittlichkeit<br />

dienen.<br />

Auf der Grundlage von Art. 119a BV wurde zum 1. Juli 2007 das Transplantationsgesetz<br />

6 mit seinen Ausführungsverordnungen 7 in Kraft gesetzt. Es dient<br />

u.a. der Umsetzung der bereits genannten EU-Richtlinien und vereinheitlichte<br />

die ehemals uneinheitlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Spende, Entnahme<br />

und Übertragung von Organen, Geweben und Zellen auf eidgenössischer<br />

Stufe. Ziel des Gesetzes ist es, den missbräuchlichen Umgang der Transplantationsmedizin<br />

beim Menschen, insbesondere den Handel mit den Körpersubstanzen,<br />

zu verhindern und die Menschenwürde, die Persönlichkeit und die<br />

Gesundheit zu schützen, Art. 1 Abs. 3. Die wesentlichen Grundsätze der postmortalen<br />

Spende sind in Art. 8 ff. Transplantationsgesetz geregelt. Es gilt die<br />

erweiterte Zustimmungslösung. 8 Sind keine nächsten Angehörigen vorhanden<br />

oder erreichbar, so ist die Entnahme unzulässig. 9 Mindestalter der Spendenerklärung<br />

ist das sechzehnte Lebensjahr, Art. 8 Abs. 7.<br />

Die postmortale Entnahme setzt den irreversiblen Ausfall aller Funktionen des<br />

Hirns und des Hirnstamms der spendenden Person voraus, sog. Gesamthirntod,<br />

Art. 9 Abs. 1. Die Festlegung der Hirntodkriterien ist dem Bundesrat zuge-<br />

9


10<br />

wiesen, Art. 9 Abs. 2. Art. 7 der Transplantationsverordnung verweist weiter auf<br />

die medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW zur Feststellung des Todes mit<br />

Bezug auf Organtransplantationen in der Fassung vom 24. Mai 2005. Das Transplantationsgesetz<br />

ist auf europäischer Ebene eingebettet in das Biomedizinübereinkommen<br />

des Europarates und das Zusatzprotokoll bezüglich der Transplantation<br />

von Organen und Geweben menschlichen Ursprungs. Der Umgang<br />

mit der Leiche hat weiterhin Berührungspunkte zur Heilmittelgesetzgebung<br />

sowie zum Datenschutzrecht des Bundes und der Kantone.<br />

Das Strafgesetzbuch regelt einige Straftatbestände, die festlegen, wann ein<br />

spezieller Umgang mit der Leiche bzw. mit dem Andenken an den Verstorbenen<br />

unzulässig ist. Der Schutzumfang ist jedoch fragmentarisch. Zu erwähnen sind<br />

die Straftatbestände Art. 262 StGB, Störung des Totenfriedens, und Art. 175<br />

StGB, Üble Nachrede oder Verleumdung gegen einen Verstorbenen oder einen<br />

verschollen Erklärten. Gemäss Art. 262 StGB ist u.a. strafbar, wer einen Leichnam<br />

verunehrt oder öffentlich beschimpft oder wer einen Leichnam oder Teile<br />

eines Leichnams gegen den Willen des Berechtigten wegnimmt. Zusätzlich entfalten<br />

im Einzelfall noch weitere Tatbestände Relevanz: So z.B. die Eigentumsund<br />

Vermögensdelikte, Art. 137, 139 StGB. Die anhaltenden Diskussionen um<br />

die ggf. (un-)zulässige (Weiter-)Verwendung von Leichen- bzw. Fetalgewebe<br />

und jene über die Zulässigkeit und Grenzen von Sektionen werden von diesen<br />

Straftatbeständen nur unzureichend beantwortet. Denn sowohl die Sachqualität<br />

wie die Frage, ob die Leiche ggf. eigentumsfähig oder herrenlos ist, ist umstritten.<br />

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Gewebe, das legal, z.B. im Rahmen<br />

einer rechtsmedizinischen Sektion, entnommen wurde, für Forschungsoder<br />

sonstige Zwecke aufbewahrt und weiterverwendet werden darf, findet<br />

daher auch im Strafrecht keine befriedigende Antwort. Die ärztliche Schweigepflicht,<br />

Art. 321 StGB, und das Forschungsgeheimnis, Art. 321 bis StGB, gelten<br />

auch nach dem Todeseintritt des Patienten bzw. Probanden.<br />

Das Zivilrecht hält überwiegend nur allgemeine Bestimmungen zum Umgang<br />

mit der Leiche bereit. Zu erwähnen sind z.B. Art. 27 und 28 ZGB, Schutz der<br />

Persönlichkeit oder Art. 641 ff. ZGB, allgemeine Bestimmungen zum Sachenrecht.<br />

Wie bereits erwähnt, ist es aufgrund ihres ehemaligen Menschseins<br />

umstritten, ob die Leiche als Sache zu qualifizieren ist und wenn ja, ob sie<br />

grundsätzlich eigentumsfähig ist. Unter Einbezug der vielfältigen Verwendung<br />

von Leichenteilen in der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung,<br />

aber auch der Pharmazie und den Medizinprodukten wäre es wünschenswert,<br />

wenn die Rechtsnatur der Leiche und die Bedeutung ihrer «menschlichen Herkunft»<br />

gesetzlich geklärt würden.<br />

Abgesehen von den bundesrechtlichen Sonderregelungen unterfällt der Umgang<br />

mit dem toten Körper etc. der Gesetzgebungskompetenz der Kantone.<br />

Mit der Regelung des Bestattungswesens befassen sich ausserordentlich vielfältige<br />

Erlasse von Kantonen und Gemeinden. Aber auch die Gesundheitsgesetze<br />

sowie Patientinnen- und Patientengesetze enthalten Sonderregelungen<br />

zum Umgang mit der Leiche und zur Zulässigkeit z.B. von klinischen Obduktionen.<br />

10 Darüber hinaus begrenzen kantonale Polizeigesetze den Umgang mit<br />

der Leiche, indem dadurch z.B. unmittelbar drohende oder eingetretene schwere<br />

Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewehrt oder beseitigt<br />

werden können.<br />

Wichtige Hilfestellung zum Umgang mit der Leiche bieten derzeit die untergesetzlichen<br />

Regelungsinstrumente, die überwiegend von medizinischen Fachgesellschaften<br />

verabschiedet wurden. Hier sind u.a. die Richtlinien und Empfehlungen<br />

der <strong>FMH</strong> und der SAMW zu nennen. Diese Regelwerke sind zwar kein<br />

Ersatz für Gesetze im formellen Sinne, zeigen aber notwendige Mindeststandards<br />

des Expertenwissens auf. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag bei<br />

der Auslegung der vorhandenen gesetzlichen Regelungen und geben Hinweise<br />

für mögliche künftige Neuregelungen. Exemplarisch ist hier auf die Richtlinien<br />

und Empfehlungen Biobanken: Gewinnung, Aufbewahrung und Nutzung von<br />

menschlichem biologischem Material für Ausbildung und Forschung 11 und die


Deklaration von Helsinki zu verweisen. Letztere hat aus sich heraus zwar keine<br />

unmittelbare Rechtswirkung, wurde aber durch das innerstaatliche Berufsrecht<br />

der Ärzte für anwendbar erklärt. 12 Danach schliesst medizinische Forschung am<br />

Menschen die Forschung an identifizierbarem menschlichem Material oder<br />

identifizierbaren Daten ein. Die medizinische Forschung unterliegt ethischen<br />

Standards, welche die Achtung vor den Menschen fördern und ihre Gesundheit<br />

und Rechte schützen sollen, und darf nur von wissenschaftlich qualifizierten<br />

Personen und unter Aufsicht einer klinisch kompetenten, medizinisch ausgebildeten<br />

Person durchgeführt werden.<br />

1 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde<br />

im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin. Die Schweiz hat das<br />

Übereinkommen am 7. Mai 1999 unterzeichnet. Die Bundesversammlung hat<br />

mit Beschluss vom 20. März 2008 den Bundesrat ermächtigt, das Übereinkommen<br />

zu ratifizieren.<br />

2 Strassburg, 24. Januar 2002, ETS Nr. 186. Auch das vom Ministerkomitee<br />

am 8. November 2001 verabschiedete, am 1. Mai 2006 in Kraft getretene Zusatz<br />

protokoll wurde von der Schweiz am 11. Juli 2002 unterzeichnet.<br />

3 Vgl. Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens über<br />

Menschenrechte und Biomedizin vom 20. März 2008, SR 810.21.<br />

4 Amtsblatt der Europäischen Union L 294 vom 25. Oktober 2006.<br />

5 Art. 119a Transplantationsmedizin lautet:<br />

– Der Bund erlässt Vorschriften auf dem Gebiet der Transplantation von<br />

Organen, Geweben und Zellen. Er sorgt dabei für den Schutz der<br />

Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit.<br />

– Er legt insbesondere Kriterien für eine gerechte Zuteilung von Organen fest.<br />

– Die Spende von menschlichen Organen, Geweben und Zellen ist unentgeltlich.<br />

Der Handel mit menschlichen Organen ist verboten.<br />

6 Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über die Transplantation von Organen,<br />

Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz), SR 810.21.<br />

7 Transplantationsverordnung, SR 810.211; Organzuteilungsverordnung, SR 810.212.4;<br />

Xenotransplantationsverordnung, SR 810.213; Transplantationsgebührenverordnung,<br />

SR 810.215.7; EDI-ZuteilungsVO, SR 810.212.41.<br />

8 D.h. die postmortale Entnahme der Körpersubstanzen ist an die Bedingung<br />

geknüpft, dass die spendende Person vor ihrem Tod der Entnahme zugestimmt hat,<br />

Art. 8 Abs. 1. Liegt keine Willensäusserung vor, so geht das Bestimmungsrecht<br />

auf die nächsten Angehörigen über. Sie können unter Beachtung des mutmasslichen<br />

Willens der verstorbenen Person über das «ob» und «den Umfang» der Organ<br />

entnahme entscheiden.<br />

9 Der Kreis der ersatzweise zu befragenden «nächsten Angehörigen» bestimmt sich<br />

nach Art. 8 Abs. 8 Transplantationsgesetz sowie Art. 3 Transplantationsverordnung.<br />

10 Eine Zusammenstellung findet sich bei Bär/ Keller-Sutter, Leichenschau, Obduktion<br />

und Transplantation, in: Poledna/Kuhn (Hrsg.), Arztrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2007,<br />

S. 767, 775 f.<br />

11 www.samw.ch/docs/Richtlinien/d_RL_Biobanken.pdf<br />

12 Art. 18 Standesordnung <strong>FMH</strong> i.V.m. <strong>Anhang</strong> 1 zur Standesordnung <strong>FMH</strong>.<br />

11


Lebendspende von<br />

soliden Organen<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen


Lebendspende von<br />

soliden Organen<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 20. Mai 2008.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

I. Präambel 3<br />

II. Richtlinien 5<br />

1. Geltungsbereich 5<br />

2. Grundlegende ethische Überlegungen 5<br />

3. Rechtliche Rahmenbedingungen 6<br />

3.1. Voraussetzungen der Entnahme<br />

3.2. Unentgeltlichkeit und Handelsverbot<br />

3.3. Subsidiarität<br />

3.4. Aufwandersatz und Versicherungsschutz<br />

4. Information des Spenders 9<br />

5. Allgemeine Aspekte der Abklärung 10<br />

5.1. Freiwilligkeit<br />

5.2. Gerichtete und nicht-gerichtete Spende<br />

5.3. Alter<br />

5.4. Geschlecht<br />

5.5. Herkunft<br />

6. Psychosoziale Abklärung 13<br />

6.1. Zielsetzung<br />

6.2. Spezielle Spendersituationen<br />

6.2.1. Spender mit einer psychischen Störung<br />

6.2.2. Spender mit einem Lebenspartner, der eine<br />

Spende ablehnt<br />

6.2.3. Spender aus einem anderen Kulturkreis<br />

6.2.4. Spender, die Bluttransfusionen ablehnen<br />

6.2.5. Spender, die nicht spenden wollen, dies aber<br />

nicht eingestehen können<br />

6.3. Adhärenz<br />

1


7. Medizinische Abklärung 15<br />

7.1. Nierenspender<br />

7.2. Nierenempfänger<br />

7.3. Leberspender<br />

7.4. Leberempfänger<br />

8. Abschliessende Beurteilung 19<br />

9. Spenderbegleitung 20<br />

10. Spendernachsorge 21<br />

11. Empfängernachbetreuung nach Organkauf 22<br />

12. Dokumentation und Datenschutz 22<br />

III. <strong>Anhang</strong>: Kontrollparameter Spendernachsorge 23<br />

1. Niere<br />

2. Leber<br />

IV. Empfehlungen 24<br />

1. An die Transplantationszentren<br />

2. An die Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

3. An den Gesetzgeber<br />

4. An die Versicherer<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 28<br />

2


Lebendspende von<br />

soliden Organen<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

I. Präambel<br />

Die Organtransplantation stellt heute eine etablierte und Erfolg<br />

versprechende Therapieform dar. Fortschritte im Bereich<br />

der medizinischen und chirurgischen Betreuung haben zu<br />

einer Erhöhung der Lebenserwartung und einer Steigerung<br />

der Lebensqualität von Organempfän gern geführt. Diese<br />

Entwicklung geht einher mit einem steigenden Bedarf an Organen,<br />

wel chem bei der postmortalen Spende jedoch stagnierende<br />

Spenderzahlen gegenüber stehen. Lebendtransplantationen<br />

haben zudem eine deutlich bessere Erfolgsaussicht als<br />

Transplan tationen bei postmortaler Organspende. Aus diesen<br />

Gründen hat die Lebend spende in den vergangenen Jahren<br />

an Bedeutung gewonnen.<br />

Die Entnahme eines Organs bei einem lebenden Spender 1<br />

stellt einen Eingriff in die persön liche und körperliche Integrität<br />

dar und ist nur mit expliziter Einwilligung des Spenders<br />

er laubt. Die Risiken einer Lebendspende sind abhängig vom<br />

gespendeten Organ. Bei sorgfälti ger Ab klärung sind diese zwar<br />

als niedrig einzustufen, sie können aber nie ganz ausgeschlossen<br />

werden. Einerseits setzt sich der Spender den Gefahren<br />

aus, die jeder opera tive Eingriff mit sich bringt, und andererseits<br />

besteht die Möglichkeit, dass er längerfristige Folgen<br />

der Organ spende tragen muss. Besonderes Gewicht kommt<br />

deshalb der umfassenden und angepass ten Information und<br />

Aufklärung des Spenders und seiner Einwilligung zu. Insbesondere<br />

muss die Freiwilligkeit gewährleistet sein. Aus diesem<br />

Grund muss ausgeschlossen werden, dass Menschen zu einer<br />

Organspende gedrängt werden.<br />

Lebendspender sind nicht Patienten im herkömmlichen<br />

Sinn. Anders als bei einem therapeu tischen Heileingriff reichen<br />

die Einwilligung des Spenders und die mit einer Spende<br />

1 Die entsprechenden Texte betreffen immer auch die weiblichen Angehörigen<br />

der genannten Personengruppen.<br />

3


verbun denen Chancen des Empfängers deshalb nicht aus, um<br />

die Lebendspende ethisch zu legiti mieren. Zusätzlich muss sichergestellt<br />

sein, dass die psychosozialen und medizinischen<br />

Ab klärungen des Spenders, aber auch dessen Nachbetreuung,<br />

dem Anspruch auf Schutz des Spenders in ausreichendem<br />

Mass Rechnung tragen. Dies bedeutet unter Umständen, dass<br />

Spender – entgegen ihrem Wunsch – von einer Spende ausgeschlossen<br />

werden, wenn diese kontraindiziert ist.<br />

Die Entnahme von Organen bei lebenden Personen ist im<br />

Transplantationsgesetz 2 und in den Ausführungsverordnungen<br />

geregelt. Die vorliegenden Richtlinien leisten einen Beitrag zur<br />

Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in die Praxis. Sie sollen<br />

Ärzte, Pflegende und weitere Fachpersonen, welche sich mit<br />

der medizinischen und psychosozialen Abklärung der Spender<br />

und deren Nachbetreuung befassen, unterstützen. Sie formulieren<br />

ausserdem Empfehlungen zuhanden der Transplantationszentren,<br />

der Gesundheitsdirektorenkonferenz, des Gesetzgebers<br />

und der Versicherer.<br />

2 Bundesgesetz über die Trans plantation von Organen, Geweben und<br />

Zellen vom 8. Oktober 2004 TxG.<br />

4


II. Richtlinien<br />

1. Geltungsbereich<br />

Die Richtlinien gelten für die Entnahme von soliden Organen,<br />

namentlich Niere und Teile der Leber, bei einem lebenden<br />

Spender zum Zweck der Transplantation. 3<br />

Die Richtlinien wenden sich an Ärzte 4 , Pflegende und weitere<br />

Fachpersonen, welche sich an der medizinischen und psychosozialen<br />

Abklärung potentieller Spender im Hinblick auf eine<br />

Spende und an der Nachbetreuung beteiligen.<br />

2. Grundlegende ethische Überlegungen<br />

Aus ethischer Sicht geht es bei der Lebendspende um drei<br />

medizinethische Prinzipien, das Fürsorgegebot, das Nichtschadensgebot<br />

und die Respektierung des Patientenwillens.<br />

Das Fürsorgegebot verpflichtet den Arzt dazu, Leben zu erhalten.<br />

Das betrifft in diesem Fall das Leben des Empfängers.<br />

Es ist nicht allein der Spenderwille, sondern das Gebot,<br />

seine Kom petenzen in den Dienst der Erhaltung von Leben<br />

zu stellen, welches für den Arzt die Grund lage bildet für die<br />

Ermöglichung einer Lebendspende. Freilich ist die nachhaltige<br />

Verbesserung des Gesundheitszustands des Empfängers<br />

nicht möglich ohne einen operativen Eingriff beim Spender,<br />

den dieser nicht benötigt und der ihm nicht selbst zugute<br />

kommt. Insofern steht dieser Eingriff in Spannung zum<br />

Nichtschadensgebot. Ausschlaggebend ist in diesem Fall der<br />

vom Arzt zu respektierende Wille des Spenders, den operativen<br />

Eingriff um der Erhaltung des Lebens des Empfängers<br />

willen auf sich zu nehmen. Ist dies jedoch mit einem unvertretbaren<br />

hohen Risiko für das Leben des Spenders verbunden,<br />

dann hat das Nichtschadensgebot den Vorrang vor der<br />

Res pektierung des Spenderwillens.<br />

Der Autonomieanspruch des Spenders umfasst das Recht,<br />

aufgrund persönlicher Wertungen und Lebensvorstellungen<br />

eine Entscheidung zu fällen, die mit einem gewissen Risiko<br />

behaftet sein kann. Mit einer Organspende kann Leiden ver­<br />

3 Die Entnahme von Bauchspeicheldrüsensegmenten und Lungenlappen bei<br />

Lebendspendern hat sich in der Schweiz noch nicht etabliert, wird aber in anderen<br />

Ländern bereits durchgeführt. Die Entnahme und Transplantation von Teilen des<br />

Dünndarms wird in einzelnen Fällen in der Schweiz durchgeführt. Die Richtlinien<br />

finden hier sinngemäss Anwendung.<br />

4 Mit Aufnahme in die Standesordnung <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-<br />

Mitglieder verbindliches Standesrecht.<br />

5


mindert und unter Umständen sogar Leben gerettet werden.<br />

Viele Spender sind deshalb bereit, Risiken für ihre Gesundheit<br />

in Kauf zu nehmen, wenn sie dadurch beispielsweise einem<br />

Lebenspartner oder Familienmitglied helfen können.<br />

Ärzte, Pflegende und weitere Fachpersonen, welche sich an<br />

der Abklärung potentieller Spen der beteiligen, sind aufgefordert,<br />

einen autonomen Spendewunsch zu respektieren. Sie<br />

haben aber auch die Pflicht, nicht zu schaden. Dies bedeutet,<br />

dass der Spenderschutz immer an erster Stelle stehen muss.<br />

Sind die Risiken für Gesundheit und Leben des Spenders zu<br />

gross, muss eine Spende abgelehnt werden. Die Risiko-Nutzen-Abwägung<br />

im Einzelfall hängt von vielen Faktoren ab.<br />

Beim Spenderschutz sind nicht nur medizinische Aspekte zu<br />

beachten, sondern auch psychosoziale Faktoren, wie z.B. die<br />

psychischen Folgen einer Spende bzw. Nicht-Spende. Eine<br />

Spende muss auch dann abgelehnt werden, wenn sich herausstellt,<br />

dass der Spendewunsch nicht autonom ist. Aus der<br />

Pflicht, nicht zu schaden, leitet sich auch die Verpflichtung<br />

zur lebenslangen Prävention, Früh erkennung und gezielten<br />

Therapie allfälliger Komplikationen beim Spender ab.<br />

Neben dem Nutzen einer Spende für das Empfänger-Spender-<br />

Paar, können auch Drittinte ressen an einer Spende bestehen<br />

(z.B. seitens der Spitäler und Versicherer usw.). Der<br />

Schutz und der Wille des Spenders stehen jedoch immer<br />

über diesen Drittinteressen.<br />

Das gespendete Organ ist für den Empfänger das Therapiemittel.<br />

Es entspricht deshalb dem Gebot der Gerechtigkeit, wenn<br />

alle mit der Spende verbundenen Kosten empfängerseitig getragen<br />

werden.<br />

3. Rechtliche Rahmenbedingungen<br />

Die Entnahme von soliden Organen bei lebenden Personen<br />

wird im Transplantationsgesetz (TxG) und den Ausführungsverordnungen,<br />

insbesondere der Verordnung über die Transplantation<br />

von menschlichen Organen, Geweben und Zellen<br />

(Transplantationsverordnung) geregelt.<br />

6


3.1. Voraussetzungen der Entnahme<br />

Gemäss Transplantationsgesetz dürfen Organe bei einem<br />

lebenden Spender, der urteilsfähig und mündig ist, unter<br />

den folgenden Grundvoraussetzungen entnommen werden<br />

(Art. 12 TxG):<br />

– der Spender hat nach umfassender Information frei und<br />

schriftlich in die Spende eingewilligt;<br />

– es bestehen keine ernsthafte Risiken für das Leben oder<br />

die Gesundheit des Spenders;<br />

– der Empfänger kann mit keiner anderen therapeutischen<br />

Methode von vergleichbarem Nutzen behandelt werden.<br />

Die Entnahme von Nieren und Teilen der Leber zum Zweck<br />

der Transplantation bei einem urteilsunfähigen oder unmündigen<br />

Spender ist nicht erlaubt (Art. 13 TxG).<br />

3.2. Unentgeltlichkeit und Handelsverbot<br />

Die Mitwirkung am Organhandel widerspricht dem ärztlichen<br />

Ethos.<br />

Gemäss Transplantationsgesetz ist es verboten, für die Spende<br />

von menschlichen Organen einen finanziellen Gewinn oder<br />

einen anderen Vorteil zu gewähren oder entgegenzunehmen<br />

und mit menschlichen Organen Handel zu treiben (Art. 6 und<br />

7 TxG). Der Ersatz des Erwerbsausfalls und des Aufwands, die<br />

dem Spender unmittelbar entstehen, sowie Ersatz für Schäden<br />

als Folge der Entnahme gelten nicht als Profit.<br />

3.3. Subsidiarität<br />

Gemäss Transplantationsgesetz ist die Lebendspende nur zulässig,<br />

wenn der Empfänger mit keiner anderen therapeutischen<br />

Methode von vergleichbarem Nutzen behandelt werden kann<br />

(Art. 12 TxG). Die Nierentransplantation ist heute für Menschen,<br />

die an einer fortgeschrittenen Nierenerkrankung leiden,<br />

die beste Behandlungsmethode. Therapeutische Alternativen<br />

wie Hämodialyse oder Bauchfelldialyse beeinträchtigen<br />

die Lebensqualität und sind mit einer kür zeren Lebensdauer<br />

assoziiert. Aus diesem Grund ist eine präemptive, d.h. eine<br />

frühzeitige Transplantation unter Umgehung der Dialyse,<br />

sinnvoll und anzustreben. Bei Erkrankungen der Leber ist eine<br />

intensivmedizinische Behandlung ebenfalls nicht mit einem<br />

vergleichbaren Nutzen verbunden, weil zum Zeitpunkt, in welchem<br />

für oder gegen eine Lebertransplantation entschieden<br />

7


werden muss, nicht zuverlässig prognostiziert werden kann,<br />

ob ein Patient auf die intensivmedizinische Behandlung anspricht<br />

oder nicht. Bei akutem Leberversagen und chronischer<br />

Lebererkrankung im Endstadium stellt die Lebertransplantation<br />

deshalb die ein zige Therapie der Wahl dar.<br />

Bei der Lebendspende werden zudem lange, belastende Wartezeiten<br />

vermieden, die Trans plantation wird zu einem planbaren<br />

Ereignis und Spender und Empfänger können unter<br />

den bestmöglichen Voraussetzungen operiert werden, Schäden<br />

an Transplantaten (z.B. infolge fehlender Durchblutung<br />

beim Transport) sind geringer. Die Aussichten einer Transplantation<br />

auf Erfolg sind grösser, je früher das Organ transplantiert<br />

wird.<br />

3.4. Aufwandersatz und Versicherungsschutz<br />

Gemäss Transplantationsgesetz muss der Versicherer, der ohne<br />

Lebend spende die Kosten für die Behandlung der Krankheit<br />

des Empfängers zu tragen hätte, fol gende Kosten übernehmen<br />

(Art. 14 TxG):<br />

– die Kosten der Versicherung für mögliche schwere Folgen<br />

der Entnahme wie Invalidität oder Tod 5 ;<br />

– eine angemessene Entschädigung für den Erwerbsausfall<br />

oder anderen Aufwand, welcher der spendenden Person<br />

im Zusammenhang mit der Entnahme entsteht. Dies beinhaltet<br />

die Übernahme der Reisekosten des Spenders, der<br />

Kosten der Abklärung und lebenslangen Nachverfolgung<br />

des Gesundheitszustandes sowie der Kosten für den notwendigen<br />

Beizug entgeltlicher Hilfen, namentlich Haushaltshilfen<br />

oder Hilfen für die Betreuung von Perso nen. 6<br />

In der Praxis stellen sich aktuell teilweise Probleme bei der Kostenübernahme.<br />

Das Trans plantationszentrum soll die Spender<br />

bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche gegenüber den<br />

Versicherern unterstützen. 7<br />

5 Ausführlich hierzu Art. 11 Transplantationsverordnung.<br />

6 Ausführlich hierzu Art. 12 Transplantationsverordnung.<br />

7 Vgl. Kap. IV; Empfehlungen an die Versicherer und an den Gesetzgeber.<br />

8


4. Information des Spenders<br />

Spender müssen vor Entnahme des Organs in mündlicher<br />

und schriftlicher Form umfassend und verständlich über den<br />

Inhalt und Ablauf der Abklärungen, die Risiken des Eingriffs<br />

und die Notwendigkeit einer lebenslangen Nachsorge informiert<br />

werden. Die Information muss objek tiv sein und in<br />

einer Sprache erfolgen, die der Spender versteht. Im Gespräch<br />

mit dem poten tiellen Spender sind neben den allgemeinen<br />

Informationen auch die für den spezifischen Spender relevanten<br />

Aspekte (z.B. individuelles Risiko im Falle einer Transplantation<br />

usw.) anzusprechen. Potentielle Spender sind insbesondere<br />

auch darüber zu informieren, dass die Zustimmung<br />

zu einer Spende freiwillig erfolgen muss und jederzeit, ohne<br />

Angabe von Grün den, widerrufen werden kann.<br />

Namentlich müssen die Spender über folgende Punkte informiert<br />

werden (vgl. auch Art. 9 Transplantationsverordnung):<br />

– Zweck und Ablauf der Vorabklärungen und des Eingriffs;<br />

– Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit der Spende sowie die<br />

Strafbarkeit einer Spende gegen Entgelt;<br />

– Kurz- und Langzeitrisiken für die Gesundheit des Spenders 8 ;<br />

– voraussichtliche Dauer des Spitalaufenthalts und das Ausmass<br />

der Arbeitsunfähigkeit oder anderer Einschränkungen<br />

für den Spender;<br />

– Empfehlung, sich als Spender einer regelmässigen Überprüfung<br />

des Gesundheitszustan des zu unterziehen;<br />

– Pflicht des Transplantationszentrums, die Nachverfolgung<br />

des Gesundheitszustandes des Spenders sicherzustellen;<br />

– Chancen und Risiken für den Empfänger (Transplantationsüberleben,<br />

Komplikationen usw.);<br />

– Versicherungsschutz und Aufwandersatz; potentielle Spender<br />

sind auch über die aktuellen Probleme bei der Kostenübernahme<br />

aufmerksam zu machen, dies betrifft insbesondere<br />

auch Spender mit Wohnsitz im Ausland. Diese sind<br />

deshalb auf die Notwendigkeit einer Krankenversicherung<br />

aufmerksam zu machen, welche eine adäquate medizinische<br />

Betreuung und Nachkontrolle übernimmt;<br />

– Grundzüge der Datenbearbeitung;<br />

– Recht, die Spende ohne Angabe von Gründen abzulehnen<br />

oder die erteilte Zustimmung formlos zu widerrufen;<br />

8 Zusätzlich ist die Abgabe von Informationsbroschüren und der Verweis auf die<br />

Homepage des Schweizerischen Organ Lebendspender-Vereins (SOLV-LN)<br />

www.lebendspende.ch und von Swisstransplant www.swisstransplant.org zu<br />

empfehlen.<br />

9


– zu erwartende Vorteile und die möglichen Nachteile<br />

sowie allfällige andere Therapiemöglich keiten für den<br />

Empfänger;<br />

– Information über allfällige psychische Folgen einer Lebendspende.<br />

5. Allgemeine Aspekte der Abklärung<br />

Die Abklärung umfasst eine psychosoziale und eine medizinische<br />

Beurteilung des Spenders im Hinblick auf die Organentnahme.<br />

Die einzelnen Abklärungsschritte erfolgen<br />

parallel und / oder zeitlich gestaffelt und können sich deshalb<br />

über einen längeren Zeitraum hinweg erstrecken. Die Wartezeit<br />

bis zur abschliessenden Beurteilung kann für den Spender<br />

eine grosse Belastung darstellen. Aus diesem Grund sollte<br />

der Ablauf der Abklärungen bekannt und in schematischer<br />

Form auf der Website und mittels Informationsbroschüren<br />

zugänglich sein. Diese allgemeine Information muss die notwendigen<br />

Schritte, die Namen der involvierten Ärzte und<br />

weiterer Fachpersonen sowie den Zeitrahmen der Abklärung<br />

beinhalten. Darüber hinaus ist aber auch eine direkte Information<br />

des Spenders über die einzelnen Etappen, Fris ten und<br />

Termine nötig. Im konkreten Fall sollten deshalb für jeden<br />

Spender bezeichnete Ansprechpersonen für medizinische<br />

und organisatorische Aspekte zur Verfügung stehen, welche<br />

ihn über die Wartezeit hinweg begleiten. Diese sollten in die<br />

Abklärung involviert sein (vgl. Kap. 9). Alle Prozesse rund um<br />

die Abklärungsphase sollten spitalintern definiert und festgehalten<br />

werden.<br />

5.1. Freiwilligkeit<br />

Die Motive, einer anderen Person ein Organ zu spenden, sind<br />

so unterschiedlich wie die Spender. Eine Spende kann Ausdruck<br />

der Verantwortung und Sorge für den Empfänger sein,<br />

das eigene «Mitleiden» mindern, aber auch altruistische oder<br />

religiöse Beweggründe können den Ausschlag geben. Auch eigene<br />

Interessen des Spenders können mitspielen; so kann sich<br />

z.B. die Lebensqualität des Spender-Empfänger-Paars durch die<br />

Transplantation wesentlich verbessern. Die Beurteilung im Einzelfall,<br />

ob und inwieweit ein sozialer, psychischer oder moralischer<br />

Druck die Motivation des Spenders so weit beeinflusst,<br />

10


dass nicht mehr von Frei willig keit gesprochen werden kann,<br />

ist für Aussenstehende manchmal nicht einfach. In jedem Fall<br />

sollte der Spender seine Motivation dem Abklärungsteam gegenüber<br />

plausibel begründen können; wobei dies nicht im Beisein<br />

des potentiellen Empfängers erfolgen darf.<br />

5.2. Gerichtete und nicht-gerichtete Spende<br />

Erlaubt sind in der Schweiz sowohl gerichtete als auch nichtgerichtete<br />

Spenden.<br />

Bei der weit häufiger vorkommenden gerichteten Spende<br />

kennt der Spender den Empfänger. Die Beziehung zwischen<br />

Spender und Empfänger kann auf genetischer Verwandtschaft<br />

beru hen oder eine rein emotionale sein, wie beispielsweise zwischen<br />

Ehepartnern oder Freunden. Eine Variante der gerichteten<br />

Spende ist die sog. Cross-over-Spende. Diese ist dadurch<br />

ge kennzeichnet, dass sich zwei Paare gegenseitig ein Organ<br />

spenden, weil sie dem eigenen Partner nicht spenden können.<br />

Aufgrund der Möglichkeit einer Blutgruppen-inkompatiblen<br />

Spende tritt diese jedoch zunehmend in den Hintergrund.<br />

Eine nicht-gerichtete Spende ist für einen Empfänger bestimmt,<br />

welcher den Spender nicht kennt. Nicht-gerichtete Spenden<br />

sind selten. Ist die Motivation zur Spende nicht nachvollziehbar,<br />

sollten zusätzliche Gutachten (z.B. psychosoziale Abklärung<br />

durch ein anderes Zentrum) eingeholt werden.<br />

Der Aufrechterhaltung der Anonymität zwischen Spender und<br />

Empfänger muss besondere Beachtung geschenkt werden. Die<br />

involvierten Teams, inkl. Rechnungswesen im Spital, müs sen<br />

vorab gut informiert werden. Wünschen sowohl Spender als<br />

auch Empfänger eine Aufhe bung der Anonymisierung nach<br />

erfolgter Spende, soll diesem Wunsch nur nach sorgfältiger<br />

Beurteilung der Risiken entsprochen werden. Spender und<br />

Empfänger müssen ihr Einver ständnis schriftlich festhalten.<br />

Bei der nicht-gerichteten Spende besteht eine Meldepflicht an<br />

die Nationale Zuteilungsstelle, welche die Allokation durchführt<br />

(Art. 22 TxG). 9<br />

9 Die aktuelle Lösung, diese Organe gleich zu behandeln wie die Organe von<br />

Verstorbenen, ist nicht sinnvoll, weil der medizinische Nutzen stärker gewichtet<br />

werden müsste, wenn sich ein Lebendspender dem Risiko einer Spende aussetzt.<br />

11


5.3. Alter<br />

Mit dem Erreichen der Volljährigkeit ist jedermann vom Gesetz<br />

her berechtigt, sich für eine Organlebendspende zur Verfügung<br />

zu stellen. Bei jungen Erwachsenen muss im Rahmen<br />

der Abklärungen im Hinblick auf eine Spende die Urteilsfähigkeit<br />

besonders sorgfältig abgeklärt werden. Bei einem jungen<br />

Erwachsenen als potentieller Spender ist darauf zu achten,<br />

ob er die Tragweite einer Organlebendspende erkennen<br />

kann und sein Spendewunsch nachvoll ziehbar, beständig<br />

und freiwillig ist.<br />

Es besteht keine Altersgrenze für die Organspende von älteren<br />

Menschen. Die Wahrschein lichkeit, dass eine Spende aus medizinischen<br />

Gründen nicht möglich ist, steigt jedoch mit zunehmendem<br />

Alter. In der Aufklärung muss auf die höheren<br />

Komplikationsrisiken hingewiesen werden.<br />

5.4. Geschlecht<br />

Aktuell besteht eine deutliche Diskrepanz in der Geschlechterverteilung<br />

von Lebendorgan spendern und -empfängern,<br />

die nicht ausschliesslich auf medizinische Faktoren zurückgeführt<br />

werden kann. Gemäss Schweizerischem Lebendspender-<br />

Gesundheitsregister (Swiss Organ Live Donor Health Registry,<br />

SOL-DHR) sind zwei Drittel der Spender Frauen und zwei<br />

Drittel der Empfänger Männer. Diese Zahlen entsprechen<br />

etwa dem internationalen Durchschnitt. Dies ist unter anderem<br />

auf die offenbar höhere Bereitschaft zu fürsorglichem<br />

Verhalten von Frauen zurückzuführen. Allfällige Hindernisse,<br />

welche die Spendebereitschaft von Männern beeinflussen<br />

könnten (z.B. Probleme am Arbeitsplatz infolge Ausfall u.ä.),<br />

sollen frühzeitig angesprochen und Lösungsmöglichkeiten<br />

aufgezeigt werden.<br />

5.5. Herkunft<br />

Häufig stammen Spender aus einem fremden Kulturkreis. Aktuell<br />

hat jeder sechste Spender Wohnsitz im Ausland.<br />

Folgende Punkte müssen bei der Abklärung solcher Spender<br />

zusätzlich berücksichtigt wer den:<br />

– anderes Verständnis des Familienbegriffes und unterschiedliche<br />

Rollenverteilung innerhalb einer Gemeinschaft;<br />

– Sicherstellen der Kommunikation mittels eines Dolmetschers,<br />

falls dies notwendig ist; dieser darf nicht selbst betroffen<br />

sein (insbesondere Empfängerseite);<br />

12


– Zugänglichkeit einer adäquaten medizinischen Betreuung<br />

und Nachkontrolle für den Spen der. Je nach Herkunftsland<br />

des Spenders ist dies schwierig überprüfbar und kann<br />

zu Gewissenskonflikten führen. In einer solchen Situation<br />

sind bei der Abwägung von Nutzen und Risiken der Spende<br />

die längerfristigen Interessen des Spenders besonders<br />

zu gewichten.<br />

6. Psychosoziale 10 Abklärung<br />

6.1. Zielsetzung<br />

Die psychosoziale Abklärung muss von einer psychologisch<br />

geschulten Fachperson durch geführt werden, welche fachlich<br />

unabhängig vom Transplantationsteam ist. Der Spender<br />

muss persönlich und allein gesehen werden. Bei einem<br />

fremdsprachigen Spender muss ein unabhängiger Dolmetscher<br />

(kein Angehöriger des Spenders oder Empfängers) zur<br />

Verfügung stehen. Für die Abklärung können mehrere Gespräche<br />

nötig sein. In Einzelfällen kann, mit Einverständnis<br />

des potentiellen Spenders, das Einholen der Meinung<br />

von Drittpersonen (z.B. Angehörige, Hausarzt, behandelnde<br />

Ärzte) sinnvoll sein.<br />

In der Abklärung muss geprüft werden, ob der Spender urteilsfähig<br />

ist und sein Entscheid auf ausreichender Information<br />

beruht, ob er über eine ausreichende soziale und psychische<br />

Sta bilität verfügt und ob sein Entscheid freiwillig<br />

erfolgt.<br />

Die Abklärung soll insbesondere nachfolgende Aspekte beinhalten:<br />

– Urteilsfähigkeit;<br />

– Motivation für die Organspende, insbesondere Freiwilligkeit<br />

und Unentgeltlichkeit;<br />

– psychosoziale Anamnese;<br />

– Verlauf des Entscheidungsprozesses;<br />

– bisheriger Umgang mit psychosozialem Stress;<br />

– derzeitige Lebensumstände (soziales Netz, Beruf, Finanzen);<br />

– Beziehung zum Empfänger;<br />

– Erwartungen des Spenders im Zusammenhang mit der Organspende;<br />

10 Im TxG wird durchwegs der Begriff «psychologische» Abklärung verwendet.<br />

Da auch soziale Faktoren in der Abklärung mitberücksichtigt werden, wird in den<br />

vorliegenden Richtlinien von «psychosozialer Abklärung» gesprochen.<br />

13


– Wissen um Nutzen und Risiken einer Spende für den<br />

Spender;<br />

– Wissen um Nutzen und Risiken der Spende für den Empfänger.<br />

6.2. Spezielle Spendersituationen<br />

6.2.1. Spender mit einer psychischen Störung<br />

Psychische Störungen sind verbreitet, per se aber kein Ausschlusskriterium<br />

für eine Spende. Dies gilt nicht für Störungen<br />

mit einem höheren Schweregrad (z.B. akute Psychosen). Im<br />

Ein zelfall muss abgeschätzt werden, ob die Ablehnung aus<br />

psycho sozialen Gründen für den Be troffenen nicht belastender<br />

ist als die Spende selbst. In einzelnen Fällen kann eine<br />

psycholo gische Unterstützung bereits während der Abklärung<br />

sinnvoll sein. Bei aktuellen Störungen, welche die Urteilsfähigkeit<br />

einschränken können, muss eine psychiatrische<br />

Beurteilung einge holt werden.<br />

6.2.2. Spender mit einem Lebenspartner,<br />

der eine Spende ablehnt<br />

Potentielle Spender können in einem Loyalitätskonflikt zwischen<br />

ihrer Ursprungsfamilie (z.B. ein Ge schwister als Empfänger)<br />

und ihrer aktuellen Familie (Partner) stehen. Um<br />

solche Si tuationen frühzeitig zu erkennen, sollte der Lebenspartner<br />

in die psychosoziale Abklärung einbezogen werden,<br />

sofern das möglich ist und der Spender dies nicht ablehnt.<br />

6.2.3. Spender aus einem anderen Kulturkreis<br />

Werte und Normen sind kulturspezifisch (z.B. Familienloyalitäten).<br />

Der zuverlässigen Evalua tion von Urteilsfähigkeit,<br />

Freiwilligkeit und Motivation zur Spende können bei Personen<br />

aus anderen Kulturkreisen Grenzen gesetzt sein. In Einzelfällen<br />

ist zu prüfen, ob kulturspezifische Vorstellungen des<br />

potentiellen Spenders mit hiesigen Normen und Vorschriften<br />

in Einklang stehen. Bestehen diesbezüglich ernsthafte Zweifel,<br />

sollte das Spenderangebot abgelehnt werden.<br />

6.2.4. Spender, die Bluttransfusionen ablehnen<br />

Spender, die eine Bluttransfusion grundsätzlich ablehnen,<br />

setzen sich mit einer Operation einem erhöhten Risiko aus,<br />

bei einer eintretenden Komplikation an der Operation zu sterben.<br />

Dies gilt für die Leberspende, die mit höheren Risiken<br />

belastet ist als die Nierenspende, in verstärktem Ausmass. Das<br />

erhöhte Risiko für den Spender muss in die Risiko-Nutzen-<br />

Abwä gung einbezogen werden und kann zur Ablehnung der<br />

Spende führen.<br />

14


6.2.5. Spender, die nicht spenden wollen, dies aber<br />

nicht eingestehen können<br />

Potentielle Spender können in einem Konflikt stehen zwischen<br />

Erwartungen und eigenen Ängsten und Bedenken in Bezug auf<br />

die Spende. Manchmal ist es einem Spender dann nicht möglich<br />

dazu zu stehen, dass er nicht zu einer Spende bereit ist. Oft<br />

zeigt sich der fehlende Spendewunsch in Verhaltensweisen<br />

(z.B. fehlende notwendige Gewichtsabnahme, zeitliche Verzögerungen).<br />

Um den Spender zu entlasten, können mögliche<br />

somatische Kontraindika tionen stärker ge wichtet werden, um<br />

den Ausschluss der Spende zu begründen.<br />

6.3. Adhärenz<br />

Die Zuverlässigkeit des Empfängers, therapeutische Vorschriften<br />

einzuhalten (Adhärenz), ist eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />

für den Erfolg einer Transplantation. Die Adhärenz<br />

vor Transplantation lässt jedoch nur bedingt Rückschlüsse<br />

auf die Adhärenz nach Transplanta tion zu. Es gibt allerdings<br />

Risikofaktoren für eine verminderte Adhärenz, wie beispielsweise<br />

Alkoholkrankheit. Auch bei einigen jugendlichen Patienten<br />

besteht das Risiko der verminder ten Adhärenz. Solche<br />

Faktoren sollten vor allem auch bei präemptiven Transplantationen<br />

be rücksichtigt und mit dem Spender-Empfänger-Paar<br />

besprochen werden. Die Adhärenz sollte in der Betreuung<br />

nach erfolgter Transplantation durch geeignete Massnahmen,<br />

wie insbeson dere Schulung, unterstützt werden.<br />

7. Medizinische Abklärung 11<br />

7.1. Nierenspender<br />

Gemäss Art. 23 Transplantationsverordnung muss die Spendetauglichkeit<br />

von einem Arzt mit der dafür notwendigen<br />

Erfahrung oder von einer für diese Tätigkeit ausgebildeten<br />

Person, die unter Aufsicht des Arztes steht, erfolgen. Die Beurteilung<br />

der Spendetauglichkeit basiert im Wesentlichen auf<br />

einer Anamnese, klinischer Untersuchung, Labortests und<br />

bildgebenden Verfahren.<br />

Von den zu beachtenden Punkten seien ausdrücklich die folgenden<br />

genannt:<br />

– Abklärung der Operabilität (perioperatives Risiko);<br />

– Nierenfunktion vor der Spende, inklusive Blutdruck bzw.<br />

Hypertonie, Albuminurie, Projek tion der Restnierenfunktion<br />

unmittelbar nach Spende und im Langzeitverlauf inkl.<br />

11 Vgl. auch <strong>Anhang</strong> 5 zur Transplantationsverordnung.<br />

15


Abschät zung der Gefahr der Entwicklung einer fortgeschrittenen<br />

Niereninsuffizienz mit sekundären renalen Komplikationen<br />

(z.B. Anämie, Osteopathie oder einer Dialysebedürftigkeit).<br />

Die Alters grenze ist nach oben offen. Generell<br />

muss beachtet werden, dass sich die Nieren funktion im<br />

Verlauf des Alterungsprozesses verschlechtert. Die Nierenfunktion<br />

muss für Spender und Empfänger ausreichen. Es<br />

muss deshalb abgeschätzt werden, welche Nie renfunktion<br />

ein Spender nach Entnahme der Niere aufweisen wird. Die<br />

Hochrechnung muss für den Spender auch im Alter eine<br />

ausreichende Restnierenfunktion ohne sekun däre Komplikationen<br />

der Nieren insuffizienz ergeben;<br />

– allfällige Begleiterkrankungen, die sich auf die restliche<br />

Niere negativ auswirken können, insbesondere Diabetes<br />

mellitus, Adipositas;<br />

– Diagnose und Evaluation von möglichen Kontraindikationen<br />

zur Organspende, insbeson dere maligne oder infektiöse<br />

Erkrankungen, Schwangerschaft;<br />

– Familienanamnese (z.B. Diabetes mellitus);<br />

– Transplantations-immunologische Abklärungen für die<br />

Allokation eines Organs (z.B. Gewe betypisierung) und<br />

die Risikoeinschätzung von Abstossungsreaktionen<br />

(Kreuzprobe).<br />

Eine Hypertonie ist kein Ausschlusskriterium, sofern diese<br />

medikamentös gut kontrolliert ist. Zu beachten ist, dass die<br />

Albumin-Ausscheidung im Urin den Grenzwert der Norm<br />

nicht über schreiten darf, bzw. kleiner als 5 mg Albumin pro<br />

mmol Kreatinin sein sollte. Die Adipositas wird generell als kardiovaskulärer<br />

Risikofaktor betrachtet. Im SOL-DHR sind aber<br />

die Daten für Patienten mit Adipositas nicht schlechter (bei<br />

BMI über 35 keine Aussage möglich), sodass diese Patientengruppe<br />

nicht aufgrund der Adipositas von einer Spende ausgeschlossen<br />

wer den sollen. Spender mit einem unbehandelten<br />

übertragbaren Malignom oder einer akuten übertragbaren<br />

nicht behandelbaren Infektion müssen von einer Spende ausgeschlossen<br />

wer den.<br />

Ein höheres immunologisches Risiko (wie z.B. Spenderspezifische<br />

Antikörper oder Blutgrup pen-inkompatible Antikörper)<br />

der potentiellen Spender-Empfänger-Konstellation<br />

und auch das medizinische Risiko des Empfängers müssen<br />

mit dem Spender vorgängig besprochen wer den.<br />

16


7.2. Nierenempfänger<br />

Die Abklärungen beinhalten wie beim Spender eine Anamnese-<br />

Erhebung, klinische Unter suchung, Labortests und bildgebende<br />

Verfahren.<br />

Von den zu beachtenden Punkten seien ausdrücklich die folgenden<br />

genannt:<br />

– Abklärung der Operabilität. Zu beachten sind das perioperative<br />

Risiko und eine ge schätzte Lebenserwartung von<br />

mindestens zwei Jahren;<br />

– renale Grundkrankheit (inkl. Abschätzung des Rezidivrisikos<br />

im Transplantat) und Begleit erkrankungen, die sich<br />

negativ auf Transplantat- und Patientenüberleben auswirken<br />

kön nen;<br />

– relative und absolute Kontraindikationen zur Immunsuppression,<br />

d.h. Abschätzen von de ren Risiken, Nebenwirkungen<br />

und Verträglichkeit;<br />

– Transplantations-immunologische Abklärungen für die<br />

Allokation eines Organs (z.B. Gewe betypisierung) und die<br />

Risikoeinschätzung von Abstossungsreaktionen (z.B. Antikörper<br />

ge gen HLA-Antigene des Spenders);<br />

– Diagnose und Evaluation von weiteren Kontraindikationen<br />

zur Transplantation, insbeson dere maligne oder infektiöse<br />

Erkrankungen.<br />

7.3. Leberspender<br />

Gemäss Transplantationsgesetz ist die Entnahme bei einem<br />

lebenden Spen der nur zulässig, wenn ernsthafte Risiken für<br />

Leben oder Gesundheit infolge Spende ausge schlossen werden<br />

können (Art. 12 TxG). Bei der Abklärung der Risiken ist<br />

zu beachten, dass die Spende eines Teils der Leber im Vergleich<br />

zur Nierenspende mit höheren intraoperativen und<br />

post operati ven Risiken verbunden ist. Dies gilt auch für die<br />

teilweise invasiven medizinischen Ab klärun gen im Hinblick<br />

auf eine potentielle Spende. Aus diesem Grund sollen<br />

Kontraindikatio nen so früh wie möglich erfasst und die invasiven<br />

Untersuchungen erst durchgeführt werden, wenn eine<br />

Spende wahrscheinlich scheint. Nach einem ersten Informationsgespräch<br />

erfolgt deshalb die Abklärung in zwei Phasen.<br />

Im Vordergrund der ersten Phase, welche auch die psychosoziale<br />

Abklärung des Spenders umfasst, liegt der Schwerpunkt<br />

in der Abklärung der allgemeinen Operabilität, der Blutgrup­<br />

17


penkompatibilität, des perioperativen Risikoprofils und möglicher<br />

Kontraindikationen zur Spende (insbesondere maligne<br />

oder infektiöse Erkrankungen).<br />

Folgende Untersuchungen sind in der ersten Phase notwendig:<br />

– klinische Untersuchung mit Anamnese;<br />

– Laboranalysen;<br />

– bildgebende Diagnostik.<br />

Nach Abschluss dieser Abklärungen liegt in der zweiten<br />

Phase der Schwerpunkt der Abklä rungen auf den leberspezifischen<br />

Aspekten. Zudem wird nun auch das Transplantationsteam<br />

(Transplantationschirurgen, Hepatologe des Empfängers)<br />

involviert.<br />

Folgende Untersuchungen sind in der zweiten Phase notwendig:<br />

– Lebervolumen: Die Volumetrie muss ein genügendes<br />

Volumen für Spender und Empfänger garantieren;<br />

– Laboranalysen;<br />

– Ausschluss von Lebererkrankungen;<br />

– spezielle Laboranalysen;<br />

– weiterführende bildgebende Untersuchungen.<br />

Ausserdem soll eine vom Transplantations team unabhängige<br />

Kommission (Leber-Lebendspendekommission) die Eignung<br />

zur Spende beurteilen und der Entnahme zustimmen.<br />

Aufgrund des extremen Zeitdrucks findet bei «Super-Urgent»-<br />

Fällen keine Unterteilung in die übliche zweiphasige Abklärung<br />

statt, sondern die Untersuchungen werden überlappend<br />

durchgeführt. Bei einem «Super-Urgent»-Fall erleidet der<br />

Empfänger aus völliger Gesundheit heraus ein akutes Leberversagen.<br />

Für Angehörige, die erwägen, sich für eine Leber-<br />

Lebendspende zur Verfügung zu stellen, besteht ein enormer<br />

psychologischer Druck. Trotz Zeitdruck muss gewährleistet<br />

sein, dass die Risiken für den Spender zusätzlich von der Leber-<br />

Lebendspendekommission beurteilt werden. Nach Abschluss<br />

aller Untersuchungen wird der poten tielle Spender über den<br />

Entscheid informiert. Die Zeit bis zur schriftlichen Zustimmung<br />

des Spenders muss, wenn immer möglich, mindestens<br />

24 Stunden betragen.<br />

18


7.4. Leberempfänger<br />

Die Abklärung des Empfängers unterscheidet sich grundsätzlich<br />

nicht von der Transplantation bei der Spende post<br />

mortem. Die mögliche Planung einer Lebendorganspende<br />

erlaubt es aber, den Empfänger in einen möglichst optimalen<br />

Zustand zu bringen (z.B. Sanierung mög licher Infektherde,<br />

Ernährungsstatus).<br />

Ziel der Abklärung ist die Evaluation der nachfolgenden Punkte:<br />

– Operabilität (perioperatives Risiko);<br />

– Evaluation von weiteren Kontraindikationen zur Transplantation;<br />

– hepatische Grunderkrankungen;<br />

– relative und absolute Kontraindikationen zur Immunsuppression;<br />

– Anatomie und allfällige Pathologie der Gefässversorgung<br />

der Leber.<br />

8. Abschliessende Beurteilung<br />

Die abschliessende Beurteilung der Spendereignung erfolgt<br />

unter Berücksichtigung aller Er gebnisse der Abklärungen und<br />

mit Einbezug des Spenders. Es liegt in der Verantwortung des<br />

gesamten Teams, allfälligen Hinweisen nachzugehen, welche<br />

dafür sprechen, dass die Spende nicht unentgeltlich oder<br />

nicht freiwillig erfolgt. Stösst ein Mitglied des Teams auf einen<br />

Grund, der gegen eine Spende spricht, hat es die Verpflichtung,<br />

dies allen Involvierten mitzu teilen.<br />

Bei der Mehrzahl der potentiellen Spender ergeben sich aufgrund<br />

der psychosozialen Abklä rung keine Einwände gegen<br />

eine Spende. Werden Probleme identifiziert, sollen diese mit<br />

dem potentiellen Spender besprochen und nach Lösungsmöglichkeiten<br />

gesucht werden.<br />

Die medizinischen Risiken für Spender und Empfänger<br />

werden individuell abgewogen; sie müssen in einem angemessenen<br />

Verhältnis zum potentiellen Nutzen für beide<br />

Seiten stehen. Bei der Risikoabwägung wird auch der Empfänger<br />

einbezogen.<br />

Bestehen innerhalb des Teams Zweifel bezüglich der Spendereignung,<br />

kann dieses die Mei nung der Swisstransplant-Audit-<br />

Gruppe STAL (Leber), respektive STAN (Niere) einholen. Da bei<br />

sind die Persönlichkeitsrechte des Spender-Empfänger-Paars<br />

zu respektieren. 12<br />

12 Eine solche Zweitbeurteilung ist nur aufgrund einer detaillierten Beschreibung der<br />

relevanten Aspekte des Einzelfalls möglich. Deshalb reicht ein Verzicht auf Namensnennung<br />

und Altersangabe des Spenders nicht aus, um dessen Anonymität zu wahren. Vor<br />

dem Einholen einer Zweitmeinung muss deshalb sein Einverständnis eingeholt werden.<br />

19


Die abschliessende Beurteilung muss dem Spender mündlich<br />

und schriftlich mitgeteilt wer den. Spender und Empfänger<br />

müssen über die beidseitigen Risiken informiert werden.<br />

Wird eine Spende aufgrund der Ergebnisse der Abklärungen<br />

nicht befürwortet, hat der Spen der das Recht auf eine ausführliche<br />

Begründung des Entscheids und ein zusätz liches Gespräch<br />

mit den involvierten Fachpersonen. Zudem soll dem<br />

Spender die Möglichkeit offen stehen, ein Zweitgutachten bei<br />

einem anderen Transplantationszentrum einzuholen.<br />

9. Spenderbegleitung<br />

Die Abklärung der Eignung im Hinblick auf eine Lebendspende<br />

dauert in der Regel mehrere Wochen und kann sich bei<br />

Bedarf auch über Monate erstrecken. Die Wartezeit, aber auch<br />

Verzögerungen usw. können als Belastung erlebt werden und<br />

Unsicherheit und Angst aus lösen. Aus diesem Grund muss<br />

der Ablauf der Abklärungen so transparent wie möglich gestaltet<br />

sein, und es sollen Ansprechpartner für medizinische<br />

und organisatorische Fragen zur Verfügung stehen (vgl. Kapitel<br />

5). Bei den Ansprechpartnern muss es sich um kompetente<br />

und in den Abklärungsprozess involvierte Personen handeln,<br />

die für den Spender erreichbar sind. Diese sind über die einzelnen<br />

Schritte der Abklärungen, die Fristen und Ergebnisse<br />

informiert und kennen die Resultate in ihrer Gesamtheit. Sie<br />

halten den Spender auf dem Laufenden und kontaktieren<br />

ihn insbesondere auch bei Verzögerungen, Unklarheiten usw.<br />

aktiv innerhalb von etwa zwei Arbeitstagen.<br />

Nach erfolgter Transplantation sollte der Spender bis zum<br />

Zeitpunkt der Spitalentlassung vom Transplantationsteam<br />

weiter betreut werden. Dabei muss insbesondere auch für<br />

eine mög lichst schmerzfreie, postoperative Phase gesorgt werden.<br />

Im Hinblick auf den Spitalaustritt muss die Ansprechperson<br />

zudem sicherstellen, dass die Unterlagen bezüglich<br />

Nachverfol gung korrekt ausgefüllt werden und der Spender<br />

bei auftretenden Problemen im Zusammen hang mit Aufwandersatz<br />

und Versicherungsschutz Hilfestellung bekommt.<br />

20


10. Spendernachsorge<br />

In der Regel ist die Gesundheit von Lebendspendern nach der<br />

Spende nicht beeinträchtigt. Dennoch ist eine lebenslange<br />

Nachverfolgung des Gesundheitszustandes aus den folgenden<br />

Gründen wichtig:<br />

– Erfassung einzelner Spender mit medizinischen oder psychosozialen<br />

Problemen (inklusive Information des behandelnden<br />

Arztes);<br />

– Erfassung von Langzeitdaten als Basis für die Information<br />

zukünftiger Spender;<br />

– Kontrolle des kurz- und langfristigen Verlaufs.<br />

Für die Nachsorge gelten folgende Grundsätze:<br />

– Alle Lebendspender (Niere, Leber) sollen lebenslang nachbetreut<br />

werden.<br />

– Die Kontrollen müssen in regelmässigen Abständen erfolgen,<br />

Kontrollparameter und -intervalle sind abhängig vom<br />

gespendeten Organ (siehe <strong>Anhang</strong> Kontrollparameter).<br />

– Frühkomplikationen (während der Operation und kurz<br />

danach) sowie Langzeitkomplikatio nen sollen erfasst werden.<br />

Gesundheitliche, psychische oder soziale Probleme<br />

des Spen ders sollen erfasst und die nötigen Schritte eingeleitet<br />

werden (z.B. Information des Haus arztes).<br />

– Über die Häufigkeit von Komplikationen soll eine Übersicht<br />

erstellt werden. Dies kann unter anderem auch der<br />

Information der Organspender über die kurz- und langfristigen<br />

Risiken dienen.<br />

Die Transplantationszentren müssen die Nachsorge sicherstellen<br />

(Art. 27 TxG). 13 Im Bereich der Nierennachsorge (Kontrolle<br />

und Intervention) haben sie diese Aufgabe seit 1993<br />

vollstän dig dem Lebend-Spender-Register «Swiss Organ<br />

Living Donor Health Registry» (SOL-DHR) übertragen;<br />

ab Januar 2008 hat dieses auch die Nachsorge der Leber-<br />

Lebendspende über nommen. Die Vorteile eines zentralen<br />

Registers liegen auf der Hand:<br />

– von den Zentren unabhängige Erfassung der Komplikationen<br />

und Langzeitprobleme;<br />

– grösserer Erfahrungsgewinn bei international schlechter<br />

Datenlage;<br />

– grössere Wirtschaftlichkeit durch standardisierte Erhebung,<br />

Vergleichbarkeit der Daten;<br />

13 Bei Spendern mit Wohnsitz im Ausland ist die Sicherstellung,<br />

je nach Land, schwierig vgl. 6.2.3.<br />

21


– Möglichkeit der frühzeitigen Intervention bei Spendeassoziierten<br />

Spätfolgen;<br />

– Veröffentlichung der Daten (Transparenz);<br />

– Bestehen einer neutralen Anlauf- und Schlichtungsstelle<br />

für Spender (Ombudsfunktion).<br />

11. Empfängernachbetreuung nach Organkauf<br />

Die Nachbetreuung eines Empfängers, der ein Organ im<br />

Ausland erworben hat, muss sicher gestellt werden. Dies gilt,<br />

obwohl Organhandel in der Schweiz verboten ist. Ist einem<br />

Arzt auf grund seines Gewissens die Betreuung nicht möglich,<br />

muss er dafür sorgen, dass die Nach betreuung anderweitig<br />

gewährleistet ist.<br />

12. Dokumentation und Datenschutz<br />

Die in die Abklärung, Entnahme und Nachsorge bei Lebend-<br />

Organspenden involvierten Per sonen unterstehen der Schweigepflicht.<br />

Die Daten über den Spender und Empfänger sind<br />

vertraulich zu behandeln und dürfen nicht ohne deren Einwilligung<br />

an Dritte weitergegeben werden. 14<br />

Die Ergebnisse der psychosozialen und medizinischen Abklärungen<br />

des Spenders müssen schriftlich dokumentiert und<br />

über einen Zeitraum von zehn Jahren 15 aufbewahrt werden.<br />

Nach erfolgter Transplantation ist das Ergebnis der psychosozialen<br />

Spenderabklärung getrennt von der Krankengeschichte<br />

aufzubewahren. 16<br />

14 Vgl. Art. 57 ff. TxG<br />

15 Eine 20-jährige Aufbewahrungsfrist gilt hingegen gemäss Art. 35 TxG für alle<br />

wichtigen Unterlagen, d.h. alle Aufzeichnungen der für den Schutz der Gesundheit<br />

bedeutsamen Vorgänge. Damit eine Rückverfolgung gewährleistet ist, sind Namen,<br />

Vornamen und Geburtsdaten der spendenden sowie der empfangenden Person<br />

aufzuzeichnen.<br />

16 Vgl. 10 Abs. 2 Transplantationsverordnung.<br />

22


III. <strong>Anhang</strong>: Kontrollparameter Spendernachsorge<br />

Parameter / Zeit<br />

Problemorientierte<br />

medizini sche und<br />

psychische Anamnese,<br />

Medikamente<br />

Klinischer Teil-Status<br />

(BD, Gewicht Narbe etc.)<br />

Wohlbefinden psychisch<br />

und somatisch (SF8)<br />

Sozialer Status<br />

(Frage bo gen)<br />

Serum-Kreatinin*<br />

Spot-Urin-Dipstick /<br />

Sedi ment**<br />

Spot-Urin-Albumin /<br />

Kreati nin*<br />

Frühkomplikationen und<br />

Schmerz<br />

Die Kontrollparameter sind dem jeweiligen Stand des Wissens<br />

anzupassen. Aktuell gelten folgende Vorgaben:<br />

1. Niere<br />

Bei Spitalentlassung<br />

nach Nierenspende<br />

X<br />

* in zentralem Laboratorium<br />

Jahre 0, 1, 3, 5, 7, 10,<br />

dann alle 2 Jahre<br />

** Urinsediment nur, falls Urin-Dipstick pathologisch (nach Jahr 0 im<br />

Labor des Hausarztes)<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

X<br />

Jahre 0, 1, 5, 10,<br />

16, 20, 26 etc.<br />

X<br />

X<br />

2. Leber<br />

Parameter / Zeit<br />

Problemorientierte medizinische<br />

und psychische<br />

Anamnese, Medikamente<br />

Klinischer Teil-Status<br />

(BD, Gewicht Narbe etc.)<br />

Wohlbefinden psychisch<br />

und somatisch (SF8)<br />

Sozialer Status<br />

(Frage bogen)<br />

Leberfunktions-orientierte<br />

Labor-Untersuchung<br />

(Blut)*<br />

Schätzung des belassenen<br />

Leber-Gewichts<br />

Frühkomplikationen<br />

und Schmerz<br />

Während der<br />

Leberspende<br />

X<br />

Bei Spital-<br />

Entlas sung<br />

nach Leberspende<br />

X<br />

Jahre 0, 1, 3,<br />

5, 7, 10, dann<br />

alle 5 Jahre<br />

X<br />

X<br />

X<br />

Jahre 0, 1,<br />

5, 10, 15, 20,<br />

25 etc.<br />

X<br />

X<br />

* in zentralem Laboratorium<br />

23


IV. Empfehlungen<br />

1. An die Transplantationszentren<br />

– Jährlicher institutionalisierter Austausch zwischen den<br />

Zentren: Es ist wichtig, dass die Erfahrungen (z.B. Resultate,<br />

Komplikationen, Ablehnungen von Spendern) besprochen<br />

werden, weil daraus Verbesserungen im Ablauf<br />

und in der direkten Betreuung der Spender resultieren.<br />

– Einsetzen von Leber-Lebendspendekommissionen: Anders<br />

als die Nierenspende ist die Leber-Lebendspende mit einem<br />

signifikanten Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko verbunden.<br />

Es ist deshalb sinnvoll, eine spezifische Kommission<br />

einzusetzen, welche die Eignung zur Spende beurteilen und<br />

der Entnahme des Organs zustimmen muss. Die Mitglieder<br />

sollen über spezifische Fachkenntnisse verfügen (z.B. Hepatologen,<br />

Psychiater, Ethiker und Juristen).<br />

– Qualitätssicherung: Der Qualität der Betreuung ist besondere<br />

Aufmerksamkeit einzuräu men. Dies betrifft insbesondere<br />

die Qualität der Abklärung, das Erkennen von<br />

Komplikatio nen in der postoperativen Phase und Spätphase,<br />

die Empfehlung für therapeutische Inter ventionen<br />

und die Erfassung der langfristigen Resultate.<br />

– Gewährleistung der betrieblichen und fachlichen Voraussetzungen:<br />

Die Transplantationszent ren, welche Entnahmen<br />

bei Lebendspendern und Transplantationen vornehmen,<br />

sollten nachfolgende Voraussetzungen erfüllen:<br />

24-Stunden Betrieb über 365 Tage, Notfallstation mit Notfallaufnahme,<br />

Intensivstation, Operationssäle, Transplantationskoordination,<br />

chemisches und hämatologisches Laboratorium<br />

mit Notfallbestimmun gen, Typisierungslaboratorium,<br />

mikrobiologisches Laboratorium.<br />

Das interdisziplinäre Team sollte sich namentlich aus<br />

Fachpersonen aus folgenden Berei chen zusam mensetzen:<br />

Pflege, Chirurgie, Nephrologie, Hepatologie, Urologie,<br />

Psychoso matik / Psy chologie / Psy chiatrie, Intensivmedizin,<br />

Endokrinologie (speziell Diabetologie), Immunologie,<br />

Pneumologie, Kardiolo gie, Anästhesie, Angiologie,<br />

interventionelle Radiolo gie, Infektiolo gie, Pathologie.<br />

24


– Nach Möglichkeit sollten die Spitäler den Spendern ein<br />

Einbettzimmer zur Verfügung stel len, obwohl Organtransplantationen<br />

nicht über die Zusatzversicherung abgerechnet<br />

wer den können. Durch ihre Spende leisten Spender<br />

einen wichtigen Beitrag für den Empfän ger, aber auch für<br />

die Gesellschaft. Sie sind auch keine Patienten im herkömmlichen<br />

Sinn.<br />

– Nachverfolgung von Organhandel: Es ist unklar, wie<br />

viele in der Schweiz wohnhafte Patien ten sich im Ausland<br />

ein Organ kaufen. Um mehr Klarheit über die Situation<br />

in der Schweiz zu erhalten, sollen die Zentren versuchen,<br />

in anonymisierter Form 17 die Anzahl der Patienten<br />

festzuhalten, die möglicherweise ein Organ im<br />

Ausland gekauft haben.<br />

2. An die Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

– Gewährleistung der Freizügigkeit in Bezug auf das Einholen<br />

einer Zweitmeinung sowie für die Wahl des Ortes<br />

der Entnahme auch in den Kantonen mit einem eigenen<br />

Transplantations zentrum. Der Kantonsarzt des<br />

Wohnkantons des Empfängers darf die Kostengutsprache<br />

nicht verweigern, nur weil die Transplantation<br />

nicht im Trans plantations zentrum des Empfänger-<br />

Wohnkantons stattfindet.<br />

– Unterstützung der pauschalen Abgeltung der Spendernachsorge<br />

(siehe Empfehlungen an Versicherer).<br />

– Leistungsauftrag für das Lebend-Spenderregister.<br />

3. An den Gesetzgeber<br />

Die Empfehlungen an den Gesetzgeber beinhalten die nachfolgenden<br />

Punkte:<br />

– Rasche Anpassungen der Verordnungen zum Transplantationsgesetz<br />

an veränderte Voraus setzungen.<br />

– Anpassung der gesetzlichen Bestimmungen: Wenn die Kosten<br />

von der IV übernommen werden, z.B. bei Kindern<br />

mit einem Geburtsgebrechen, entsteht bezüglich der<br />

Entschädi gung für den Erwerbsausfall oder anderen Aufwand<br />

eine Deckungslücke, weil die IV diese Kosten nicht<br />

übernimmt. Dies steht im Widerspruch zu Art. 14 TxG.<br />

17 Das TxG bedroht an diversen Stellen Meldepflichtverletzungen mit Strafe<br />

(Art. 70 Abs. 1 lit. d), aber keine dieser Meldepflichten betrifft den Verdacht auf<br />

Organhandel. Also kommt in Spitälern mit öffentlich-rechtlichem Dienstverhältnis<br />

grundsätzlich Art. 320 Strafgesetzbuch (Verletzung des Amtsgeheimnisses) zur<br />

Anwendung und eine Meldung wäre nur nach vorgängiger Entbindung durch die<br />

vorgesetzte Behörde möglich.<br />

25


Zur Aufhebung dieses Widerspruchs soll das Bundesgesetz<br />

über die Invalidenversicherung re vidiert werden, so dass<br />

diese Kosten übernommen werden können.<br />

– Anpassung der Kostenregelung gemäss Art. 41 Abs. 2 KVG:<br />

Bei Einholen einer Zweitmei nung und Wunsch des Spenders<br />

nach Entnahme des Organs in diesem Zentrum sowie<br />

bei den nicht-gerichteten Spenden soll eine ausserkantonale<br />

Organ-Entnahme auch dann fi nanziert werden,<br />

wenn sich im Wohnkanton des Empfängers ein Transplantationszentrum<br />

befindet.<br />

– Finanzierung der Nachsorge von Spendern mit Wohnsitz<br />

im Ausland: Auch für Spender aus dem Ausland soll die<br />

Abklärung und Nachsorge sichergestellt werden.<br />

– Öffentlichkeitsarbeit: Im Rahmen der Information der<br />

Bevölkerung über die Transplantations medizin gemäss<br />

Art. 61 ff. TxG: angemessener Ein bezug der Lebend spende<br />

in die Öffentlichkeitsarbeit.<br />

– Schaffung einer separaten (zentralen) Allokationsliste für<br />

nicht-gerichtete Spenden, welche das Kriterium des medizinischen<br />

Nutzens des Organs für den Empfänger stärker<br />

gewichtet und damit das Risiko, welches der Spender eingeht,<br />

mitberücksichtigt.<br />

– Priorisierung von Lebendspendern bei späterem Bedarf<br />

eines Spendeorgans.<br />

4. An die Versicherer<br />

4.1. Etablierung einer pauschalen Abgeltung<br />

Die lebenslange Nachverfolgung des Gesundheitszustandes<br />

ist Bestandteil des Aufwandes, den der Versicherer des Empfängers<br />

übernehmen muss (Art. 14 TxG). Aus Gründen der<br />

Praktikabilität sollten sich die Vertragspartner auf die Abgeltung<br />

durch einen Pauschalbetrag zum Zeitpunkt der Spende<br />

einigen. Diese soll durch eine neutrale Instanz aufgrund der<br />

durch schnittlichen Gesamtkosten festgelegt und periodisch<br />

überprüft werden. Die Pauschale soll gemeinsam von den Kantonen<br />

und Versicherern getragen werden.<br />

Für eine pauschale Abgeltung sprechen vor allem Argumente<br />

der Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit:<br />

– Verminderung des administrativen Aufwands;<br />

– Gewährleistung einer einheitlichen Durchführung der<br />

Nachsorge;<br />

26


– Vermeidung von Problemen bei Wechsel des Versicherers<br />

oder Tod des Empfängers;<br />

– Vermeidung einer unnötigen Belastung der Solidargemeinschaft.<br />

4.2. Keine Benachteilung beim Abschluss von<br />

Versicherungen<br />

Lebendspender sind in der Regel gesund und haben eine höhere<br />

Lebenserwartung als die Durchschnittsbevölkerung. Sie<br />

dürfen deshalb auf Grund ihrer Spende nicht beim Abschluss<br />

von Versicherungen (z.B. Lebensversicherungen, Zusatzversicherung<br />

Krankenkasse) be nachteiligt werden.<br />

27


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Verantwortliche<br />

Subkommission:<br />

Beigezogene<br />

Experten<br />

Vernehmlassung<br />

Genehmigung<br />

Am 18. Oktober 2005 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW<br />

eine Subkommission mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Lebend spende<br />

von soliden Organen beauftragt.<br />

Prof. Dr. med. Jürg Steiger, Basel (Vorsitz)<br />

Dr. phil., Dr. theol. Christoph Arn, Scharans<br />

Dr. med. Isabelle Binet, St. Gallen<br />

Prof. Dr. med. Alexander Kiss, Basel<br />

Dr. phil. Margrit Leuthold, SAMW, Basel<br />

Dr. med. Hans-Peter Marti, Bern<br />

Prof. Dr. med. Gilles Mentha, Genf<br />

Monika Perruchoud, Pflege, Genf<br />

Prof. Dr. med. Claude Regamey, Präsident ZEK, Fribourg<br />

lic. iur. Michelle Salathé, SAMW, Basel<br />

Prof. Dr. med. Gilbert Thiel, Bottmingen<br />

PD Dr. med. Markus Weber, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Nikola Biller-Andorno, Zürich<br />

Dr. iur. Verena Bräm, Kilchberg<br />

Dr. med. Inès Rajower, Bern<br />

Dr. med. vet. Theodor Weber, Bern<br />

Am 29. November 2007 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung<br />

dieser Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 20. Mai 2008 vom<br />

Senat der SAMW genehmigt.<br />

Impressum<br />

Gestaltung<br />

vista point, Basel<br />

Druck<br />

Schwabe, Muttenz<br />

1. Auflage 1000 d, 500 f<br />

Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

Fax: +41 61 269 90 39<br />

E-mail: mail@samw.ch<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website<br />

www.samw.ch ETHIK verfügbar.<br />

Die SAMW ist Mitglied der<br />

Akademien der Wissenschaften Schweiz<br />

28


MEDIZIN-<br />

THISCHE<br />

Medizinische Behandlung<br />

und Betreuung von<br />

Menschen<br />

ICHTmit<br />

Behinderung<br />

LINIEN


Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen<br />

Medizinische Behandlung<br />

und Betreuung von Menschen<br />

mit Behinderung<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 20. Mai 2008.<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

Per 1. Januar 2013 erfolgte eine Anpassung an das Erwachsenenschutzrecht.


I. PRÄAMBEL 5<br />

II. RICHTLINIEN 7<br />

1. Geltungsbereich 7<br />

2. Grundsätze 8<br />

2.1. Achtung der Würde 8<br />

2.2. Respektierung der Autonomie 8<br />

2.3. Gerechtigkeit und Partizipation 9<br />

2.4. Berücksichtigung der Lebensqualität 9<br />

2.5. Fürsorge und Verantwortung 10<br />

2.6. Angemessene Behandlung und Betreuung 11<br />

2.7. Persönliche, kontinuierliche Betreuung und<br />

interdisziplinäre Zusammenarbeit 11<br />

2.8. Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld 12<br />

3. Kommunikation 12<br />

3.1. Information über die medizinische Behandlung und Betreuung 13<br />

3.2. Information über Diagnose und Prognose 14<br />

4. Entscheidungsprozesse 15<br />

4.1. Urteilsfähige Patienten 15<br />

4.2. Nicht urteilsfähige Patienten 16<br />

4.3. Entscheidungsfindung im Betreuungsteam 17<br />

5. Behandlung und Betreuung 17<br />

5.1. Ätiologische Diagnostik 17<br />

5.2. Gesundheitsförderung und Prävention 17<br />

5.3. Akuttherapie 18<br />

5.4. Behandlung von psychischen Störungen 19<br />

5.5. Rehabilitation 19<br />

5.6. Palliative Care 20<br />

5.7. Sterben und Tod 21<br />

6. Dokumentation und Datenschutz 21<br />

6.1. Krankengeschichte und Pflegedokumentation 21<br />

6.2. Vertraulichkeit und Auskunftspflichten gegenüber Dritten 22<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung 22<br />

7.1. Definitionen 22<br />

7.2. Erkennen von Risikosituationen und Prävention 23<br />

7.3. Vorgehen bei konkretem Verdacht 24


8. Sexualität 24<br />

8.1. Konsequenzen und Risiken sexueller Aktivität 25<br />

8.2. Antikonzeption und Sterilisation 25<br />

8.3. Elternschaft 27<br />

8.4. Schutz vor sexuellem Missbrauch 27<br />

9. Lebensabschnitte und Übergänge 28<br />

9.1. Übergang vom Kindes- ins Erwachsenenalter 28<br />

9.2. Übergang ins höhere Alter 29<br />

9.3. Übertritt in eine soziale oder sozial-medizinische Institution 30<br />

10. Forschung 31<br />

III. EMPFEHLUNGEN 32<br />

1. An politische Instanzen und Kostenträger 32<br />

2. An Institutionen des Gesundheitswesens und der Medizin 32<br />

3. An soziale und sozial-medizinische Institutionen zur Betreuung<br />

von Menschen mit Behinderung 33<br />

IV. ANHANG 34<br />

Glossar 34<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 36


I. PRÄAMBEL<br />

Eine bedeutende Anzahl 1 von Menschen aller Lebensalter ist im Laufe des Lebens<br />

selber von Behinderung 2 betroffen. Ihre Stellung in der Gesellschaft wurde<br />

in den letzten Jahrzehnten vermehrt reflektiert und in den Kontext der allgemeinen<br />

Menschenrechte gestellt. 3 Menschen mit Behinderung sind in mehrfacher<br />

Weise bedroht: durch bevormundende Einschränkung der selbstbestimmten Lebensführung<br />

oder durch Vernachlässigung, durch gesellschaftliche Barrieren oder<br />

durch aktive Ausgrenzung. Zur Abwehr solcher Bedrohungen sind die Anerkennung<br />

und Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung<br />

sowie die Beseitigung von Hindernissen für die freie Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben unerlässliche Voraussetzungen. Zudem ergibt sich die Notwendigkeit<br />

aktiver Schritte zum Einbezug von Menschen mit Behinderung in alle Gesellschaftsbereiche.<br />

Behinderungen variieren in ihrer Art, in ihrem Schweregrad, in ihrer Dauer und<br />

in ihrem sozialen Kontext in einem ausserordentlich breiten, kontinuierlichen<br />

Spektrum. Ihre Bedeutung für die medizinische 4 Behandlung und Betreuung kann<br />

dementsprechend sehr unterschiedlich sein.<br />

Eine Behinderung kann in direktem Zusammenhang mit der Behandlung stehen:<br />

präventive, kurative, rehabilitative und palliative Massnahmen sollen die Auswirkungen<br />

der angeborenen oder erworbenen Beeinträchtigung beseitigen oder vermindern.<br />

Sie kann die Behandlung und Betreuung aber auch nur indirekt beeinflussen:<br />

Auch wenn Gesundheitsstörungen in keinem direkten Zusammenhang mit einer<br />

Behinderung stehen, kann diese für den Verlauf der Krankheit oder die diagnostischen<br />

und therapeutischen Möglichkeiten wichtig sein. Es muss deshalb eine der<br />

besonderen Situation angepasste Vorgehensweise gewählt werden.<br />

In vielen Fällen steht die Behinderung aber in keinem relevanten Zusammenhang<br />

zur Gesundheitsstörung, die behandelt werden muss. In diesen Situationen<br />

ist eine von der üblichen Therapie abweichende Behandlung ebenso wenig gerechtfertigt,<br />

wie es eine Diskriminierung nach Geschlecht oder Nationalität wäre.<br />

1 Vgl. Murray CJL, Lopez AD. Quantifying disability: data, methods and results. Bull World Health Organ. 1994;<br />

72(3): 481 – 494.<br />

www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2486704/pdf/bullwho00414-0157.pdf<br />

2 Vgl. zur Definition von «Behinderung» Kap. 1 und Definition im Glossar.<br />

3 Vgl. die am 13.12. 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Ratifikation freigegebene<br />

«Menschenrechtskonvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen»<br />

(www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml) sowie Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002<br />

über die Beseitigung von Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen (BehiG).<br />

4 Der Begriff «medizinisch» wird nachfolgend umfassend verwendet und bezieht sich auf die Tätigkeit von<br />

Ärzten, Pflegenden und Therapeuten.<br />

5


Ziel der Richtlinien ist es,<br />

− den Anspruch aller Menschen mit Behinderung auf angemessene Behandlung<br />

und Betreuung zu bekräftigen;<br />

− auf die entscheidende Rolle aufmerksam zu machen, die eine gute medizinische<br />

Behandlung und Betreuung für die Unterstützung von Menschen mit<br />

Behinderung in ihrem Streben nach Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe<br />

spielt;<br />

− Ärzten 5 , Pflegenden und Therapeuten in den Richtlinien eine Hilfe zu bieten<br />

für den Umgang mit Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen;<br />

− gesellschaftlichen Institutionen und politischen Instanzen Empfehlungen abzugeben,<br />

wie günstige Rahmenbedingungen für eine gute medizinische Behandlung<br />

und Betreuung von Menschen mit Behinderung errichtet werden<br />

können.<br />

Sie schliessen damit die in den Richtlinien zur «Behandlung und Betreuung von<br />

älteren pflegebedürftigen Menschen» 6 bewusst offen gelassene Lücke der Behandlung<br />

und Betreuung jüngerer pflegebedürftiger Personen, sind aber auch für die<br />

Behandelnden und Betreuenden von Patienten mit Behinderung, die nicht pflegebedürftig<br />

sind, von Belang.<br />

5 Die entsprechenden Texte betreffen immer beide Geschlechter der genannten Personengruppen.<br />

6 Vgl. «Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen». Medizin-ethische Richtlinien<br />

der SAMW.<br />

6


II.<br />

RICHTLINIEN<br />

1. Geltungsbereich<br />

Die vorliegenden Richtlinien richten sich an Ärzte 7 , Pflegende und Therapeuten,<br />

die Menschen mit Behinderung medizinisch behandeln und betreuen oder als<br />

Gutachter beurteilen 8 , sei dies zu Hause oder in medizinischen, sozial-medizinischen<br />

oder sozialen 9 Institutionen.<br />

«Behinderung» bezeichnet im Folgenden die erschwerenden Auswirkungen eines<br />

angeborenen oder erworbenen Gesundheitsproblems 10 auf die alltäglichen Aktivitäten<br />

der betroffenen Person und auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.<br />

Die Behinderung resultiert aus dem Wechselspiel zwischen körperlicher Schädigung,<br />

funktioneller Beeinträchtigung 11 und sozialer Einschränkung der betroffenen<br />

Person sowie den behindernden oder fördernden Umständen und den Erwartungen<br />

ihres Lebensumfeldes. Ihre Ausprägung und ihr subjektives Erleben<br />

werden moduliert durch die Persönlichkeitsmerkmale des einzelnen Menschen<br />

mit Behinderung 12 .<br />

Die Richtlinien beschränken sich bewusst nicht auf bestimmte Behinderungsformen,<br />

sondern sollen in allen Fällen zur Anwendung kommen, in denen eine<br />

Behinderung den Behandlungs- und Betreuungsprozess massgeblich prägt. Einzelne<br />

Abschnitte dieser Richtlinien können demnach für die Betreuung von Menschen<br />

mit verschiedenen Behinderungsformen und -graden von unterschiedlicher<br />

Relevanz sein.<br />

7 Mit Aufnahme in die Standesordnung der <strong>FMH</strong> werden die Richtlinien für <strong>FMH</strong>-Mitglieder verbindliches<br />

Standesrecht.<br />

8 Die Richtlinien wenden sich primär an Fachpersonen der Medizin, sie sprechen aber auch Fach personen<br />

im Bereich Sozialpädagogik, Agogik usw. an.<br />

9 Zur Definition von «sozialer Institution» vgl. Glossar.<br />

10 Zur Definition von «Gesundheitsproblem» vgl. Glossar.<br />

11 Dies umfasst sowohl Störungen motorischer und sensorischer Körperfunktionen wie auch Beeinträchtigungen<br />

kognitiver und anderer psychischer Funktionen.<br />

12 Zur Herkunft der Definition von «Behinderung» vgl. Glossar.<br />

7


2. Grundsätze<br />

Im Folgenden werden die Grundwerte, Haltungen und Handlungsweisen hervorgehoben,<br />

von denen diese Richtlinien ausgehen.<br />

2.1. Achtung der Würde<br />

Die Würde 13 ist mit dem Menschsein gegeben, ist also unabhängig von den körperlichen,<br />

geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen eines Menschen oder<br />

von einem bestimmten Kontext. In diesem Sinn muss die Würde bedingungslos<br />

respektiert werden. In Situationen der Schwäche ist die Gefahr, dass die Würde<br />

missachtet wird, besonders gross.<br />

Die Würde des Patienten 14 zu achten bedeutet für die Behandelnden und Betreuenden:<br />

− den Menschen mit Behinderung in seiner Einzigartigkeit zu sehen und ihm<br />

individuell als Mann oder Frau, gemäss seinem Alter und seiner Entwicklung<br />

zu begegnen;<br />

− der besonderen Verletzbarkeit des Patienten sowohl im Verhalten als auch in<br />

der Kommunikation Rechnung zu tragen und ihm mit Respekt, Einfühlung<br />

und Geduld zu begegnen;<br />

− den Patienten in seinen Bemühungen um ein selbstbestimmtes und<br />

integriertes Leben zu unterstützen;<br />

− sich über bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechenschaft<br />

abzulegen;<br />

− sich bewusst zu machen, dass Vorstellungen von Normalität und Anderssein,<br />

Partizipation und Ausgrenzung von der eigenen Perspektive abhängen.<br />

2.2. Respektierung der Autonomie<br />

Jede Person hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dies gilt auch dann, wenn eine<br />

Behinderung zu einer Einschränkung der Autonomiefähigkeit führt. Autonomiefähig<br />

ist eine Person, die in der Lage ist, ihre Lebenssituation zu erfassen, daraus<br />

Entscheidungen abzuleiten, die in Übereinstimmung mit ihren Werten und Überzeugungen<br />

stehen, und ihren diesbezüglichen Willen auszudrücken.<br />

Autonomie zu respektieren bedeutet für die Behandelnden und Betreuenden:<br />

− die notwendigen Teilprozesse der Autonomiefähigkeit (Erfassen der Situation,<br />

Erkennen von unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten und ihren<br />

Konsequenzen, deren Wertung aufgrund der eigenen Präferenzen, Äusserung<br />

von getroffenen Entscheidungen und Wünschen sowie deren Umsetzung)<br />

ohne Druck und empathisch zu unterstützen;<br />

13 Zum Konzept der «Würde» vgl. Glossar.<br />

14 Immer, wenn von Menschen mit Behinderung als Empfängern von medizinischen Leistungen die Rede<br />

ist, wird bewusst von Patienten und nicht allgemeiner von Personen oder Menschen gesprochen, um<br />

der primär medizinischen Bedeutung dieser Richtlinien gerecht zu werden.<br />

8


− bei Patienten mit eingeschränkter Autonomiefähigkeit zu ermitteln, welche<br />

Teilfähigkeiten vorhanden sind und wie diese bei der Entscheidfindung berücksichtigt<br />

werden können;<br />

− dem Patienten nahe stehende Personen zur Unterstützung der Kommunikation<br />

einzubeziehen, soweit dies dem Wunsch bzw. dem Interesse des Patienten entspricht;<br />

− für die Kommunikation genügend Zeit und die nötigen Hilfsmittel aufzuwenden;<br />

− sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass das notwendige Erspüren des Patientenwillens<br />

durch Empathie sowohl beim Betreuungsteam als auch bei den<br />

Angehörigen 15 die Gefahr der Projektion eigener Wünsche und Vorurteile mit<br />

sich bringt.<br />

2.3. Gerechtigkeit und Partizipation<br />

In einer am Grundsatz der Gerechtigkeit orientierten Gesellschaft hat die gleichberechtigte<br />

Teilhabe aller Mitglieder am gesellschaftlichen Leben einen hohen<br />

Stellenwert. Da eine Einschränkung der Partizipationsmöglichkeiten oft eine der<br />

wesentlichen Konsequenzen einer Schädigung oder Funktionseinbusse ist, stellt<br />

die Gesellschaft für Menschen mit Behinderung besondere Ressourcen zur Verfügung.<br />

Eine wichtige Komponente dieser gesellschaftlichen Leistung ist die medizinische<br />

Behandlung und Betreuung. Diese hat sich deshalb stets auch an den Auswirkungen<br />

ihrer Massnahmen auf die Partizipationsmöglichkeiten des Patienten<br />

zu orientieren. Als Unterstützung dafür dient die ICF-Klassifikation der WHO. 16<br />

2.4. Berücksichtigung der Lebensqualität<br />

Die medizinische Behandlung und Betreuung von Patienten mit Behinderung ist<br />

immer auch im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität zu beurteilen.<br />

Die Lebensqualität adäquat zu berücksichtigen, sei dies systematisch mittels<br />

eines validierten Instruments oder rein situationsbezogen, bedeutet für die<br />

Behandelnden und Betreuenden:<br />

− das subjektive Erleben des Patienten, insbesondere seine Zufriedenheit mit seiner<br />

Lebenssituation, in den Vordergrund zu stellen;<br />

− die für die Fragestellung relevanten Dimensionen der Lebensqualität (physisch,<br />

emotional, intellektuell, spirituell, sozial und ökonomisch) zu erfassen;<br />

− die Gewichtung der verschiedenen Aspekte der Lebensqualität aus der Sicht des<br />

Patienten zu achten;<br />

− bei Patienten mit beeinträchtigten Kommunikationsmöglichkeiten das subjektive<br />

Erleben des Patienten so weit wie möglich aufgrund objektivierbarer Beobachtungen<br />

zu erschliessen;<br />

15 Als «Angehörige» werden der Lebenspartner und die nächsten Verwandten eines Patienten sowie ihm<br />

nahe stehende Personen bezeichnet.<br />

16 Vgl. Glossar unter «Behinderung».<br />

9


− bei der Anwendung der Beobachtung als Zugang zum subjektiven Erleben des<br />

Patienten sich die Gefahr der Projektion eigener Vorurteile und Wünsche bewusst<br />

zu machen;<br />

− die Lebensqualität von Angehörigen und Betreuenden, die oft eng verknüpft<br />

mit derjenigen des Patienten ist, explizit zu thematisieren und getrennt zu beurteilen.<br />

Die Beurteilung medizinischer Massnahmen unter dem Aspekt der Lebensqualität<br />

wird erschwert, wenn der Patient die Auswirkungen nicht selbst abschätzen<br />

kann oder in seinen Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt ist. Besonders<br />

heikel ist der Einsatz von medizinischen Massnahmen, die zwar längerfristig<br />

die Lebensqualität verbessern oder aufrechterhalten können, diese aber vorübergehend<br />

beeinträchtigen. Bei Patienten, die nicht selbst entscheiden können<br />

und deren mutmasslicher Wille nicht bekannt ist, hat die Abwägung gestützt auf<br />

die medizin-ethischen Prinzipien «Gutes Tun» und «Nicht-Schaden» zu erfolgen.<br />

2.5. Fürsorge und Verantwortung<br />

Bei manchen Menschen mit schweren Behinderungen reichen die Gewährung<br />

der Selbstbestimmung und der Abbau von Schranken der Partizipation nicht aus,<br />

sie benötigen besondere Fürsorge durch betreuende Personen. Das Angewiesensein<br />

auf Fürsorge begründet Abhängigkeiten, die das Selbstwertgefühl der Betroffenen<br />

stören und sie verletzlich für Missbrauch durch andere machen können. Es<br />

ist wichtig, dass Betreuende und Betreute sich vor Augen halten, dass Abhängigkeiten<br />

zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens gehören.<br />

Die Fürsorgebedürftigkeit von Menschen mit Behinderung verlangt die Übernahme<br />

von Verantwortung durch Betreuende, sei es in der Familie, durch persönliche<br />

Assistenz 17 oder in sozialen oder sozial-medizinischen Institutionen.<br />

Die Betreuung von Menschen mit Behinderung kann befriedigend, aber auch herausfordernd<br />

und belastend sein. Ein übersteigertes Verantwortungsgefühl verstärkt<br />

sowohl die Abhängigkeit der betreuten wie auch die Verletzbarkeit der betreuenden<br />

Person. Die Vorstellung, allein für das Wohl des betreuten Menschen<br />

verantwortlich zu sein, kann zum Raubbau an den eigenen Kräften bis zur Erschöpfung<br />

führen. Sie kann auch anfällig machen für Kränkungen durch die Umgebung,<br />

die scheinbar oder tatsächlich zu wenig Verständnis aufbringt. Wenn<br />

die betreute Person ihrerseits die wechselseitige Abhängigkeit vom Betreuer ausnützt,<br />

um inadäquate Forderungen zu stellen, kann dadurch die Situation zusätzlich<br />

kompliziert werden.<br />

17 Mit persönlicher Assistenz werden alle Formen der Unterstützung bezeichnet, bei welchen die Betroffenen<br />

selber bestimmen, wer ihnen wo, wann und wie behilflich ist. Die erbrachten Leistungen werden in<br />

der Regel durch den Auftraggeber selber abgegolten.<br />

10


In der medizinischen Betreuung ist auf Abhängigkeiten von Menschen mit Behinderung<br />

sowie auf eine besondere Verletzbarkeit von Betreuenden zu achten und<br />

ihnen situationsgerecht Rechnung zu tragen.<br />

2.6. Angemessene Behandlung und Betreuung<br />

Jeder Mensch hat Anspruch auf eine angemessene Behandlung und Betreuung.<br />

Dies bedeutet einerseits, dass keine indizierte präventive, kurative oder palliative<br />

Massnahme aufgrund einer bestehenden Schädigung oder Beeinträchtigung<br />

vorenthalten werden darf. Jede Diskriminierung im Zugang zu Leistungen des<br />

Gesundheitswesens ist zu vermeiden. Andererseits erfordert eine angemessene<br />

Behandlung und Betreuung auch, dass die Auswirkungen der vorbestehenden<br />

Schädigung auf den möglichen Therapieerfolg berücksichtigt und die individuellen<br />

Wünsche und Bedürfnisse des Patienten gebührend beachtet werden. Ausschlaggebendes<br />

Kriterium für die Angemessenheit einer Massnahme ist ihr positiver<br />

Einfluss auf Lebensqualität und Lebensdauer.<br />

2.7. Persönliche, kontinuierliche Betreuung und<br />

interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

Menschen mit Behinderung haben oft vielfältige medizinische Probleme und<br />

werden deshalb häufig von Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen betreut.<br />

Regelmässige Aufenthaltswechsel zwischen Institution und Familie können<br />

zur gleichzeitigen oder sequentiellen Behandlung durch verschiedene Ärzte führen.<br />

Aus diesem Grund muss ein für den Patienten primär zuständiger Arzt, bei<br />

dem alle relevanten Informationen zusammenfliessen, bezeichnet sein. Bei einem<br />

Wechsel der Zuständigkeit, z.B. beim Übergang ins Erwachsenenalter, muss eine<br />

sorgfältige Übergabe stattfinden, am besten in einem direkten Gespräch beider<br />

Ärzte mit dem Patienten.<br />

Die Pflege und im medizinischen Umfeld angebotene nichtärztliche Therapien<br />

sind in die beschriebene persönliche und kontinuierliche Betreuung einzubeziehen.<br />

Es muss für die gegenseitige Information und Koordination aller involvierten<br />

Ärzte, Pflegenden und Therapeuten gesorgt werden, sofern der Patient damit einverstanden<br />

ist. Oft sind auch Angehörige sozialer und pädagogischer Berufe einzubeziehen.<br />

Die interdisziplinäre Koordination kann fallbezogen geschehen, z.B.<br />

in sogenannten Helferkonferenzen bei Krisensituationen. Für die Langzeitbetreuung<br />

spezifischer Behinderungsformen sind spezialisierte, interdisziplinäre, ambulante<br />

Sprechstunden die optimale Lösung.<br />

11


Für Patienten mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung kann der Kontakt<br />

mit vielen verschiedenen Ärzten verwirrend und beängstigend sein. Dadurch<br />

werden sie in ihrer ohnehin eingeschränkten Autonomiefähigkeit zusätzlich beeinträchtigt.<br />

Eine Vertrauensperson, die mit der Krankengeschichte des Patienten<br />

gut bekannt ist, soll ihn deshalb zu allen Arztbesuchen begleiten dürfen.<br />

2.8. Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld<br />

Bei der Behandlung und Betreuung von Patienten mit Behinderung in sozialen<br />

und sozial-medizinischen Institutionen oder im Akutspital sollen der behandelnde<br />

Arzt und die Ansprechperson der Pflege guten Kontakt zu den nahen Bezugspersonen<br />

des Patienten unterhalten. Angehörige von pflegebedürftigen Patienten<br />

mit Behinderung haben bei deren Betreuung meist grosse Verantwortung<br />

übernommen; ihre Erfahrung in der Interpretation von Symptomen und ihre<br />

intime Kenntnis von Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen des Patienten<br />

sind deshalb als wichtige Entscheidungshilfen stets ernst zu nehmen.<br />

Die Betreuung von pflegebedürftigen Patienten mit Behinderung zuhause führt<br />

oft zu grossen Belastungen. Ärzte, Pflegende und Therapeuten haben die Aufgabe,<br />

die Angehörigen oder andere betreuende Personen zu beraten und zu unterstützen.<br />

3. Kommunikation<br />

Eine offene, adäquate und einfühlsame Kommunikation mit dem Patienten ist<br />

Voraussetzung und Bestandteil jeder guten Behandlung und Betreuung. Nicht<br />

alle Patienten mit Behinderung benötigen eine Unterstützung oder spezielle<br />

Kommunikationsformen. Diese Patienten in ihren Fähigkeiten zu unterschätzen<br />

kann kränkend sein.<br />

Für Patienten mit spezifischen Bedürfnissen muss die Kommunikationsweise der<br />

jeweiligen Situation angepasst werden. Es ist darauf zu achten, dass<br />

− das Gespräch wenn möglich an einem dem Patienten bekannten Ort mit vertrauten<br />

Gesprächspartnern stattfindet;<br />

− wegen einer Seh- oder Hörbehinderung benötigte Hilfsmittel optimal eingesetzt<br />

werden und die Umgebungsbedingungen (Lichtverhältnisse, Hintergrundlärm)<br />

für ein Gespräch günstig sind;<br />

− die das Gespräch führende Medizinalperson sich mit dem intellektuellen Niveau,<br />

auf dem mit dem Patienten kommuniziert werden kann, vertraut gemacht<br />

hat und mit allenfalls benötigten Kommunikationshilfsmitteln (Piktogramme,<br />

Zeigetafeln, Computer usw.) umgehen kann;<br />

12


− allenfalls benötigte Drittpersonen, wie Dolmetscher, z.B. für die Gebärdensprache,<br />

bzw. Angehörige oder enge Betreuungspersonen, welche die nicht sprachlichen<br />

Zeichen des Patienten gut verstehen oder sogar über ein eigenes Kommunikationssystem<br />

mit ihm verfügen, anwesend sind;<br />

− von Anfang an der unter Umständen vermehrte Zeitbedarf des Menschen mit<br />

Behinderung zur Aufnahme, Verarbeitung und Vermittlung von Informationen<br />

eingeplant wird;<br />

− der Patient auch bei erschwerter Kommunikation immer direkt angesprochen<br />

und auf keinen Fall über seinen Kopf hinweg diskutiert und entschieden wird.<br />

3.1. Information über die medizinische Behandlung und Betreuung<br />

Eine ausreichende und verständliche Information über alle vorgesehenen ärztlichen,<br />

pflegerischen oder therapeutischen Massnahmen ist notwendig, damit<br />

Patienten ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können. Durch eine Behinderung<br />

kann die Möglichkeit, routinemässig vermittelte Informationen zu verstehen<br />

oder sich aktiv um zusätzliche Erläuterungen und Kenntnisse zu bemühen,<br />

eingeschränkt sein. Insbesondere Patienten mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung<br />

oder mit eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sind in<br />

hohem Grade abhängig von der Art und Weise, wie sie informiert werden.<br />

Das Verständnis der dargebotenen Information und die Entscheidfindung können<br />

erleichtert und dem Patienten Sicherheit und Orientierung vermittelt werden,<br />

wenn der medizinische Gesprächspartner:<br />

− auf eine einfache Sprache achtet (kurze Sätze, Vermeiden von Fremdwörtern,<br />

Abkürzungen und unterschiedlichen Bezeichnungen für gleiche Begriffe);<br />

− langsam und deutlich und mit Blickkontakt auf Augenhöhe spricht;<br />

− die Information in kleine Portionen aufteilt;<br />

− Aussagen in Variationen wiederholt und mit Gesten, Bildern, Piktogrammen<br />

etc. unterstützt;<br />

− dem Patienten geplante medizinische Massnahmen durch das Vorführen von<br />

Abläufen, das Zeigen von Instrumenten und den Besuch von Örtlichkeiten näher<br />

bringt.<br />

13


Der Einbezug von Drittpersonen (Angehörige, Beistände, Vertrauenspersonen)<br />

richtet sich nach den Regeln in Kapitel 4. Dabei ist zu beachten, dass diese in unterschiedlichen<br />

Rollen auftreten können:<br />

− Drittpersonen können unverzichtbare Hilfen in der Kommunikation zur Ermittlung<br />

des Patientenwillens leisten.<br />

− Drittpersonen können sich gemäss den Regeln in Kapitel 4 an stellvertretenden<br />

Entscheiden bei urteilsunfähigen Patienten beteiligen.<br />

− Drittpersonen können auch als Vertreter ihrer eigenen Interessen auftreten,<br />

die sich nicht unbedingt mit dem Patienteninteresse decken müssen.<br />

Diese Rollen sind unter Umständen schwer auseinander zu halten. In vielen Fällen<br />

ist es deshalb wichtig, auch ein Gespräch mit dem Patienten allein zu führen.<br />

3.2. Information über Diagnose und Prognose<br />

Eine für alle sehr schwierige Situation ist die Information des Patienten oder seiner<br />

Angehörigen über eine Diagnose, die zu einer Behinderung führt oder führen<br />

könnte. Dies kann eine einmalige Aufgabe sein oder auch im Verlaufe fortschreitender<br />

Leiden mehrmals notwendig werden. Es braucht besonderes Einfühlungsvermögen,<br />

um ein realistisches Bild der Beeinträchtigung und ihrer Folgen zu<br />

vermitteln, ohne alle Hoffnungen zu zerstören. Dazu muss genügend Zeit zur<br />

Verfügung stehen, damit die betroffenen Personen die Nachricht verarbeiten<br />

und erste Fragen stellen können. Das erste Gespräch sollte nicht mit Ratschlägen<br />

überfrachtet sein, da die intellektuelle Aufnahmefähigkeit oft durch Emotionen<br />

beeinträchtigt ist. Die betroffenen Personen sollen in verständlicher Form über<br />

die Beeinträchtigung, ihre Auswirkungen und allfällige Therapien aufgeklärt werden.<br />

Sie sollen insbesondere auch auf existierende Selbst- und Fachhilfen resp.<br />

Informationsmöglichkeiten und die Möglichkeit psychologischer Unterstützung<br />

hingewiesen werden. Besondere Aufmerksamkeit ist auf die bei solchen Gesprächen<br />

bewusst oder unbewusst vermittelten, nicht verbalen Botschaften zu richten,<br />

da diese den Betroffenen sehr nahe gehen. Oft bleibt lebenslang unvergessen,<br />

ob der Gesprächspartner Abwertung, Abgrenzung und Hoffnungslosigkeit<br />

oder Wertschätzung, Empathie und Zuversicht gezeigt hat.<br />

14


4. Entscheidungsprozesse<br />

Entscheidungsverfahren und Strukturen müssen die spezifische Situation des Patienten<br />

berücksichtigen. Insbesondere soll darauf geachtet werden, dass der Patient<br />

und seine allfälligen Vertreter ausreichend und verständlich informiert werden<br />

(vgl. Kap. 3.) und Entscheidungen ohne Druck fällen können.<br />

4.1. Urteilsfähige Patienten<br />

Ärzte, Pflegende und Therapeuten dürfen eine Behandlung oder Betreuung nur<br />

mit der freien Einwilligung des urteilsfähigen 18 , informierten Patienten durchführen.<br />

Auch Minderjährige und verbeiständete Erwachsene können in Bezug auf ihre Angelegenheiten<br />

urteilsfähig sein und über eine medizinische Behandlung und Betreuung<br />

entscheiden. Im Vorfeld einer solchen Entscheidung muss die Urteilsfähigkeit<br />

sorgfältig abgeklärt werden.<br />

Es ist Pflicht der Fachleute, Minderjährige oder verbeiständete Erwachsene soweit<br />

als möglich in Entscheidungen einzubeziehen und ihre Zustimmung zu erhalten.<br />

Sie sollen beim Entscheid nicht überfordert werden; es soll aber auch nicht über<br />

sie entschieden werden, wenn sie willens und fähig sind, Entscheidungen über<br />

ihre Behandlung und Betreuung aktiv mitzutragen. Bei Entscheidungen von grosser<br />

Tragweite sollen die Inhaber der elterlichen Sorge bzw. der Beistand einbezogen<br />

werden, sofern dies der Patient nicht ablehnt.<br />

Ist ein minderjähriger oder ein verbeiständeter Patient mit einer vorgeschlagenen<br />

Behandlung und Betreuung, welche er in ihrer Bedeutung und Tragweite versteht,<br />

nicht einverstanden, darf diese nicht durchgeführt werden (vgl. aber Kap. 7.). Dabei<br />

ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob die Verweigerung wirklich seinem freien<br />

Willen entspricht . 19<br />

Bei manchen Patienten (insbesondere bei einer psychischen Beeinträchtigung)<br />

kann die Urteilsfähigkeit im Laufe der Zeit wechselhaft ausgeprägt sein. Ist ein Patient<br />

vorübergehend urteilsunfähig, darf eine Behandlung nur durchgeführt werden,<br />

wenn diese unaufschiebbar ist. Für die Entscheidung über die Behandlung<br />

gelten die Regeln gemäss Ziff. 4.2.<br />

18 Urteilsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, sich Urteil und Wille zu bilden<br />

sowie die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern.<br />

19 Starke Emotionen wie z.B. Ängste können das Vorhandensein der Urteilsfähigkeit in Frage stellen,<br />

sodass nicht mehr von einer autonomen Willensäusserung gesprochen werden kann.<br />

15


4.2. Nicht urteilsfähige Patienten<br />

Entscheidungen über die Behandlung und Betreuung von Patienten, die nie urteilsfähig<br />

waren, 20 sollen sich ausschliesslich an deren wohlverstandenen Interessen<br />

orientieren und im Konsens mit den nach Gesetz vertretungsberechtigten<br />

Personen 21 getroffen werden. Der nicht urteilsfähige Patient soll dennoch so weit<br />

als möglich in die Entscheidfindung mit einbezogen werden.<br />

War der Patient zu einem früheren Zeitpunkt urteilsfähig, entscheiden die vertretungsberechtigten<br />

Personen gemäss dem mutmasslichen Willen und dem wohlverstandenen<br />

Interesse des Patienten. Falls eine gültige Patientenverfügung 22 vorliegt,<br />

entscheidet der Arzt gemäss den Weisungen dieser Verfügung, ausser er habe<br />

begründete Zweifel, dass die Verfügung auf freiem Willen beruht oder noch dem<br />

mutmasslichen Willen des Patienten entspricht. Der mutmassliche Wille ist mit<br />

Hilfe von Personen, die dem Patienten nahe stehen, zu eruieren. Gibt es keine<br />

Person, die zur Vertretung berechtigt ist, soll die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde<br />

kontaktiert werden.<br />

Verweigern die vertretungsberechtigten Personen ihre Zustimmung zu einer im<br />

Interesse des Patienten liegenden Behandlung, ist die Erwachsenen- bzw. Kindesschutzbehörde<br />

zu informieren. Reicht die Zeit zur Information der Behörde<br />

infolge Dringlichkeit 23 nicht aus, sollen und dürfen Eingriffe zur Lebensrettung<br />

oder zur Abwehr von schweren Folgeschädigungen im Interesse des urteilsunfähigen<br />

Patienten auch gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Vertreters vorgenommen<br />

werden.<br />

20 Es handelt sich hier um die sog. genuine resp. ursprüngliche Urteilsunfähigkeit bei Patienten, die seit<br />

Geburt nicht fähig waren, einen eingriffsrelevanten Willen zu bilden (z.B. Menschen mit einer schweren<br />

geistigen Behinderung).<br />

21 Das Gesetz erklärt folgende Personen bei medizinischen Massnahmen als vertretungsberechtigt:<br />

In erster Linie Personen, die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnet<br />

wurden. In zweiter Linie der Beistand mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen,<br />

danach Angehörige und weitere Bezugspersonen, die dem Patienten regelmässig persönlich<br />

Beistand leisten (Ehegatte bzw. eingetragener Partner, Personen im gleichen Haushalt, Nachkommen,<br />

Eltern, Geschwister). Für minderjährige Patienten sind die Inhaber der elterlichen Sorge vertretungsberechtigt.<br />

22 Vgl. «Patientenverfügungen». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

23 Zur Lebensrettung oder zur Abwehr schwerer Folgeschädigung darf eine unaufschiebbare Behandlung,<br />

Pflege oder Betreuung durchgeführt werden, wenn weder der Patient selbst noch sein Vertreter rechtzeitig<br />

einwilligen kann, oder wenn begründete Zweifel an der Gültigkeit einer Behandlungsverweigerung<br />

wegen Urteilsunfähigkeit oder Interessenkollision beim Vertreter bestehen.<br />

16


4.3. Entscheidungsfindung im Betreuungsteam<br />

Medizinische Behandlungen oder Betreuungsmassnahmen erfordern oft einen<br />

interdisziplinären Entscheidungsprozess. Bevor einem Patienten solche Behandlungen<br />

oder Massnahmen vorgeschlagen werden, sollen sie im Betreuungsteam<br />

diskutiert werden. Dabei soll ein Entscheid angestrebt werden, der von allen Beteiligten<br />

mitgetragen werden kann. Wesentliche Beschlüsse werden schriftlich festgehalten,<br />

regelmässig überprüft und allenfalls angepasst (vgl. Kap.6.).<br />

Die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit entbindet die behandelnden<br />

Ärzte, Pflegenden und Therapeuten nicht von ihrer Verantwortung für<br />

die Entscheidungen und Massnahmen in ihrem Zuständigkeitsbereich.<br />

5. Behandlung und Betreuung<br />

5.1. Ätiologische Diagnostik<br />

Menschen mit Behinderung haben ein Anrecht auf eine angemessene Diagnostik<br />

zur Erforschung der Natur und Ursache ihres Gesundheitsproblems. Eine möglichst<br />

präzise Abklärung der Ursachen einer Schädigung bzw. Beeinträchtigung<br />

kann dazu beitragen, dass die Betroffenen, ihre Angehörigen sowie die behandelnden<br />

und betreuenden Medizinalpersonen<br />

− präventive, kurative und rehabilitative Behandlungspläne zur direkten<br />

Beeinflussung der Beeinträchtigung spezifischer gestalten;<br />

− aufgrund der Ursache typischerweise zu erwartende Komplikationen und<br />

Zusatzerkrankungen besser verhüten, erkennen und behandeln;<br />

− die Tatsache der Beeinträchtigung besser in die Lebensgeschichte einordnen<br />

und verarbeiten können;<br />

− genetische Risiken im Hinblick auf die Familienplanung kennen und<br />

berücksichtigen.<br />

5.2. Gesundheitsförderung und Prävention<br />

Es ist darauf zu achten, dass Menschen mit Behinderung von allen Massnahmen<br />

der Gesundheitsförderung und Prävention profitieren können, die der Allgemeinbevölkerung<br />

angeboten werden. Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen sind<br />

in den dafür vorgesehenen Altersabschnitten oder Risikosituationen zu empfehlen<br />

und bei Einverständnis durchzuführen.<br />

17


Das der Behinderung zugrunde liegende Gesundheitsproblem, sowie die daraus<br />

resultierenden Lebensumstände können die Risikosituation im Vergleich<br />

zu Personen der Allgemeinbevölkerung verändern. So muss beispielsweise mit<br />

Risiken aufgrund von Bewegungsmangel, Fehlernährung, Selbstwertproblemen,<br />

Ängsten, Bedrohung durch Übergriffe oder Vernachlässigung vermehrt gerechnet<br />

werden. Betroffene und ihre Betreuer sollen in geeigneter Form über vorliegende<br />

Risiken aufgeklärt und über Möglichkeiten der Gesundheitsförderung informiert<br />

werden.<br />

Für viele genetische Störungen, Fehlbildungen oder chronische Krankheiten,<br />

die bei Patienten mit Behinderung vorkommen, haben medizinische Fachgesellschaften<br />

spezifische Vorsorgeprogramme aufgestellt und publiziert. Die darin<br />

empfohlenen regelmässigen Kontrolluntersuchungen erlauben eine optimale<br />

Früherkennung und Therapie von Komplikationen und Zusatzerkrankungen. Es<br />

gehört zur medizinischen Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung,<br />

ihnen den Zugang zu diesen Leistungen zu ermöglichen.<br />

5.3. Akuttherapie<br />

Das Recht auf unverzügliche medizinische Hilfe bei akuter Erkrankung oder Verletzung<br />

durch angemessene Diagnostik und wirksame Therapie gilt für alle Menschen<br />

unabhängig von Art und Ausmass einer Behinderung. Behinderungsspezifische<br />

Besonderheiten können die Anamneseerhebung, die Untersuchung, die<br />

Interpretation von Befunden und die Wahl und Applikation der bestmöglichen<br />

Therapie erschweren. Das der Behinderung zugrunde liegende Gesundheitsproblem<br />

oder die besondere Lebensweise können das Ansprechen auf Standardtherapien,<br />

insbesondere mit Medikamenten, verändern und unerwartete Nebenwirkungen<br />

auslösen. Dem soll einerseits durch den Beizug von Angehörigen,<br />

Betreuern und früheren behandelnden Medizinalpersonen, die den Patienten<br />

besser kennen, andererseits durch den Erwerb behinderungsspezifischer Kenntnisse<br />

aus der Literatur oder durch den konsiliarischen Beizug von Experten begegnet<br />

werden.<br />

Die Komplexität des Problems, die vor Ort verfügbaren Kompetenzen, die zeitliche<br />

Dringlichkeit und die geographischen Verhältnisse entscheiden darüber,<br />

ob eine Abklärung und Behandlung am Ort der Erstversorgung möglich ist, oder<br />

ob eine Verlegung in ein spezialisiertes Zentrum angestrebt werden soll. Dabei<br />

ist auch dem speziellen Pflegebedarf Rechnung zu tragen, der notwendig ist, um<br />

das bestehende Ausmass der Selbständigkeit aufrecht zu erhalten. Betreuungspersonen<br />

aus dem familiären oder institutionellen Umfeld sollen im Spital beratend<br />

und unterstützend, jedoch nicht als Ersatz für kompetentes Pflegepersonal,<br />

zugezogen werden.<br />

18


Nach Überwinden der Akutsituation muss frühzeitig abgeklärt werden, ob eine<br />

rasche Rückkehr in die früheren Lebensumstände möglich ist oder ob vorübergehend<br />

oder dauernd andere Lösungen gefunden werden müssen. Auch hierfür<br />

kann der Zuzug von Experten oder die Überweisung in eine spezialisierte Institution<br />

sinnvoll sein.<br />

5.4. Behandlung von psychischen Störungen<br />

Psychische Erkrankungen können zu einer vorübergehenden oder dauernden Beeinträchtigung<br />

führen oder eine Behinderungssituation komplizieren.<br />

Psychische Störungen können reaktiv auf eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung<br />

bzw. die durch diese bedingten Lebensumstände entstehen, jedoch<br />

auch ohne erkennbaren Zusammenhang zur vorbestehenden Behinderung auftreten.<br />

Oft bedarf es eines spezialisierten psychiatrischen Wissens, um psychische Störungen<br />

von Verhaltensauffälligkeiten abzugrenzen, die aufgrund von Kommunikationsstörungen<br />

oder ungeeigneten Lebensbedingungen resultieren. Ebenso<br />

braucht es spezielle Kenntnisse, um eine Diagnose zu stellen und die Behandlung<br />

durchzuführen. Insbesondere sind Probleme der Kommunikation und der Kognition<br />

aufgrund einer Behinderung zu erkennen und ein adäquates therapeutisches<br />

Setting zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen und Betreuenden<br />

aufzubauen. Psychoaktive Medikamente müssen nach fachlichen Kriterien und<br />

nicht mit dem primären Ziel, den Betreuungsaufwand zu reduzieren, eingesetzt<br />

werden. Sie sind bezüglich Wirkung und Nebenwirkungen im weiteren Verlauf<br />

sorgfältig zu überprüfen.<br />

Die oft über Jahre belastende Situation der Angehörigen und Betreuenden ist gebührend<br />

zu beachten und ihnen nötigenfalls Hilfe zu vermitteln.<br />

5.5. Rehabilitation<br />

Rehabilitation nach einer Krankheit oder einem Unfall, bzw. Habilitation nach angeborener<br />

oder frühkindlicher Schädigung umfasst alle medizinischen Massnahmen,<br />

welche die Auswirkungen nicht heilbarer Folgeschäden so weit als möglich<br />

vermindern, und hat deshalb für Menschen mit Behinderung ganz besondere Bedeutung.<br />

Körperliche, psychische und soziale Fähigkeiten und Möglichkeiten sollen<br />

möglichst weitgehend wiedererlangt, entwickelt und erhalten werden. Das Rehabilitationsteam<br />

mit spezifischer Schulung und Erfahrung und der Patient mit<br />

seinen persönlichen Lebensvorstellungen und -wünschen müssen gemeinsam<br />

das Rehabilitationspotential abschätzen und individuelle Rehabilitationsziele erarbeiten.<br />

19


Rehabilitation ist grundsätzlich langfristig angelegt und braucht deshalb genügend<br />

Zeit. Bei bestimmten Gesundheitsproblemen ist eine gezielte und intensive<br />

Rehabilitation nötig, die das Ausmass der Schädigung vermindern kann.<br />

Gleichzeitig muss aber der fortlaufenden Entwicklung Rechnung getragen werden.<br />

Diese kann durch Fortschreiten oder Besserung der zugrunde liegenden<br />

Krankheit, durch neu auftretende zusätzliche Erkrankungen, durch das zunehmende<br />

Alter sowie durch psychische und soziale Umbrüche oder schleichende<br />

Veränderungen gekennzeichnet sein. Es braucht deshalb lebenslänglich regelmässige<br />

Standortbestimmungen mit einer standardisierten Evaluation der bio-psycho-sozialen<br />

Situation. Daraus entstehen neue, angepasste Rehabilitationsziele,<br />

die eine wirksame und bedürfnisorientierte Weitertherapie ermöglichen.<br />

5.6. Palliative Care 24<br />

Angeborene oder erworbene Schädigungen oder Beeinträchtigungen können so<br />

schwer sein, dass von Anfang an oder infolge fortschreitender Verschlechterung<br />

eine verminderte Lebenserwartung ohne Heilungsaussicht besteht. Begleitend zu<br />

den rehabilitativen Anstrengungen ist deshalb ein ausreichendes Angebot von<br />

Massnahmen bereitzustellen, welche die körperlichen Symptome lindern und<br />

gleichzeitig die sozialen, seelisch-geistigen und religiös-spirituellen Bedürfnisse<br />

der Betroffenen berücksichtigen.<br />

Das Erkennen und Erfassen von körperlichen Symptomen wie Schmerz, Muskelverspannung,<br />

Übelkeit und Atemnot einerseits und negativen Emotionen<br />

wie Angst, Einsamkeit, Wut und Trauer andererseits ist bei Patienten mit eingeschränkter<br />

Kommunikationsfähigkeit sehr anspruchsvoll und erschwert eine angemessene<br />

Palliative Care. Die Kenntnis und Anwendung geeigneter Assessment-<br />

Instrumente sind in der Betreuung dieser Patienten unabdingbar.<br />

Bei der Interpretation neu aufgetretener oder sich verschlimmernder Symptome<br />

ist stets sorgfältig abzuklären, ob es sich um eine nicht beeinflussbare Verschlechterung<br />

der Grundkrankheit oder um eine neu erworbene, behandelbare Gesundheitsstörung<br />

handelt. Es ist darauf zu achten, dass nicht durch eine einseitige<br />

Fokussierung auf die symptomatische Behandlung sinnvolle kurative Optionen<br />

übergangen werden. Mögliche diagnostische und therapeutische Schritte müssen<br />

in einer sorgfältigen ethischen Entscheidungsfindung bezüglich Nutzen und<br />

Belastung für den Patienten evaluiert werden. Begleitend sind in jedem Fall palliative<br />

Massnahmen einzuleiten.<br />

24 Vgl. «Palliative Care». Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen der SAMW.<br />

20


5.7. Sterben und Tod 25<br />

Tritt eine unabwendbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes ein, sind<br />

bevorstehendes Sterben und der nahe Tod mit dem Patienten und seinen Angehörigen<br />

in geeigneter Form zu thematisieren. Die Art und Weise, wie die Behinderung<br />

das Leben des Patienten und seine Kommunikation mit den ärztlichen,<br />

pflegerischen und therapeutischen Bezugspersonen geprägt hat, kann auch für<br />

den Dialog in dieser letzten Lebensphase wegleitend sein. Mitunter kann es sinnvoll<br />

sein, mögliche Optionen am Lebensende und das Abfassen einer Patientenverfügung<br />

bereits zu einem früheren Zeitpunkt anzusprechen.<br />

Auf die schwierige emotionale Situation langjähriger Betreuungspersonen in Familie<br />

oder Institution ist Rücksicht zu nehmen, indem sie in die Gestaltung der<br />

Sterbephase in angemessener Weise miteinbezogen und nach Bedarf unterstützt<br />

werden.<br />

6. Dokumentation und Datenschutz<br />

6.1. Krankengeschichte und Pflegedokumentation<br />

Über jeden Patienten wird eine fortlaufende Patientendokumentation geführt,<br />

welche auf aktuellem Stand gehalten wird. 26 Diese sollte neben den Angaben<br />

betreffend Anamnese, Diagnose und Krankheitsverlauf, angeordneten Behandlungen<br />

usw. insbesondere auch den Ablauf und Gegenstand der Aufklärung des<br />

Patienten bzw. der vertretungsberechtigten Person dokumentieren. Bei älteren<br />

Jugendlichen und verbeiständeten Erwachsenen sollte das Patientendossier zudem<br />

begründete Aussagen darüber enthalten, für welche Entscheide der Patient<br />

als nicht urteilsfähig betrachtet wurde. Wird einer allfälligen Patientenverfügung<br />

nicht entsprochen, sind die Gründe im Patientendossier festzuhalten. Werden<br />

freiheitsbeschränkende Massnahmen eingesetzt, so sind diese ebenfalls im Patientendossier<br />

festzuhalten. Die Dokumentation soll Angaben über die Gründe, die<br />

Art der angewendeten Massnahme, deren Zweck und Dauer sowie über die Ergebnisse<br />

der regelmässigen Neubeurteilung beinhalten.<br />

25 Vgl. «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende». Medizin-ethische Richtlinien<br />

der SAMW.<br />

26 Je nach der Rechtsnatur des Behandlungsverhältnisses beurteilt sich die Frage der Dokumentationspflicht<br />

nach den Normen des Bundesprivatrechts (OR) oder des kantonalen öffentlichen Rechts.<br />

21


6.2. Vertraulichkeit und Auskunftspflichten gegenüber Dritten<br />

Der Arzt, das Pflegepersonal und die Therapeuten sind an die Schweigepflicht<br />

gebunden. 27 Die Erhebung, die Ablage, die Auswertung und die Weitergabe von<br />

Daten dürfen nur unter Beachtung der gesetzlichen Datenschutzbestimmungen<br />

erfolgen. Auskünfte an Dritte dürfen nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Patienten<br />

respektive seiner Vertreter oder aufgrund einer gesetzlichen Grundlage<br />

oder aufgrund einer schriftlichen Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder Aufsichtsbehörde<br />

erteilt werden. 28<br />

7. Misshandlung und Vernachlässigung<br />

7.1. Definitionen<br />

Körperliche, psychische und sexuelle Übergriffe und Misshandlungen sowie Vernachlässigung<br />

sind Ausdruck des Missbrauchs eines Abhängigkeitsverhältnisses.<br />

Das Recht schützt die Integrität der Person und betrachtet deshalb Übergriffe und<br />

Misshandlungen als Straftaten. 29<br />

Menschen, die sich aufgrund körperlicher, kognitiver oder psychischer Beeinträchtigungen<br />

weniger gut zur Wehr setzen können, werden häufiger Opfer von<br />

Übergriffen und Misshandlungen. Eine besondere Abhängigkeitssituation, wie<br />

sie sich in sozialen Institutionen oder im ärztlichen, pflegerischen oder therapeutischen<br />

Behandlungsverhältnis findet, wirkt ebenfalls als ein die Gefahr verstärkender<br />

Faktor. Die besondere Verletzbarkeit des Opfers und die Stärke des Abhängigkeitsverhältnisses<br />

begünstigen dabei nicht nur das Auftreten von Übergriffen,<br />

sondern erschweren auch deren Aufdeckung.<br />

Vernachlässigung bedeutet die ungenügende Erfüllung einer Fürsorgepflicht, die<br />

einer Betreuungsperson aufgrund eines gesetzlichen oder freiwillig eingegangenen<br />

Verantwortlichkeitsverhältnisses zur betreuten Person auferlegt ist. Die<br />

Fürsorgepflicht besteht darin, die auf Fürsorge angewiesene Person in der Erfüllung<br />

ihrer Bedürfnisse zu unterstützen, soweit diese nicht selbst dazu in der Lage<br />

ist. Von Vernachlässigung können alle Stufen der Bedürfnispyramide (existentielle<br />

Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnis, Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Achtung<br />

und Wertschätzung und nach Selbstverwirklichung) 30 betroffen sein. Dabei<br />

kann paradoxerweise eine Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung<br />

auch durch übermässige Fürsorge entstehen, die eine betreute Person an<br />

ihrer Entfaltung und Autonomieentwicklung hindert.<br />

27 Für Ärzte und Medizinalpersonen gilt das Berufsgeheimnis gemäss Art. 321 StGB; für Personal einer<br />

Institution, welches nicht unter die Bestimmungen von Art. 321 fällt, gelten arbeitsvertragliche<br />

Regelungen in Bezug auf die Schweigepflicht; teilweise ist die Schweigepflicht auch im kantonalen<br />

Recht geregelt.<br />

28 Vgl. Art. 321 StGB Ziff. 2 und 3.<br />

29 Delikte gegen Leib und Leben.<br />

30 Vgl. Maslow AH. Motivation und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; 1991.<br />

22


Ursachen für Vernachlässigung können ungenügende materielle Ressourcen, ungünstige<br />

Umgebungsbedingungen, fehlende Zeit und ungenügende Kenntnisse<br />

und Erfahrung der Betreuungspersonen sowie eine gestörte Beziehung zur betreuten<br />

Person sein.<br />

7.2. Erkennen von Risikosituationen und Prävention<br />

Ärzte, Pflegende und Therapeuten sind verpflichtet, an die Gefahr von Übergriffen,<br />

Misshandlungen und Vernachlässigungen zu denken und entsprechende Risikosituationen<br />

zu erkennen und zu vermeiden. Dies gilt sowohl für die Betreuung<br />

in medizinischen, sozial-medizinischen und sozialen Institutionen als auch<br />

im familiären Umfeld. Das Augenmerk ist insbesondere auf folgende Situationen<br />

zu richten:<br />

− Situationen mit hohem Betreuungsaufwand bei verhältnismässig<br />

niedrigen Betreuungsressourcen;<br />

− Überforderungssituationen bei Betreuungspersonen in Ausbildung oder<br />

mit noch geringer Erfahrung;<br />

− Betreuungspersonen mit Überlastungssymptomen oder auffälligem<br />

Beziehungsverhalten;<br />

− die Anwendung von Zwangsmassnahmen;<br />

− die Durchsetzung von Regeln des Zusammenlebens;<br />

− die Gefahr, dass Menschen mit Behinderung durch Veränderungen im Gesundheitszustand<br />

oder in der Betreuungssituation in eine Krisensituation geraten<br />

und besonders verletzbar werden können.<br />

Allein schon die regelmässige Thematisierung der Möglichkeit von Übergriffen,<br />

Misshandlungen und Vernachlässigungen sowie die bewusste Pflege eines respektvollen<br />

und wertschätzenden Umgangs mit betreuten Personen kann präventive<br />

Wirkung entfalten. Kritische Alltagssituationen in medizinischen, sozial-medizinischen<br />

und sozialen Institutionen, wie die Unterstützung von Körperpflege, Essen,<br />

Ausscheidung und Ins-Bett-Gehen sowie medizinische Untersuchungen oder<br />

die Anwendung therapeutischer Massnahmen sollen auf ihr Gefahrenpotential<br />

für Übergriffe hin angeschaut und durch geeignete Regeln und Unterstützungsmöglichkeiten<br />

abgesichert werden.<br />

Auch bei Betreuungssituationen in der Familie ist die Sensibilität für Risikosituationen<br />

wichtig. Potentiell kritische Situationen sollen angesprochen und ein allfälliger<br />

Bedarf nach Unterstützung abgeklärt und erfüllt werden.<br />

23


7.3. Vorgehen bei konkretem Verdacht<br />

Falls ein konkreter Verdacht auf Übergriffe, Misshandlung oder Vernachlässigung<br />

besteht, muss in erster Linie die betroffene Person geschützt und vor weiterem<br />

Schaden bewahrt werden. Ein solcher kann sowohl aus der Fortdauer der festgestellten<br />

Situation wie auch aus unsachgemässen Aufklärungsmassnahmen und<br />

Interventionen entstehen.<br />

In medizinischen, sozial-medizinischen und sozialen Institutionen sind Verdachtsfälle<br />

einer besonders erfahrenen, unabhängigen Fachperson zur Erfassung<br />

und weiteren Behandlung zu melden. Auch bei der Feststellung eines Misshandlungsverdachts<br />

bei Familienbetreuung ist es ratsam, nicht als Einzelperson aktiv<br />

zu werden, sondern den Rat von unabhängigen Fachpersonen einzuholen. Dabei<br />

sind die ärztliche Schweigepflicht und allfällige kantonale Bestimmungen bezüglich<br />

Melderechte und -pflichten 31 zu beachten. In jedem Fall ist für eine psychologische<br />

Betreuung des Opfers zu sorgen.<br />

8. Sexualität<br />

Die Sexualität ist ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit. Die sexuelle Selbstbestimmung<br />

muss geschützt werden. Eine Behinderung kann auf körperlicher,<br />

geistiger oder psychischer Ebene die Entfaltung der Sexualität beeinträchtigen,<br />

indem sie Partnersuche, Gestaltung sexueller Beziehungen und den Umgang mit<br />

Konsequenzen und Risiken sexueller Aktivität erschwert. Dabei spielen neben der<br />

Behinderung meist auch die durch diese bedingten Lebensumstände eine wichtige<br />

Rolle.<br />

Ärzten, Pflegenden und Therapeuten kann die Aufgabe zukommen, Menschen<br />

mit Behinderung im Umgang mit medizinischen Aspekten ihrer sexuellen Aktivität<br />

und deren Konsequenzen zu beraten und zu unterstützen. Insbesondere bei<br />

körperlichen Beeinträchtigungen ist es wichtig, den Unterstützungsbedarf in diesem<br />

Bereich aktiv anzusprechen, da er vom Patienten oft aus Scham verschwiegen<br />

wird. Insbesondere bei kognitiven Beeinträchtigungen ist die Sexualaufklärung<br />

eine wichtige Fördermassnahme für die sexuelle Gesundheit.<br />

Bei der Beratung ist davon auszugehen, dass Menschen mit Behinderung das<br />

Recht auf ungehinderte Entfaltung ihrer Sexualität haben. Eine Begrenzung sexueller<br />

Aktivität ist nur dort statthaft, wo sie selbst oder andere Personen zu Schaden<br />

kommen oder öffentliches Ärgernis erregt wird.<br />

31 Kantonale Gesundheitsgesetze sehen eine Meldepflicht, teilweise ein Melderecht für Ärzte vor,<br />

bei Verdacht auf Delikte gegen Leib und Leben oder die sexuelle Integrität eine polizeiliche Anzeige<br />

zu erstatten, ohne dass eine Entbindung von der Schweigepflicht vorliegt.<br />

24


Bei Menschen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit ist besondere Sorgfalt angebracht.<br />

Sie brauchen Unterstützung in der Entfaltung ihrer Sexualität und in der<br />

Überwindung entsprechender Hindernisse. Es darf dabei aber nicht zu einer einseitigen<br />

Förderung sexueller Aktivität kommen, mit der die Entfaltung der Persönlichkeit<br />

nicht Schritt halten kann.<br />

8.1. Konsequenzen und Risiken sexueller Aktivität<br />

Sexuelle Aktivität, soweit sie sich nicht auf die eigene Person beschränkt, lässt Bindungen<br />

zum Partner und zu allenfalls gezeugten Kindern entstehen und fordert<br />

damit die Übernahme von Verantwortung. Sie birgt aber auch Risiken, so das Risiko<br />

sexuell übertragener Infektionen oder das Risiko des Missbrauchs durch den<br />

Partner. Behinderungen können sowohl die Übernahme von Verantwortung als<br />

auch den Umgang mit Risiken erschweren.<br />

Es ist ärztliche Aufgabe für sexuell aktive Menschen mit Behinderung die Beratung<br />

und Unterstützung sowohl bezüglich Antikonzeption, Kinderwunsch oder<br />

unerwünschter Schwangerschaft als auch bezüglich der Verhütung sexuell übertragener<br />

Infektionen und der Vorbeugung des sexuellen Missbrauchs sicherzustellen.<br />

Bei sexuell aktiven Frauen ist an die gynäkologische Vorsorgeuntersuchung<br />

zu denken.<br />

8.2. Antikonzeption und Sterilisation<br />

Aus der Vielzahl von Verhütungsmitteln gilt es, für Menschen mit Behinderung<br />

die individuell am besten geeignete Methode auszuwählen. Reversiblen Verhütungsmitteln<br />

ist immer der Vorzug zu geben vor einer definitiven Massnahme,<br />

wie sie eine Sterilisation darstellt.<br />

Bei der Wahl der Methode ist zu beachten, dass diese<br />

− mit allenfalls vorhandenen körperlichen Gesundheitsproblemen und damit<br />

einhergehenden Medikationen verträglich ist;<br />

− eine möglichst selbständige und unkomplizierte Anwendung durch die betroffene<br />

Person selbst erlaubt oder das Umfeld eine allenfalls nötige Unterstützung<br />

gewährleisten kann;<br />

− in ihrer Anwendung und ihren Nebenwirkungen den individuellen Vorstellungen<br />

und Bedürfnissen der betroffenen Person entspricht und ihre Akzeptanz<br />

findet.<br />

25


Die Unterbindung ist im Sterilisationsgesetz 32 geregelt. Eine Unterbindung ist ein<br />

schwerer Eingriff in die körperliche und psychische Integrität und darf grundsätzlich<br />

nur bei Urteilsfähigen mit deren freier Einwilligung nach entsprechender<br />

Aufklärung durchgeführt werden.<br />

Damit kommt der Feststellung der Urteilsfähigkeit eine zentrale Funktion zu.<br />

Nach Gesetz müssen Ärzte, die den Eingriff durchführen, dokumentieren, aufgrund<br />

welcher Feststellungen sie die betreffende Person als urteilsfähig erachten.<br />

Bei Menschen, deren Urteilsfähigkeit infolge einer kognitiven oder psychischen<br />

Beeinträchtigung nicht zweifelsfrei feststeht, ist eine Zweitmeinung einzuholen.<br />

Das Gesetz verbietet die Sterilisation dauernd urteilsunfähiger Personen. Es sieht<br />

aber eine Ausnahme vor bei urteilsunfähigen Personen, die mindestens 16 Jahre<br />

alt sind, wenn der Eingriff nach den gesamten Umständen im Interesse der betroffenen<br />

Person liegt, eine andere Antikonzeption nicht möglich ist und die Zeugung<br />

und Geburt eines Kindes und dessen Trennung von der betroffenen Person<br />

nach Geburt wahrscheinlich sind.<br />

Aus ärztlicher Sicht ist die Umsetzung dieser Gesetzesbestimmung sehr schwierig.<br />

Insbesondere die vorurteilsfreie Feststellung des Interesses der betroffenen Person,<br />

die den Zweck des Eingriffes und die Implikationen einer Schwangerschaft<br />

oder Elternschaft nicht verstehen kann, ist kaum lösbar. Dessen Abgrenzung von<br />

den Interessen der Betreuenden wirft zusätzliche Probleme auf. Jedenfalls ist zu<br />

beachten, dass Frauen, die nicht urteilsfähig sind, nicht nur Schutz vor einer unerwünschten<br />

Schwangerschaft, sondern auch vor sexuellem Missbrauch benötigen,<br />

denn das Wissen um die Sterilisation einer Frau mit einer kognitiven oder<br />

psychischen Beeinträchtigung kann das Missbrauchsrisiko erhöhen, weil keine<br />

Schwangerschaft zu befürchten ist.<br />

In der Praxis sollte die Sterilisation bei einer dauernd urteilsunfähigen Person<br />

nicht zur Anwendung kommen müssen, da der für den Schutz einer betroffenen<br />

urteilsunfähigen Person vor sexuellem Missbrauch und der Ansteckung durch sexuell<br />

übertragene Infektionen notwendige Aufwand auch eine wirksame Schwangerschaftsverhütung<br />

ohne derart weit reichenden Eingriff in die körperliche Integrität<br />

erlauben sollte.<br />

32 Vgl. Bundesgesetz über Voraussetzungen und Verfahren bei Sterilisationen vom 17. Dezember 2004.<br />

26


8.3. Elternschaft<br />

Bei Kinderwunsch von Personen, deren Fähigkeit, selbständig für das Wohl ihrer<br />

Kinder zu sorgen, aufgrund ihrer Beeinträchtigung fraglich oder nicht vorhanden<br />

erscheint, soll versucht werden, durch beratende Begleitung einen freiwilligen<br />

Verzicht und eine optimale Antikonzeption zu erreichen. Genauso gründlich<br />

sollen alle Möglichkeiten der Unterstützung einer Elternschaft durch das Umfeld<br />

abgeklärt und gefördert werden.<br />

Einer Behinderung zugrunde liegende Gesundheitsprobleme können sowohl die<br />

Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen als auch ein erhöhtes Wiederholungsrisiko<br />

für Nachkommen aufweisen. Es gehört zur ärztlichen Betreuung, in dieser<br />

Situation die Möglichkeit einer genetischen Beratung anzubieten, in der über das<br />

bestehende Risiko aufgeklärt, Handlungsalternativen aufgezeigt und über pränatale<br />

Diagnostik informiert wird.<br />

8.4. Schutz vor sexuellem Missbrauch<br />

Der sexuelle Missbrauch von Menschen mit Behinderung ist ein oft tabuisiertes<br />

Thema mit wahrscheinlich hoher Dunkelziffer. Vor allem Menschen mit kognitiver<br />

Beeinträchtigung werden häufiger Opfer sexueller Übergriffe als andere Bevölkerungsgruppen.<br />

Möglicherweise sind aber auch Menschen mit bestimmten<br />

motorischen, sensorischen oder psychischen Beeinträchtigungen vermehrt betroffen.<br />

Dabei stammen die Täter oft aus dem sozialen Nahbereich des Opfers.<br />

Eine verständliche Aufklärung und geeignete Sexualerziehung stellen wichtige<br />

Mittel in der Prävention von sexuellem Missbrauch dar. Menschen mit kognitiver<br />

und kommunikativer Beeinträchtigung müssen lernen können, über ihre<br />

Erfahrungen mit erwünschter und unerwünschter Intimität zu sprechen und die<br />

Selbstbestimmung über ihren Körper wahrzunehmen. In medizinischen, sozialmedizinischen<br />

und sozialen Institutionen sind Risiken für sexuellen Missbrauch<br />

zu thematisieren und präventive Konzepte einzuführen.<br />

Besteht ein konkreter Verdacht auf einen einmaligen oder wiederholten sexuellen<br />

Missbrauch, ist sinngemäss wie in Kapitel 7.3. beschrieben vorzugehen. Zusätzliche<br />

ärztliche Aufgabe ist es, die allenfalls akut notwendige Infektionsprophylaxe<br />

sowie Antikonzeption zu vermitteln.<br />

27


9. Lebensabschnitte und Übergänge<br />

In der Behandlung und Betreuung von Patienten mit Behinderung ist, genau<br />

wie bei allen anderen Patienten, der Bedeutung der lebenslangen Entwicklung<br />

Rechnung zu tragen. Behinderung steht in einer Wechselwirkung mit Reife- und<br />

Alterungsprozessen. Auf der einen Seite können in jedem Alter neue Kompetenzen<br />

erworben werden, die zur selbstbestimmten Lebensgestaltung beitragen.<br />

Auf der anderen Seite können Fähigkeiten durch Krankheit oder höheres Alter<br />

eingeschränkt werden oder verloren gehen, was zu grösserer Abhängigkeit führen<br />

kann.<br />

Je nach Art der Behinderung kann eine Diskrepanz zwischen dem entsprechend<br />

dem Lebensalter zu erwartenden und dem tatsächlichen Verhalten bestehen. Die<br />

Bedürfnisse solcher Patienten in Bezug auf Betreuung, insbesondere bezüglich einer<br />

respektvollen Art der Kommunikation 33 , müssen sorgfältig abgeklärt und die<br />

Behandlung angepasst werden.<br />

9.1. Übergang vom Kindes- ins Erwachsenenalter<br />

Der Übergang ins Erwachsenenalter ist durch verschiedene Veränderungen gekennzeichnet.<br />

Diese können den Alltag stark prägen und für den betroffenen<br />

Menschen Gewinn bringen, aber auch mit Gefühlen von Verlust einhergehen.<br />

Dies betrifft unter anderem:<br />

− Veränderungen in langfristigen konstanten Beziehungen: insbesondere<br />

Eltern, aber auch Schul- und Heimkollegen;<br />

− Veränderungen der Wohnsituation;<br />

− behördliche Massnahmen des Erwachsenenschutzes;<br />

− die zunehmende Bedeutung von Sexualität;<br />

− das Eingehen einer Partnerschaft;<br />

− den Austritt aus der Schule;<br />

− den Eintritt ins Berufsleben oder die Aufnahme einer anderen Beschäftigungsform;<br />

− den Vergleich mit Geschwistern in Bezug auf Beruf, Partnerschaft usw.;<br />

33 Der unvermittelte Übergang zur Höflichkeitsform ab einem bestimmten Alter kann ebenso<br />

irritierend sein wie unreflektiertes Duzen bei Erwachsenen.<br />

28


− den Übergang von der Kinder- und Jugendmedizin zur Erwachsenenmedizin;<br />

− die Änderung der finanziellen Träger. 34<br />

Die Entlassung aus einer pädagogischen Beziehung soll individuell angepasst erfolgen<br />

und eine Beziehung unter gleichberechtigten Erwachsenen ermöglichen. Dies<br />

bedeutet beispielsweise, dass Jugendliche schrittweise in Entscheidungen einbezogen<br />

werden und der Einbezug der Eltern sorgfältig abgeklärt wird und differenziert<br />

erfolgt. Starre Altersgrenzen sind in der medizinischen Betreuung hinderlich. 35<br />

Auch für Jugendliche mit kognitiver Beeinträchtigung ist die Entwicklung einer<br />

weiblichen oder männlichen Geschlechtsidentität und -rolle wesentlich und in<br />

der Betreuung zu berücksichtigen. Die für die Übergangskrisen der Pubertät normalen<br />

Verhaltensänderungen sind abzugrenzen von Verhaltensauffälligkeiten,<br />

die im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung stehen oder Ausdruck einer psychischen<br />

Störung sind.<br />

9.2. Übergang ins höhere Alter 36<br />

Der Übergang ins höhere Alter ist durch verschiedene Veränderungen geprägt, die<br />

auch Gefühle der Unsicherheit und Trauer auslösen können. Dazu zählen insbesondere:<br />

− Veränderungen im Beziehungsumfeld, insbesondere auch die Konfron tation<br />

mit Pflegebedürftigkeit und Tod der Eltern;<br />

− Veränderungen der Wohnsituation, wie beispielsweise der Übertritt in ein<br />

Pflegeheim;<br />

− der Verlust der Arbeit;<br />

− altersbedingte körperliche und psychische Veränderungen;<br />

− Änderung der finanziellen Träger. 37<br />

34 Für Versicherte vor dem vollendeten 20. Altersjahr übernimmt die IV die Kosten für alle zur Behandlung<br />

eines anerkannten Geburtsgebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen. Die obligatorische<br />

Krankenpflegeversicherung übernimmt subsidiär die Kosten von Behandlungen von Geburtsgebrechen,<br />

die von der IV nicht übernommen werden.<br />

Bei Erwachsenen nach dem 20. Altersjahr werden die Behandlungskosten von Krankheiten oder Unfallfolgen<br />

von der Kranken- bzw. Unfallversicherung übernommen. Die IV übernimmt nur noch die Kosten<br />

für medizinische Massnahmen, die unmittelbar die berufliche Eingliederung fördern und geeignet sind,<br />

die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder wesentliche Beeinträchtigungen der<br />

Erwerbs fähigkeit zu verhindern. In diesem Rahmen kann die IV die Kosten übernehmen für die ärztliche<br />

Behandlung (ambulant oder in der allgemeinen Abteilung eines Spitals), die Behandlung durch medizinische<br />

Hilfspersonen (Physiotherapeuten usw.) und für anerkannte Arzneimittel. (Vgl. Bundesgesetz über<br />

die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 und Ausführungsverordnungen sowie Bundesgesetz über<br />

die Krankenversicherung vom 18. März 1994).<br />

35 So sind beispielsweise Kinderspitäler zum Teil bezüglich Aufnahme von Patienten an die Altersgrenze<br />

von 16 Jahren gebunden, obwohl in vielen Fällen eine Weiterbetreuung und ein stufenweiser Übergang<br />

in die Erwachsenenmedizin sinnvoll sind.<br />

36 Vgl.«Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen». Medizin-ethische Richtlinien<br />

und Empfehlungen der SAMW.<br />

37 Der Anspruch auf IV-Renten und auf Übernahme der Kosten für medizinische Massnahmen zur beruflichen<br />

Eingliederung erlischt, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, spätestens aber, wenn<br />

der IV-Rentner oder die IV-Rentnerin das AHV-Alter erreicht bzw. Anspruch auf eine Altersrente hat.<br />

29


Für die medizinische Betreuung und Behandlung sind deshalb die nachfolgenden<br />

Aspekte besonders zu beachten:<br />

− Ältere Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf die übliche Ge sundheitsvorsorge,<br />

medizinische Diagnostik und Therapie. Symptome<br />

sollen dia gnos tisch geklärt und gezielt behandelt werden.<br />

− Bei gewissen Beeinträchtigungen treten altersspezifische Erkrankungen wie<br />

z.B. Demenz früher oder in atypischer Weise auf.<br />

− Sterben und Tod sollen in geeigneter Form thematisiert werden. Dabei ist auf<br />

die Möglichkeit des Erstellens einer Patientenverfügung hinzuweisen.<br />

9.3. Übertritt in eine soziale oder sozial-medizinische Institution<br />

Der Wechsel vom familiären Umfeld oder einer selbstständigen Wohnform in<br />

eine soziale oder sozial-medizinische Institution bedeutet für jeden Menschen<br />

mit Behinderung eine einschneidende Veränderung. Meist sind mit dem Übertritt<br />

Änderungen des sozialen Umfelds und Auswirkungen auf die Möglichkeiten<br />

der Selbstbestimmung verbunden. Immer aber begibt sich der betroffene Mensch<br />

in die Obhut eines professionell organisierten und Autorität beanspruchenden<br />

Umfelds.<br />

Im Zusammenhang mit der medizinischen Betreuung und Pflege verdienen nachfolgende<br />

Punkte besondere Beachtung:<br />

− Vor jedem Übertritt in ein Pflegeheim, sei es aus dem familiären Umfeld oder<br />

sei es aus einer Behinderteninstitution, sind die ambulanten Möglichkeiten<br />

(z.B. Spitex) auszuschöpfen.<br />

− Der behandelnde Arzt ist verantwortlich für die Abklärung vor einem Übertritt,<br />

wie weit das pflegerische Wissen und die notwendigen Fertigkeiten zur<br />

Betreuung des Patienten beim Personal der in Frage kommenden sozialen Institution<br />

vorhanden sind. Er soll hierbei Rücksprache mit den Personen nehmen,<br />

die den Patienten bis jetzt betreut haben.<br />

− Zu einem geordneten Übertritt in eine soziale oder sozial-medizinische Institution<br />

gehört auch die Übergabe aller relevanten Informationen. Im Einverständnis<br />

mit dem Patienten oder seiner vertretungsberechtigten Person sollen<br />

pflegerische und biographische Informationen dem Betreuungsteam der Institution,<br />

ärztliche Unterlagen dem weiterbehandelnden Arzt übergeben werden.<br />

− Menschen mit Behinderung bzw. deren vertretungsberechtigte Person sind<br />

von der Institutionsleitung über das Recht der freien Arztwahl zu informieren.<br />

Diesbezüglichen Wünschen ist von Seiten der Institution soweit möglich<br />

nachzukommen. Allfällige Einschränkungen der Arztwahl sind bei Eintritt zu<br />

besprechen.<br />

30


Bei der Beantwortung der Frage, zu welchem Zeitpunkt der Wechsel von einer Behinderteninstitution<br />

in ein Pflegeheim zu erfolgen hat, ist von denselben Grundsätzen<br />

auszugehen wie bei Menschen ohne vorbestehende Beeinträchtigung.<br />

10. Forschung<br />

Menschen mit Behinderung dürfen nicht allein aufgrund ihrer Behinderung von<br />

der Teilnahme an Forschungsprojekten ausgeschlossen werden.<br />

Menschen mit Behinderung leiden häufig an Störungen oder Krankheiten, über<br />

die wenig bekannt ist und für die keine oder nur beschränkt adäquate Therapiemöglichkeiten<br />

bestehen. Daten fehlen teilweise auch über die Interaktion von gesundheitlichen<br />

Störungen oder Krankheiten mit einer Behinderung. Aus diesem<br />

Grund besteht im Hinblick auf eine behinderungsspezifische Prävention, Therapie<br />

und Rehabilitation Forschungsbedarf und entsprechende Projekte sollten gezielt<br />

gefördert werden. Dabei müssen besondere Schutzbestimmungen beachtet<br />

werden. Insbesondere sollte diese Forschung mit urteilsunfähigen Kindern oder<br />

Erwachsenen mit Behinderung nur durchgeführt werden, wenn das Projekt nicht<br />

mit urteilsfähigen Personen durchgeführt werden kann. Eine Ablehnung der betroffenen<br />

Person, an einer Studie mitzuwirken, die von der Ablehnung einer medizinisch<br />

notwendigen Behandlung unterschieden werden kann, muss in jedem<br />

Fall respektiert werden. 38<br />

38 Vgl. auch Art. 17 des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin vom 4. April 1997,<br />

welches von der Schweiz ratifiziert wurde.<br />

31


III.<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

Damit die für die Umsetzung der vorliegenden Richtlinien unerlässlichen Rahmenbedingungen<br />

erfüllt werden können, sind nachfolgende Empfehlungen<br />

massgebend.<br />

1. An politische Instanzen und Kostenträger<br />

− Berücksichtigung des erhöhten Bedarfs an personellen und baulichen Ressourcen<br />

für Menschen mit Behinderung bei der Planung und Realisierung von medizinischen<br />

Einrichtungen.<br />

− Berücksichtigung der erhöhten Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung<br />

bei der Gestaltung von Abgeltungssystemen für medizinische Leistungen.<br />

− Garantie der Finanzierung für die Abklärung der Ursache von Behinderungen.<br />

− Garantie für die Finanzierung von Langzeittherapien in der für die Erhaltung<br />

der Lebensqualität notwendigen Intensität; dies gilt auch, wenn kein Eingliederungsnutzen<br />

erwartet werden kann.<br />

− Bereitstellung von Ressourcen in sozialen und sozial-medizinischen Institutionen<br />

für Notfalleintritte aus medizinischen Gründen oder infolge eines Zusammenbruchs<br />

des Betreuungssystems.<br />

− Unterstützung der Betreuung und Pflege von Menschen mit Behinderung<br />

durch Angehörige.<br />

− Förderung der niederschwelligen und kompetenten Sexualberatung für<br />

Menschen mit Behinderung.<br />

− Förderung von Modellen der unterstützten Elternschaft für Menschen mit<br />

Behinderung.<br />

− Förderung von Projekten, welche Kinder von Eltern mit Behinderung<br />

unterstützen.<br />

− Förderung von und Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Organisationen<br />

der Fach- und Selbsthilfe für Menschen mit Behinderung.<br />

2. An Institutionen des Gesundheitswesens und der Medizin<br />

− Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung der ärztlichen, pflegerischen und<br />

therapeutischen Mitarbeiter in behinderungsspezifischen Belangen, insbesondere<br />

auch in der Anwendung der ICF-Klassifikation der WHO und in der Feststellung<br />

der Urteilsfähigkeit bei Patienten mit eingeschränkten kognitiven,<br />

kommunikativen oder emotionalen Fähigkeiten.<br />

− Förderung von Kompetenzzentren, interdisziplinären Spezialsprechstunden<br />

und Spezialistennetzwerken für besondere Behinderungsformen.<br />

− Förderung der Erarbeitung und Verbreitung spezifischer Erkenntnisse zur Diagnostik<br />

und Therapie somatischer und psychischer Erkrankungen und zur<br />

Langzeitbetreuung von Menschen mit geistiger Behinderung.<br />

32


− Partnerschaftliche Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit dem<br />

Personal sozialer Institutionen.<br />

− Förderung der Forschung im Bereich behinderungsspezifischer Prävention,<br />

Therapie und Rehabilitation.<br />

− Förderung der Entwicklung und des Einsatzes von Hilfsmitteln für die<br />

unterstützte Kommunikation in allen Institutionen.<br />

− Verzicht auf starre Altersgrenzen bei der Behandlung von Menschen mit<br />

Behinderung.<br />

− Erstellen von institutionsinternen Richtlinien für das Vorgehen bei Verdacht<br />

auf Misshandlung und sexuelle Übergriffe (inkl. Umgang mit Schweigepflicht).<br />

− Beachtung einer besonderen Sorgfaltspflicht bei der Anstellung von neuern<br />

Mitarbeitenden: z.B. Ansprechen des Themas «Übergriffe», Einholen von Referenzen,<br />

Verlangen eines Auszugs aus dem Zentralstrafregister.<br />

3. An soziale und sozial-medizinische Institutionen zur<br />

Betreuung von Menschen mit Behinderung<br />

− Sicherstellung der medizinischen Fachkompetenz.<br />

− Unterstützung der betreuten Personen bezüglich medizinischer Therapien<br />

und Antikonzeption im Rahmen des Alltags.<br />

− Regelung der Schnittstellen zur medizinischen Versorgung unter Berücksichtigung<br />

der Entscheidungsrechte vertretungsberechtigter Personen und der<br />

Mitsprachebedürfnisse von Angehörigen.<br />

− Bereitschaft für Notfalleintritte aus medizinischen Gründen oder infolge<br />

eines Zusammenbruchs des Betreuungssystems.<br />

− Gewährleistung des Wissenstransfers aus der Institution zu den behandelnden<br />

Stellen der Akutmedizin.<br />

− Dokumentation und Aufbewahrung biographischer und pflegerischer Daten.<br />

− Ermöglichung der Begleitung von Patienten mit Behinderung durch eine Betreuungsperson<br />

der Institution zu Arztkonsultationen und Spitaleintritten.<br />

− Unterstützung in der Abfassung von Patientenverfügungen, sofern gewünscht.<br />

33


IV.<br />

ANHANG<br />

Glossar<br />

Behinderung<br />

«Behinderung» bezeichnet die erschwerenden Auswirkungen eines angeborenen<br />

oder erworbenen Gesundheitsproblems auf die alltäglichen Aktivitäten der betroffenen<br />

Person und auf ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben. Die Behinderung resultiert aus dem Wechselspiel zwischen körperlicher<br />

Schädigung, funktioneller Beeinträchtigung und sozialer Einschränkung der betroffenen<br />

Person sowie den behindernden oder fördernden Umständen und den<br />

Erwartungen ihres Lebensumfeldes. Ihre Ausprägung und ihr subjektives Erleben<br />

werden moduliert durch die Persönlichkeitsmerkmale des einzelnen Menschen<br />

mit Behinderung. Der Begriff wird in den vorliegenden Richtlinien auf der Basis<br />

der ICF-Klassifikation der WHO (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,<br />

Behinderung und Gesundheit, Stand Oktober 2005) definiert. Diese<br />

dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung<br />

des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung<br />

und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person. Eine kostenlose<br />

deutschsprachige Über setzung kann unter www.dimdi.de/static/de/klassi/<br />

icf/index.htm heruntergeladen werden.<br />

Gesundheitsproblem<br />

«Gesundheitsproblem» ist der in der deutschen Übersetzung verwendete Begriff<br />

für das von der WHO eingeführte englische «health condition» (Definition:<br />

«Health conditions include diseases or illnesses, other health problems that<br />

may be short or long lasting, injuries, mental or emotional problems, and problems<br />

with alcohol or drugs.» WHO Disability Assessment Schedule WHODAS<br />

II, http://whqlibdoc.who.int/publications/2000/a80933.pdf, Zugriff 31. 8. 2007;<br />

auf Deutsch: «Gesundheitsprobleme umfassen Krankheiten oder Befindlichkeitsstörungen,<br />

andere Gesundheitsstörungen von kurzer oder langer Dauer, Verletzungen,<br />

mentale oder emotionale Probleme sowie Probleme mit Alkohol und<br />

Drogen.»).<br />

Soziale Institution<br />

Als «soziale Institution» werden Institutionen bezeichnet, in welchen Menschen<br />

mit Behinderung Bildung, Arbeit, Beschäftigung oder Betreuung erhalten. Damit<br />

sind nicht nur Heime, sondern auch andere Angebotsstrukturen (z.B. betreute<br />

Wohngruppen) gemeint.<br />

34


Sozial-medizinische Institution<br />

Als «sozial-medizinische Institution» werden Institutionen bezeichnet, in welchen<br />

Menschen mit Behinderung neben anderen Leistungen professionelle Pflege<br />

erhalten.<br />

Würde<br />

Das ethische Konzept der Achtung der Würde geht von der universellen Intuition<br />

aus, dass jeder einzelne Mensch, weil er Mensch ist, in seiner Würde geachtet<br />

werden soll. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass jedem Menschen einerseits<br />

besonderer Lebensschutz und Fürsorge, andererseits Achtung der Selbstbestimmung<br />

zustehen. In diesem Sinne darf der Begriff nicht mit einem Würdeverständnis<br />

verwechselt werden, das zur Beschreibung bestimmter Verhaltens weisen, besonderer<br />

Ausprägungen des sozialen Status oder bestimmter Fähigkeiten eines<br />

Menschen dient.<br />

35


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Am 18. Oktober 2005 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission<br />

mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von Menschen mit<br />

Behinderung beauftragt.<br />

Verantwortliche Subkommission<br />

Prof. Dr. med. Christian Kind, St. Gallen (Vorsitz)<br />

Dr. med. Felix Brem, Weinfelden<br />

Pascal Diacon, Pflege, Zürich<br />

Gerhard Grossglauser, Bolligen<br />

Dr. med. Danielle Gubser, Neuchâtel<br />

lic. phil. Ruedi Haltiner, Chur<br />

lic. phil. Heidi Lauper, Bern<br />

Dr. med. Mark Mäder, Basel<br />

Dr. med. Valdo Pezzoli, Lugano<br />

Dr. med. Judit Lilla Pok Lundquist, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Claude Regamey, Präsident ZEK, Fribourg<br />

lic. iur. Michelle Salathé, SAMW, Basel<br />

Beigezogene Experten<br />

Dr. med. Dick Joyce, Allschwil<br />

Dr. med. Jackie Leach Scully, Basel<br />

Claudine Braissant, Pflege, Belmont<br />

PD Dr. med. Barbara Jeltsch-Schudel, Fribourg<br />

Dr. med. Roland Kunz, Affoltern a.A.<br />

Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern<br />

Vernehmlassung<br />

Am 29. November 2007 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser<br />

Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Genehmigung<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 20. Mai 2008 vom Senat<br />

der SAMW genehmigt.<br />

Anpassung<br />

Die vorliegenden Richtlinien wurden im Jahr 2012 der in der Schweiz ab 1. 1. 2013 gültigen<br />

Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht<br />

und Kindesrecht, Art. 360 ff.; Änderung vom 19. Dezember 2008). Aus diesem Grund<br />

wurde das bisherige Kapitel 8. (Zwangsmassnahmen) ersatzlos gestrichen. Die Zentrale<br />

Ethikkommission hat Ende 2012 eine Subkommission mit der Totalrevision der Richtlinien<br />

«Zwangsmassnahmen in der Medizin» beauftragt.<br />

36


Herausgeberin<br />

Schweizerische Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

T +41 61 269 90 30<br />

mail@samw.ch<br />

www.samw.ch<br />

Gestaltung<br />

Howald Fosco, Basel<br />

Druck<br />

Gremper AG, Basel<br />

Auflage<br />

1. Auflage 3000<br />

2. Auflage 1500 D, 600 F (Januar 2013)<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind<br />

auf der Website www.samw.ch Ethik verfügbar.<br />

© SAMW 2013<br />

Die SAMW ist Mitglied der Akademien<br />

der Wissenschaften Schweiz<br />

L'ASSM est membre des<br />

Académies suisses des sciences


Feststellung des Todes mit<br />

Bezug auf Organtransplantationen<br />

Medizin-ethische Richtlinien


Feststellung des Todes mit<br />

Bezug auf Organtransplantationen<br />

Medizin-ethische Richtlinien<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 24. Mai 2011<br />

Die deutsche Fassung ist die Stammversion.<br />

I. Präambel 3<br />

II. Richtlinien 5<br />

1. Todeskriterium 5<br />

2. Feststellung des Todes 5<br />

2.1. Tod infolge primärer Hirnschädigung<br />

2.2. Tod nach anhaltendem Kreislaufstillstand<br />

2.3. Tod bei Kindern<br />

2.4. Fachliche Voraussetzungen<br />

2.5. Unabhängigkeit<br />

2.6. Dokumentation<br />

3. Abklärung des Patientenwillens 9<br />

3.1. Gespräch über die Organspende und<br />

die Durchführung von organerhaltenden<br />

Massnahmen<br />

3.2. Einwilligung zur Organentnahme und<br />

zur Durchführung von organerhaltenden<br />

medizinischen Massnahmen<br />

3.3. Spezifische Aspekte bei Kindern<br />

4. Organentnahme bei Tod infolge<br />

primärer Hirnschädigung 12<br />

4.1. Medizinische Massnahmen vor dem Tod<br />

4.2. Medizinische Massnahmen nach<br />

festgestelltem Tod<br />

5. Organentnahme bei Tod nach Kreislaufstillstand 13<br />

5.1. Maastricht Klassifikation<br />

5.2. Therapieabbruch (Maastricht 3)<br />

5.3. Medizinische Massnahmen<br />

6. Betreuung der Angehörigen 18<br />

7. Umgang mit dem Leichnam 19<br />

8. Schulung und Unterstützung des Betreuungsteams 19<br />

1


III. <strong>Anhang</strong> 21<br />

A. Klinische Zeichen des Todes 21<br />

B. Technische Zusatzuntersuchungen 24<br />

C. Protokolle zur Feststellung des Todes 26<br />

D. Flowchart zur Feststellung des Todes 32<br />

E. Literatur 34<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 36<br />

Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner<br />

SBK empfiehlt seinen Mitgliedern und allen Pflegenden, diese Richtlinien zu<br />

achten und anzuwenden..<br />

Feststellung des Todes mit<br />

Bezug auf Organtransplantationen<br />

Medizin-ethische Richtlinien<br />

I. Präambel<br />

Seit dem 1. Juli 2007 sind die rechtlichen Voraussetzungen für<br />

Organtransplantationen auf gesamtschweizerischer Ebene im<br />

Bundesgesetz über die Transplantation von Orga nen, Geweben<br />

und Zellen (Transplantationsgesetz) 1 festgehalten. In der<br />

Frage des Todes kriteriums stützt sich das Gesetz auf die neurologische<br />

Definition des Todes, wo nach der Mensch tot ist,<br />

wenn sämtliche Funktionen seines Hirns, einschliesslich des<br />

Hirnstamms, irreversibel ausgefallen sind. Zur Feststellung<br />

des Todes verweist die Ver ordnung zum Transplantationsgesetz<br />

auf die SAMW-Richtlinien «Feststellung des Todes mit<br />

Bezug auf Organtransplantationen». Damit unterstellt der<br />

Gesetzgeber nicht die Defi nition des Todes, jedoch die Bestimmungen,<br />

wie er lege artis festzustellen ist, dem Stand der<br />

medizinischen Wissenschaft. Nachdem der Tod festgestellt<br />

ist, dürfen Organe ent nommen werden, wenn eine Einwilligung<br />

des allfälligen Spenders oder subsidiär eine stellvertretende<br />

Einwilligung von berechtigten Dritten vorhanden ist<br />

(sog. erweiterte Zu stimmungslösung).<br />

Die Definition des Todes beinhaltet neben biologischen und<br />

medizinischen auch rechtliche und ethische Aspekte. Sie enthält<br />

nicht nur Aussagen über pathophysiologische Zu stände,<br />

die mit dem Tod assoziiert sind, sondern impliziert immer<br />

auch ein spezifisches Verständnis von Leben und Tod. Sie<br />

drückt insbesondere auch aus, welche Handlungen an Verstorbenen<br />

vorgenommen werden dürfen. Die Abklärung des<br />

Patientenwillens, die Behandlung eines Organspenders bis<br />

zur Feststellung des Todes, die Durch führung von organerhaltenden<br />

medizinischen Massnahmen bis zur Entnahme der<br />

Organe und der Umgang mit den Angehörigen, stellen für<br />

das Behandlungsteam eine grosse Herausforderung und Belastung<br />

dar. Aus ethischer und rechtlicher Perspektive ist es<br />

zwingend, den Tod auf zu verlässige und sichere Weise zu diagnostizieren,<br />

dem Willen der verstorbenen Person Rechnung<br />

zu tragen und die Angehörigen in dieser schwierigen Phase zu<br />

1 Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über die Transplantation von Organen,<br />

Geweben und Zellen (SR 810.21).<br />

2<br />

3


unterstützen. Diesem Ziel dienen die vorliegenden Richtlinien.<br />

Einerseits bestimmen sie die klinischen Zeichen und technischen<br />

Zusatzuntersuchungen, die bei der Feststellung des<br />

Todes zu berücksichtigen sind; andererseits beschreiben sie<br />

die Prozesse bis zur Organentnahme und die Verantwortung<br />

der involvierten Ärzte 2 und weiterer Fachper sonen. Sie äussern<br />

sich auch zur Organentnahme nach einem irre versiblen<br />

Kreislaufstillstand (sog. Non-Heart-Beating-Donation) und<br />

den mit dieser Situation verbundenen spezifischen ethischen<br />

Fragestellungen.<br />

Die nachfolgenden Richtlinien stützen sich sowohl auf das<br />

Transplantationsgesetz (nachfolgend: TxG) als auch auf ein<br />

Rechtsgutachten zu Fragen im Zusammenhang mit der Organentnahme<br />

bei verstorbenen Personen und vorbereitenden<br />

medizinischen Massnahmen. 3<br />

II. Richtlinien<br />

1. Todeskriterium 4<br />

Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Gehirns einschliesslich<br />

des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind. 5<br />

Durch den irreversiblen Ausfall sämtlicher Funktionen des<br />

Gehirns verliert ein Mensch das Steuerungsorgan des gesamten<br />

Organismus end gültig. Nachfolgend sterben alle Organe,<br />

Gewebe und Zellen unabwendbar ab.<br />

Der Tod kann durch folgende Ursachen eintreten:<br />

– durch den irreversiblen Funktionsausfall des Hirns einschliess<br />

lich des Hirnstamms infolge primärer Hirnschädigung<br />

oder -erkran kung;<br />

– durch anhaltenden Kreislaufstillstand, der die Durchblutung<br />

des Gehirns so lange reduziert oder unterbricht bis der<br />

irreversible Funktionsausfall von Hirn und Hirn stamm und<br />

damit der Tod eingetreten ist (Tod nach Kreislaufstillstand).<br />

2. Feststellung des Todes<br />

2.1. Tod infolge primärer Hirnschädigung<br />

Die Feststellung des Todes erfolgt durch eine klinische Untersuchung,<br />

welche die folgen den sieben klinischen Zeichen<br />

nachweisen muss; diese müssen kumulativ vorhanden sein:<br />

1. Koma;<br />

2. Beidseits weite, auf Licht nicht reagierende Pupillen;<br />

3. Fehlen der okulozephalen (zervikookulären und vestibulookulären)<br />

Reflexe;<br />

4. Fehlen der Kornealreflexe;<br />

5. Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize;<br />

6. Fehlen des Husten- und Schluckreflexes;<br />

7. Fehlen der Spontanatmung (Apnoetest).<br />

2 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit gilt in diesem Text die männliche<br />

Bezeichnung für beide Geschlechter.<br />

3 Guillod O., Mader M.: Vorbereitende medizinische Massnahmen im Hinblick auf eine<br />

Organentnahme. Rechtsgutachten zu verschiedenen Fragen im Zusammenhang<br />

mit dem Transplantationsgesetz. März 2010 (www.transplantinfo.ch od. bag.admin.ch).<br />

4 Dieses Todeskriterium betrifft nur die Situationen, in denen eine Organspende<br />

angestrebt wird. In allen anderen Fällen wird der Tod durch einen Arzt/eine Ärztin nach<br />

den allgemeinen Regeln der ärztlichen Fachkunde festgestellt. Hier gilt vor allem<br />

der irreversible kardiopulmonale Stillstand, welcher in der Folge zum Tod führt, als Haupt-<br />

Todeskriterium.<br />

5 Art. 9 TxG sowie Art. 7 Verordnung zum TxG (nachfolgend:TxV).<br />

4<br />

5


Die klinische Untersuchung erfolgt gemeinsam durch zwei<br />

Ärzte (Vier-Augen-Prinzip); einer der Untersucher darf nicht<br />

direkt in die Betreuung des Patienten involviert sein.<br />

Beide den Tod diagnostizierenden Ärzte müssen eine entsprechende<br />

Qualifikation aufweisen (siehe Kap. 2.4.).<br />

Liegt ein klarer Grund für den Funktionsausfall des Gehirns<br />

vor und sind die Umstände und Modalitäten gemäss <strong>Anhang</strong> 6<br />

berücksichtigt, beschränkt sich die Diagnostik auf die klinischen<br />

Zeichen. 7<br />

Ist der Funktionsausfall des Gehirns durch die in der Bildgebung<br />

nachgewiesene strukturelle Schädigung nicht hinreichend<br />

erklärt, können potentiell reversible Faktoren als Mitursache<br />

nicht ausgeschlossen oder können die Funktionen<br />

der Hirnnerven klinisch nicht untersucht werden, muss die<br />

Abwe senheit der zerebralen Durchblutung mit einer geeigneten<br />

Zusatzuntersuchung nachge wiesen werden.<br />

Dafür können die nachfolgenden Verfahren angewendet werden:<br />

– transkranielle Doppler- oder Farbduplexsonografie;<br />

– Computertomographische Angiographie (CTA);<br />

– intraarterielle digitale Subtraktionsangiographie (IA-DSA);<br />

– Magnetresonanztomographie und -angiographie.<br />

Die Anforderungen an die einzelnen technischen Verfahren<br />

sind im <strong>Anhang</strong> 8 festgehalten.<br />

2.2. Tod nach anhaltendem Kreislaufstillstand<br />

Der Tod bei anhaltendem Kreislaufstillstand ist gemäss Transplantationsgesetz<br />

ebenfalls durch den irre versiblen Ausfall der<br />

Funktionen von Gehirn und Hirnstamm definiert. Der Tod<br />

tritt dabei durch die anhaltende Unterbrechung der Durchblutung<br />

des Gehirns in folge eines Kreislaufstillstands ein.<br />

Nach Feststellung des Kreislaufstillstands (fehlende Herzaktivität)<br />

mittels transthorakaler Echokardiographie (TTE) im<br />

4-Kammerblick oder in der subxiphoidalen Einstellung und<br />

Verstreichen einer Wartezeit von mindestens 10 Minuten<br />

ohne Durchführung von Reanimationsmassnahmen werden<br />

6 III. <strong>Anhang</strong> Ziff. A. Klinische Zeichen des Todes.<br />

7 Die Zuverlässigkeit der klinischen Zeichen ist allgemein anerkannt (vgl. Literatur im<br />

<strong>Anhang</strong>). Es gibt keine Hinweise dafür, dass eine Wiederholung der Untersuchung<br />

nach einem Beobachtungsintervall bessere Resultate ergibt, sofern die erste Untersuchung<br />

lege artis erfolgt ist.<br />

8 III. <strong>Anhang</strong> Ziff. B Technische Zusatzuntersuchungen.<br />

die nachfolgenden klinischen Zeichen geprüft; diese müssen<br />

kumulativ vorhanden sein:<br />

1. Koma;<br />

2. Beidseits weite, auf Licht nicht reagierende Pupillen;<br />

3. Fehlen der okulozephalen (zervikookulären und vestibulookulären)<br />

Reflexe;<br />

4. Fehlen der Kornealreflexe;<br />

5. Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize;<br />

6. Fehlen des Husten- und Schluckreflexes;<br />

7. Fehlen der Spontanatmung.<br />

Die klinische Untersuchung erfolgt gemeinsam durch zwei<br />

dafür qualifizierte Ärzte (Vier-Augen-Prinzip); einer der Untersucher<br />

darf nicht direkt in die Betreuung des Patienten involviert<br />

sein. Zusatzuntersuchungen sind nicht notwendig, da<br />

der dokumentierte Kreislaufstillstand mittels TTE über einen<br />

Zeitraum von 10 Minuten eine genügende Hirndurchblutung<br />

ausschliesst. 9<br />

2.3. Tod bei Kindern<br />

Bei Kindern, die älter als ein Jahr sind, sind die Regeln gemäss<br />

Kapitel 2.1. und 2.2. an wendbar.<br />

Bei Säuglingen 10 jenseits der Neonatalperiode, erfolgt die Feststellung<br />

des Todes – sofern die Ursache des zerebralen Funktionsausfalls<br />

bekannt ist – durch zwei klinische Untersuchungen<br />

(inklusive Apnoetest) mit einem Beobachtungsintervall<br />

von 24 Stunden. 11 Ist der Funktionsausfall des Gehirns durch<br />

die in der Bildgebung nachgewiesene strukturelle Schädigung<br />

nicht hinreichend erklärt, können potentiell reversible<br />

Faktoren als Mitursache nicht ausgeschlossen oder können<br />

die Funktionen der Hirnnerven klinisch nicht untersucht<br />

werden, muss die Abwesenheit der zerebralen Durchblutung<br />

nach der zweiten klinischen Untersuchung mit einer geeigneten<br />

Zusatzuntersuchung nachgewiesen werden.<br />

9 Die Feststellung der Pulslosigkeit durch Palpation ist erwiesenermassen unzuverlässig<br />

und erscheint deshalb zur präzisen Feststellung des Zeitpunktes des Kreislaufstillstandes<br />

im Hinblick auf eine anschliessende Organspende ungeeignet. Ebensowenig<br />

kann das Elektrokardiogramm (EKG) zur Feststellung des Kreislaufstillstandes<br />

verwendet werden, da eine elektrische Herzaktivität ohne mechanische Herzaktion<br />

oft noch über längere Zeit nach dem Tod im EKG festgestellt werden kann.<br />

10 Das heisst Kinder, die älter als 28 Lebenstage (resp. 44 Wochen postmenstruelles<br />

Alter) aber jünger als 1 Jahr sind.<br />

11 Die Zuverlässigkeit der klinischen Zeichen, wie auch der Zusatzuntersuchungen zum<br />

Nachweis eines irreversiblen Funktionsausfalls des Gehirns ist für das Säuglingsalter<br />

weniger gut erforscht, als für spätere Altersstufen. Zudem lässt die Vermutung,<br />

dass die Nachgiebigkeit der infantilen Schädelstrukturen eine kurzfristige Reversibilität<br />

der druckbedingten Unterbrechung der zerebralen Durchblutung erlauben könnte, ein<br />

obligatorisches Beobachtungsintervall ratsam erscheinen.<br />

6<br />

7


Bei Neugeborenen 12 ist aufgrund von ethischen und medizinischen<br />

Überlegungen auf die Entnahme von Organen zum<br />

Zweck der Transplantation zu verzichten. 13<br />

2.4. Fachliche Voraussetzungen<br />

Die klinische Beurteilung muss durch Ärzte mit Weiterbildung<br />

und Erfahrung im Bereich Hirntoddiagnostik erfolgen. 14<br />

Für die klinische Fest stellung des Todes bei Kindern ist eine<br />

Weiterbildung in pädiatrischer Intensivmedizin oder Neuropädiatrie<br />

erfor derlich.<br />

Die Durchführung der Zusatzuntersuchung muss durch einen<br />

Facharzt mit der jeweils spezifischen Qualifikation erfolgen.<br />

2.5. Unabhängigkeit<br />

Um Interessenkonflikte zu vermeiden, müssen die Prozesse der<br />

Organentnahme und -transplantation streng getrennt werden.<br />

Gemäss Artikel 11 TxG dürfen Ärzte, die den Tod im Hinblick<br />

auf eine Organentnahme fest stellen:<br />

a. weder an der Entnahme noch an der Transplantation von<br />

Organen, Geweben, Zellen mitwirken;<br />

b. noch den Weisungen einer ärztlichen Fachperson unterstehen,<br />

die an solchen Mass nahmen beteiligt ist.<br />

In der Intensivmedizin stellt sich die Frage der Unabhängigkeit<br />

in besonderem Mass. Ein Interessenkonflikt kann bereits<br />

bei der Frage des Abbruchs von Massnahmen respektive deren<br />

Weiterführung entstehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass<br />

mögliche Empfän ger auf derselben Intensivstation wie der<br />

potentielle Spender hospitalisiert sind. Diesem Umstand wird<br />

durch den Zuzug eines unabhängigen Zweitarztes bei der Feststellung<br />

des Todes Rechnung getragen (Vier-Augen-Prinzip).<br />

2.6. Dokumentation<br />

Die klinischen Befunde, allfällig durchgeführte Zusatzuntersuchungen<br />

sowie Gespräche betreffend Einwilligung sind<br />

schrift lich festzuhalten. Dafür stehen die Protokolle im <strong>Anhang</strong><br />

zur Verfügung; diese können spitalintern ergänzt werden.<br />

3. Abklärung des Patientenwillens<br />

Die nachfolgend geschilderten Schritte gelten sowohl für die<br />

Organentnahme beim Tod infolge primärer Hirnschädigung<br />

als auch für die Organentnahme beim Tod nach Kreislaufstillstand<br />

(NHBD). Beim Gespräch über eine allfällige Organentnahme<br />

nach einem Kreislaufstillstand sind jedoch zusätzliche<br />

Aspekte zu beachten (vgl. Kapitel 5.)<br />

3.1. Gespräch über die Organspende und die Durchführung<br />

von organerhaltenden Massnahmen<br />

Patienten, die als Organspender in Frage kommen, sind in<br />

der Regel nicht urteilsfähig. Die Möglichkeit einer Organspende<br />

ist deshalb mit dem gesetzlichen Vertreter, respektive<br />

den Angehörigen, anzusprechen, falls der Patient als Organspender<br />

in Frage kommt. Dies verlangt ein hohes Mass an<br />

Ein fühlungsvermögen und Rücksichtnahme. Wenn die Möglichkeit<br />

besteht, das Thema früh zeitig anzusprechen, ist dies<br />

sinnvoll, weil die Angehörigen dann länger Zeit haben, sich<br />

mit der Frage auseinanderzusetzen. Die Besprechung des Abbruchs<br />

der lebenserhaltenden Therapien (Änderung des Behandlungsziels)<br />

muss separat vor der Aufklärung über die<br />

Organspende und die dafür erforderlichen medizinischen<br />

Massnahmen erfolgen. Der Entscheid, die lebenserhaltende<br />

Therapie abzubrechen, darf nicht durch die Möglichkeit einer<br />

Organ spende beeinflusst werden.<br />

Ist der Tod unter voller Therapie eingetreten, sind die Gespräche<br />

entsprechend anzupassen. Die Mitteilung des Todes soll<br />

nach Möglichkeit getrennt von der Thematisierung der Organspende<br />

erfolgen.<br />

12 Das heisst, weniger als 28 Lebenstage, resp. weniger als 44 Wochen<br />

postmenstruelles Alter.<br />

13 Für Neugeborene gelten die Aussagen für ältere Säuglinge (siehe Fussnote 11) in<br />

verstärktem Masse. Insbesondere sind die Schädelstrukturen besonders nachgiebig.<br />

Das notwendige Beobachtungsintervall zur Dokumentation des irreversiblen Ausfalls<br />

der zerebralen Durchblutung konnte bisher nicht zuverlässig definiert werden.<br />

14 Im Erwachsenenbereich gilt dies z.B. für Fachärzte der Neurologie und der<br />

Intensivmedizin, im Kinderbereich für Ärzte mit einer Weiterbildung in pädiatrischer<br />

Intensivmedizin oder in Neuropädiatrie. Bei diesen Weiterbildungen ist die Durchführung<br />

der Hirntoddiagnostik in das Curriculum integriert.<br />

8<br />

9


Bei urteilsfähigen Patienten, die eine aussichtslose Prognose<br />

haben, sollte an die Möglichkeit der Organspende gedacht<br />

und das Thema aufgenommen werden, sofern keine offensichtlichen<br />

Gründe dagegen sprechen. Ist ein Patient bereit,<br />

seine Organe für eine Spende zur Verfügung zu stellen, muss<br />

er auch über die Notwendigkeit der Durchführung von organerhaltenden<br />

medizinischen Massnahmen infor miert werden.<br />

Im Gespräch über die Möglichkeit der Organspende muss der<br />

Respekt gegenüber dem Pa tienten und den Angehörigen zum<br />

Ausdruck kommen. Das Gespräch soll in einer ruhi gen Umgebung<br />

und möglichst ohne Zeitdruck stattfinden.<br />

Wichtig ist, dass der behandelnde Arzt diese Gespräche führt<br />

und Kontinuität gewährleistet ist.<br />

Zusammenfassend muss das Gespräch zur Abklärung des<br />

Spenderwillens folgende An forderungen erfüllen:<br />

– vom Inhalt her: umfassende und verständliche Information<br />

über den gesundheit lichen Zustand und die Prognose<br />

des Patienten (Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts), Abbruch<br />

der lebenserhaltenden Massnahmen, In halt und<br />

Umfang der organerhaltenden Massnahmen sowie deren<br />

Zweck und Auswirkungen, Feststellung des Tods, Ablauf<br />

einer allfälligen Organent nahme und Vorgehen nach erfolgter<br />

Organentnahme;<br />

– von den Rahmenbedingungen her: ruhige Atmosphäre,<br />

Empathie und Wahrneh mung der Angehörigen; genügend<br />

Zeit zur Erklärung der Situation, Raum für Fragen<br />

und Anliegen, Angebot von zusätzlichen Ge sprächen<br />

durch geeignete Fachpersonen, die möglichst über den gesamten<br />

Zeitraum zur Verfügung stehen.<br />

Personen, die anstelle des Patienten ent scheiden, haben dessen<br />

mutmasslichen Willen zu beachten; dieser hat Vorrang<br />

vor ihren ei genen Präferenzen.<br />

a) Entnahme der Organe zur Transplantation<br />

Hat der potentielle Spender sich nicht selbst zur Organspende<br />

geäussert, entscheiden die nächsten Angehörigen an seiner<br />

Stelle. Dazu berechtigt sind Personen gemäss nachfolgender<br />

Reihenfolge: 1. Ehepartner oder eingetragene Partner, 2. Kinder,<br />

Eltern und Geschwister 3. Grosseltern und Grosskinder<br />

und 4. andere nahe stehende Personen. Die Entnahme von<br />

Organen ist unzulässig, wenn die vertretungsberechtigten Personen<br />

sie ablehnen. Dies trifft auch zu, wenn ein Patient keine<br />

Person hat, die ihn vertreten kann, oder wenn diese nicht<br />

rechtzeitig kontaktiert werden kann. 15<br />

b) Durchführung von organerhaltenden Massnahmen<br />

Ist ein gesetzlicher Vertreter 16 vorhanden oder hat der Patient<br />

die Vertretung einer Person seines Vertrauens übertragen, so<br />

entscheiden diese über Durchführung von organerhaltenden<br />

Massnahmen. Hat der Patient keinen gesetzlichen Vertreter,<br />

können – mit Zustimmung der Angehörigen – organerhaltende<br />

Mass nahmen durchgeführt werden, wenn dies dem mutmasslichen<br />

Willen des Patienten entspricht. 17 Stellt sich heraus, dass<br />

der Patient der Durchführung der organerhaltenden Massnahmen<br />

vermutlich nicht zugestimmt hätte oder können die Angehörigen<br />

keine Auskunft darüber geben, was sich der Patient<br />

gewünscht hätte, muss auf die Durchführung von organerhaltenden<br />

Massnahmen verzichtet werden.<br />

3.2. Einwilligung zur Organentnahme und zur Durchführung<br />

von organerhaltenden medizinischen Massnahmen<br />

Im Idealfall hat sich der potentielle Organspender vorgängig,<br />

z.B. mit einer Spendekarte, zur Organspende sowie zur<br />

Durchführung der organerhaltenden Massnahmen geäussert.<br />

Häufig ist dies jedoch nicht der Fall. In dieser Situation muss<br />

der Wille des Patienten abgeklärt werden. Dabei muss geprüft<br />

werden, ob An haltspunkte dafür vorliegen, dass der Patient<br />

einer Organentnahme und der Durchführung der organerhaltenden<br />

Massnahmen zugestimmt oder diese abgelehnt<br />

hat bzw. hätte. Die nächsten Angehörigen spielen bei dieser<br />

Abklärung eine zentrale Rolle.<br />

15 Art. 8 TxG und Art. 3 TxV.<br />

16 Bis zum Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechts 2013 haben die Angehörigen<br />

bzgl. medizinischer Entscheidungen vor dem Tod eines Patienten keine Vertretungsbefugnis,<br />

es sei denn, diese werde ihnen im kantonalen Recht eingeräumt.<br />

17 Gemäss Gutachten (Fn. 3 a.a.O., S. 47 – 48) steht bei Patienten mit einer aussichtslosen<br />

Prognose nicht mehr die Lebensrettung oder Gesundheitswiederherstellung im<br />

Vor dergrund, sondern das Interesse «in Würde zu sterben». Gestützt auf diese<br />

Interpretation ist die Durchführung von organerhaltenden Massnahmen unter den<br />

in den Richtlinien definierten Voraussetzungen juristisch vertretbar.<br />

10<br />

11


3.3. Spezifische Aspekte bei Kindern<br />

Die Entscheidungsprozesse bei Kindern unterscheiden sich<br />

bezüglich des Vorgehens bei volljähri gen Personen lediglich<br />

dadurch, dass in dieser Situation immer gesetzliche Vertreter<br />

(in der Regel die Eltern) vorhanden sind, welche stellvertretend<br />

entscheiden. Im Übrigen gel ten die Regeln gemäss Kap.<br />

3.1 und 3.2. Sind die Eltern unterschiedlicher Auffassung und<br />

kann keine Einigung gefunden werden, ist von einer Organentnahme<br />

abzusehen.<br />

4. Organentnahme nach Tod infolge primärer Hirnschädigung<br />

Wenn bei einem Patienten mit primärer Hirnschädigung die<br />

Prognose aussichtslos ist, ändert sich das Behandlungsziel. Im<br />

Vordergrund steht nicht mehr die Lebenserhaltung, sondern<br />

die palliative Betreuung. Falls in dieser Si tuation keine offensichtlichen<br />

medizinischen Gründe 18 gegen eine Organspende<br />

vorlie gen, kommt der Patient prinzipiell als Organspender in<br />

Frage und sein Wille im Hinblick auf eine Spende muss eruiert<br />

werden (vgl. dazu Kapitel 3.1. und 3.2.). Liegt eine Einwilligung<br />

zur Organspende vor, steht das behandelnde Team<br />

vor der Herausforderung, den Patienten in Würde sterben<br />

zu lassen, die Bedürfnisse der Angehörigen zu respektieren,<br />

gleichzeitig aber die transplantierbaren Organe durch spezifische<br />

medizinische Massnahmen in optimalem Zustand zu<br />

erhalten.<br />

4.1. Medizinische Massnahmen vor dem Tod<br />

Bei den medizinischen Massnahmen ist zu unterscheiden<br />

zwi schen Massnahmen, die der Organerhaltung dienen, und<br />

solchen, die eine Abklärung der Spendetauglichkeit zum Ziel<br />

ha ben.<br />

Massnahmen zur Organerhaltung 19 sind Voraussetzung dafür, dass<br />

eine Organspende überhaupt stattfinden kann; sie sind entscheidend<br />

für den Erfolg einer Transplantation. In der Regel handelt<br />

es sich um die Fortführung von bereits begonnenen Therapien<br />

(Wei terführung der künstlichen Beatmung, Verabreichung<br />

von Medikamenten und Lösungen zur Erhaltung der Kreislauf-Funktion),<br />

Laboranalysen zur Steuerung der Be handlung<br />

sowie Hormonsubstitutionen zur Aufrechterhaltung des «Inneren<br />

Milieus». Nach der Änderung des Behandlungs ziels sind<br />

diese nicht mehr im therapeutischen Interesse des Patienten,<br />

sondern werden zur Organerhaltung weitergeführt. Bei der<br />

Entscheidung, ob eine Massnahme zur Anwendung kommt<br />

oder nicht, müssen die individuelle Situation des Patienten<br />

berück sichtigt und die Risiken abgewogen werden. Diese medizinischen<br />

Massnahmen sind auf zwei Tage zu begrenzen.<br />

Bei den Massnahmen zur Abklärung der Spendetauglichkeit handelt<br />

es sich primär um serologische und immunologische Analysen.<br />

20<br />

4.2. Medizinische Massnahmen nach festgestelltem Tod<br />

Nach festgestelltem Tod sind medizinische Massnahmen zur<br />

Erhaltung der Organe sowie Massnahmen zur Abklärung der<br />

Spendereignung während längstens 72 Stunden erlaubt. 21<br />

5. Organentnahme bei Tod nach Kreislaufstillstand<br />

5.1. Maastricht Klassifikation<br />

Grundsätzlich unterscheidet die Maastricht Klassifikation folgende<br />

Situa tionen:<br />

a) Tod bereits eingetreten bei Ankunft im Spital<br />

(Maastricht, Kategorie 1)<br />

b) Tod nach erfolgloser Reanimation<br />

(Maastricht, Kategorie 2)<br />

c) Tod nach Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen<br />

(Maastricht, Kategorie 3)<br />

d) Kreislaufstillstand bei vorgängigem Tod infolge primärer<br />

Hirnschädigung (Maastricht, Kategorie 4)<br />

Für alle Kategorien gilt, dass die Organentnahme oder die Perfusion<br />

der Organe mit Konservierungslösung möglichst rasch<br />

nach der Todesfeststellung erfolgen muss, um die Zeit der organschädigenden<br />

warmen Ischämie möglichst kurz zu halten.<br />

Bei den Maastricht-Kategorien 1 und 2 sind die Angehörigen in<br />

der Regel nicht auf den Tod vorbereitet und müssen sich unter<br />

Zeitdruck mit der Frage der Organtransplantation auseinandersetzen.<br />

Dies ist eine äusserst belastende Situation.<br />

18 Zum Beispiel ein metastasierender Tumor.<br />

19 Auf eine abschliessende Aufzählung der vorbereitenden medizinischen Massnahmen<br />

wird verzichtet, da diese ihre Aktualität verlieren kann.<br />

20 Gemäss Art. 30 TxG besteht eine Pflicht, die Tauglichkeit der spendenden Person<br />

zu überprüfen. Artikel 31 Abs. 1 TxG enthält eine Verpflichtung sicherzustellen, dass<br />

die Organe auf Krankheitserreger oder Hinweise auf solche getestet worden sind.<br />

21 Art. 10 Abs. 3 TxG in Verbindung mit Art. 8 TxV.<br />

12<br />

13


a) Maastricht-Kategorie 1<br />

Bei Organspendern der Kategorie 1 wurde der Tod bereits vor<br />

oder unmittelbar bei An kunft im Spital festgestellt. Liegt eine<br />

Zustimmung zur Organspende vor, kann eine Or ganentnahme<br />

stattfinden. Liegt keine Zustimmung vor, können vorbereitende<br />

Massnah men zur Organentnahme (insbesondere das<br />

Legen eines Doppelballonkatheters zur Per fusion der Organe<br />

mit kalter Konservierungslösung) vorgenommen werden, bis<br />

die Angehörigen befragt werden können (vgl. Kap. 5.3.).<br />

b) Maastricht-Kategorie 2<br />

Bei Organspendern der Maastricht Kategorie 2 erfolgt die Organentnahme<br />

nach erfolglo ser Reanimation. Weil bei einer<br />

kardiopulmonalen Reanimation ein redu zierter Kreislauf erhalten<br />

bleibt, darf die Feststellung des Todes erst nach Erfolglosigkeit<br />

der Reanimation und einer anschliessenden 10-minütigen<br />

Beobachtung des ununterbrochenen Herzstill standes mit totalem<br />

Kreislaufausfall erfolgen (Normothermie 22 vorausgesetzt).<br />

Erfolglose Reanimation bedeutet, dass trotz lege artis durchgeführter<br />

Wiederbelebungs versuche über mindestens 20 Minuten<br />

keine Rückkehr der Herzaktion mit spontanem Kreislauf<br />

erreicht wurde und der Patient die unter «klinische Zeichen»<br />

aufgeführten Befunde aufweist. Tritt unter der Reanimation<br />

vorübergehend wieder eine spontane, kreislaufwirksame<br />

Herzaktion auf, beginnt die 20-minütige Reanimationsfrist<br />

nach dem Ende dieser Herzaktion wieder neu.<br />

c) Maastricht-Kategorie 3<br />

Bei Organspendern der Maastricht Kategorie 3 wird eine Organentnahme<br />

vorgenommen, nachdem der Patient infolge<br />

eines Abbruchs der lebenserhaltenden Therapie bei Erkrankung<br />

mit aussichtsloser Prognose verstorben ist. Diese Patienten<br />

haben eine normale Herztätigkeit, solange die lebenserhaltenden<br />

Massnahmen (insbesondere die künstliche Beatmung)<br />

weitergeführt wer den. Nachdem diese Massnahmen<br />

abgebrochen werden, verstirbt der Patient infolge eines Herzstillstands.<br />

Sein Tod wird gemäss Kap. 2.2. festgestellt. Die<br />

Zeit zwischen Feststellung des Todes und der Organentnahme<br />

sollte so kurz wie möglich sein.<br />

d) Maastricht-Kategorie 4<br />

Bei Organspendern der Maastricht Kategorie 4 tritt der Kreislaufstill<br />

stand unerwartet, nach Feststellung des Todes infolge<br />

primärer Hirnschädigung bei den Vorbereitungen zur<br />

Organent nahme auf. In dieser Situation stehen folgende Möglichkeiten<br />

zur Auswahl:<br />

– Wiederherstellung der Funktion des Kreislaufs;<br />

– rascher Transport in den Operationssaal;<br />

– das Einlegen von Perfusionssonden (in der Regel Gillotsonde)<br />

zur Organpräserva tion;<br />

– Verzicht auf eine Organspende.<br />

Welche dieser Möglichkeiten zur Anwendung kommt, hängt<br />

von den Umständen ab. Tritt der Kreislaufstillstand auf dem<br />

Weg zum Operationssaal ein, wird die rasche Organentnahme<br />

im Operationssaal angestrebt. Findet der Kreislaufstillstand<br />

noch auf der Intensivstation statt, sollte entweder der rasche<br />

Transport in den Operationssaal erfolgen oder Perfusionssonden<br />

eingelegt werden.<br />

5.2. Therapieabbruch (Maastricht 3)<br />

Das Vorgehen und der Ort für den Therapieabbruch sowie die<br />

anschliessend geplanten medizinischen Massnahmen müssen<br />

mit den Angehörigen in Ruhe und detailliert vorbe sprochen<br />

werden. Es muss primär geklärt werden, bis wann die Angehörigen<br />

am Bett des Patienten bleiben wollen. Es ist wichtig, darüber<br />

aufzuklären, dass der unmittelbar zum Tod führende anhaltende<br />

Kreislaufstillstand häufig sehr rasch, unter Umständen<br />

aber auch erst mehrere Stunden nach Therapieabbruch<br />

eintreten kann. Die Angehö rigen müssen wissen, dass nach<br />

Eintritt des Kreislaufstillstands und festgestelltem Tod wegen<br />

der organschädigenden warmen Ischämie die Organentnahme<br />

so rasch wie mög lich erfolgen muss. Sie müssen auf den<br />

Zeitdruck vorbereitet sein, der besteht, nachdem der Herzstillstand<br />

eingetreten ist und sie sollten die Möglichkeit haben,<br />

sich vorher vom sterbenden Patienten zu verab schieden.<br />

Wird der Therapieabbruch auf der Intensivstation durchgeführt,<br />

besteht einerseits die Möglichkeit, nach Feststellung des<br />

Todes rasch in den Operationssaal zu fahren um dort die Organe<br />

zu entnehmen. Dieses Vorgehen ist nur für die weniger<br />

ischä mieanfälligen Organe wie zum Beispiel die Nieren oder<br />

22 Bei Patienten mit Unterkühlung, muss die Kerntemperatur auf 35°C angestiegen sein.<br />

14<br />

15


auch die Lunge möglich. Die Angehörigen müs sen auf den<br />

Zeitdruck und die rasche Verlegung des verstorbenen Spenders<br />

vorbereitet wer den. Andererseits besteht auch die Möglichkeit,<br />

nach Feststellung des Todes die femora len Gefässe des Spenders<br />

auf der Intensivstation zu kanülieren und dort mit der Perfusion<br />

der Organe zu beginnen (vgl. Kapitel 5.3.).<br />

Mit den Angehörigen muss insbesondere auch über den Ort<br />

des Therapieabbruches gesprochen werden. Wenn sie der Organentnahme<br />

(vor allem im Hinblick auf die Transplantation<br />

besonders ischämieanfälliger Organe wie der Leber) im Operationssaal<br />

zustimmen, ist es grundsätzlich möglich, dass sie<br />

den sterbenden Patienten mit in den Ope rationssaal begleiten<br />

und bei ihm bleiben, bis der Kreislaufstillstand eintritt.<br />

Dies muss jedoch vorher besprochen sein. Wird als Ort für<br />

den Therapieabbruch der Operationssaal in Betracht gezogen,<br />

müssen folgende Punkte beachtet werden:<br />

– Die Trennung der Prozesse des Therapieabbruchs und der<br />

Organentnahme muss unter erschwerten Umständen aufrechterhalten<br />

werden;<br />

– Während des Therapieabbruchs bis zur Todesfeststellung<br />

orientiert sich die palliative Behandlung ausschliesslich<br />

am Wohl des Patienten;<br />

– Verzögert sich der Eintritt des Todes so lange, dass eine<br />

Entnahme der Organe in optimalem Zustand gefährdet<br />

erscheint, darf kein Druck auf den behandelnden Arzt<br />

entste hen, den Tod zu beschleunigen;<br />

– Die besonderen Umstände an diesem Ort des Therapieabbruchs<br />

müssen vorgängig mit den Angehörigen besprochen<br />

werden.<br />

Die Angehörigen müssen darüber aufgeklärt werden, dass die<br />

Organentnahme möglicherweise nicht stattfinden kann, wenn<br />

der Kreislaufstillstand erst nach einer langen Periode mit sehr<br />

tiefem Blutdruck und entsprechend langanhaltender, ungenügender<br />

Blut- und Sauerstoffversorgung der Organe eintritt.<br />

5.3. Medizinische Massnahmen<br />

Massnahmen zur Auf rechterhaltung der Organperfusion, wie<br />

Herzmassage (Kardiokompression) oder Einle gen von femoralen<br />

Kanülen zur kalten Organperfusion erfolgen bei Spendern<br />

der Kategorie 1,2 und 4, nachdem der Tod festgestellt<br />

worden ist. Wenn der Spender selbst keine Einwilligung zur<br />

Organspende erteilt hat, dürfen zur Überbrückung der Zeit bis<br />

zum Vorliegen der Einwilligung der Angehörigen, organerhaltende<br />

medizinische Massnahmen längstens über 72 Stunden<br />

durchgeführt wer den. 23 Haben die Angehörigen nach Ablauf<br />

dieser Zeitspanne keine Zustimmung zur Organ entnahme erteilt,<br />

ist eine Organentnahme ausgeschlossen.<br />

Die Frage nach der Durchführung von medizini schen Massnahmen<br />

vor der Feststellung des Todes stellt sich ausschliesslich bei<br />

allfälligen Spendern der Kategorie 3. Bei dieser Patientengruppe<br />

ist der Therapieabbruch geplant, und vorbe reitende medizinische<br />

Massnahmen zur Erhaltung der Qualität der Organe und<br />

zur Ver kürzung der warmen Ischämiezeit sowie serologische<br />

und immunologische Tests können eingeleitet werden, sobald<br />

die Voraussetzungen gemäss Kapitel 3.2. erfüllt sind.<br />

Es handelt sich insbesondere um die folgenden Massnahmen:<br />

a) Verabreichung von gerinnungshemmenden Medikamenten: Gerinnungshemmende<br />

Medikamente werden unmittelbar vor<br />

dem Kreislaufstillstand verabreicht, also zu einem Zeitpunkt,<br />

in welchem der Tod unmittelbar bevorsteht.<br />

b) Einlegen von Perfusionssonden: Das Einlegen von Perfusionssonden<br />

erlaubt eine rasche Perfusion der Organe nach<br />

Eintritt des Kreislaufstillstands und optimiert die Funktionsfähigkeit<br />

der zu entnehmenden Organe. Damit kann<br />

ein hastiger Transport des Spenders in den Operationssaal<br />

vermieden werden.<br />

23 Art. 10 Abs. 3 TxG in Verbindung mit Art. 8 TxV.<br />

16<br />

17


6. Betreuung der Angehörigen<br />

Der Tod infolge primärer Hirnschädigung ist schwerer zu<br />

begreifen als der Tod durch einen Kreislaufstillstand. Der an<br />

einer primären Hirnschädigung verstorbene Patient wirkt, solange<br />

er noch beatmet wird, auf die meisten Menschen nicht<br />

wie ein Toter im herkömmlichen Sinn; der Brustkorb hebt<br />

und senkt sich durch die Beatmungsmaschine, die Haut ist<br />

warm, der Puls ist tastbar und manchmal können äussere<br />

Reize sogar – durch Rückenmarkreflexe vermittelte – Bewegungen<br />

und Kreislaufreaktionen aus lösen. Dies führt immer<br />

wieder zu Verunsicherungen. In diesem Moment des Abschiednehmens<br />

wird das an die Angehörigen herangetragene<br />

Ersuchen, sich innert kurzer Zeit zum mutmasslichen Spendewillen<br />

des Verstorbenen zu äu ssern, häufig als zusätzliche<br />

Belastung erlebt. 24 Noch grösser ist der Zeitdruck bei der Non-<br />

Heart-Beating Organspende (Maastricht Kriterien 1, 2 und 4).<br />

Andererseits kann die Aussicht, dass die Organe des Verstorbenen<br />

anderen Menschen das Leben retten oder verbessern<br />

können, auch als Trost empfunden werden.<br />

Angehörige haben ein grosses Bedürfnis nach Informationen,<br />

die ein gewisses Mass an Entlastung bieten können. Die lokale<br />

Transplantationskoordination nimmt in dieser Situation<br />

als prozessübergreifende Instanz eine Sonderstellung ein. Sie<br />

trägt deshalb auch die Verantwortung, dass der Organspendeprozess<br />

sowie der Informationsfluss opti mal laufen und<br />

koordiniert allenfalls weitere Massnahmen im Bereich der<br />

Angehörigenbetreuung.<br />

Die Angehörigen sollen über alle wesentlichen Schritte informiert<br />

sein. Sie sollten im Besitz einer Kontaktadresse sein,<br />

die kompetente Hilfestellung bietet oder die Angehörigen an<br />

die richtige Stelle weiterleiten kann. Sie müssen insbesondere<br />

wissen, unter welchen Umständen und zu welchem Zeitpunkt<br />

sie sich vom Verstorbenen verabschieden können. Es<br />

bedarf grosser Erfahrung und Empathie, um auch nicht ausgesprochene<br />

Bedürfnisse zu erkennen, gerade angesichts des<br />

Zeitdrucks. Die Rollenverteilungen im Organspendeprozess<br />

sowie die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten<br />

der involvierten Personen müssen definiert sein.<br />

7. Umgang mit dem Leichnam<br />

Dem Leichnam des Organspenders ist vor, während und nach<br />

der Organentnahme mit demselben Respekt und unter denselben<br />

Vorgaben zu begegnen, wie dies mit jeder frisch verstorbenen<br />

Person der Fall ist. Der Leichnam des Organspenders<br />

muss den Angehörigen in würdigem Zustand zur Bestattung<br />

übergeben werden. Die lokale Transplantationskoordination<br />

ist dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass die Angehörigen<br />

über alle relevanten Informationen (insbesondere auch<br />

über all fällige zeitliche Verzögerungen, z.B. bei rechtsmedizinischen<br />

Abklärungen) verfügen.<br />

Bei der Organentnahme hat man es mit dem Körper eines<br />

Toten zu tun. Dieser besitzt jedoch nach wie vor ein weitgehend<br />

funktionstüchtiges spinales und autonomes Nervensystem<br />

(vgl. III. <strong>Anhang</strong>; A. Klinische Zeichen des Todes; Absatz<br />

5). Der tote Körper kann deshalb auf Reize reagieren und motorische<br />

Reaktionen zeigen. Mit der Verabreichung von Anästhetika<br />

können solche Reaktionen weitestgehend verhindert<br />

werden. Dies trägt zur Entlastung der bei einer Organentnahme<br />

involvierten Personen bei. Da die Verabreichung von Anästhetika<br />

bis zu einem gewissen Grade ischämieprotektiv wirkt<br />

und einer Verletzung der zu entnehmenden Organe vorbeugt,<br />

ist sie auch im Interesse des Empfängers. Aus diesen Gründen<br />

wird die Verabreichung von Inhalationsanästhetika empfohlen.<br />

8. Schulung und Unterstützung des Behandlungsteams<br />

Pflegefachpersonen sowie Ärzte in Intensivstationen sind in<br />

ihrem Alltag psy chisch belastenden Ereignissen ausgesetzt.<br />

Die Betreuung eines Organ spenders ist für das Behandlungsteam<br />

der Intensivstation eine grosse Herausforderung.<br />

Das persönliche Erleben, der Umgang mit solchen Situationen<br />

und ihre Bewältigung sind von Mensch zu Mensch<br />

unterschiedlich.<br />

Die Verarbeitung des Schicksals des Verstorbenen und seiner<br />

Angehörigen sowie die verschie denen Interaktionen zwischen<br />

behandelnden Ärzten, Pflegefachpersonen, den Kon-<br />

24 Kesselring A. Kainz M. Kiss A. Traumatic Memories of Relatives Regarding Brain<br />

Death, Request for Organ Donation and Interactions with Professionals in the ICU.<br />

American Journal of Transplantation 2006.<br />

18<br />

19


siliarärzten, Angehörigen und der Transplantationskoordination<br />

fordern ein hohes Mass an fachlichen, psychologischen,<br />

kommunikativen und organisatorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

und können die Mitglieder des Behandlungsteams<br />

an ihre Grenzen bringen.<br />

Wiederholte Informationsveranstaltungen und Schulungen für<br />

das Behandlungsteam sind somit unabdingbar. Alle Mit glieder<br />

sollten regelmässig in folgenden Bereichen geschult werden:<br />

– Todesfeststellung gemäss den Richtlinien;<br />

– Pathophysiologie des Todes;<br />

– organisatorische Abläufe vor, während und nach einer<br />

Organspende;<br />

– ethische Aspekte der Organspende und des Hirntodkonzeptes;<br />

– Umgang mit den Angehörigen.<br />

Es sollte die Möglichkeit bestehen, schwierige Situationen<br />

im Rahmen einer retrospekti ven Fallbesprechung mit allen<br />

Beteiligten aufzuarbeiten. Alle Intensivstationen, die Organspender<br />

betreuen, sollten über Angebote zur Supervision und<br />

Stressbewältigung verfügen.<br />

III. <strong>Anhang</strong><br />

A. Klinische Zeichen des Todes<br />

Der klinischen Untersuchung zur Feststellung der Zeichen des<br />

Ausfalls der Hirnfunktionen kommt bei der Feststellung des<br />

Todes zentrale Bedeutung zu. Die Um stände und Modalitäten<br />

ihrer Durchführung werden im Folgenden beschrieben:<br />

1. Koma bekannter Ursache: Ein Koma bekannter Ursache<br />

liegt vor, wenn der Zustand durch den Nachweis struktureller<br />

Hirnläsionen mittels Bildgebung hinreichend erklärt<br />

ist.<br />

Voraussetzung ist, dass die Kerntemperatur über 35°C liegt,<br />

kein Schockzustand besteht und der Zustand nicht durch<br />

metabolische Störungen oder medikamentöse bzw. toxische<br />

Einflüsse mit verursacht ist. In allen anderen Situationen ist<br />

eine technische Zusatzuntersuchung notwendig.<br />

2. Beidseits weite, auf Licht nicht reagierende Pupillen: Unvollständig<br />

dilatierte oder aniso kore Pupillen schlies sen die<br />

Feststellung des Todes nicht aus, vorausgesetzt, dass sie<br />

auf Lichtreize nicht reagieren.<br />

3. Fehlen der okulozephalen (= zervikookulären und vesti bulookulären)<br />

Reflexe: Wenn bei rascher passiver Kopfrotation<br />

sowie Kopfexten sion und Flexion keine Augenbewegungen<br />

auftreten, feh len die okulozephalen Reflexe. Diese<br />

Unter suchung darf nur gemacht wer den, wenn ein Trauma<br />

der Halswirbel säule ausgeschlossen ist. Der vestibulookuläre<br />

Reflex wird kalorisch (mit Eiswasser) geprüft.<br />

4. Fehlen der Kornealreflexe: Die Kornealreflexe können durch<br />

Berührung der Kornea mit einem kompakten Watteköpfchen<br />

geprüft werden.<br />

5. Fehlen jeglicher Reaktion auf starken Schmerzreiz: Die Reaktion<br />

auf Schmerzreize muss durch Druck auf die Austrittsstelle<br />

eines Trigeminusastes am Orbitarand geprüft werden.<br />

Gelegentlich persistiert nämlich eine Reaktion der oberen<br />

oder unteren Extremitäten auf schmerzhafte Rei ze, die ausserhalb<br />

des Trigeminusgebietes gesetzt werden. Es ist möglich,<br />

dass bei einem toten Patienten noch spinale Reflexe<br />

mit komplexen motorischen Reaktionen vorhanden sind.<br />

Spontane und reflektorische Bewegungen auf Reize schlies-<br />

20<br />

21


sen den Hirntod somit nicht aus (wie z.B. Abdominalreflex;<br />

Kremasterreflexe; isolierte Zuckungen an den oberen Extremitäten;<br />

unilaterale Extensions- Pronationsbewegungen).<br />

Im Zweifelsfall ist eine technische Zusatzuntersuchung<br />

durchzuführen (vorzugsweise eine nichtinvasive transkranielle<br />

Doppler- oder Farbduplex Sonographie). 25<br />

6. Fehlen des Husten- und Schluckreflexes: Husten- und Schluckreflexe<br />

löst der begut achtende Arzt durch Stimulation der<br />

Rachenhinterwand und der Trache alschleimhaut aus.<br />

7. Fehlen der Spontanatmung: Das Fehlen der Spontanatmung<br />

muss durch einen Apnoetest belegt werden.<br />

Die Durchführung eines Apnoetestes setzt eine normale neuromuskuläre<br />

Funktion voraus. Wenn ein Patient Myorelaxantien<br />

bekommen hat, muss eine erhaltene neuromuskuläre<br />

Funktion durch neuromuskuläres Monitoring belegt werden.<br />

Der Apnoetest wird in folgenden Schritten durchgeführt:<br />

– Arterielle Blutgasanalyse zur Messung des Ausgangswertes<br />

von PaCO2, arteriellem pH und zur Erstellung der Korrelation<br />

zwischen PaCO2 und endtidal CO2;<br />

– Beatmung während 10 Minuten mit 100% Sauerstoff;<br />

– Kontinuierliche Überwachung mittels transkutaner O2-Sättigungs-Messung;<br />

– Hypoventilation unter endtidal CO2- oder transcutaner<br />

pCO2-Kontrolle mit 0.5-2 L/min bis ein PaCO2 von 60 –70<br />

mmHg (8 – 9.35kPa) erwartet werden kann;<br />

– Abnahme einer ABGA zum Nachweis, dass der PaCO2-<br />

Partialdruck über 60 mmHg bzw. 8kPa gestiegen und der<br />

pH-Wert unter 7,30 gesunken ist;<br />

– Dekonnektion des Patienten vom Re spirator. Die Sauerstoffversor<br />

gung wird durch eine Sonde im Trachealtubus<br />

mit kontinuier lichem O2-Fluss von 2 bis 4 Litern pro Minute<br />

gewährleistet (Kinder mit englumi gem Tubus max.<br />

2L); um ein Barotrauma zu vermeiden, darf die Sonde<br />

nicht zu tief liegen;<br />

– Beobachtung des Fehlens von Atembewegungen während<br />

1 Minute;<br />

– Wiederanschluss des Patienten an den Respirator mit den<br />

vorgängigen Ventilations parametern.<br />

Wenn die transkutane O2-Sättigung unter 80% fällt, ist der<br />

Apnoetest vorzeitig abzubrechen.<br />

Bei Patienten mit schweren Oxygenationsstörungen oder relevanter<br />

Linksherzinsuffizienz wird zur Vermeidung von gefährlichen<br />

Kreislaufstörungen wie oben verfahren, jedoch nicht<br />

dekonnektiert:<br />

– Nach Abnahme des ABGA wird das Beatmungsgerät auf<br />

einen Spontanatmungsmodus umgestellt (CPAP Modus<br />

ohne Atemassistenz), die Apnoeventilation ausgeschaltet<br />

und die Einstellungen weiter so modifiziert, dass spontane<br />

Atembewegungen erkannt werden können. Es ist zu bedenken,<br />

dass durch zu empfindlich eingestellte Flow-Trigger<br />

kardial bedingte Atemzüge ausgelöst werden können.<br />

– Beobachtung des Fehlens von Atembewegungen;<br />

– Wiederaufnahme der Beatmung mit den vorgängigen<br />

Ventilationsparametern.<br />

Bei Kindern unter einem Jahr wird unter CPAP am Beatmungsgerät<br />

beobachtet und es gilt als Zielwert ein PaCO2<br />

90mmHg (12kPa 26 ) und ein pH-Wert unter 7,25, wobei die<br />

Sauerstoffsättigung nicht unter 80 % abfallen sollte.<br />

Wenn der Apnoetest nicht konklusiv durchgeführt werden<br />

kann (z.B. bei schwerer chronischer Hyperkapnie), muss analog<br />

zur Situation bei nicht beurteilbaren Hirnnerven, eine<br />

technische Zusatzuntersuchung durchgeführt werden.<br />

25 Saposnik G, Basile VS, Young B. Movements in Brain Death: A Systematic Review.<br />

Can J Neurol Sci 2009; 36:154– 60.<br />

26 Brill R. Bigos D. Apnea threshold and pediatric brain death. Crit Care Med 2000; 28: 1257.<br />

22<br />

23


B. Technische Zusatzuntersuchungen 27<br />

Technische Zusatzuntersuchungen im Rahmen der Feststellung<br />

des Todes werden eingesetzt, wenn die Ätiologie des Funktionsausfalls<br />

unklar ist. Ziel der technischen Zusatzuntersuchung ist<br />

es, den Stillstand der zerebralen Zirkulation zu beweisen.<br />

Die Aussagekraft der technischen Zusatzuntersuchung ist<br />

vom arteriellen Mitteldruck während der Untersuchung abhängig.<br />

Sie ist gegeben, wenn der arterielle Mitteldruck zum<br />

Zeitpunkt der Untersuchung bei Erwachsenen und Kindern<br />

mindestens 60 mmHg sowie bei Säuglingen mindestens<br />

45 mmHg beträgt. Der arterielle Mitteldruck zum Zeitpunkt<br />

der Zusatzuntersuchung muss zwingend im Untersuchungsbefund<br />

festgehalten werden.<br />

Folgende technische Zusatzuntersuchungen sind grundsätzlich<br />

geeignet den Stillstand der zerebralen Zirkulation nachzuweisen:<br />

1. Transkranielle Doppler- oder Farbduplexsonographie<br />

2. Computertomographie<br />

3. Magnetresonanztomographie<br />

4. Digitale Subtraktionsangiographie<br />

1. Transkranielle Doppler- oder Farbduplexsonographie<br />

Die Untersuchung umfasst die extrakranielle Dopplersonographie<br />

an der mittels B-Bild und Color-Flow dokumentierten<br />

Arteria (= A) carotis interna und die transkranielle farbkodierte<br />

transtemporale Untersuchung der A. cerebri media<br />

beidseits in einer Beschallungstiefe von 55 – 65 mm mittels<br />

pw-Ableitung der Dopplerflusssignale. Charakteristisch für<br />

den Stillstand der zerebralen Zirkulation ist, wenn auf beiden<br />

Seiten ein Pendelfluss oder nur niederfrequente Spektren<br />

(max. 50cm/s, von kurzer Dauer < 200 ms) vorliegen.<br />

3. Magnetresonanztomographie (MR)<br />

Die MR-Angiographie und die Perfusions-MR nach intravenöser<br />

Gabe von Gadolinum als Kontrastmittel können einen zerebralen<br />

Kreislaufstillstand nachweisen. Die eingeschränkte Verfügbarkeit,<br />

die mögliche Inkompatibilität von am Patienten angebrachten<br />

Utensilien (Tubus, Sonden, Kabel, usw.) sowie die Kontraindikation<br />

der Untersuchung bei metallischen Fremdkörpern<br />

am Patienten schränken ihre Anwendung erheblich ein.<br />

4. Digitale Subtraktionsangiographie (DSA)<br />

Zum Nachweis eines Stillstandes der zerebralen Zirkulation<br />

müssen beide Aae. carotides communes und mindestens die<br />

dominante A. vertebralis selektiv katheterisiert werden. Bei<br />

Injektion in jeder A. carotis communis muss es zu einer Füllung<br />

der A. carotis externa und ihre Äste sowie zur Füllung<br />

des zervikalen und allenfalls des intrakraniell-extraduralen<br />

Abschnittes der A. carotis interna kommen. Besteht bei der<br />

Füllung einer A. vertebralis Verdacht auf Hypoplasie dieses<br />

Gefässes, muss zusätzlich die A. vertebralis auf der Gegenseite<br />

dargestellt werden. Ein Stillstand der zerebralen Zirkulation<br />

und damit der Tod wegen Hirnschädigung gilt als erwiesen,<br />

wenn die zerebralen (d.h. intrakraniell-intraduralen)<br />

Arterien und Venen weder im supra- noch im infratentoriellen<br />

Kompartiment angefärbt sind.<br />

2. Computertomographie (CT)<br />

Die Spiral-CT vor und nach intravenöser Kontrastmittelgabe<br />

zur Darstellung und Quantifizierung der zerebralen Perfusion<br />

(Perfusion-CT) und zur Darstellung der hirnzuführenden<br />

Hals- und der intrakraniellen Gefässe (CT-Angiographie) können<br />

einen Stillstand der zerebralen Zirkulation nachweisen.<br />

27 Dieses Kapitel stützt sich unter anderem auf die Empfehlungen der Schweizerischen<br />

Gesellschaft für Neuroradiologie zum Einsatz neurologischer Zusatzuntersuchungen<br />

im Rahmen der Feststellung des Todes vom Oktober 2010 ab, welche im Hinblick auf<br />

die vorliegenden Richtlinien ausgearbeitet wurden. Die Empfehlungen sind abrufbar<br />

unter http://www.swissneuroradiology.ch/index.php/fortbildung.html (Rubrik Lehre/<br />

Fortbildung/Dokumente).<br />

24<br />

25


Name und Vorname des Patienten:<br />

C. Protokoll zur Feststellung des Todes<br />

6. Voraussetzungen für Organentnahme erfüllt 28<br />

infolge primärer Hirnschädigung<br />

Für Kinder älter als ein Jahr und Erwachsene<br />

Geburtsdatum:<br />

Dieses Protokoll muss den Patienten begleiten.<br />

Nach dem Tod gehört es als wichtiges Do kument in die Krankengeschichte.<br />

Patientenidentifikations-Nr:<br />

Datum / Zeit Arzt 1<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

Arzt 2<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

weiter<br />

zu Ziffer<br />

und Unterschrift<br />

und Unterschrift<br />

1. Feststellung des Todes aufgrund klinischer Zeichen<br />

a) Aufgrund der Laborwerte besteht keine metabolische<br />

1.b)<br />

Komaursache; Kerntemperatur >_ 35° C;<br />

Relaxation ausgeschlossen<br />

b) Kein Verdacht auf ZNS-Infektion oder Polyradikulitis cranialis 1.c)<br />

c) Keine Hinweise auf medikamentöse oder toxische Komaursache 1.d)<br />

d) Klinische Feststellung des Todes 1.e)<br />

e) Apnoetest pathologisch 2.<br />

2. Tod festgestellt (irreversibler Funktionsausfall des Gehirns)<br />

a) Klarer Grund für den Funktionsausfall des Gehirns liegt vor.<br />

4.<br />

Grund:<br />

b) Ursachen des Funktionsausfalls des Gehirns nicht eindeutig<br />

3.<br />

erklärbar oder Diagnose nicht mit Sicherheit möglich<br />

3. Zusatzuntersuchungen<br />

a) Transkranielle Doppler- oder Farbduplexsonographie 4.<br />

b) Computertomographie (CT) 4.<br />

c) Magnetresonanztomographie (MR) 4.<br />

d) Digitale Substraktionsangiographie (DSA) 4.<br />

4. Einwilligung zur Organentnahme liegt vor und mutmasslicher<br />

5.<br />

Wille bezüglich organerhaltenden Massnahmen ist abgeklärt<br />

5. Keine Kontraindikationen gegen eine Organentnahme 6.<br />

28 Bei Verdacht auf einen gewaltsamen Todesfall besteht vor Durchführung<br />

der Organentnahme eine Meldepflicht an die Polizei oder Staatsanwaltschaft.<br />

26<br />

27


Name und Vorname des Patienten:<br />

C. Protokoll zur Feststellung des Todes<br />

7. Voraussetzungen für Organentnahme erfüllt 29<br />

infolge primärer Hirnschädigung<br />

Für Säuglinge jenseits der Neonatalperiode bis zu einem Jahr<br />

Geburtsdatum:<br />

Dieses Protokoll muss den Patienten begleiten.<br />

Nach dem Tod gehört es als wichtiges Do kument in die Krankengeschichte.<br />

Patientenidentifikations-Nr:<br />

Datum /<br />

Zeit<br />

Arzt 1<br />

1. Klinische Untersuchung<br />

Datum /<br />

Zeit<br />

Arzt 2<br />

2. Klinische Untersuchung<br />

weiter<br />

zu Ziffer<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

und Unterschrift<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

und Unterschrift<br />

1. Klinische Untersuchung<br />

a) Aufgrund der Laborwerte besteht keine metabolische Komaursache<br />

1.b)<br />

Kerntemperatur 35° C; Relaxation ausgeschlossen<br />

b) Kein Verdacht auf ZNS-Infektion oder Polyradikulitis cranialis 1.c)<br />

c) Keine Hinweise auf medikamentöse oder toxische Komaursache 1.d)<br />

d) Klinische Feststellung des Todes 1.e)<br />

e) Apnoetest pathologisch 2.<br />

2. Nach Abwarten der 24h Beobachtungszeit:<br />

Zweite klinische Untersuchung<br />

a) Aufgrund der Laborwerte besteht keine metabolische Komaursache<br />

2.b)<br />

Kerntemperatur 35° C; Relaxation ausgeschlossen<br />

b) Kein Verdacht auf ZNS-Infektion oder Polyradikulitis cranialis 2.c)<br />

c) Keine Hinweise auf medikamentöse oder toxische Komaursache 2.d)<br />

d) Klinische Feststellung des Todes 2.e)<br />

e) Apnoetest pathologisch 3.<br />

3. Tod festgestellt (irreversibler Funktionsausfall des Gehirns)<br />

a) Klarer Grund für den Funktionsausfall des Gehirns liegt vor.<br />

5.<br />

Grund:<br />

b) Ursachen des Funktionsausfalls des Gehirns nicht eindeutig<br />

4.<br />

erklärbar oder Diagnose nicht mit Sicherheit möglich<br />

4. Zusatzuntersuchungen<br />

a) Transkranielle Doppler- oder Farbduplexsonographie 5.<br />

b) Computertomographie (CT) 5.<br />

c) Magnetresonanztomographie (MR) 5.<br />

d) Digitale Substraktionsangiographie (DSA) 5.<br />

5. Einwilligung zur Organentnahme liegt vor 6.<br />

6. Keine Kontraindikationen gegen eine Organentnahme 7.<br />

29 Bei Verdacht auf einen gewaltsamen Todesfall besteht vor Durchführung<br />

der Organentnahme eine Meldepflicht an die Polizei oder Staatsanwaltschaft.<br />

28<br />

29


C. Protokoll zur Feststellung des Todes<br />

nach anhaltendem Kreislaufstillstand (NHBD)<br />

Name und Vorname des Patienten:<br />

Für Kinder älter als ein Monat und Erwachsene<br />

Geburtsdatum:<br />

Dieses Protokoll muss den Patienten begleiten.<br />

Nach dem Tod gehört es als wichtiges Do kument in die Krankengeschichte.<br />

Patientenidentifikations-Nr:<br />

Datum /<br />

Zeit<br />

Arzt 1<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

und Unterschrift<br />

Arzt 2<br />

Stempel oder Blockschrift<br />

und Unterschrift<br />

1. Kein spontaner Kreislauf während mindestens 20 Minuten<br />

2.<br />

mit Reanimationsmassnamen (Maastricht 1 od. 2)<br />

2. Verzicht auf Reanimationsmassnahmen (Maastricht 3)<br />

3.<br />

Grund:<br />

3. Kreislaufstillstand mittels Transthorakaler Echokardiographie<br />

4.<br />

(TTE) vom Arzt erstmals festgestellt<br />

(fehlende Herzaktivität im 4-Kammerblick oder in der subxiphoidalen<br />

Einstellung)<br />

4. Tod nach 10-minütigem anhaltendem Kreislaufstillstand ohne<br />

5.<br />

Reanimation vom Arzt festgestellt<br />

5. Beginn mit medizinischen Massnahmen zur Organerhaltung<br />

6.<br />

und Beurteilung der Spendetauglichkeit nach diagnosti ziertem<br />

Tod bis zur Entscheidung der nächsten Angehörigen respektive<br />

bis zur Organentnahme bei bereits vorliegender Einwilligung<br />

während längstens 72 Stunden<br />

6. Angehörige über den Ablauf der Organentnahme orientiert<br />

7.<br />

Bei Spendern der Maastricht-Kategorie 3 muss die Orientierung<br />

über allfällige medizinische Massnahmen und den Ablauf der<br />

Organspende vor der Therapieeinstellung und vor dem Kreislaufstillstand<br />

erfolgt sein<br />

7. Einwilligung zur Organentnahme liegt vor und mutmasslicher<br />

8.<br />

Wille bezüglich organerhaltenden Massnahmen ist abgeklärt<br />

8. Keine Kontraindikationen gegen eine Organentnahme 9.<br />

weiter<br />

zu Ziffer<br />

30 Bei Verdacht auf einen gewaltsamen Todesfall besteht vor Durchführung<br />

der Organentnahme eine Meldepflicht an die Polizei oder Staatsanwaltschaft.<br />

30<br />

31


D. Flowchart Feststellung des Todes infolge primärer Hirnschädigung D. Flowchart Feststellung des Todes nach Kreislaufstillstand<br />

Maastricht 1 und 2<br />

Schwere primäre Hirnschädigung<br />

Aussichtslose Prognose<br />

Akuter Kreislaufstillstand<br />

Gespräch mit den Angehörigen betreffend<br />

weiteres Vorgehen: Änderung des<br />

Behandlungsziels (palliative Betreuung)<br />

Vorläufige Weiterführung<br />

der lebenserhaltenden Therapie<br />

Erfolglose Reanimation über 20 Minuten<br />

Abbruch der Reanimation, Feststellung<br />

des Kreislaufstillstandes mit TTE<br />

Patient kommt<br />

als Spender in Frage<br />

nein<br />

Patient kommt<br />

als Spender in Frage<br />

nein<br />

Ja<br />

Gespräch über Organspende und Durchführung<br />

von organerhaltenden Massnahmen<br />

Einwilligung zur<br />

Organentnahme<br />

Ja<br />

Mutmasslicher Wille<br />

bzgl. vorbereitender Massnahmen<br />

vorhanden<br />

nein<br />

nein<br />

Patient scheidet als potentieller Spender aus<br />

Ja<br />

Mitteilung des Kreislaufstillstandes<br />

an die Angehörigen<br />

Gespräch über Organspende und Durchführung<br />

von organerhaltenden Massnahmen 1)<br />

Einwilligung zur<br />

Organentnahme<br />

Ja<br />

nein<br />

Patient scheidet als potentieller Spender aus<br />

Ja<br />

Weiterführung von<br />

organerhaltenden Massnahmen 1)<br />

Mutmasslicher Wille<br />

bzgl. vorbereitenderMassnahmen<br />

vorhanden<br />

nein<br />

Ja<br />

Feststellung des Todes<br />

Feststellung des Todes und Aufnahme<br />

von organerhaltenden Massnahmen 2)<br />

Weiterführung der<br />

organerhaltenden Massnahmen 2)<br />

Organentnahme<br />

Organentnahme<br />

1) Die organerhaltenden Massnahmen dürfen vor der Todesfeststellung längstens 2 Tage ab<br />

dem Zeitpunkt des Entscheides (Änderung des Behandlungsziels) durchgeführt werden.<br />

2) Nach der Todesfeststellung dürfen organerhaltende Massnahmen während längstens<br />

72 Stunden weitergeführt werden.<br />

1) Gespräch kann auch nach Feststellung des Todes stattfinden.<br />

Organerhaltende Massnahmen sind über längstens 72 Stunden nach Tod zulässig.<br />

2) Frühestens 10 Minuten nach Abbruch der Reanimation.<br />

32<br />

33


E. Literatur<br />

Bernat J.L. The Whole-Brain Concept of Death Remains Optimum<br />

Public Policy. Journal of Law, Medicine & Ethics 34 no.1 (2006): 35 – 43<br />

Boniolo G. Death and transplantation: Let’s try to get things<br />

methodologically straight: In: Bioethics 21, 1, 2007; 32 – 40<br />

Brill R. Bigos D. Apnea threshold and pediatric brain death.<br />

Crit Care Med 2000; 28: 1257<br />

Busl M. K.; Greer D.M. Pitfalls in the Diagnosis of Brain Death.<br />

Neurocrit Care 2009; 11:276 – 287<br />

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Joffe A.R. Kolski H. Duff J. deCaen A.R. A 10-Month-Old Infant With Reversible<br />

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Brain Death, Request for Organ Donation and Interactions with Professionals<br />

in the ICU. American Journal of Transplantation 2006; 6: 1– 7<br />

Kootstra G.; Daemen J.H.; Oomen A.P. Categories of<br />

non-heart-beating donors. Transplantation proceedings 1995; 27 (5): 289<br />

Kushf G. A Matter of Respect: A Defense of the Dead Donor Rule and of<br />

a «Whole Brain» Criterion for Determination of Death, in: Journal of Medicine<br />

and Philosophy, 35, 3, 2010; 330 – 364<br />

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may negatively affect organ donation. Neurology 2011; 76:119<br />

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guideline update: Determining brain death in adults: Report of the Quality<br />

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2011; 76, 307<br />

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Washington DC, 2008 (http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death)<br />

Radya M. Verheijde J. McGregor J. Scientific, legal, and ethical challenges of<br />

end-of-life organ procurement in emergency medicine, in: Resuscitation, 81,<br />

9, 2010, 1069 – 1078<br />

Siminoff L.A. et al. Factors Influencing Families’ Consent for Donation of<br />

Solid Organs for Transplantation, JAMA, July 4, 2001-Vol 286 No.1: 71 – 77<br />

Saposnik G, Basile VS, Young B. Movements in Brain Death: A Systematic<br />

Review. Can J Neurol Sci 2009; 36:154 – 60<br />

Wijdicks E.F.M. Varelas P.N. Gronseth G.S. et al. Evidence-based guideline<br />

update: Determining brain death in adults: Report of the Quality Standards<br />

Subcommittee of the American Academy of Neurology June 8; 2010<br />

74: 1911 – 1918<br />

Wijdicks E.F.M. The Diagnosis of Brain Death. Current Concepts. N Engl J Med,<br />

Vol. 344, NO 16; 2001: 1215 –1221<br />

34<br />

35


Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Auftrag<br />

Verantwortliche<br />

Subkommission<br />

Beigezogene<br />

Experten<br />

Vernehmlassung<br />

Am 6. Februar 2009 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission mit der Revision der medizin-ethischen Richtlinien<br />

«Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantation» beauftragt.<br />

Prof. Dr. Jürg Steiger, Basel (Präsident)<br />

Lic. theol. Settimio Monteverde, MAE, Basel (Vizepräsident)<br />

Ursula Hager, MAE, Zürich<br />

Prof. Christian Kind, Präsident ZEK, St. Gallen<br />

Dr. Roger Lussmann, St. Gallen<br />

Prof. Philippe Lyrer-Gaugler, Basel<br />

Prof. Stephan Marsch, Basel<br />

Dr. Luca Martinolli, Bern<br />

Prof. Manuel A. Pascual, Lausanne<br />

Dr. Bruno Regli, Bern<br />

Dr. Peter Rimensberger, Genf<br />

Lic. iur. Michelle Salathé, MAE, Basel<br />

Dr. Theodor Weber, Bern<br />

Prof. Markus Weber, Zürich<br />

Prof. Olivier Guillod, Neuchâtel<br />

PD Dr. Franz Immer, Bern<br />

PD Dr. Luca Remondo, Aarau<br />

Prof. Maja Steinlin, Bern<br />

Prof. Reto Stocker, Zürich<br />

Die Richtlinien wurden im Februar / März 2011 einer breiten<br />

Vernehmlassung unterzogen.<br />

Genehmigung Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 24. Mai 2011<br />

vom Senat der SAMW genehmigt.<br />

Inkraftsetzung<br />

Die Richtlinien treten per 1. September 2011 in Kraft.<br />

Impressum<br />

Gestaltung<br />

vista point, Basel<br />

Druck<br />

Schwabe, Muttenz<br />

1. Auflage 1000 d (Juli 2011)<br />

Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

Fax: +41 61 269 90 39<br />

E-mail: mail@samw.ch<br />

Alle medizin-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website<br />

www.samw.ch ETHIK verfügbar.<br />

Die SAMW ist Mitglied der<br />

Akademien der Wissenschaften Schweiz<br />

36


Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien<br />

zur Sterilisation<br />

I. Allgemeines<br />

Die operative Sterilisation ist bei beiden Geschlechtern ein sicheres Mittel zur definitiven<br />

Verhütung weiterer Nachkommenschaft. Die Abklärung, ob der Eingriff die zweckmässige<br />

Methode ist, erfordert eine dem Einzelfall angemessene Beratung durch den Arzt, welcher die<br />

psychischen und physischen Voraussetzungen für eine Sterilisation zu überprüfen hat. Dabei<br />

ist der Einbezug des Ehegatten oder ständigen Partners in der Regel notwendig. Die geringen<br />

Chancen, den Eingriff rückgängig machen zu können, bedingen eine besonders eingehende<br />

Aufklärung (Möglichkeit des Todes von Kindern, der Auflösung der Ehe, der<br />

Wiederverheiratung). Zwischen Beratungsgespräch und Eingriff soll eine angemessene<br />

Bedenkzeit eingeschaltet werden. Ergibt das Beratungsgespräch Hinweise für eine<br />

vorbestandene psychische Erkrankung oder geistige Behinderung, empfiehlt es sich, eine<br />

eingehende konsiliarische Abklärung durch einen Psychiater zu veranlassen. Diese<br />

Massnahme sollte auf alle Fälle ergriffen werden, wenn Zweifel an der Urteilsfähigkeit<br />

bezüglich des Eingriffes bestehen.<br />

Fehlt eine rechtsgültige Einwilligung des Patienten zur Sterilisation, so stellt der Eingriff<br />

eine schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 Ziffer 1 des StGB dar und kann<br />

Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüche nach sich ziehen. Keine strafbare Handlung liegt<br />

vor, wenn die Sterilität als unausweichliche Nebenwirkung einer sonst erforderlichen<br />

ärztlichen Behandlung eintritt.<br />

II. Operative Sterilisation geistig Gesunder<br />

Geistig gesunde, urteilsfähige Personen können über die Vornahme einer Sterilisation frei<br />

entscheiden, was sie unterschriftlich zu bestätigen haben. Der Arzt muss sich dabei<br />

vergewissern, dass die gesuchstellende Person nicht unter Druck gesetzt ist. Diese muss<br />

wissen, dass es sich beim Eingriff um eine meist irreversible Massnahme handelt. Es liegt im<br />

Ermessen des Arztes, eine Sterilisation entgegen dem Wunsch des Gesuchstellers<br />

(Gesuchstellerin) im Einzelfall abzulehnen oder aus Überzeugung keine Sterilisation<br />

auszuführen.<br />

III. Operative Sterilisation geistig Behinderter<br />

Die psychiatrische Abklärung und Beratung ist unabdingbare Voraussetzung für den Eingriff.<br />

Aus der Beratung müssen Diagnose und Prognose der geistigen Behinderung mit<br />

hinreichender Sicherheit hervorgehen. Vermag ein geistig Behinderter die Tragweite des<br />

Eingriffs zu beurteilen, so kann er allein darüber entscheiden, ob der Eingriff ausgeführt<br />

werden soll. Bei urteilsfähigen Minderjährigen oder Entmündigten ist, wenn immer möglich,<br />

für die Zustimmung zum Eingriff das Einverständnis der Eltern oder des Vormundes<br />

einzuholen.


Bei Urteilsunfähigkeit ist der Eingriff unzulässig, weil es sich um ein höchst persönliches<br />

Recht handelt, welches nicht durch einen gesetzlichen Vertreter ausgeübt werden kann.<br />

Die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit müssen der Sachlage angemessen sein: Es<br />

muss vermieden werden, eine Person zu operieren, die das Problem nicht in seiner ganzen<br />

Tragweite verstanden hat; es muss aber auch vermieden werden, dem Wunsch einer Person,<br />

die das Recht auf Selbstbestimmung hat, aus unzumutbaren Gründen nicht nachzukommen.<br />

Der geistig Behinderte muss mindestens verstehen, dass ein operativer Eingriff vorgenommen<br />

werden soll und dass dieser bleibend verhindert, dass er/sie Kinder zeugen beziehungsweise<br />

gebären kann.<br />

Viele geistig Behinderte, vor allem Schwachsinnige, sind stark von ihren Angehörigen<br />

oder Betreuern abhängig. Es ist deshalb wichtig, dass sie ihre Meinung so gut wie möglich<br />

frei äussern können, das heisst in Abwesenheit anderer, sie beeinflussender Personen. Es muss<br />

genügend Zeit für den Entscheidungsprozess gewährt werden, was in der Regel wenigstens<br />

zwei Konsultationen in mehrwöchigem Abstand bedingt.<br />

Bei geistig Behinderten ist trotz eingehender Beratung und Abklärung das Risiko späterer<br />

Unzufriedenheit oder störender, auf den Eingriff zurückgeführter Auswirkungen grösser als<br />

bei Gesunden. Es ist deshalb Aufgabe des Arztes, Vor- und Nachteile vorsichig abzuwägen<br />

und gemäss dem beim betreffenden Menschen zu erwartenden Ergebnis zu handeln.<br />

Bewilligt durch den Senat der SAMW am 17. November 1981.<br />

Prof. O. Gsell (Präsident der Zentralen medizinisch-ethischen Kommission der SAMW)<br />

Prof. R.-S. Mach, Prof. A. Cerletti (Präsidenten der SAMW)


Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Empfehlungen zur Sterilisation von Menschen mit geistiger<br />

Behinderung<br />

Ergänzung zu den Richtlinien von 1981<br />

Allgemeines<br />

Bis zum Vorliegen gesetzlicher Bestimmungen und in Ergänzung zu den «Medizinisch-ethischen<br />

Richtlinien zur Sterilisation» von 1981 erlässt die SAMW zuhanden der Ärzteschaft folgende<br />

Empfehlungen, die sich aber ausschliesslich auf Menschen mit geistiger Behinderung beziehen.<br />

Bei psychisch kranken Menschen haben sie keine Gültigkeit.<br />

Menschen mit geistiger Behinderung soll im Hinblick auf schwangerschaftsverhütende<br />

Massnahmen, aber auch im Hinblick auf eine allfällige Familiengründung in individuell angemessener<br />

Weise eine umfassende ärztliche und psychosoziale Beratung zuteil werden. Dabei sind<br />

genetische Zusammenhänge einzubeziehen. Einen hohen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang<br />

die professionell durchgeführte sexualpädagogische Aufklärung. Diese soll noch vermehrt<br />

unterstützt und gefördert werden.<br />

Der Frau steht heute eine Reihe reversibler kontrazeptiver Verfahren mit hoher Sicherheit<br />

zur Verfügung. Bei deren Evaluation muss unter Beizug von Fachkräften psychosozialen und<br />

heilpädagogischen Aspekten Rechnung getragen werden.<br />

Für den Mann gibt es bekannterweise noch keine reversiblen Verfahren mit ausreichender<br />

Sicherheit.<br />

Urteilsfähige Menschen mit geistiger Behinderung<br />

Die operative Sterilisation darf bei urteilsfähigen Menschen mit geistiger Behinderung nur als<br />

ultima ratio in Betracht gezogen werden. Voraussetzung dazu ist das Gutachten eines Facharztes<br />

für Erwachsenen- oder Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit mehrjähriger<br />

Praxiserfahrung und ausgewiesener Fortbildungsverpflichtung. Das Gutachten kann auch durch<br />

eine psychiatrische Klinik oder Poliklinik erstellt werden, wobei eine kompetente Supervision<br />

gesichert sein muss.<br />

Aus dem Gutachten müssen Diagnose und Prognose der geistigen Behinderung und die<br />

Urteilsfähigkeit in Bezug auf den in Aussicht stehenden Eingriff mit hinreichender Sicherheit<br />

hervorgehen. Einerseits hat die psychiatrische Exploration der betroffenen Person unter Aus-


schluss der Betreuenden zu erfolgen und andererseits sind die Eltern (oder bei deren Fehlen die<br />

nächsten Angehörigen) und weitere in die Betreuung eingebundene Personen anzuhören.<br />

Die Aussagen sollen sich über die bisher erfolgten sozialpädagogischen Bemühungen unter<br />

Einbezug der sexuellen Aufklärung sowie über die beobachteten Fähigkeiten der betroffenen Person<br />

hinsichtlich Einsicht in schwangerschaftsverhütende Massnahmen einerseits und Kinderbetreuung<br />

und -erziehung andererseits erstrecken. Die Befunde und Aussagen sind sorgfältig zu<br />

dokumentieren.<br />

Der Mann oder die Frau mit geistiger Behinderung müssen verstehen, dass ein operativer<br />

Eingriff vorgenommen wird zur bleibenden Verhinderung der Möglichkeit, ein Kind zu zeugen<br />

bzw. zu gebären. Ihr klares Einverständnis muss dokumentiert vorliegen.<br />

Für den Entscheidungsprozess muss ausreichend Zeit eingeräumt werden. Es sind wenigstens<br />

2 Konsultationen in mehrwöchigem Abstand vorzusehen.<br />

Je jünger die betroffene Person ist, desto zurückhaltender ist der Eingriff in Erwägung zu<br />

ziehen.<br />

Ärztlicherseits sind das operative Vorgehen und allfällige Risiken leicht verständlich darzulegen.<br />

Es ist eine einwandfreie Dokumentation zu erstellen, die von der betroffenen Person und<br />

bei Minderjährigkeit oder Entmündigung den Eltern bzw. dem Vormund unterschrieben sein<br />

muss.<br />

Urteilsunfähige Menschen mit geistiger Behinderung<br />

In Einzelfällen kann es Gründe geben für die operative Sterilisation urteilsunfähiger Menschen<br />

mit geistiger Behinderung. In Anbetracht der heute noch bestehenden Gesetzeslücke soll derzeit<br />

in diesen Fällen eine Sterilisation unterbleiben. Zwischenzeitlich sollen dem Einzelfall angemessene<br />

reversible kontrazeptive Verfahren Anwendung finden.<br />

Es ist Sache der aktiv gewordenen gesetzgeberischen Instanzen, Rahmenbedingungen zu<br />

formulieren, die den Eingriff als zulässig erklären.<br />

Genehmigt von der Zentralen Ethikkommission der SAMW am 16. Februar 2001<br />

Prof. Michel Vallotton, Genf, Präsident der ZEK<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 12. Juni 2001<br />

Prof. Werner Stauffacher, Basel, Präsident der SAMW<br />

Mitglieder der für die Ausarbeitung dieser Empfehlungen tätigen Subkommission:<br />

Dr. Ursula Steiner-König, Lyss, Präsidentin; Dr. U. Aebi, Bern; Heidi Blaser, Bern; PD Dr. A.<br />

Bondolfi, Zürich; Dr. R. Bonfranchi, Bern; Regula Eugster-Grossenbacher, Zürich; Prof. W. Felder,<br />

Bern; Dr. Monica Gersbach-Forrer, Genf; Prof. Dr. iur. G. Jenny, Bern; Dr. Cornelia Klauser-Reucker,<br />

Agno; Prof. W. Stoll, Aarau.


Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien<br />

für genetische Untersuchungen am Menschen<br />

Präambel<br />

Die Herausgabe der vorliegenden Richtlinien über prä- und postnatale genetische<br />

Untersuchungen basiert auf folgenden Überlegungen:<br />

Genetische Untersuchungen gewinnen in der medizinischen Forschung und Praxis stetig<br />

an Bedeutung. Sie werden daher bei einem wachsenden Spektrum von Indikationen<br />

angewandt. Dank der Gentechnologie lassen sich immer präzisere Erkenntnisse über<br />

Erbanlagen und Erbdekfekte der untersuchten Personen und indirekt auch von deren<br />

Angehörigen sammeln. Dadurch erfährt die genetische Beratung eine entscheidende<br />

Verbesserung und Erweiterung. Trotz einer genetischen Belastung können Ratsuchende sich<br />

vor schweren Krankheitsfolgen schützen, eigene gesunde Kinder haben oder sich mit<br />

entsprechender Unterstützung auf behinderte Nachkommen vorbereiten.<br />

Vor allem die neue Möglichkeit der gentechnologischen Untersuchungen der<br />

Schlüsselsubstanz der Vererbung, der Desoxyribonukleinsäure (DNS), hat in weiten Kreisen<br />

der Öffentlichkeit Bedenken ausgelöst: Man fürchtet, dass unnötige oder überschiessende<br />

genetisch-diagnostische Untersuchungen zur Diskriminierung von Mitmenschen führen<br />

können. Auch bei Ärzten 1 besteht ein Bedürfnis für mehr Information über die<br />

Voraussetzungen, welche bei der Veranlassung und Durchführung genetischer<br />

Untersuchungen erfüllt sein sollten.<br />

Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften, die sich<br />

an die Ärzteschaft richten, können nur einen Teil der mit der medizinischen Anwendung<br />

genetischer Untersuchungen verbundenen Probleme berücksichtigen. Dem Staat kommt die<br />

Aufgabe zu, geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit genetische Untersuchungen all jenen<br />

zugute kommen, die ihrer aus anerkannten medizinischen Indikationen bedürfen, ohne dass<br />

dabei das Selbsbestimmungsrecht des einzelnen gefährdet oder genetische<br />

Untersuchungsergebnisse missbraucht werden.<br />

Genetische Untersuchungen müssen unter der Verantwortung eines Arztes vorgenommen<br />

werden, der die Indikationen für genetische Testverfahren und die Aussagekraft der daraus<br />

hervorgehenden Resultate kennt.<br />

Eine Katalogisierung der erblich bedingten oder mitbedingten Krankheiten und<br />

Behinderungen, bei denen genetische Untersuchungen hilfreich sein können, ist nicht<br />

sinnvoll, weil dieser Bereich der Medizin einem ständigen Wandel unterworfen ist. Überdies<br />

könnte eine Katalogisierung zu unerwünschten Wertungen in der Gesellschaft Anlass geben.<br />

Die umfassende Aufklärung der Öffentlichkeit über genetische Untersuchungen wird zu<br />

einer wachsenden Aufgabe von medizinischen Fachgesellschaften und Standesorganisationen<br />

sowie auch von Schulen und Medien.<br />

1 Der Einfachheit halber gilt die männliche Bezeichnung für beide Geschlechter.


Richtlinien<br />

1. Geltungsbereich<br />

Diese Richtlinien umschreiben die Rahmenbedingungen für das Vorgehen des Arztes bei<br />

medizinisch-genetischen Untersuchungen.<br />

– Sie beschränken sich auf Untersuchungen zum Nachweis oder Ausschluss von<br />

krankheitsverursachenden Erbeigenschaften.<br />

– Sie gelten für alle Untersuchungen vor und nach der Geburt, die Rückschlüsse auf solche<br />

Erbeigenschaften erlauben.<br />

– Sie zeigen, wie solche Untersuchungen beim Individuum und bei Familien sowie für das<br />

Screening einzusetzen sind.<br />

2. Ärztliche Indikationen für genetische Untersuchungen<br />

Genetische Untersuchungen sind ethisch gerechtfertigt, wenn sie folgenden Zielsetzungen<br />

dienen:<br />

– der Diagnose und Klassifikation einer erblich bedingten Krankheit oder Behinderung;<br />

– der Feststellung einer Anlageträgerschaft für eine erblich bedingte Krankheit oder<br />

Behinderung im Hinblick auf eine Lebens- und Familienplanung;<br />

– der Erfassung einer Krankheitsveranlagung zu einem Zeitpunkt, in welchem Symptome<br />

noch nicht erkennbar sind, falls wirksame Massnahmen zur Linderung und Verhinderung<br />

von schweren Krankheitsfolgen getroffen werden können oder falls das Resultat<br />

unmittelbare Bedeutung für die Lebens- und Familienplanung hat;<br />

– der Beratung von Personen und Paaren im Hinblick auf eine Gefährdung ihrer<br />

Nachkommen durch genetisch bedingte Krankheiten oder Behinderungen.<br />

Solche Untersuchungen werden abgelehnt, wenn sie darauf abzielen, einzig das Geschlecht<br />

oder die Gesundheit nicht beeinträchtigende Eigenschaften des Embryo oder Feten in<br />

Erfahrung zu bringen.<br />

3. Empfehlungen für die Durchführung medizinisch-genetischer Untersuchungen<br />

3.1 Voraussetzungen<br />

Genetische Untersuchungen sind bei mündigen Personen mit deren Zustimmung zulässig. Bei<br />

Unmündigen und Entmündigten sollen sie nur durchgeführt werden, wenn die daraus<br />

hervorgehenden Ergebnisse von unmittelbarer Bedeutung für deren eigene Gesundheit oder<br />

diejenige von nahen Blutsverwandten sind. Invasive pränatale Untersuchungen sind nur<br />

vorzunehmen, wenn die begründete Befürchtung eines genetischen Risikos besteht.<br />

3.2 Informationspflicht<br />

Patienten mit erblich bedingten Krankheiten oder Behinderungen sollen frühzeitig und<br />

sachgerecht über bestehende genetische Untersuchungsmöglichkeiten informiert werden. Das<br />

gleiche gilt für symptomlose Träger vermuteter oder nachgewiesener<br />

krankheitsverursachender Erbanlagen. Gegebenenfalls ist zusätzlich der Rat eines<br />

entsprechend spezialisierten Arztes einzuholen.<br />

Ergibt sich aus genetischen Befunden ein möglicher Handlungsbedarf für<br />

Blutsverwandte, so soll der Arzt sich darum bemühen, ihnen die einschlägige Information –<br />

mit der Zustimmung der untersuchten Person oder ihres gesetzlichen Vertreters – zu<br />

vermitteln (siehe Ziff. 3.7).


3.3 Untersuchungsbegleitende genetische Beratung<br />

Genetische Untersuchungen müssen von einer Beratung begleitet sein. Diese ist vor, während<br />

und nach der Untersuchung sicherzustellen. Eine angemessene Bedenkzeit ist vor der<br />

Untersuchung zu gewähren. Die Beratung umfasst jene Informationen, die der betroffenen<br />

Person die Tragweite eines Entschlusses klarmachen und ihr ermöglichen, diesen aufgrund<br />

eigener ethischer Wertvorstellungen zu begreifen. Sie darf nicht direktiv sein. Die Sicht des<br />

Arztes kann dann in die Entscheidungsfindung eingebracht werden, wenn der Ratsuchende<br />

danach fragt, ferner im Vorfeld von Handlungen, deren Ausführung mit dessen Gewissen<br />

vereinbar sein muss.<br />

Die im Rahmen der genetischen Beratung vermittelte Information hat mindestens<br />

folgende Aspekte zu umfassen: Grund, Art und Tragweite der Untersuchung und der damit<br />

eventuell verbundenen Risiken, Möglichkeit eines unzulänglichen oder unerwarteten<br />

Resultats, Bedeutung eines abnormen Befundes sowie der sich dann anbietenden<br />

Massnahmen, mit denen der Untersuchte seinem Schicksal begegnen kann, Leben mit der<br />

Krankheit oder Behinderung, Selbsthilfegruppen, zudem auch alternative Handlungsweisen.<br />

Dabei ist den individuellen Verhältnissen der zu beratenden Person z.B. in familiärer,<br />

psychologischer, religiöser, schulischer und sozialer Hinsicht Rechnung zu tragen.<br />

3.4 Erforderliche Zustimmung und Entscheid über Kenntnisnahme des Untersuchungsergebnisses<br />

Der Entscheid über die Durchführung, die Fortsetzung und den Abbruch einer Untersuchung<br />

liegt ausschliesslich bei der zu untersuchenden Person. Sie bestimmt auch, ob und wie weit<br />

sie vom Untersuchungsergebnis Kenntnis nehmen und ob sie daraus Konsequenzen ziehen<br />

will. Die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme und das Recht auf Nicht-Wissen muss auch bei<br />

Screening-Untersuchungen gewährleistet sein.<br />

Bei Urteilsunfähigen bedarf die Durchführung einer genetischen Untersuchung der<br />

Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Urteilsfähige Minderjährige und Entmündigte haben<br />

ihr eigenes Entscheidungsrecht. Sie bestimmen auch, ob die Offenlegung von<br />

Untersuchungsergebnissen gegenüber ihnen selbst oder gegenüber den gesetzlichen<br />

Vertretern erfolgen darf.<br />

Die Entscheidung, ob eine pränatale genetische Untersuchung durchgeführt werden soll<br />

und welche Konsequenzen aus dem Ergebnis zu ziehen sind, steht im Rahmen der<br />

gesetzlichen Bestimmungen der Schwangeren zu. Der Einbezug des Partners in die<br />

Meinungsfindung ist anzustreben.<br />

3.5 Langfristige Unterstützung der untersuchten Person<br />

Die Untersuchten sind hinsichtlich des Zuganges zu einer langfristigen medizinischen,<br />

psychologischen und sozialen Hilfe zu unterstützen, unabhängig davon, welche<br />

Konsequenzen sie aus den Untersuchungsergebnissen ziehen.<br />

3.6 Qualitätssicherung bei Laboruntersuchungen<br />

Mit der Durchführung genetischer Laboruntersuchungen sind Institutionen zu beauftragen, die<br />

sich über eine einwandfreie Arbeitsweise ausweisen und sich einer externen und internen<br />

Qualitätskontrolle unterziehen.<br />

3.7 Schweigepflicht und Datenschutz<br />

Für im Rahmen von genetischen Untersuchungen erhobene Resultate gelten die gleichen<br />

Regeln der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes wie für andere medizinische<br />

Daten.


Der Arzt offenbart medizinisch-genetische Befunde gegenüber Dritten nur mit der<br />

Zustimmung der untersuchten Person oder ihres gesetzlichen Vertreters und nur, nachdem<br />

diese über die Tragweite einer solchen Mitteilung aufgeklärt wurden (siehe Ziff. 3.4).<br />

3.8 Genetische Untersuchungen im Hinblick auf berufliche und ausserberufliche Tätigkeiten<br />

Von ärztlicher Seite ist von genetischen Untersuchungen zur Beurteilung der Eignung einer<br />

Person für bestimmte Tätigkeiten abzusehen, es sei denn, die Untersuchung diene zum<br />

Erkennen von Eigenschaften, bei deren Vorhandensein die betreffende Tätigkeit eine<br />

erhebliche Gefahr für die Gesundheit der untersuchten Person oder für Dritte darstellt. Solche<br />

Untersuchungen dürfen nur im Auftrag der untersuchten Person oder aufgrund einer<br />

gesetzlichen Vorschrift vorgenommen werden. Die Ergebnisse sind nur der untersuchten<br />

Person selber auszuhändigen.<br />

3.9 Genetische Untersuchungen im Bereich des Versicherungswesens<br />

Von ärztlicher Seite ist besondere Zurückhaltung zu empfehlen, wenn erkennbar wird, dass<br />

die Ergebnisse einer verlangten genetischen Untersuchung im Zusammenhang mit der<br />

Begründung oder Änderung eines Versicherungsverhältnisses Verwendung finden sollen. Die<br />

Resultate sind ausschliesslich der untersuchten Person oder ihrem gesetzlichen Vertreter<br />

mitzuteilen, nachdem diese über die Tragweite einer Weitergabe aufgeklärt wurden (Ziff. 3.4<br />

und 3.5).<br />

3.10 Forschung<br />

Für die Erhebung und Verwendung genetischer Daten zu wissenschaftlichen Zwecken gelten<br />

die SAMW-Richtlinien für Forschungsuntersuchungen am Menschen. Unter strikter Wahrung<br />

der Anonymität können Ergebnisse von im Interesse einer Person durchgeführten genetischen<br />

Untersuchungen auch ohne deren unmittelbare Zustimmung für genetisch-epidemiologische<br />

Erhebungen genutzt werden. Bei der Veröffentlichung von genetischen<br />

Forschungsergebnissen ist zu verhindern, dass Rückschlüsse auf Individuen möglich sind.<br />

Kommentar<br />

Vererbte Krankheiten belasten die betroffenen Patienten und ihre Familien oft schwer. Für<br />

einige Leiden stehen heute medizinische Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung, die selten<br />

Symptomfreiheit («Heilung», z.B. einer Hypothyreose durch kontinuierliche Hormon-<br />

Substitution), öfter wesentliche Linderung mit Verlängerung der Lebenserwartung (Diabetes,<br />

Thalassämie) ermöglichen. Andere Krankheiten bleiben trotz wirksamer und aufwendiger<br />

Behandlung mit wesentlichen Einschränkungen für den Patienten verbunden (z.B.<br />

Hämophilie). Für viele weitere Erbkrankheiten gibt es leider trotz intensiver<br />

Forschungsanstrengungen heute noch keine wirksamen Therapiemöglichkeiten (z.B.<br />

Myopathien). Auch hier sind wichtige ärztliche Aufgaben zu erfüllen, wie symptomatische<br />

Behandlung, Anpassung der Lebensweise, apparative Versorgung, spezielle Schulung und<br />

Beratung; zahlreiche hochspezialisierte Selbsthilfegruppen und Behindertenorganisationen<br />

leisten dabei sehr wertvolle Hilfe. Die gesetzlichen Leistungen der Invaliden-Versicherung<br />

bieten die notwendige finanzielle Entlastung und gute spezialisierte Beratung für die<br />

Familien.<br />

Alle Betroffenen haben das Bedürfnis, möglichst genau über ihr Leiden Bescheid zu<br />

wissen. Um ihre zahlreichen Fragen beantworten zu können, ist eine präzise medizinische<br />

Diagnosestellung nötig.


Das in den letzten Jahrzehnten erheblich erweiterte und verfeinerte diagnostische<br />

Instrumentarium erlaubt es dem Arzt, die dafür nötigen Unterlagen in ständig besser<br />

werdender Qualität und mit geringerer Belastung des Patienten zu beschaffen. Dadurch ist<br />

auch seine Verantwortung gestiegen, da die korrekte Beantwortung zahlreicher Fragen der<br />

Patienten über den weiteren Verlauf ihres Leidens sehr genaue Kenntnisse der speziellen<br />

Krankheit und ihrer genetischen Grundlagen erfordert; dasselbe gilt für die Fragen von<br />

Blutsverwandten über Risiken für ihre Nachkommen.<br />

Die Familien haben ein Anrecht auf umfassende Untersuchung mit den modernsten<br />

verfügbaren Methoden sowie auf ausführliche fachkundige Beratung nach präziser<br />

Diagnosestellung. Dagegen ist niemand verpflichtet, bei sich oder bei seinen Kindern<br />

diagnostische Untersuchungen durchführen zu lassen: Das «Recht auf Nicht-Wissen» muss<br />

voll gewahrt bleiben.<br />

Die vorliegenden Richtlinien sollen Ärzten in der Praxis helfen, sich ohne grossen<br />

Zeitaufwand einen Überblick über die komplexen Fragen auf medizinischen und<br />

nichtmedizinischen Gebieten zu verschaffen, um Fehlentscheide infolge Unkenntnis wichtiger<br />

Gegebenheiten zu vermeiden.<br />

Sehr viel intensiveres Studium der Spezial-Literatur über Grundlagen der Genetik sowie<br />

über technische, juristische und ethische Einzelfragen ist für alle diejenigen Ärzte<br />

unerlässlich, die selber in der genetischen Untersuchung oder Beratung tätig werden wollen. –<br />

Alle anderen Kollegen, denen dieses Engagement nicht möglich ist, können ausgewiesene<br />

Spezialisten zu Konsilien oder für umschriebene Aufträge beiziehen.<br />

Pränatale Diagnostik<br />

Genetische Beratung soll heute schon vor der Geburt eines kranken Kindes einsetzen. Dies ist<br />

möglich, weil diagnostische Hilfen zur Verfügung stehen, die schon in der<br />

Frühschwangerschaft präzise Befunde liefern. Die meisten pränatalen Untersuchungen<br />

ergeben ein negatives Resultat und ermöglichen es so dem Arzt, die Hoffnung der Eltern auf<br />

ein gesundes Kind zu bestätigen. Diese Aussage bezieht sich selbstverständlich nur auf die<br />

bestimmte, in dieser Familie vorkommende Erbkrankheit. Dagegen wird natürlich kein Arzt je<br />

eine globale «Garantie für ein gesundes Kind» abgeben können, wie von Gegnern dieser<br />

Untersuchungen vielfach behauptet wird; auch in der Pränatalzeit muss die Diagnostik, wie<br />

allgemein in der Medizin, auf eine spezifische Fragestellung ausgerichtet sein, und die<br />

Antwort wird sich auf diese beschränken.<br />

Wenn pränatale Untersuchungen hingegen zeigen, dass ein Fetus von der gesuchten<br />

Erbkrankheit betroffen ist, stellen sich neue Aufgaben:<br />

Falls die Krankheit postnatal wirksam behandelt oder geheilt werden kann, hat man Zeit,<br />

in aller Ruhe die nötigen Vorbereitungen zu treffen (Beispiel: bei vererbten Immundefekten<br />

ist durch Knochenmarktransplantation eine Heilung möglich; die Erfolgsaussichten sind<br />

wesentlich besser, wenn das Kind bei der Geburt nicht kontaminiert wird und wenn die<br />

Behandlung früh einsetzen kann). Falls keine wirksame Behandlung zur Verfügung steht, sind<br />

mit den betroffenen Eltern folgende Möglichkeiten zu erwägen:<br />

– Entscheidung für eine Interruptio, um dem Kind und sich selber im Sinne einer<br />

bewussten Familienplanung voraussehbare Leiden zu ersparen.<br />

– Entscheidung gegen eine Interruptio, meist aus weltanschaulichen Gründen. In diesem<br />

Falle bestehen wieder zwei Möglichkeiten:<br />

1. Verzicht auf jede pränatale Untersuchung, weil das Schicksal auf jeden Fall<br />

angenommen wird. Diese Option ist deswegen vor der Einleitung – in diesem Falle<br />

unnötiger – diagnostischer Massnahmen zu besprechen (Recht auf Nicht-Wissen).


2. Kein Verzicht auf pränatale Untersuchungen, sondern bewusstes Akzeptieren der<br />

möglichen zukünftigen Erbkrankheit. Die Zeit der Schwangerschaft soll für eine<br />

medizinische, geistige und materielle Vorbereitung auf die Geburt und das Leben eines<br />

behinderten Kindes genutzt werden, wozu Selbsthilfegruppen und Behinderten-<br />

Organisationen grosse Hilfe leisten.<br />

Alle diese Entscheidungen sind von den prospektiven Eltern zu treffen. Der Arzt soll ihnen<br />

dabei beratend, aber nicht direktiv helfen und sie auf alle bestehenden Möglichkeiten<br />

hinweisen. Wenn die geäusserten oder vermuteten Wünsche der Eltern mit den persönlichen<br />

moralischen Ansichten des Arztes nicht vereinbar sind, kann er sie an einen Kollegen weiter<br />

weisen, welcher deren Ansichten entgegenkommt.<br />

Ethische Spannweite<br />

Die vorliegenden Richtlinien versuchen die Grenzen des heute als ethisch vertretbar<br />

Angesehenen abzustecken; sie tragen dem Umstand Rechnung, dass die gegenwärtigen<br />

Entwicklungen in diesem Bereich kontrovers sind.<br />

Die heute verfügbaren komplexen diagnostischen Techniken lösen – vor allem bei Nicht-<br />

Betroffenen – oft Unsicherheit oder Angst und als Folge gelegentlich globale Ablehnung aus.<br />

Dafür sind teils ungenügende Kenntnis, teils die Befürchtung von Missbräuchen<br />

verantwortlich. Der Vorbeugung gegen missbräuchliche Anwendung pränataler Diagnostik<br />

(Beispiel: Wunsch einer Interruptio, wenn das Geschlecht eines gesunden Kindes nicht den<br />

Vorstellungen der «Familienplanung» entspricht) wurde in diesen Richtlinien grosse<br />

Aufmerksamkeit gewidmet.<br />

Sehr verständliche und begründete Bedenken von seiten Behinderter oder für diese<br />

sorgender Organisationen sehen eine Diskriminierung dieser ohnehin schon benachteiligten<br />

Menschen voraus, da sie nicht einem heutigen «Idealmenschen» entsprächen. – Diese<br />

Tendenz ist unleugbar erkennbar. Sie ist aber nicht durch die Verfügbarkeit der neuen<br />

Techniken entstanden, sondern bildet einen Teilaspekt der in unserer Gesellschaft weit<br />

verbreiteten Anspruchshaltung und des damit verkoppelten «Machbarkeitswahns». Die<br />

Akzeptanz für Behinderte hat in letzter Zeit nicht zu-, sondern vielleicht sogar abgenommen.<br />

Die Befürchtung, dass Eltern solcher Kinder (z.B. mit Trisomie 21) in der Gesellschaft<br />

Vorwürfe gemacht werden, ist nicht aus der Luft gegriffen. Eine Einschränkung oder gar ein<br />

Verbot heute bekannter ärztlicher Handlungen würde daran aber nichts ändern. Gegen die<br />

Diskriminierung Behinderter wird man wie bisher mit Aufklärung und steter Bitte um<br />

Hilfsbereitschaft angehen müssen. Umgekehrt wäre es ethisch nicht vertretbar, anderen Eltern<br />

die Benutzung aller vorhandenen medizinischen Möglichkeiten verbieten zu wollen, wenn sie<br />

selber deren Folgen moralisch verantworten können. Mehr Toleranz für die Bedürfnisse und<br />

Wünsche der Mitmenschen ist also von beiden Seiten, den Gesunden und den Kranken,<br />

erwünscht.<br />

Beratung<br />

Ganz besonderes Gewicht wird in diesen Richtlinien auf die Beratung gelegt. In Analogie zur<br />

Diagnostik können nur gut informierte Ärzte auch eine wohl fundierte Beratung bieten. Wer<br />

dieser Forderung nicht genügen kann, wird sich bei Fachleuten erkundigen oder die<br />

Ratsuchenden für diese Probleme dorthin überweisen. Dies gilt ebenso für fachtechnische<br />

Fragen der Genetik wie für spezialisiserte Beratungsstellen der Invalidenversicherung, für<br />

Selbsthilfe- und Behinderten-Organisationen oder für juristische und ethische/religiöse<br />

Belange.


Mitglieder der für die Ausarbeitung dieser Richtlinien tätigen Subkommissionen:<br />

PD. Dr. Hj. Müller, Basel, Präsident der Subkommission «Postnatale Diagnostik» und der<br />

Arbeitsgruppe «Genetische Untersuchungen am Menschen»; Prof. Th. Deonna, Lausanne,<br />

Präsident der Subkommission «Pränatale Diagnostik»; Dr. I. Abbt, Luzern; Prof. Dr. C.<br />

Bachmann, Lausanne; Prof. W. Bär, Zürich; PD Dr. Ch. Brückner, Basel; Prof. E. Bühler,<br />

Basel; Prof. B. Courvoisier, Genf; Prof. P. Dayer, Genf; Prof. E. Fuchs, Genf; Dr. J. Gelzer,<br />

Basel; Prof. O. Guillod, Neuchâtel; Prof. F. Gutzwiller, Zürich; PD Dr. C. Heierli, Basel;<br />

Prof. W. Hitzig, Zürich; Prof. Dr. H. Moser, Bern; Dr. E. Möhr-Baumann, Zürich; Prof. G.<br />

Pescia, Lausanne; PD Dr. B. Sitter-Liver, Bern; J. M. Thévoz, Genf; Pfr. Y. Waldboth,<br />

Zürich; PD Dr. W. Weber, Basel; S. Wicki, Lausanne<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 3. Juni 1993.<br />

Prof. B. Courvoisier, Genf<br />

(Präsident der Zentralen Ethikkommission der SAMW bis 4. 6. 1992)<br />

Prof. W. H. Hitzig, Zürich<br />

(Präsident der Zentralen Ethikkommission der SAMW ab 5. 6. 1992)<br />

Literatur<br />

1 SAMW: Gentechnologie – Chance und Herausforderung für die Medizin. Basel, 1992.<br />

Zu beziehen im Generalsekretariat der SAMW, Petersplatz 13, 4051 Basel.<br />

ASSM: Technologie génétique – chance et défi pour la médecine. Bâle, 1993. Disponible<br />

au secrétariat général ASSM, Petersplatz 13, 4051 Bâle.<br />

2 SAMW-Richtlinien für Forschungsuntersuchungen am Menschen.<br />

3 Nationalkommissin Iustitia ex Pax, Bern: Gentechnologie aus ethischer Sicht. Band 24.<br />

Freiburg: Paulus-Druckerei, 1992.<br />

4 Deutsches Grünes Kreuz. Was man über genetische Beratung wissen sollte. Dtsch.<br />

Grünes Kreuz, Schuhmarkt 4, D-35037 Marburg/Lahn.<br />

5 Weatherall DJ. New genetics and clinical practice. 2. Aufl. Oxford: Oxford University<br />

Press; 1985.<br />

Ratschläge erteilen die Institute für Medizinische Genetik der Schweizerischen Universitäten<br />

oder der Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik.


Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien<br />

für die Transplantation foetaler menschlicher Gewebe<br />

Den Vertretern der Bioethik wird gelegentlich vorgeworfen, angesichts der schnellen<br />

wissenschaftlichen Entwicklung auf diesen Gebieten kämen sie ständig zu spät, da sie sich<br />

darauf beschränkten, bereits abgelaufene Entwicklungen zu erklären, zu verstehen und<br />

schliesslich ethisch zu rechtfertigen. Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) ist bemüht,<br />

entgegen diesem Vorurteil neue Probleme vorausschauend zu erkennen und zu überlegen. Im<br />

besonderen Fall der Transplantation foetaler Gewebe hat sie schon bald nach Bekanntwerden<br />

derartiger Versuche im Jahre 1992 eine Subkommission zum Studium der medizinischen,<br />

rechtlichen und ethischen Aspekte eingesetzt.<br />

In der Praxis wurde diese therapeutische Möglichkeit bei uns bis jetzt nur in wenigen<br />

Einzelfällen eingesetzt. Das ursprüngliche Vorgehen, frisch entnommene foetale Gewebe<br />

einzupflanzen, hat sich – vor allem wegen der geringen Zellzahlen – als wenig wirksam<br />

erwiesen. Die heute mögliche In- vitro-Züchtung von Zellen eröffnet aber neue Perspektiven.<br />

Nach der Erstpublikation unserer Richtlinien vor fast zwei Jahren erhielten wir zahlreiche<br />

Zuschriften. Allen Einsendern danken wir für ihre Bemühungen; die wesentlichen Gedanken<br />

sind in den Text eingearbeitet worden.<br />

Die heute vorgelegte definitive Version dieser Richtlinien, denen der Senat der SAMW<br />

an seiner Sitzung vom 3. Juni 1998 seine Zustimmung erteilt hat, wurde durch politische<br />

Aktivitäten verzögert:<br />

– Am 1.8.96 trat die «Eidgenössische Verordnung über die Kontrolle von Blut,<br />

Blutprodukten und Transplantaten» in Kraft, die bis zur Ausarbeitung eines<br />

Bundesgesetzes über die Heilmittel, längstens bis Ende 2005, gelten wird.<br />

– Ferner ergriff der Bund die Initiative zu einem Transplantationsgesetz. Im neuen Art.<br />

24 decies der Bundesverfassung wurden alle von der SAMW in der Vernehmlassung (vor<br />

Ende November 1996) gemachten Vorschläge berücksichtigt; der Nationalrat hat dem<br />

Entwurf am 2.12.97 zugestimmt.<br />

– Schliesslich waren wir an der Formulierung der Antwort des Bundesrates (12.9.97) auf<br />

eine Interpellation von Frau Nationalrätin M. von Felten massgeblich beteiligt.<br />

Die Aufzählung zeigt, welche Hürden bis zu endgültigen gesetzlichen Regelungen auf dem<br />

Gebiete der Transplantationsmedizin noch zu überwinden sein werden und mit welchen<br />

Zeitspannen dabei gerechnet wird. In dieser Übergangsphase können die vorliegenden<br />

Richtlinien der SAMW den interessierten Forschern durch sachgerechte Diskussion<br />

wesentlicher Fragen Hilfe bieten. Vor allem berücksichtigen sie auch philosophische,<br />

religiöse und weltanschauliche Erwägungen oder Bedenken. Unser Volk sollte diese<br />

Lebensfragen in den kommenden Jahren – vor Formulierung starrer Gesetze – noch<br />

eingehend bedenken und besprechen können.<br />

Die in den Richtlinien, Art. 2.1, vorgesehene Koordinationsstelle ist bereits<br />

funktionsfähig. Anmeldungen und Anfragen gemäss Art. 2.2 sind an den Koordinator per<br />

Adresse Generalsekretariat SAMW, Petersplatz 13, CH-4051 Basel, zu richten.<br />

Prof. E. R. Weibel (Präsident der SAMW)<br />

Prof. W. Hitzig (Präsident der Zentralen Ethikkommission der SAMW)


Präambel<br />

Von der Transplantation foetaler menschlicher Gewebe 1 versprechen sich Ärzte 2 und Forscher<br />

eine wirksamere Behandlung bestimmter schwerer Krankheiten. Als Vorteile foetaler Zellen<br />

betrachtet man einerseits ihre höhere Wachstumspotenz, andererseits ihre geringere<br />

Antigenizität und damit verbunden ein kleineres Risiko der immunologischen Abstossung.<br />

Die vorliegenden Richtlinien behandeln ausschliesslich die Transplantation von<br />

Foetalgeweben im Rahmen von definierten Forschungsprojekten.<br />

Die bisherigen therapeutischen Versuche betrafen den Morbus Parkinson<br />

(Transplantation foetaler dopaminergischer Neurone), hereditäre Stoffwechselstörungen<br />

(Transplantation von Knochenmark- oder Leber-Stammzellen), den juvenilen Diabetes<br />

mellitus (Transplantation von Pankreas-Inselzellen) sowie Retinitis pigmentosa<br />

(Transplantation foetaler Retina-Zellen). Die Verwendung foetaler Keimzellen kommt in der<br />

Schweiz aufgrund des Art. 24 novies der Bundesverfassung nicht in Frage.<br />

Ein Schwangerschaftsabbruch findet vorwiegend im ersten Trimester statt; zur<br />

Transplantation geeignetes Foetalgewebe aus dieser Periode wäre deswegen reichlich<br />

vorhanden, solange die Übertragung im Sinne einer experimentellen Therapie erfolgt. Sollte<br />

sich aufgrund der therapeutischen Erfahrungen ein Bedürfnis nach routinemässiger<br />

Anwendung ergeben, müssten die Richtlinien revidiert werden.<br />

Das zur Transplantation verwendete Foetalgewebe wird bei induziertem<br />

Schwangerschaftsabbruch gewonnen. Diese Tatsache hat ethische und politische<br />

Grundsatzdiskussionen ausgelöst: u.a. wurde befürchtet, dass ein therapeutischer Bedarf nach<br />

Foetalgewebe zusätzliche Eingriffe fördern oder dem Schwangerschaftsabbruch eine heute<br />

nicht vorhandene gesellschaftliche Akzeptanz verleihen werde. Der Entscheid einer Frau zum<br />

Schwangerschaftsabbruch sollte deshalb so wenig wie möglich durch ihr Wissen um eine<br />

mögliche Verwendung von Foetalgewebe beeinflusst werden. Mit Rücksicht auf diese<br />

Bedenken darf die Zustimmung zur späteren Verwendung des Gewebes erst eingeholt<br />

werden, nachdem der Entschluss zum Schwangerschaftsabbruch feststeht.<br />

Transparenz des Vorgehens ist unerlässlich, d.h. alle unentbehrlichen Beziehungen<br />

zwischen den beteiligten Ärztegruppen, die Foetalgewebe entnehmen bzw. transplantieren,<br />

müssen klar umschriebenen Wegen folgen. Deshalb wird eine Koordinationsstelle geschaffen,<br />

die den Kontakt zwischen den betroffenen Ärztegruppen vermittelt und darüber Protokoll<br />

führt. Sie steht unter der Aufsicht der Zentralen Ethikkommission der SAMW.<br />

Angesichts des ethischen Pluralismus in unserer Gesellschaft sollte einerseits die neue<br />

Therapiemöglichkeit verfügbar sein, während andererseits die Freiheit derjenigen, die sie aus<br />

Gewissensgründen ablehnen, gewahrt sein muss.<br />

1. Ethische Normen<br />

1.1 Respektierung des Foetus; Ausschluss jeder kommerziellen Nutzung<br />

Der Foetus verdient aufgrund seiner menschlichen Natur angemessene Achtung. Der Foetus,<br />

seine Organe oder Zellen dürfen als solche nicht Gegenstand irgendwelcher<br />

Handelsbeziehungen sein. Insbesondere ist für die Frau jegliche Belohnung einer<br />

Gewebespende strikte abzulehnen, und ebenso ist zwischen den Ärzteteams, die<br />

1 Gilt für Gewebe während der Embryonal- und Foetalzeit. S. auch Ziff. 3 «Kommentar», erster Abschnitt.<br />

2 Der Einfachheit halber gilt die männliche Bezeichnung für beide Geschlechter.


Foetalgewebe entnehmen bzw. transplantieren, jede Absprache über direkte oder indirekte<br />

Vorteile in diesem Zusammenhang untersagt.<br />

1.2 Indikationen<br />

Eine Transplantation von Foetalgewebe darf nur durchgeführt werden, wenn dafür eine<br />

medizinisch-wissenschaftliche Indikation besteht.<br />

1.3 Einwilligungserklärung der Frau<br />

Eine Frau, die sich zum Schwangerschaftsabbruch entschliesst, verliert dadurch nicht ipso<br />

facto die Möglichkeit, über das weitere Schicksal des Foetus zu bestimmen. Gewebe und<br />

Zellen desselben dürfen deswegen nicht ohne ihre schriftliche Einwilligung verwendet<br />

werden. Allerdings darf die Frage einer möglichen wissenschaftlichen oder therapeutischen<br />

Verwendung foetaler Gewebe erst an eine Frau herangetragen werden, wenn ihr Entscheid<br />

zum Schwangerschaftsabbruch klar feststeht. Ihre Zustimmung sowohl zum<br />

Schwangerschaftsabbruch als auch zur vorgesehenen Verwendung des foetalen Gewebes<br />

muss nach angemessener mündlicher Besprechung schriftlich festgehalten werden. Ferner<br />

muss die Frau der Durchführung diagnostischer Untersuchungen, die nicht ihrer eigenen<br />

Gesundheit, sondern dem Schutz des Transplantats-Empfängers (z.B. Suche nach<br />

Infektionserregern) dienen, ihre Zustimmung erteilen.<br />

1.4 Verbot gezielter Spenden<br />

Eine Schwangerschaft mit dem Ziel, einem Dritten transplantierbares Foetalgewebe<br />

zukommen zu lassen, ist nicht statthaft. Ein wissentlich an einem solchen Vorhaben<br />

beteiligter Arzt würde in schwerwiegender Weise gegen medizinisch-ethische Normen<br />

verstossen. Die Frau kann keinen bestimmten Empfänger für das von ihr gewonnene<br />

Foetalgewebe bezeichnen und kein Recht auf Auskunft über die Person des Empfängers<br />

geltend machen.<br />

1.5 Entscheid über Zeitpunkt und Verfahren des Schwangerschaftsabbruchs<br />

Die Wahl des Zeitpunkts eines Schwangerschaftsabbruchs darf nicht von der späteren<br />

Verwendung des Foetalgewebes beinflusst werden. Bei der Bestimmung des Zeitpunkts und<br />

der Technik für den Schwangerschaftsabbruch sind geringfügige Anpassungen an den<br />

Verwendungszweck erlaubt, wenn sie ohne Verletzung der Interessen der Frau realisiert<br />

werden können.<br />

1.6 Einwilligungserklärung und Verpflichtung des Empfängers<br />

Der Empfänger des Foetalgewebes muss in angemessener Weise über die Herkunft des zu<br />

transplantierenden Gewebes informiert werden. Er muss seine Einwilligung schriftlich<br />

erteilen. Er darf keinen Versuch unternehmen und keine Möglichkeit haben, mit der für seinen<br />

Fall betroffenen Frau in Kontakt zu treten oder finanzielle Mittel als Anreiz oder Druckmittel<br />

einzusetzen.


1.7 Zustimmung einer Ethikkommission<br />

Jede Transplantation von Foetalgewebe muss im Rahmen eines Forschungsprojektes erfolgen,<br />

das von der zuständigen Ethikkommission geprüft und bewilligt wurde.<br />

1.8 Vorbehalt einer Gewissensentscheidung für Medizinalpersonen<br />

Das an Transplantationen beteiligte medizinische Personal muss über die Art des Gewebes<br />

und über das Forschungsprojekt informiert werden. Jede Person kann ihre Mitwirkung<br />

verweigern, ohne dass ihr daraus Nachteile erwachsen.<br />

1.9 Achtung der Privatsphäre<br />

Wahrung der Privatsphäre sowohl der am Forschungsprojekt mit Foetalgewebe<br />

teilnehmenden Frau als auch des Empfängers ist vom ethischen Standpunkt aus sehr<br />

bedeutungsvoll. An Transplantationen beteiligtes medizinisches Personal muss die<br />

Anonymität der Betroffenen gegenüber Dritten unbedingt wahren.<br />

2. Ausführungen in der Praxis<br />

2.1 Koordinationsstelle<br />

Im Prinzip arbeiten die beteiligten Ärzte (Gynäkologen und Transplantations-Chirurgen)<br />

voneinander unabhängig. Eine strenge Trennung zwischen den beiden Ärztegruppen ist<br />

jedoch nicht praktikabel, denn aus logistischen Gründen sind zur Transplantation frischer<br />

Gewebe direkte Kontakte unvermeidbar. In Anbetracht der geringen Anzahl der in nächster<br />

Zeit zu erwartenden Transplantationen von Foetalgewebe erscheint vorläufig eine einfache<br />

Koordinationsstelle unter Leitung eines ärztlichen Koordinators als beste Lösung.<br />

2.2 Aufgaben des Koordinators<br />

Der Koordinator<br />

– nimmt Anmeldungen von Ärztegruppen, die Foetalgewebe beschaffen können, entgegen.<br />

Er führt Buch über den Zeitplan der vorgesehenen Eingriffe;<br />

– nimmt Anmeldungen von Ärztegruppen, die Transplantationen planen, entgegen und<br />

notiert deren Bedürfnisse;<br />

– gestattet die Übergabe des Foetalgewebes vom entnehmenden an den transplantierenden<br />

Arzt, nachdem er die vorgelegten schriftlichen Dokumente geprüft und mit den<br />

Richtlinien Ziffern 1.1 bis 1.7 konform gefunden hat;<br />

– besorgt die Archivierung und Anonymisierung aller Dokumente. Er verwaltet die<br />

zugehörige Liste der erfassten Personen getrennt von den übrigen Daten;<br />

– ist für die Sicherheit der Daten verantwortlich. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wird er mit<br />

den notwendigen Mitteln ausgestattet.


2.3 Aufsichtsinstanz<br />

Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der SAMW überwacht die Tätigkeit des Koordinators<br />

und entscheidet bei Unklarheiten oder Konflikten.<br />

Die ZEK beurteilt und bewilligt Gesuche um eine wissenschaftliche Auswertung der<br />

beim Koordinator gespeicherten Daten, die nur anonymisiert zugänglich sind.<br />

2.4 Vereinbarungen auf internationaler Ebene<br />

Internationaler Austausch von Foetalgewebe ist im Rahmen kooperativer Forschungsprojekte<br />

mit Gruppen im Ausland möglich. Dabei gelten die in unserem Lande gültigen ethischen<br />

Richtlinien bzw. die im betreffenden Land gültigen nationalen Bestimmungen, falls dieselben<br />

restriktiver sind. Die Zusammenarbeit muss sich auf Länder und Forscher beschränken, deren<br />

Normen den schweizerischen entsprechen. Die ZEK und der Koordinator müssen mit dem<br />

internationalen Austausch von Foetalgewebe einverstanden sein.<br />

3. Kommentar<br />

Nomenklatur: In der Embryologie wird üblicherweise zwischen Embryonalzeit (2. bis 10.<br />

Schwangerschaftswoche) und Foetalperiode (ab Beginn der 11. Schwangerschaftswoche)<br />

unterschieden. In der heute bezüglich Gewebetransplantation massgebenden Literatur [3, 7, 8]<br />

wird jedoch durchwegs der Begriff «fetal tissue» verwendet. Dieser international<br />

eingebürgerte Begriff wird deshalb auch in den vorliegenden Richtlinien verwendet.<br />

Die Transplantation von Foetalgewebe wirft die gleichen allgemeinen Fragen auf wie die<br />

Organtransplantation. Zusätzliche ethische Fragen ergeben sich aus der Verknüpfung mit dem<br />

Themenkreis Schwangerschaftsabbruch. Vom medizinisch-ethischen Standpunkt aus besteht<br />

kein Widerspruch zwischen einer prinzipiellen Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs und<br />

der Zustimmung zu medizinischen Verwendungen von ohnehin verfügbarem Foetalgewebe.<br />

ad 1.1: Hier soll daran erinnert werden, dass den von menschlichen Foeten stammenden<br />

Geweben und Zellen angemessener Respekt gebührt. Dies gilt auch, wenn solche Gewebe<br />

oder Zellen nicht weiter verwendet werden sollen. Jeder Handel mit menschlichen Geweben<br />

und Organen ist nach den SAMW-Richtlinien zur Organtransplantation untersagt, also auch<br />

mit Foetalgeweben.<br />

ad 1.2: Transplantationen von Foetalgewebe stehen heute noch im Dienste experimenteller<br />

Therapiestudien. Ein Transplantationsplan muss wissenschaftlich belegt sein und eine exakte<br />

Nachkontrolle und spätere retrospektive Beurteilung der Ergebnisse vorsehen.<br />

Der Koordinator hat die Aufgabe, die Liste der anerkannten Indikationen für die<br />

Transplantation von Foetalgeweben stets auf dem neuesten Stand zu halten und diese der ZEK<br />

in regelmässigen Intervallen zu unterbreiten. Er arbeitet dabei mit den auf diesem Gebiet<br />

kompetenten Ärztegruppen zusammen.<br />

ad 1.3: Die Forderung, dass die betroffene Frau in Kenntnis der geplanten Verwendung des<br />

foetalen Gewebes diesem Vorgehen zustimmen soll, ist heute selbstverständlich («informed<br />

consent»). Diese Bestimmung schliesst wohlverstanden nicht aus, dass Ärzte und<br />

Pflegepersonen alle Fragen, welche die Frau von sich aus stellt, freimütig beantworten. Eine


minderjährige urteilsfähige Frau entscheidet allein über allfällige Spenden von Foetalgewebe.<br />

Bei urteilsunfähigen Frauen sind derartige Spenden ausgeschlossen.<br />

Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch muss klar von der Frage einer späteren<br />

Verwendung des Foetalgewebes getrennt werden. Missachtung dieser Unterscheidung bringt<br />

zwei Gefahren mit sich, wie Anreize gesetzt oder Druck ausgeübt werden könnten: Einerseits<br />

könnten der Frau materielleVorteile geboten werden. Andererseits sind auch subtilere<br />

Druckmittel psychologischer oder gesellschaftlicher Art denkbar; so könnte man im Sinne<br />

einer utilitaristischen Kosten-Nutzen-Berechnung argumentieren, das «Gute» (der<br />

therapeutische Nutzen einer Transplantation) würde das «Böse» (den<br />

Schwangerschaftsabbruch) aufwiegen. Derartige Überlegungen könnte eine Frau vor der<br />

schwierigen Entscheidung machen, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen lassen oder<br />

austragen soll, oder auch Ärzte, die zum erstenmal mit dem moralischen Problem des<br />

Schwangerschaftsabbruchs konfrontiert werden. – Emotionale Verknüpfungen dieser Art<br />

versuchen die Richtlinien jedoch durch Festlegung einer klaren zeitlichen Sequenz der zwei<br />

erforderlichen Entscheidungen möglichst zu vermeiden.<br />

Eine weitere Belastung für eine zur Teilnahme am Forschungsprojekt bereitwillige Frau<br />

ergibt sich aus Forderungen für die Sicherheit des Empfängers: Um ihn vor der Übertragung<br />

von Infektionen zu schützen, sind bei der Frau zusätzliche diagnostische Untersuchungen zu<br />

fordern, die zur Erhaltung oder Verbesserung ihrer Gesundheit nicht notwendig wären. Als<br />

unerwünschte Ereignisse könnten Befunde entdeckt werden, die störend in das Leben der Frau<br />

einbrechen. Virus-Infektionen (CMV, HCV, HIV u.a.) sind Beispiele dafür, dass die<br />

Frühdiagnose in Anbetracht der beschränkten therapeutischen Möglichkeiten bis jetzt keinen<br />

Vorteil bringt und Nichtwissen unbeschwerte Jahre gewähren würde. Um die Interessen<br />

beider Seiten – der Frau wie des Empfängers – zu wahren, muss deswegen von der Frau die<br />

Erlaubnis zur Durchführung der nötigen Untersuchungen eingeholt werden, nachdem ihr das<br />

Ziel (Interesse des Empfängers) und die möglichen Folgen für sie selber erklärt worden sind.<br />

Die Analogie zur Situation des Blutspenders ist offensichtlich.<br />

Diese Beurteilung könnte sich in Zukunft ändern, wenn die als Beispiele erwähnten<br />

Mikroorganismen direkt im Gewebe nachweisbar würden, was heute noch nicht in jedem Fall<br />

mit der erforderlichen Empfindlichkeit möglich ist.<br />

Es soll nochmals ausdrücklich betont werden, dass der Arzt die nötigen Entscheide (zur<br />

Schwangerschaftsunterbrechung, zur Verwendung des Gewebes und zu zusätzlichen Tests)<br />

mit der Frau in einer für sie verständlichen Sprache gründlich besprechen und ihren<br />

Entschluss schriftlich festhalten soll.<br />

ad 1.4: Aus der Literatur sind Einzelfälle bekannt, in denen Frauen eine Schwangerschaft mit<br />

dem Vorsatz auf sich nahmen, diese im 3. Monat unterbrechen zu lassen, um das<br />

Foetalgewebe ihrem an Morbus Parkinson leidenden Vater zur Verfügung zu stellen. –<br />

Derartige Vorhaben sind aufgrund dieser Richtlinien nicht statthaft.<br />

ad 1.5: Die Ärztegruppe, die den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, könnte veranlasst<br />

werden, den Zeitpunkt des Eingriffs und das Verfahren erheblich zu verändern, um die<br />

Quantität oder die Qualität des dabei gewonnenen transplantierbaren Foetalgewebes zu<br />

verbessern. Aufgrund dieser Richtlinien sind ausschliesslich geringfügige Anpassungen<br />

erlaubt, wenn sie die Interessen und die Gesundheit der Frau nicht beeinträchtigen.<br />

ad 1.6: Der Empfänger muss im Sinne der «Richtlinien zu Forschungsuntersuchungen am<br />

Menschen» der SAMW sein Einverständnis schriftlich bestätigen, nachdem ihm Ziele und<br />

Risiken des Projektes in einer für ihn verständlichen Weise mündlich und schriftlich dargelegt<br />

worden sind.


Der Empfänger könnte eine spätere ungünstige Entwicklung seiner Krankheit gewissen<br />

Eigenschaften des Transplantats anlasten und deswegen Forderungen an die am<br />

Forschungsprojekt teilnehmende Frau stellen. Um hier alle denkbaren legalen Ansprüche von<br />

vornherein auszuschliessen, ist die Frau von jeder diesbezüglichen Verantwortlichkeit<br />

freizustellen.<br />

Im Zusammenhang mit der Verwendung von foetalem Nervengewebe begegnet man<br />

gelegentlich der Vorstellung einer «Transplantation der Persönlichkeit». Diese Idee ist<br />

unrealistisch, weil nur Bruchstücke von Hirngewebe oder isolierte Zellen transplantiert<br />

werden können, nicht aber die für charakterliche Eigenschaften wesentlichen Verknüpfungen<br />

zwischen Nervenzellen und Nervenzentren.<br />

ad 1.7: Eine Lokale Ethik-Kommission muss jedes einzelne Forschungsprojekt aufgrund<br />

folgender Unterlagen beurteilen:<br />

– Indikationsstellung (s. Ziffer 3 ad. 1.2);<br />

– Einwilligungserklärung der voll informierten Frau zur vorgesehenen Verwendung der<br />

Gewebe und zu ergänzenden diagnostischen Untersuchungen (s. Ziffer 3 ad 1.3);<br />

– Beschreibung der Verfahren, deren sich die beiden Ärztegruppen bedienen (s. Ziffer 3 ad<br />

1.5);<br />

– Einwilligung des Empfängers nach Aufklärung (s. Ziffer 3 ad 1.6);<br />

– Hinweise im Versuchsprotokoll, dass das Vorhaben mit den Normen übereinstimmt, die<br />

für Experimente am Menschen gelten, insbesondere mit den Richtlinien der SAMW zu<br />

diesem Themenkreis.<br />

Die Lokale Ethikkommission verfasst eine schriftliche Beurteilung zuhanden des<br />

Koordinators.<br />

ad. 1.8: Analog zur Verweigerung der Assistenz beim Schwangerschaftsabbruch aus<br />

Gewissensgründen kann jede Medizinalperson die Mithilfe bei der experimentellen Therapie<br />

mit Foetalgewebe ablehnen.<br />

ad 1.9: Wenn die im Forschungsprojekt betroffene Frau und der Empfänger in der gleichen<br />

Klinik behandelt werden, könnte deren Identität relativ leicht erkannt werden. Alle beteiligten<br />

Personen sind deswegen an ihre Schweigepflicht zu erinnern. Vor allem bei medizinischen<br />

Neuerungen ist die Abschirmung gegenüber der Öffentlichkeit besonders strikte einzuhalten.<br />

ad 2.1: Die Koordinationsstelle soll dazu beitragen, dass Foetalgewebe nur entsprechend den<br />

vorliegenden Richtlinien weitergegeben wird. Es ist denkbar, dass die beiden Ärztegruppen,<br />

die Foetalgewebe entnehmen bzw. transplantieren, bereits vor der Planung einer<br />

Transplantation miteinander in Kontakt stehen, z.B. wenn beide der gleichen Institution<br />

angehören. Auch in diesem Falle müssen sie den Koordinator über jede Weitergabe oder<br />

Verwendung von Foetalgewebe informieren und ihm die oben erwähnten Dokumente<br />

vorlegen, damit er sie prüfen, bewilligen und archivieren kann.<br />

ad. 2.2: Unter den Aufgaben des Koordinators ist die Archivierung besonders hervorzuheben.<br />

Mit der langfristigen Aufbewahrung der Unterlagen einer jeden Transplantation von<br />

Foetalgeweben werden drei Ziele verfolgt:<br />

– Die Transplantation von Foetalgewebe soll auf transparenten Wegen von voll dafür<br />

verantwortlichen Ärzten durchgeführt werden.<br />

– Die statistische Auswertung der Resultate soll die Beurteilung auf lange Sicht<br />

ermöglichen und die Indikationsstellung verbessern.<br />

– In gut begründeten Fällen muss es möglich sein, vom Empfänger eines Transplantats aus<br />

auf die mit Foetalgewebe am Forschungsprojekt beteiligte Frau zurückzukommen, z.B.


wenn das Ärzteteam für die Transplantation auf neue wissenschaftliche Tatsachen stösst,<br />

welche für die Gesundheit der Frau von Belang sind.<br />

Mitglieder der für die Ausarbeitung dieser Richtlinien tätigen Subkommission:<br />

Prof. W. Hitzig, Präsident, Zürich; PD Dr. K. Bürki, Basel; Dr. G. de Candolle, Genf; Prof. B.<br />

Courvoisier, Genf; Prof. O. Guillod, Neuenburg; Prof. H. P. Ludin, St. Gallen; Dr. Marina<br />

Mandofia-Berney, Genf; Prof. A. Mauron, Genf; Prof. Hj. Müller, Basel; Silvia Rauch,<br />

Zürich; Prof. H. Ruh, Zürich; Dr. Gertrud Siegenthaler †, Zürich; Prof. P. Sprumont, Freiburg<br />

i.Üe.<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 3.6.1998.<br />

Prof. W. Hitzig, Zürich (Präsident der Zentralen Ethikkommission)<br />

Literaturhinweise<br />

Richtlinien und offizielle Texte<br />

1 Boer GJ. Ethical guidelines for the use of human embryonic or fetal tissue for<br />

experimental and clinical neurotransplantation and research. Network of European CNS<br />

Transplantation and Restoration (NECTAR). J Neurol 1994;242:1-13.<br />

2 Report of the Human Fetal Tissue Transplantation Research Panel. Consultants to the<br />

Advisory Committee to the Director. Bethesda, Md: National Institutes of Health;1988:1<br />

& 2.<br />

3 Review of the Guidance on the Research Use of Fetuses and Fetal Material<br />

(«Polkinghorne Report»). Her Majesty’s Stationary Office (HMSO), London,1989,Cm<br />

762.<br />

4 United States Congress, House of Representatives: H. R. 2507 A bill to amend the Public<br />

Health Service Act to revise and extend the programs of the National Institutes of Health,<br />

and for other purposes (introduced by Mr. Waxman, June 3, 1991).<br />

5 Comité consultatif national d’éthique (France): Avis sur les greffes de cellules nerveuses<br />

dans le traitement de la maladie de Parkinson. 16 octobre 1989.<br />

6 Avis concernant des greffes intracérébrales de tissus mésencéphaliques d’embryons<br />

humains chez cinq malades parkinsoniens dans un but d’expérimentation thérapeutique.<br />

13 décembre 1990.<br />

Analysen und Kommentare<br />

7 Vawter DE, et al., eds. The Use of Human Fetal Tissue: Scientific, Ethical, and Policy<br />

Concerns. vii + 271p. + Appendixes. Center for Biomedical Ethics, University of<br />

Minnesota; January 1990.<br />

8 Childress JF. Ethics, Public Policy, and Human Fetal Tissue Transplantation Research.<br />

Kennedy Institute of Ethics Journal 1991;1:93-121.<br />

9 Gareth JD. Fetal neural transplantation: placing the ethical debate within the context of<br />

society’s use of human material. Bioethics 1991;5:23-43.<br />

10 Fassbender P. Die Verwendung foetalen Gewebes in der Neurochirurgie – ein ethisches<br />

Problem? Ethik Med 1991; 3:114-20.<br />

11 Hoffer BJ, Olson L. Ethical issues in brain-cell transplantation. TINS 1991;14:384-8.


12 Strong C. Fetal tissue transplantation: can it be morally insulated from abortion? J Med<br />

Ethics 1991;17:70-6.<br />

13 Garry DJ, et al. Are there really alternatives to the use of fetal tissue from elective<br />

abortions in transplantation research? N Engl J Med 1992;327:1592-5 (s. weitere Artikel<br />

in dieser Ausgabe).<br />

14 Peschanski M. Transplantations de neurones foetaux; nouveaux succès mais risque de<br />

dérapage. Médecine/sciences 1993;9:76-8.<br />

15 Anderson F, et al. Attitudes of women to fetal tissue research. J Med Ethics 1994;20:36-<br />

40.


Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

Medizinisch-ethische Grundsätze zur Xenotransplantation<br />

Stellungnahme der SAMW<br />

1. Einleitung<br />

Die spektakulären Fortschritte, die während der letzten 30 Jahre auf dem Gebiet der allogenen<br />

Organtransplantation erreicht wurden, haben es ermöglicht, nicht nur die Lebenserwartung,<br />

sondern auch die Lebensqualität einer grossen Zahl von Patienten zu verbessern. Leider wurde<br />

die Transplantationschirurgie ein Opfer ihres Erfolgs: Die steigende Nachfrage führte in allen<br />

Ländern zu einem erheblichen Mangel an Spenderorganen und einer daraus resultierenden<br />

Verlängerung der Wartelisten. Daher stirbt eine gewisse Zahl von Patienten, denen durch eine<br />

Organtransplantation geholfen werden könnte. Verständlicherweise wird deshalb nach<br />

Alternativen zur Allotransplantation gesucht. Eine dieser Alternativen könnte die<br />

Xenotransplantation sein, d.h. die Verpflanzung lebender Zellen, Geweben oder Organen<br />

einer Spezies in den Organismus einer anderen Spezies.<br />

Obwohl sich in der Zeit zwischen 1990 und 1995 einige Wissenschaftler kurz davor<br />

wähnten, mit guten Erfolgsaussichten Organe vom Tier auf den Menschen verpflanzen zu<br />

können, ist die Mehrheit heute eher pessimistisch. Alle bis heute durchgeführten<br />

experimentellen Xenotransplantationen erwiesen sich kurz- oder mittelfristig als Misserfolge.<br />

In der Tat stellt uns diese neue Biotechnologie vor komplexe Probleme, insbesondere solche<br />

infektiologischer, immunologischer und physiologischer Art. Auf viele Fragen, die in diesem<br />

Zusammenhang auftauchen, gibt es derzeit keine Antwort.<br />

Es scheint daher angebracht, dass die Schweizerische Akademie der Medizinischen<br />

Wissenschaften definiert, auf welche Weise man sich dieser neuen Biotechnologie auf der<br />

Ebene der medizinischen Ethik annähern sollte. Die Achtung vor der Persönlichkeit des<br />

Menschen und der Aspekt der biologischen Sicherheit müssen dabei im Vordergrund stehen:<br />

Es gilt, soweit als möglich die Risiken zu verringern, denen nicht nur die Empfänger, sondern<br />

auch die mit ihnen in Kontakt stehenden Personen ausgesetzt werden; ebenso soll die<br />

Verpflichtung des Menschen gegenüber Tieren beachtet werden.<br />

Es ist indessen unabdingbar, sich zugleich über die folgenden grundsätzlichen Fragen<br />

Gedanken zu machen:<br />

- Ist die Transplantation tierischer Organe, Gewebe oder Zellen auf den Menschen unter<br />

dem Aspekt unserer kulturellen und moralischen Werte wünschenswert oder<br />

akzeptierbar?<br />

- Welches sind die für eine solche Vorgehensweise erforderlichen ethischen<br />

Rechtfertigungen?<br />

- Welche Einschränkungen müssen festgelegt werden?<br />

- Welche Prioritäten kann sich ein hochentwickeltes Land wie das unsere auf dem Gebiet<br />

des Gesundheitswesens vernünftigerweise setzen?<br />

Diese Fragen richten sich vielleicht nicht in erster Linie an den Arzt, sondern eher an den<br />

Philosophen, den Ethiker, den Theologen. Letztendlich ist es die Aufgabe der Gesellschaft,


2<br />

darauf zu antworten, und die der Politiker, darüber zu entscheiden. Die Akademie will sich<br />

jedoch dafür einsetzen, dass die Diskussion in Gang kommt (siehe auch Kapitel 2 und 5.2).<br />

Auf Grund des von Volk und Ständen am 7. 2. 1999 angenommenen Verfassungsartikels<br />

24 decies ist ein Transplantationsgesetz in Ausarbeitung. Dieses wird sich auf jegliche<br />

Anwendung menschlicher oder tierischer Organe, Gewebe oder Zellen beziehen, die für eine<br />

Transplantation auf den Menschen bestimmt sind. Es ist daher an der Zeit, eine breit angelegte<br />

Debatte zu eröffnen, damit die Gesellschaft nach entsprechender Information in die Lage<br />

versetzt wird, sich zu den oben erwähnten Fragen zu äussern. In dieser Debatte muss die<br />

Xenotransplantation von Geweben und Zellen, die sich in der Schweiz und in anderen<br />

Ländern bereits in einer Phase von vielversprechenden klinischen Versuchen befindet, völlig<br />

getrennt werden von der Xenotransplantation von Organen, einem Gebiet, auf dem sich die<br />

Forschung noch im präklinischen Stadium befindet und dessen Zukunft sehr unsicher ist.<br />

Es ist darauf hinzuweisen, dass bis heute kein Staat und keine internationale Organisation ein<br />

Moratorium für klinische Prüfungen der Xenotransplantation aufstellte, dass sie aber überall<br />

der Genehmigung bedürfen.<br />

Die medizinisch-ethischen Grundsätze, die an dieser Stelle von der Schweizerischen<br />

Akademie der Medizinischen Wissenschaften im Hinblick auf die Xenotransplantation<br />

formuliert werden, müssen fortlaufend an neue medizinisch-technische Erkenntnisse, die aus<br />

der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung gewonnen werden, angepasst<br />

werden.<br />

2. Medizinisch-wissenschaftliche Grundlagen<br />

A. Definitionen<br />

Der Begriff Xenotransplantation (xenogene Transplantation) umfasst die verschiedenen<br />

Technologien, die darauf abzielen, insuffiziente Organe, Gewebe oder Zellen einer Spezies<br />

durch ein lebendes Transplantat einer anderen Spezies zu ersetzen. Xenotransplantationen<br />

werden als konkordant bezeichnet, wenn beide Spezies phylogenetisch nahe verwandt sind<br />

(z.B. Affe-Mensch), und als diskordant, wenn sie entfernt verwandt sind (z.B. Schwein-<br />

Mensch).<br />

B. Anwendungsformen<br />

2.1. Xenotransplantation von Organen<br />

Das zur Vermeidung einer hyperakuten Transplantatabstossung genetisch veränderte Organ<br />

eines tierischen Spenders wird auf einen Empfänger einer anderen Spezies verpflanzt, indem<br />

Anastomosen zwischen den Blutgefässen des Spenderorgans und Blutgefässen des<br />

Empfängers hergestellt werden. Auf diese Weise kommt es zur Perfusion des Organs mit<br />

Empfängerblut. Das transplantierte Organ, z.B. Herz, Leber oder Niere, muss sämtliche<br />

Funktionen des ersetzten Organs übernehmen.


3<br />

2.2. Xenotransplantation von Geweben<br />

Ein Stück lebendes Gewebe, z.B. Haut, Kornea oder Knochen, wird von einer Spezies auf<br />

eine andere transplantiert. Von Geweben des Empfängers ausgehend kommt es zu einer<br />

sekundären Vaskularisierung.<br />

2.3. Xenotransplantation von Zellen<br />

Hierbei unterscheidet man zwei Arten der Transplantation:<br />

Bei der ersten Art werden die (genetisch modifizierten oder nicht modifizierten)<br />

Spenderzellen, z.B. Knochenmarkzellen, Pankreaszellen oder fötale Hirnzellen an einer gut<br />

vaskularisierten Stelle in den Organismus einer anderen Spezies injiziert. Dort schütten sie<br />

Hormone oder andere Faktoren aus, welche es ermöglichen, die Insuffizienz bestimmter<br />

Organe oder Gewebe (Erkrankung des Zentralnervensystems, Diabetes usw.) zu<br />

kompensieren.<br />

Bei der zweiten Art werden die (häufig genetisch modifizierten) Zellen eines<br />

Fremdorganismus in semipermeable Membranen eingehüllt. Dadurch werden sie vor<br />

Antikörpern und immunkompetenten Zellen geschützt. Die sezernierten Moleküle können<br />

dennoch durch die Membranen hindurch diffundieren. Diese neuartige Therapie wurde mit<br />

dem Ziel entwickelt, die Abstossung tierischer Zellen zu verhindern. Das Implantat kann<br />

jederzeit wieder aus dem Organismus entfernt werden.<br />

2.4. Extrakorporale Perfusion<br />

Plasma oder Blut eines Patienten wird durch ein Organ einer anderen Spezies oder durch ein<br />

bioartifizielles Organ perfundiert, das in einer permeablen Kapsel lebende tierische Zellen<br />

enthält. Diese beiden Verfahren werden eingesetzt, um während einer begrenzten Zeitspanne<br />

eine bisweilen reversible Insuffizienz eines Organs oder die Wartezeit vor einer allogenen<br />

Transplantation zu überbrücken.<br />

Unter dem Begriff Xenotransplantation fallen weder die Produkte tierischen Ursprungs,<br />

die lediglich Moleküle enthalten (z.B. Schweineinsulin), noch Gewebstransplantate, die aus<br />

inaktivierten Zellen bestehen (z.B. Schweineherzklappen).<br />

C. Identifizierung der Risiken<br />

Jede Transplantation, sei sie allogen oder xenogen, setzt den Empfänger einem<br />

immunologischen und einem infektiösen Risiko aus. Um die durch Immunreaktion bedingte<br />

Abstossung zu verhindern, wird medikamentös eine starke Immunsuppression erzeugt, welche<br />

die Infektionsabwehr erheblich beeinträchtigt. Dieser Effekt ist eine wesentliche Ursache der<br />

Morbidität nach allogenen Transplantationen und der Mortalität nach der Xenotransplantation<br />

von Organen.<br />

Eine Option für die Xenotransplantation besteht darin, auf Primaten als Spender<br />

zurückzugreifen. Eine solche konkordante Transplantation beschränkt sich jedoch auf<br />

Paviane, da Menschenaffen eine hochentwickelte Sozialisierung aufweisen, schwierig zu<br />

züchten und zudem vom Aussterben bedroht sind. Aufgrund der engen genetischen<br />

Verwandtschaft besteht jedoch ein erhebliches Infektionsrisiko (HIV und Ebolavirus sind vom<br />

Affen auf den Menschen gelangt). Überdies ist es nicht möglich, Paviane zu züchten, die<br />

völlig frei von pathogenen Keimen sind. Aus diesen Gründen wurde eine diskordante Tierart<br />

als Organspender gewählt, und zwar das genetisch modifizierte (transgene) Schwein, auf das<br />

ein oder mehrere menschliche Gene übertragen wurden, um die hyperakute Abstossung zu<br />

vermeiden. Die Spezies Schwein wurde deshalb gewählt, weil das Infektionsrisiko geringer ist


4<br />

als bei der Verwendung von Affen, die Züchtung pathogenfreier Tiere möglich ist und zudem<br />

die Organe des Schweins etwa gleich gross sind wie die des Menschen. Andererseits haben<br />

die für das Schwein spezifischen Infektionserreger bis heute nur in Ausnahmefällen<br />

Krankheiten beim Menschen hervorgerufen. Mehr Anlass zur Sorge geben endogene<br />

Retroviren des Schweins, die nachweislich auf menschliche Zellen übertragen werden können<br />

und die eine hohe Mutations- und Rekombinationsrate aufweisen. Die bis heute durchgeführten<br />

Untersuchungen liessen zwar keine Pathogenität dieser Retroviren erkennen, doch es<br />

lässt sich nicht ausschliessen, dass eine solche spät nach der Infektion auftreten könnte. Seit<br />

kurzem stehen Nachweistests zur Verfügung, mit denen sich eine Infektion mit bestimmten<br />

Viren dieser Art feststellen lässt. Viele dieser Viren können jedoch nach wie vor nicht<br />

identifiziert werden und bedeuten deshalb ein ernstzunehmendes Krankheitsrisiko, vor allem<br />

bei Patienten, die nach einer Xenotransplantation immunsupprimiert sind. Die Möglichkeit,<br />

dass ein solcher Patient Menschen seiner Umgebung anstecken könnte, ist nicht von der Hand<br />

zu weisen und weckt bei einigen Menschen bereits Horrorvorstellungen.<br />

Zur Xenotransplantation von Organen gehört ebenso die Gefahr der physiologischen und<br />

biochemischen Unverträglichkeit. Auch wenn es eines Tages gelingen sollte, eine<br />

langanhaltende Toleranz von Xenotransplantaten beim Menschen zu erreichen, ist es nicht<br />

sicher, dass die physiologischen und biochemischen Prozesse des tierischen Organs<br />

ausreichend kompatibel mit denen des Empfängers sind, um langfristig eine optimale<br />

Funktion zu gewährleisten.<br />

D. Mögliche Vorteile der Xenotransplantation<br />

Es gibt einige unbestreitbare Vorteile der Xenotransplantation, die man nicht stillschweigend<br />

übergehen kann:<br />

- die erhöhte Anzahl verfügbarer Organe,<br />

- die Verkürzung der Wartezeiten,<br />

- die Möglichkeit, Operationen zu planen,<br />

- die Möglichkeit, Transplantate vor der Operation umfassender zu testen,<br />

- die Verringerung des Risikos der Übertragung humaner Krankheitserreger,<br />

- die geringere Gefahr des unerlaubten Handels mit menschlichen Organen.<br />

3. Gesetzliche Bestimmungen, Richtlinien und Empfehlungen<br />

Wie in den meisten europäischen Ländern, den USA und Kanada wurden auch in der Schweiz<br />

zahlreiche Berichte mit Empfehlungen oder Richtlinien im Hinblick auf die<br />

Xenotransplantation veröffentlicht. Derzeit gibt es bis zum Erlass einschlägiger Gesetze nur<br />

Übergangsregelungen. Alle Experten betonen die internationale Dimension des Problems und<br />

empfehlen, die erforderlichen Massnahmen zu harmonisieren. Es muss beispielsweise<br />

verhindert werden, dass benachbarte Staaten einander widersprechende Bestimmungen über<br />

Zulassungsverfahren oder die epidemiologische Überwachung erlassen.<br />

Der Nationalrat verabschiedete am 8. 10. 1999, im Anschluss an den entsprechenden<br />

Entscheid des Ständerats, eine Modifikation des Bundesbeschlusses über die Kontrolle von<br />

Blut, Blutprodukten und Transplantaten. Der neue Artikel 18a erlaubt - bei Genehmigung<br />

durch das zuständige Bundesamt - die Verpflanzung von Transplantaten tierischen Ursprungs<br />

auf den Menschen (siehe Beilage I).


5<br />

4. Medizinisch-ethische Grundsätze im Stadium der klinischen Versuche<br />

Der klinische Versuch ist ein unerlässlicher Bestandteil bei der Entwicklung der<br />

Xenotransplantation. Nur dadurch ist es möglich, die Risiken zu definieren und<br />

Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Er muss jedoch strengen medizinisch-ethischen<br />

Grundsätzen gehorchen.<br />

4.1. Unerlässliche Kriterien für den Menschen als Empfänger<br />

- Achtung vor der Persönlichkeit des Menschen in Übereinstimmung mit den Richtlinien<br />

der SAMW (Beilage I / 1.4.).<br />

- Einhaltung sämtlicher Massnahmen, die geeignet sind, das Infektionsrisiko zu minimieren:<br />

Verwendung von Organen, Geweben und Zellen, die frei von bekannten pathogenen<br />

Keimen sind; prä- und postoperative Tests; kurz-, mittel- und langfristige Kontrollen.<br />

- Beherrschung der Abstossungsreaktion.<br />

- Gewährleistung einer dauerhaften morphologischen und funktionellen Kompatibilität des<br />

Xenotransplantats.<br />

Die physiologische Kompatibilität und das Überleben eines Xenotransplantats müssen<br />

mindestens in Aussicht stellen, dass sich die Lebensqualität des Patienten nachhaltig bessert.<br />

Das Problem der Abstossungsreaktion bei zellulären, von einer Membran eingeschlossenen<br />

Transplantaten scheint noch nicht vollständig beherrschbar zu sein, und wahrscheinlich<br />

besteht auch dabei ein Infektionsrisiko, wenn auch in geringerem Ausmass. Bei<br />

bioartifiziellen Organen, bei der extrakorporalen Perfusion von Organen und bei Zellen mit<br />

einer Membranhülle ist eine begrenzte Lebensdauer des Transplantats akzeptabel, da das<br />

Verfahren mehrmals wiederholt werden kann.<br />

4.2. Unerlässliche Kriterien im Hinblick auf das Tier als Spender<br />

- Zu definieren sind die Regeln der guten Praxis für die Erzeugung und Aufzucht von<br />

Tieren, die frei von bekannten Keimen sind.<br />

- Das Wohlbefinden der Tiere ist zu wahren und es darf ihnen kein unnötiges Leiden<br />

zugefügt werden (siehe Beilage I, 1.4).<br />

- Verbot sequentieller Entnahmen von Organen beim selben Tier.<br />

- Verzicht auf Primaten als potentielle Organspender für den Menschen angesichts des<br />

erhöhten Infektionsrisikos und der Schwierigkeiten der Aufzucht. Je nach Entwicklung<br />

des Wissensstandes können angemessen begründete Ausnahmen zugelassen werden.<br />

Diese Regeln gehen davon aus, dass die Verwendung von Tieren als Spender für den<br />

Menschen prinzipiell akzeptiert wird.<br />

4.3. Unerlässliche Kriterien im Hinblick auf die Gesellschaft<br />

- Die Verwendung genetisch veränderter oder geklonter Tiere als Spender von Organen,<br />

Geweben und Zellen zum Vorteil des Menschen muss durch einen echten therapeutischen<br />

Nutzen für den Menschen gerechtfertigt sein.<br />

- Um das Auftauchen neuer Krankheiten zu verhindern, werden strenge Vorschriften<br />

hinsichtlich biologischer Sicherheit erlassen.<br />

- Den ökonomischen Aspekten wird von Anfang an Rechnung getragen und es wird darauf<br />

geachtet, dass durch die finanziellen Interessen der Industrie an der Entwicklung der<br />

Xenotransplantation die Interessen der Allgemeinheit nicht verletzt werden.


6<br />

4.4. Kriterien für die Auswahl von Patienten<br />

Bei der Auswahl von Patienten für die Xenotransplantation müssen während des<br />

experimentellen Stadiums alle hier aufgeführten Voraussetzungen gegeben sein:<br />

- Der Patient leidet an einer unheilbaren Krankheit und die Xenotransplantation ist die<br />

einzige therapeutische Möglichkeit oder es steht kein menschliches Organ zur<br />

Verfügung.<br />

- Die Xenotransplantation von Organen, Geweben oder Zellen muss darauf abzielen, die<br />

Lebensqualität oder die Lebenserwartung des Patienten deutlicher zu verbessern als jede<br />

andere bekannte Therapie.<br />

- Kinder scheiden als Empfänger aus, es sei denn es handelt sich um einen Versuch im<br />

Zusammenhang mit einer Kinderkrankheit.<br />

Die Xenotransplantation muss jedoch weiterhin als «ultima ratio» betrachtet werden.<br />

4.5. Einwilligungserklärung<br />

Im experimentellen Stadium der Xenotransplantation und erst recht, wenn diese Behandlung<br />

eines Tages als gängige Praxis in der Klinik eingeführt wird, ist nicht mehr allein der<br />

Empfänger betroffen; er muss sich einverstanden erklären, dass Personen seiner nächsten<br />

Umgebung (Partner, Kinder usw.) genau informiert werden, und zwar auch über die mit der<br />

Xenotransplantation zusammenhängenden Anforderungen und Risiken. Der Empfänger muss<br />

überzeugt sein von seiner moralischen Verpflichtung, die Vorschriften des Protokolls nach<br />

erfolgter Transplantation in seinem eigenen Interesse und in dem seiner Umgebung<br />

einzuhalten.<br />

4.6. Datenregister<br />

Mit Beginn der klinischen Versuche ist eine nationale Datenbank für die erhobenen Daten zu<br />

schaffen, und zwar in Zusammenarbeit mit einer internationalen Datenbank und unter<br />

Einhaltung des Datenschutzgesetzes.<br />

Die Einrichtung einer Datenbank ist heute von wesentlicher Bedeutung, da die zur<br />

Einschätzung der Risiken unverzichtbaren multizentrischen Studien standardisierte Verfahren<br />

verlangen, insbesondere eine Überwachung auf Infektionskrankheiten, die sehr lange Zeit<br />

nach der Ansteckung auftreten können (endogene Retroviren, Prionen usw.).<br />

Sämtliche Daten müssen allen beteiligten Ländern zugänglich sein, um das Auftauchen<br />

eines Problems sehr rasch feststellen zu können.<br />

Auch die laufenden Untersuchungen müssen diesen Anforderungen entsprechen.<br />

4.7. Alternativen<br />

Solange die Resultate aus der Phase experimenteller Untersuchungen ausstehen, besteht<br />

Anlass, neuartige Lösungen für den Mangel an allogenen Spenderorganen zu fördern. Es<br />

wären angebracht, zunächst folgende Massnahmen zu ergreifen:<br />

- Intensivierung der Massnahmen zur Prävention von Krankheiten, für die eine<br />

Transplantation die einzige, dauerhafte Therapie darstellt.<br />

- Aufforderung an die betreffenden Spezialisten, sich zu verständigen, um einen breiten<br />

Konsens über die Indikationen für eine Transplantation zu erreichen.<br />

- Ermutigung zur Organspende im Todesfall, vor allem durch bessere Information der<br />

Öffentlichkeit, und Einrichtung von Stellen für Koordinatoren in allen Krankenhäusern,


7<br />

die auf potentielle Organspender achten sollen und die darin geschult sind, mit<br />

Familienangehörigen zu sprechen.<br />

- Aufklärung der Bevölkerung über die Möglichkeit, einem lebenden Spender ein Organ,<br />

Teile eines Organs, Gewebe oder Zellen zu entnehmen (Niere, Leber, Knochenmark<br />

usw.), und genaue Darstellung der Bedingungen und der Risiken einer solchen Spende.<br />

- Appell an öffentliche und private Institutionen, die Grundlagenforschung und die<br />

angewandte Forschung auf allen Gebieten zu unterstützen, die im Zusammenhang mit<br />

allogenen und xenogenen Transplantationen stehen (omnipotente Stammzellen,<br />

bioartifizielle und künstliche Organe usw.).<br />

5. Künftige Aufgaben der SAMW auf dem Gebiet der Xenotransplantation<br />

Es ist Aufgabe der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, sich<br />

kurz-, mittel- und langfristig mit dieser neuen Technologie zu befassen, die eine ethische<br />

Herausforderung für Medizin und Wissenschaft darstellt. Deshalb formuliert die SAMW die<br />

folgenden Vorschläge:<br />

5.1. Alle im Gesundheitswesen Beschäftigten, die Öffentlichkeit und die Behörden sollten klar<br />

und verständlich informiert werden. Diese Information muss kontinuierlich erfolgen und die<br />

Entwicklung der Forschung im Auge behalten.<br />

Die Verbreitung der Information ist in erster Linie Aufgabe der an dieser Forschung<br />

beteiligten Wissenschaftler, der Transplantationsteams und der behandelnden Ärzte. Den<br />

Medien kommt dabei eine sehr wichtige Rolle zu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />

hat beschlossen, eine Seite «Xenotransplantation» im Internet einzurichten. Die<br />

Verantwortung für die Planung der Informationsverbreitung könnte einer nationalen<br />

Expertenkommission übertragen werden (siehe 5.3.).<br />

5.2. Es sollte eine breit angelegte öffentliche Diskussion begonnen werden über die Ziele der<br />

allogenen und xenogenen Transplantation sowie über andere potentielle Lösungen für das<br />

Problem des Organmangels.<br />

Die Organisation eines «Publiforums» könnte nützlich sein, um die Debatte einzuleiten. Wie<br />

schon betont, muss jedoch eine sehr klare Trennlinie gezogen werden zwischen der<br />

Xenotransplantation von Organen und der Transplantation von Geweben und Zellen, die<br />

unterschiedliche Probleme aufwerfen. Es ist wichtig, dass in der Diskussion die Kosten und<br />

der Nutzen für den Patienten und die Gesellschaft erörtert werden, ebenso wie<br />

weltanschauliche Unterschiede in der Bevölkerung.<br />

5.3. Auf nationaler Ebene sollte eine Expertenkommission für Xenotransplantationen<br />

einberufen werden.<br />

Die Aufgabe dieser Kommission würde darin bestehen, die Entwicklung der Forschungen auf<br />

dem Gebiet der Transplantationen zu verfolgen, für die Schaffung einer nationalen Datenbank<br />

zu sorgen, Kontakte mit ähnlichen Organisationen im Ausland und in der Schweiz, z.B. SKBS<br />

(Interdisziplinäre Schweizerische Kommission für Biologische Siocherheit), aufzunehmen,<br />

um auf internationaler Ebene zu einer Harmonisierung multizentrischer Projekte zu kommen.<br />

In der Kommission müssten Wissenschaftler (Mediziner, Veterinäre und Biologen), Juristen,<br />

Ethiker (Philosophen und Theologen), Pflegekräfte, Politiker und ein (von einem Transplantationsteam<br />

unabhängiger) Vertreter der Stiftung Swisstransplant vertreten sein. Die


8<br />

Kommission sollte berechtigt sein, zu allen klinischen Forschungsprojekten auf dem Gebiet<br />

der Xenotransplantation (Organe, Gewebe, Zellen) Stellung zu nehmen, bevor sie dem<br />

zuständigen Bundesamt zur Genehmigung vorgelegt werden.<br />

5.4 Ökonomische Aspekte<br />

Der gesamte Bereich der Transplantationsmedizin sollte auch unter ökonomischen<br />

Gesichtspunkten untersucht werden. Dies ermöglicht es, die Vorteile für die Patienten und die<br />

Kosten für die Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen.<br />

Für die allogenen Transplantationen wurden Pauschaltarife festgelegt für die Kosten der<br />

Aufnahme in die Warteliste, die Entnahme und Verteilung der Organe, die chirurgischen<br />

Eingriffe und die postoperative Behandlung. Diese Tarife beinhalten wahrscheinlich nicht die<br />

wahren Gesamtkosten der allogenen Transplantationen.<br />

Es ist im Moment nicht möglich, die Kosten der Xenotransplantationen zu beurteilen, da<br />

es zu viele unbekannte Grössen gibt. Doch zweifellos müssen wir uns auf eine erhebliche<br />

Ausweitung der Nachfrage einstellen; wahrscheinlich werden auch höhere Kosten für die<br />

tierischen Organe anfallen. Die lebenslängliche immunsuppressive Behandlung ebenso wie<br />

die lebenslänglichen Kontrollen des Empfängers und seiner direkten Umgebung werden zu<br />

einer grossen finanziellen Belastung führen. Alle diese Faktoren bedürfen eingehender Betrachtung.<br />

Beilagen<br />

Beilage I:<br />

Beilage II:<br />

Gesetzliche Bestimmungen, Richtlinien, schweizerische und internationale<br />

Empfehlungen<br />

Bibliographie: Berichte, wissenschaftliche Veröffentlichungen<br />

Genehmigt vom Senat der SAMW am 18. Mai 2000.<br />

Für die Subkommission Xenotransplantation:<br />

Prof. Noël Genton, Lausanne, Präsident<br />

Prof. Bernard Baertschi, Genf<br />

Prof. François Dermange, Genf<br />

Frau Yolanda Hartmann, Lausanne<br />

Prof. Michel Jeannet, Jussy<br />

Prof. Martin Rothlin, Meggen<br />

Frau Béatrice Schaad, Lausanne<br />

Prof. Daniel F. Schorderet, Lausanne<br />

Prof. Günter Stratenwerth, Basel<br />

Prof. Peter Thomann, Zürich


9<br />

Beilage I<br />

Gesetzliche Bestimmungen, Richtlinien,<br />

schweizerische und internationale Empfehlungen<br />

1. Gesetzliche Grundlagen in der Schweiz<br />

1.1 Verfassungsartikel<br />

- Art. 120, al.2 vom 18.4.1999 bezüglich der Würde der Kreatur<br />

- Art. 119a, vom 18.4.1999 bezüglich Transplantationsmedizin<br />

1.2 Gesetze<br />

- Tierschutzgesetz vom 9.3.1978, Rev. 1.7.1995, Art. 13<br />

- Epidemiegesetz vom 18.12.1970, Revision vom 10.6.1997, Art. 1 und 2<br />

- Bundesgesetz zur Abänderung des Bundesbeschlusses über die Kontrolle von Blut,<br />

Blutprodukten und Transplantaten vom 8. 10. 1999.<br />

1 Für die Übertragung von Transplantaten tierischen Ursprungs auf den Menschen ist eine<br />

Genehmigung des zuständigen Bundesamts erforderlich.<br />

2 Transplantate tierischen Ursprungs können im Rahmen einer klinischen Prüfung auf den<br />

Menschen übertragen werden, wenn das Infektionsrisiko für die Bevölkerung mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann und wenn von der Transplantation ein<br />

therapeutischer Nutzen erhofft werden kann.<br />

3 Transplantate tierischen Ursprungs können im Rahmen einer Standardbehandlung auf<br />

den Menschen übertragen werden, wenn dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen und<br />

technischen Kenntnisse entsprechend ein Infektionsrisiko für die Bevölkerung<br />

ausgeschlossen werden kann und wenn der therapeutische Nutzen der Transplantation<br />

durch klinische Prüfungen nachgewiesen wurde.<br />

1.3 Verordnungen<br />

- Reglement über Medikamente im Stadium klinischer Prüfungen vom 18. Nov.1993.<br />

Interkantonale Kontrollstelle für Medikamente, Bern, 1993<br />

- Leitfaden zum Umgang mit persönlichen Daten auf dem Gebiet der Medizin. EDB<br />

(Eidgen. Datenschutz-Beauftragter), Bern, 1997<br />

1.4 Medizinisch-ethische Richtlinien, die bereits erlassen wurden, und andere<br />

Stellungnahmen der SAMW und SANW<br />

- Medizinisch-ethische Richtlinien für Organtransplantationen, Rev. 1995<br />

- Richtlinien für Forschungsuntersuchungen am Menschen. Schweiz. Ärztezeitung<br />

1997:78:43;1585-92.<br />

- Medizinisch-ethische Richtlinien zur somatischen Gentherapie am Menschen. Schweiz.<br />

Ärztezeitung 1998:79:49;2498-501.<br />

- Medizinisch-ethische Richtlinien für die Transplantation foetaler menschlicher Gewebe.<br />

Schweiz. Ärztezeitung 1998:79:39;1936-40.<br />

- Ethische Grundsätze und Richtlinien für wissenschaftliche Tierversuche. Ed. 1995<br />

- Stellungnahme zum Begriff «Würde des Tieres» (SANW + SAMW). Ed 1998<br />

- Beitrag zur ethischen Beurteilung der Xenotransplantation im Hinblick auf den Schutz der<br />

Würde der Tiere (Ethikkommission für Tierversuche der SAMW und SANW). Schw.<br />

Ärztezeitung 200; 81 (1): 36-7.


10<br />

- Ethische Überlegungen zur Verteilung knapper Mittel in der Gesundheitspflege<br />

(Schlussfolgerungen vom SAMW-Symposium 1996 am 15./16. November 1996 in<br />

Interlaken). Schweiz. Aerztezeitung 1997:78:46;1709-15.<br />

2. Reglementierungen in Europa und USA<br />

2.1 Vereinigtes Königreich<br />

Auf Vorschlag des Nuffield Council on Bioethics wurde 1997 eine interimistische<br />

Kommission zur Reglementierung der Xenotransplantation berufen (UK Xenotransplantation<br />

interim regulatory authority UKXIRA). Diese Kommission ist damit beauftragt, Richtlinien<br />

für die biologische Sicherheit vorzubereiten. Sie ist ermächtigt, über die Genehmigung<br />

klinischer Studien zu entscheiden.<br />

2.2 Frankreich<br />

Gesetz Nr. 98- 535 vom 1.7.1998; die dazu gehörenden Ausführungsbestimmungen sind in<br />

Vorbereitung. Xenotransplantationen gehören in den Bereich klinischer Studien und<br />

unterliegen der Genehmigung durch das Gesundheitsministerium.<br />

2.3 Europarat<br />

In der Empfehlung Nr. 1399 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 29. 1.<br />

1999 wurde dem Ministerrat ein Moratorium für alle klinischen Prüfungen der<br />

Xenotransplantation vorgeschlagen. Der Ministerrat teilte die Bedenken der<br />

Parlamentarischen Versammlung, ging aber auf diesen Vorschlag eines Moratoriums nicht<br />

ein, sondern traf die Entscheidung, «eine Arbeitsgruppe zu bilden mit dem Auftrag, ein<br />

Projekt für Richtlinien im Bereich Xenotransplantation vorzubereiten, das von anderen, vor<br />

allem internationalen Instanzen bereits durchgeführte Arbeiten sowie die notwendige<br />

Zusammenarbeit auf globaler Ebene berücksichtigt ».<br />

2.4 Vereinigte Staaten<br />

Xenotransplantationen unterliegen der Kontrolle durch FDA und CDC. Die Arbeit wird<br />

zwischen diesen beiden Instanzen koordiniert.<br />

Richtlinien bezüglich Infektionsrisiken und deren Vorbeugung sind in Ausarbeitung.<br />

Alle klinischen Studien bedürfen der Genehmigung der FDA.<br />

3. Richtlinien internationaler Organisationen<br />

3.1 Internationale ethische Richtlinien für die biomedizinische Forschung am Menschen<br />

(International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects, Genf,<br />

1993).<br />

3.2. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 1998 zwei Dokumente mit den<br />

Titeln «Xenotransplantationen: Richtlinien bezüglich Vorbeugung gegen<br />

Infektionskrankheiten und deren Handhabung» und «Die ethischen Aspekte der<br />

Xenotransplantationen».<br />

3.3 Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)<br />

organisierte mehrere Konferenzen mit dem Ziel, eine gemeinsame Haltung im Hinblick auf<br />

Transplantationen festzulegen, und drängte auf internationale Zusammenarbeit auf dem<br />

Gebiet der biologischen Sicherheit im Zusammenhang mit Xenotransplantationen. Ein<br />

Schlussbericht wurde im Oktober 1999 veröffentlicht.


11<br />

Beilage II<br />

Bibliographie<br />

4.1 Verschiedene Berichte<br />

- Nuffield Council on Bioethics: Animal to human Transplants. The ethics of<br />

xenotransplantation 1996 London<br />

- Ronchi L.: OECD Policy considerations on International issues in<br />

transplantations. Biotechnology including the use of non-human cells,<br />

tissues and organs. Paris 1998<br />

- OMS 1.98: Xenotransplantation : guidance on Infections Disease Prevention<br />

and Management<br />

- OMS 2.98: Report of WHO consultation on xenotransplantation<br />

Geneva Switzerland 28-30 octobre 1997<br />

- OMS 1999: Round Table; Bulletin of the World Health Organisation<br />

1999, 77 (1)<br />

- Hüsing B., Engels E.M., Frick Th., Menrad K., Reiss Th.: Xenotransplantation<br />

Schweizerischer Wissenschaftsrat Programm TA Bern 1998<br />

- Ducluzau R et al : Ethique et Xénotransplantation, Les Cahiers du comité consultatif<br />

national d’éthique pour les sciences de la vie et de la santé. Paris 1999 ; (21) : 2-32<br />

- Xenotransplantation International Policy Issues OECD Publications. Paris, 1999 ; N°<br />

50575, 114 pages.<br />

4.2 Verschiedene Publikationen und Analysen<br />

- Bach F.H., Fishman J.A., Daniels N., Proimos J., Anderson B. et al.<br />

Uncertainty in xenotransplantation: Individual benefit versus collective risk<br />

(commentary). Nature Med. 1998; 4: 141-4<br />

- Baertschi B.: Les xénotransplantations : aspects éthiques et philosophiques<br />

Schweiz med Wochenschrift 1998; 128: 961-72<br />

- Daar A.S.: Ethics of Xenotransplantation : Animal Issues, Consent, and Likely<br />

Transformation of Transplant Ethics. World J. Surg. 1997; 21: 975-82<br />

- Fishman J.A.: Xenosis and xenotransplantation: Addressing the infectious<br />

risks posed by an emerging technology. Kidney Int. suppl. 1997; 58: 41-5<br />

- Hammer C., Linke R., Wagner F., Diefenbeck M.: Organs from Animals for<br />

Man (Review). Int. Arch. Allergy Immunol. 1998; 116: 5-21<br />

- Kennedy I.: Xenotransplantation : Ethical Acceptability. Transplantation<br />

Proceedings, 1997; 29: 2729-30<br />

- Michaels M.G.: Xenotransplant-Associated Infections. (Special Topic<br />

Overview). Laboratory Animal Science 1998; 3: 228-33 June 1998<br />

- Stoye J.: No clear answers on safety of pigs as tissue donor source<br />

Lancet 1998; 352: 666-7<br />

- Weiss R.A.: Science, medicine and the future. Xenotransplantation (Clinical<br />

Review) BMJ 1998; 317: 931-93.<br />

- Weiss R.A. : Xenografts and Retroviruses. Science 1999; 285: 1221-1222.


Zwangsmassnahmen in der Medizin<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW<br />

22


Zwangsmassnahmen in der Medizin<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW<br />

Vom Senat der SAMW genehmigt am 24. Mai 2005.<br />

Die deutsche Version ist die Stammversion<br />

I. Präambel 2<br />

II. Richtlinien 4<br />

1. Geltungsbereich 4<br />

2. Grundsätze 4<br />

2.1. Definitionen 4<br />

2.2. Rechtlicher Rahmen 5<br />

2.3. Verhältnismässigkeit 7<br />

3. Entscheidungswege 8<br />

3.1. Generelles 8<br />

3.2. Spezielle Problemsituationen 11<br />

3.3. Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) 14<br />

4. Durchführung 15<br />

4.1. Grundsatz 15<br />

4.2. Spezielle Hinweise 16<br />

5. Personelle und institutionelle Rahmenbedingungen 18<br />

III. <strong>Anhang</strong> 19<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 19<br />

1


Zwangsmassnahmen in der Medizin<br />

Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW<br />

I. Präambel<br />

Zwangsmassnahmen stellen in jedem Fall einen schweren<br />

Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf<br />

persönliche Freiheit eines Menschen dar. Obwohl das Vermeiden<br />

von Zwang in der Medizin vorrangiges Ziel ist, sind<br />

Zwangsmassnahmen als ultima ratio nicht immer zu umgehen.<br />

Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung stellen sie<br />

manchmal die einzige zur Verfügung stehende Möglichkeit<br />

dar, um grösseren Schaden abzuwenden.<br />

Medizinische 1 Zwangsmassnahmen beinhalten immer einen<br />

Konflikt medizinisch-ethischer Prinzipien: Auf der einen Seite<br />

gilt es, «Gutes zu tun» bzw. «Schaden zu vermeiden», auf der<br />

anderen Seite ist die Autonomie des Patienten 2 so weit wie<br />

möglich zu wahren. Die medizinischen Handlungen haben<br />

grundsätzlich mit dem Einverständnis des Patienten zu erfolgen<br />

(informed consent). Zwangsmassnahmen können deshalb<br />

nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen.<br />

In Notfallsituationen mit einem hohen Grad an Selbst- und<br />

Fremdgefährdung ist die Notwendigkeit von Zwangsmassnahmen<br />

kaum bestritten. Schwieriger ist die Ausgangslage<br />

in Situationen ohne Notfallcharakter, bei denen Aspekte der<br />

Sicherheit oder Gesundheitsschädigung im Vordergrund stehen,<br />

insbesondere im Bereich der Altersmedizin und Psychiatrie.<br />

Hier ist oft nicht eindeutig, ob das Prinzip «Gutes tun»<br />

die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte und Freiheit,<br />

also die punktuelle Durchbrechung der Patientenautonomie,<br />

tatsächlich aufwiegt.<br />

In der Schweiz existieren bisher keine einheitlichen Gesetzesgrundlagen<br />

für Zwangsmassnahmen auf eidgenössischer<br />

Ebene. Entsprechend unterschiedlich und abhängig von den<br />

kantonalen Regelungen und Gepflogenheiten einzelner In-<br />

1 Gemeint sind sowohl ärztliche als auch pflegerische Zwangsmassnahmen.<br />

2 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit gilt in diesem Text die männliche Bezeichnung<br />

für beide Geschlechter.<br />

2


stitutionen finden medizinische Zwangsmassnahmen denn<br />

auch statt. Bei jeder Androhung von Zwangsmassnahmen<br />

sind selbstverständlich die verfassungsmässigen Rechte der<br />

Betroffenen und – soweit vorhanden – die kantonalen Rechte<br />

einzuhalten.<br />

In diesem schwierigen und rechtlich uneinheitlichen Umfeld<br />

sollen die vorliegenden Richtlinien eine Hilfestellung bieten.<br />

Sie richten sich an das gesamte Betreuungsteam in medizinischen<br />

Institutionen (Spitäler und Heime), an Ärzte in der<br />

freien Praxis sowie an den spitalexternen Pflegebereich.<br />

Es geht im Wesentlichen um folgende Problemstellungen:<br />

– unter welchen ethischen und rechtlichen Voraussetzungen<br />

Zwangsmassnahmen zulässig und zu rechtfertigen sind;<br />

– welche Schritte unternommen werden sollten, um sich<br />

abzeichnende Zwangsmassnahmen zu vermeiden;<br />

– wie betroffene Personen und gegebenenfalls ihre Vertrauensperson<br />

bzw. ihr gesetzlicher Vertreter und ihre Angehörigen<br />

zu informieren sind;<br />

– auf welche Weise Zwangsmassnahmen möglichst schonend<br />

ausgeführt werden können, falls sie sich als unumgänglich<br />

erweisen;<br />

– wie von Zwangsmassnahmen betroffene Personen nachbetreut<br />

werden sollen;<br />

– wie das gewählte Vorgehen zu dokumentieren ist.<br />

3


II. Richtlinien<br />

1. Geltungsbereich<br />

Diese Richtlinien beziehen sich auf alle medizinischen Behandlungsverhältnisse<br />

im ambulanten oder stationären Bereich.<br />

Sozialpädagogische und andere nicht-medizinische<br />

Betreuungsverhältnisse sind nicht Gegenstand dieser Richtlinien.<br />

Die Richtlinien wenden sich – bezogen auf Institutionen<br />

– nicht nur an das medizinische Fachpersonal, sondern<br />

auch an alle weiteren Personen, die in einem medizinischen<br />

Behandlungsverhältnis mitwirken. Eidgenössische und kantonale<br />

Vorschriften bleiben vorbehalten.<br />

2. Grundsätze<br />

2.1. Definitionen<br />

Als Zwangsmassnahmen werden alle Eingriffe bezeichnet,<br />

die gegen den erklärten Willen oder gegen Widerstand eines<br />

Menschen – oder bei Kommunikationsunfähigkeit gegen<br />

den mutmasslichen Willen – erfolgen. Auch weniger eingreifende<br />

Massnahmen wie z.B. jemanden zwingen aufzustehen,<br />

Nahrung einzunehmen, oder an einer therapeutischen Sitzung<br />

teilzunehmen, sind Zwangsmassnahmen. Sie sind prinzipiell<br />

analog zu behandeln. Diese Richtlinien äussern sich<br />

jedoch explizit zu den gravierenden Formen von Zwangsmassnahmen.<br />

In der Praxis kann zwischen Freiheitsbeschränkung und<br />

Zwangsbehandlung unterschieden werden.<br />

Freiheitsbeschränkung<br />

Von Freiheitsbeschränkung spricht man, wenn ausschliesslich<br />

die Bewegungsfreiheit eingegrenzt wird (z.B. die Unterbringung<br />

auf einer geschlossenen Abteilung). Schwerwiegende<br />

Freiheitsbeschränkungen sind die Fixation (z.B. mit Gurten)<br />

oder die Isolation (z.B. in einem Isolierzimmer).<br />

Zwangsbehandlung<br />

Wird nicht nur die Freiheit beschränkt, sondern auch in die<br />

körperliche Integrität eines Menschen eingegriffen (z.B. bei<br />

einer unter Zwang oder mit Gewalt abgegebenen Medikation),<br />

handelt es sich um eine medizinische Zwangsmassnahme mit<br />

Verletzung der körperlichen Integrität. Dafür wird der Begriff<br />

Zwangsbehandlung verwendet.<br />

4


Im medizinischen Alltag werden Zwangsmassnahmen in verschiedenen<br />

Disziplinen und in unterschiedlichen Situationen<br />

angewandt. Es kann unterschieden werden zwischen Zwangsmassnahmen<br />

im psychiatrischen oder somatischen Bereich<br />

sowie Zwangsmassnahmen bei Kindern und Jugendlichen<br />

oder bei Erwachsenen. Besonders häufig kommen solche<br />

Situationen bei älteren pflegebedürftigen Menschen vor.<br />

2.2. Rechtlicher Rahmen<br />

2.2.1. Grundsatz<br />

Die folgenden Ausführungen zum rechtlichen Rahmen<br />

beschränken sich im Wesentlichen auf das öffentliche Recht.<br />

Zwangsmassnahmen stehen in einem rechtlichen Spannungsfeld:<br />

Einerseits sind Zwangsmassnahmen in jedem Fall Eingriffe<br />

in die verfassungsmässig geschützten Grundrechte der<br />

Patienten 3 . Andererseits kann sich aus einem staatlichen<br />

Handlungsgebot bzw. einer Pflicht zur Hilfeleistung auch eine<br />

rechtliche Verpflichtung ergeben, zum Schutz des Patienten<br />

oder von Dritten eine Zwangsmassnahme zu ergreifen.<br />

Bei den rechtlichen Voraussetzungen im Einzelnen ist zu<br />

unterscheiden zwischen der Zwangseinweisung in eine Institution<br />

mit konsekutiver Beschränkung der Bewegungsfreiheit<br />

und den weiteren medizinischen Zwangsmassnahmen. In der<br />

Schweiz kann eine Zwangseinweisung nur unter den gesetzlichen<br />

Voraussetzungen der fürsorgerischen Freiheitsentziehung<br />

(FFE) im Sinne von Artikel 397a des Zivilgesetzbuches 4<br />

oder einer anderen gesetzlichen Grundlage (z.B. Epidemiegesetz)<br />

erfolgen. Zuständig für die Einweisung bei FFE ist eine<br />

vormundschaftliche Behörde am Wohnsitz. Für die Fälle, in<br />

denen Gefahr im Verzug liegt oder die Person psychisch krank<br />

ist, können die Kantone diese Zuständigkeit ausserdem einer<br />

anderen geeigneten Stelle einräumen (ZGB Art. 397b). Viele<br />

Kantone haben diese Einweisungsbefugnis an Bezirks-, Amtsoder<br />

frei praktizierende Ärzte übertragen. Es ist zu empfehlen,<br />

3 Diese umfassen gemäss der Bundesverfassung das Recht auf persönliche Freiheit,<br />

insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit sowie auf Bewegungsfreiheit.<br />

Zwangsmassnahmen als Eingriffe in die Grundrechte sind nur dann zulässig,<br />

wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im überwiegenden öffentlichen<br />

Interesse liegen oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und<br />

verhältnismässig sind sowie den Kerngehalt der Grundrechte nicht antasten. Grundsätzlich<br />

sind alle diese Voraussetzungen notwendig, um Zwangsmassnahmen durchführen<br />

zu können. In vielen Kantonen fehlt jedoch vorläufig die gesetzliche Grundlage.<br />

4 Aufgrund dieser Gesetzesbestimmung darf «eine mündige oder entmündigte Person<br />

wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen<br />

oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten<br />

werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen<br />

werden kann».<br />

5


dass die Einweisung durch erfahrene bzw. besonders geschulte<br />

Ärzte erfolgt. Der betroffene Patient und ihm nahe stehende<br />

Personen haben Anspruch auf eine gerichtliche Beurteilung<br />

des Einweisungsentscheides (ZGB Art. 397d).<br />

Die Bestimmungen über die FFE enthalten keine gesetzliche<br />

Grundlage für die medizinischen Zwangsmassnahmen im<br />

engeren Sinne (Zwangsbehandlungen) 5 . Trotzdem sind solche<br />

in der Regel (siehe besondere Bedingungen bei Kindern,<br />

3.2.2.) nur anzuordnen, wenn eine FFE vorliegt. Eine Ausnahme<br />

stellen Notfallsituationen dar.<br />

Ob und unter welchen Voraussetzungen Zwangsmassnahmen<br />

zulässig sind, regelt das kantonale Gesundheitsrecht. Bei den<br />

bestehenden kantonalen gesetzlichen Grundlagen gibt es<br />

jedoch hinsichtlich Form und Inhalt grosse Unterschiede. Die<br />

unübersichtliche Situation vermag unter dem Gesichtspunkt<br />

der Rechtssicherheit nicht zu befriedigen. Umso wichtiger ist<br />

eine umfassende gesamtschweizerische rechtliche Regelung.<br />

Die Mitwirkung von Ärzten bei polizeilichen Zwangsmassnahmen<br />

sowie die ärztliche Tätigkeit bei inhaftierten Personen<br />

wird in den entsprechenden Richtlinien der SAMW<br />

behandelt (medizinisch-ethische Richtlinien für die Ausübung<br />

der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen; 2002).<br />

2.2.2. Besondere Bedingungen bei Minderjährigen 6<br />

Urteilsfähige Minderjährige<br />

Grundsätzlich müssen urteilsfähige Minderjährige ihre Zustimmung<br />

zu medizinischen Behandlungen geben. Ein Minderjähriger<br />

ist urteilsfähig, wenn er in der Lage ist, die Tragweite<br />

eines medizinischen Eingriffs und dessen Unterlassung<br />

zu erfassen, und über die Fähigkeit verfügt, seinen freien Willen<br />

zu äussern. Urteilsfähige Jugendliche sollen – sofern sie<br />

dies verlangen – ohne Einverständnis der Eltern Entscheidungen<br />

treffen können, solange es sich nicht um Massnahmen<br />

als Folge von Eigen- und/oder Fremdgefährdung handelt. Bei<br />

einer Verweigerung ist eine Zwangsmassnahme nur möglich,<br />

wenn sie zur Wahrnehmung des Kindswohls unerlässlich ist.<br />

In diesem Fall muss analog wie bei Erwachsenen vorgegangen<br />

werden.<br />

5 Da die FFE primär auf die Fürsorge des Betroffenen ausgerichtet ist, ist die Urteilsunfähigkeit<br />

grundsätzlich keine Voraussetzung. Hingegen darf eine Zwangsbehandlung nur<br />

bei vorliegender Urteilsunfähigkeit bezüglich der Notwendigkeit einer Behandlung<br />

durchgeführt werden.<br />

6 Nach dem Gesetz sind alle Personen unter 18 Jahren «Kinder» und «unmündig». Umgangssprachlich<br />

werden Kinder über 11 bis 12 Jahren als Jugendliche bezeichnet. In<br />

diesen Richtlinien wird jedoch der Ausdruck «Minderjährige» für alle Personen unter<br />

18 Jahren verwendet.<br />

6


Nicht urteilsfähige Minderjährige<br />

Bei nicht urteilsfähigen Minderjährigen obliegt das Recht,<br />

einer Behandlung zuzustimmen oder sie abzulehnen, dem<br />

gesetzlichen Vertreter (Eltern, Vormund).<br />

Treffen Eltern oder der gesetzliche Vertreter einen dem Kindeswohl<br />

widersprechenden Entscheid, so ist, ausser in Notfällen<br />

(z.B. Verweigerung der Zustimmung zu einer lebensrettenden<br />

Bluttransfusion, Zwangsernährung), der Entscheid<br />

der Vormundschaftsbehörde einzuholen.<br />

2.3. Verhältnismässigkeit<br />

Zwangsmassnahmen können ausserordentlich traumatisierend<br />

sein. Gerade bei Zwangsmassnahmen ist das Prinzip<br />

der Verhältnismässigkeit besonders zu achten; das heisst,<br />

eine solche Massnahme muss erstens notwendig, zweitens<br />

proportional zur Schwere der Gefährdung und drittens nicht<br />

durch weniger einschneidende Massnahmen ersetzbar sein.<br />

Es ist deshalb im Einzelfall zu prüfen, welche Massnahme<br />

für den Betroffenen am wenigsten belastend ist. Zudem ist<br />

abzuschätzen, ob der zu erwartende (persönliche und soziale)<br />

Nutzen den möglichen Schaden eines solchen Eingriffes<br />

deutlich übertrifft bzw. weniger gravierende Folgen hat<br />

als eine sonst notwendige Massnahme. Auch die Dauer der<br />

Zwangsmassnahme ist den Umständen anzupassen. Zudem<br />

muss eine Zwangsmassnahme nach bestem Stand des Wissens<br />

ausgewählt und reversibel sein.<br />

Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass auch somatische<br />

und psychische Schäden entstehen können. Somatische<br />

Schäden (z.B. Thrombosen, Infektionen) drohen durch längere<br />

Ruhigstellung (z.B. Fixation oder Sedation) oder durch<br />

körperliche Gewaltanwendungen (z.B. Prellungen, Frakturen).<br />

Psychische Traumatisierungen sind bei Zwangsmassnahmen<br />

um so eher zu erwarten, je mehr der Eingriff als ungerechtfertigt,<br />

beschämend oder gar als Vergeltung bzw. als gezielte<br />

Schädigung erlebt wird.<br />

7


3. Entscheidungswege<br />

3.1. Generelles<br />

Grundsätzlich sind alle möglichen Vorkehrungen zu treffen,<br />

durch die Zwangsmassnahmen vermieden werden können,<br />

und vor der Anwendung jeder Zwangsmassnahme müssen<br />

sämtliche weniger eingreifenden Behandlungsalternativen,<br />

die Aussicht auf Erfolg haben, ausgeschöpft sein.<br />

Medizinische Zwangsmassnahmen bedürfen einer ärztlichen<br />

Anordnung. Freiheitsbeschränkungen in Notfallsituationen<br />

können auch von Mitgliedern eines Behandlungsteams, insbesondere<br />

von Pflegepersonen, initiiert und durchgeführt<br />

werden. Ein Konsens zwischen den beteiligten Personen ist<br />

anzustreben. Im institutionellen Bereich sind die Entscheidungswege<br />

schriftlich festzulegen und die verantwortlichen<br />

Stellen konkret zu benennen.<br />

Wenn Notfallsituationen wiederholt auftreten, ist nach Möglichkeit<br />

jede Krise neu zu beurteilen. Insbesondere im stationären<br />

Bereich ist die Anordnung von Zwangsbehandlungen «auf<br />

Vorrat» unzulässig. In solchen Fällen können mit einer adäquaten<br />

Vorsorge Zwangsmassnahmen oft vermieden werden.<br />

3.1.1. Information<br />

Grundsätzlich hat jeder medizinischen Behandlung eine möglichst<br />

umfassende und offene Information des Patienten voranzugehen.<br />

Die Aufklärungspflicht umfasst insbesondere die<br />

Diagnose, die vorgesehenen Untersuchungen und Behandlungen,<br />

die Behandlungsalternativen, Folgen der Unterlassung<br />

sowie Risiken und Nebenwirkungen. Die Aufklärungspflicht<br />

des Arztes bleibt auch bei Zwangsmassnahmen bestehen. Ausnahmen<br />

sind nur zulässig bei unmittelbarem Handlungsbedarf<br />

und wenn der Patient offensichtlich nicht in der Lage ist,<br />

deren Inhalt zu verstehen. In diesem Fall ist die Information<br />

nachzuholen, sofern und sobald die Urteilsfähigkeit wieder<br />

vorhanden ist. Vom Patienten bezeichnete Angehörige, sonstige<br />

Vertrauenspersonen sowie gegebenenfalls der gesetzliche<br />

Vertreter sind zu informieren.<br />

Falls dem Patienten Rechtsmittel gegen die Anordnung der<br />

Zwangsmassnahme zustehen, ist ihm eine entsprechende<br />

Rechtsmittelbelehrung zu erteilen. Kann der Patient aufgrund<br />

seines Zustandes diese Erklärung nicht entgegennehmen oder<br />

verstehen, so ist dies so bald als möglich nachzuholen. Bei<br />

FFE hat dies durch die Institution, welche die Massnahme<br />

8


durchführt, zu erfolgen. Gleichzeitig sind vom Patienten<br />

bezeichnete Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen<br />

und gegebenenfalls der gesetzliche Vertreter entsprechend zu<br />

informieren.<br />

3.1.2. Behandlungsplan und Einwilligung<br />

ambulanter Bereich<br />

In einer Notfallsituation kann der zuständige Arzt die Verantwortung<br />

für eine allfällige Zwangsmassnahme in vielen Fällen<br />

nicht delegieren. Bei Indikation zur FFE (vgl. 3.3) ist der<br />

Patient dahingehend zu informieren, dass eine Zwangseinweisung<br />

im Augenblick die einzige verantwortbare Massnahme<br />

darstellt.<br />

Weil die Einweisung mittels FFE besondere Kompetenz und<br />

Erfahrung voraussetzt, ist es ratsam, diese Aufgabe möglichst<br />

an speziell ausgebildete Ärzte zu delegieren. Wo dies nicht<br />

möglich ist, hat der zuständige Arzt auch unter Druck seitens<br />

Angehörigen und Polizei die Interessen des Patienten zu wahren<br />

und die nötigen Abklärungen sorgfältig zu treffen.<br />

stationärer Bereich<br />

Im stationären Bereich ist zwischen Zwangsmassnahmen in<br />

Notfallsituationen und planbaren Zwangsmassnahmen zu unterscheiden.<br />

Länger anhaltende Zwangsmassnahmen ausserhalb<br />

einer Notfallsituation, also planbare Massnahmen, sind<br />

in einen umfassenden Behandlungsplan einzufügen und setzen<br />

Urteilsunfähigkeit voraus. Es soll in diesen Fällen die Zustimmung<br />

der vom Patienten bestimmten persönlichen Vertrauenspersonen<br />

7 bzw. des gesetzlichen Vertreters eingeholt<br />

werden. Falls eine im Zustand der Urteilsfähigkeit abgegebene<br />

Patientenverfügung vorliegt, ist dieser im Rahmen allfälliger<br />

gesetzlicher Vorschriften und der gegebenen Möglichkeiten<br />

Rechnung zu tragen. Zusätzlich zur ärztlichen Einweisung<br />

sollte für die Durchführung von planbaren Zwangsbehandlungen<br />

in Institutionen die Zustimmung des ärztlichen Leiters<br />

bzw. seines Stellvertreters vorliegen. In Notfallsituationen<br />

kann der zuständige Arzt analog zum ambulanten Bereich die<br />

notwendigen Anordnungen treffen. Für Massnahmen, die<br />

im weiteren Sinn den Charakter von Zwangsmassnahmen<br />

annehmen können (z.B. unfreiwilliges Aufstehen, Anziehen<br />

etc.), sind die Pflegefachleute zuständig. Voraussetzung ist,<br />

dass die rechtlichen Grundlagen und medizinischen Gegebenheiten<br />

berücksichtigt sind und über die Zulässigkeit von<br />

Zwangsmassnahmen ärztlich entschieden worden ist.<br />

7 Vom Patienten bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten<br />

9


10<br />

3.1.3. Entscheidungswege bei Minderjährigen<br />

Entscheidungen über Behandlung und Betreuung von Minderjährigen<br />

sollen im besten Interesse des Kindes oder Jugendlichen,<br />

im Konsens mit den Eltern bzw. den gesetzlichen Vertretern<br />

getroffen werden.<br />

Es ist Pflicht der Fachleute, einen Minderjährigen soweit<br />

als möglich, seiner Urteilsfähigkeit entsprechend, in Entscheidungen<br />

mit einzubeziehen und seine Zustimmung<br />

zu erhalten, da das Prinzip der Selbstbestimmung auch für<br />

Minderjährige, die urteilsfähig sind, gilt. Das Einbeziehen<br />

des Minderjährigen verbessert die Kommunikation zwischen<br />

Fachleuten und Familienmitgliedern; zudem kooperieren<br />

einbezogene Kinder und Jugendliche bei einer Behandlung<br />

besser. Dennoch besteht die Gefahr, dass ein Einverständnis<br />

von Minderjährigen gegenüber Autoritätspersonen oft nicht<br />

wirklich freiwillig erfolgt.<br />

Kinder und Jugendliche sollen beim Entscheid nicht überfordert<br />

werden; es soll aber auch nicht über Minderjährige<br />

entschieden werden, die willig und fähig sind, zu Entscheidungen<br />

über ihre Behandlung aktiv beizutragen. Selbstbestimmung<br />

ist ein Menschenrecht, das – mit angemessener<br />

Anpassung – auch für Kinder und Jugendliche gilt. Es kann<br />

im Kindes- und Jugendalter – wie die Selbstfürsorge – zuerst<br />

nur beschränkt und allmählich, mit zunehmender Reife als<br />

wünschenswertes Ziel vollständig ausgeübt werden.<br />

Ist ein Minderjähriger mit einer vorgeschlagenen Behandlung,<br />

welche er versteht, nicht einverstanden, soll diese nicht<br />

angewendet werden. Falls die Urteilsfähigkeit des Minderjährigen<br />

für die konkrete Situation nicht gegeben ist und die<br />

Massnahme im Rahmen von Eigen- und/oder Fremdgefährdung<br />

notwendig ist, so können die Eltern einer Behandlung<br />

in Vertretung des Kindes zustimmen. Widersetzen sich die<br />

Eltern, ist die Errichtung von Kindesschutzmassnahmen<br />

durch die Vormundschaftsbehörde zu prüfen.


3.2. Spezielle Problemsituationen<br />

3.2.1. Im somatischen Bereich<br />

Notfallsituationen<br />

– Bei vital gefährdeten Akutpatienten, die sich infolge<br />

Schock- oder Erregungszustand gegen eine Behandlung<br />

wehren, kann davon ausgegangen werden, dass sie vorübergehend<br />

urteilsunfähig sind. Die Behandlung orientiert<br />

sich dann am mutmasslichen Willen.<br />

– Bei medizinischer Notfallhilfe nach Suizidversuchen, bei<br />

denen zwar keine medizinische Hilfeleistung verlangt<br />

wird, aber diese zur Lebenserhaltung notwendig ist, wird<br />

in der Regel ebenfalls davon ausgegangen, dass der Patient<br />

vorübergehend urteilsunfähig ist (z.B. in Folge einer Depression).<br />

In subakuten Situationen<br />

Bei meldepflichtigen ansteckenden Erkrankungen muss nach<br />

dem Epidemiegesetz eine Massnahme von den Gesundheitsbehörden<br />

allenfalls gegen den Willen des Patienten durchgeführt<br />

werden (Isolation, Zwangsmedikation). Allerdings muss<br />

auch in dieser Situation alles versucht werden, damit der<br />

Patient freiwillig die Behandlungsmassnahmen auf sich<br />

nimmt. Dies gilt in Analogie auch bei nosocomialen (in der<br />

Klinik erworbenen) Infektionen.<br />

3.2.2. Im psychiatrischen Bereich<br />

Allgemeines<br />

Schwere psychische Störungen können zu einem Kontrollverlust<br />

und zu Verhaltensweisen führen, die für den Betroffenen<br />

oder für andere Menschen eine akute Gefahr darstellen.<br />

Nur dann dürfen Zwangsmassnahmen zum Einsatz kommen.<br />

Schwere Störungen des Zusammenlebens sind zu berücksichtigen.<br />

In jedem Fall muss Selbstgefährdung vorhanden sein;<br />

diese kann auch dadurch gegeben sein, dass die betroffene<br />

Person andere schwer schädigt und dadurch selber empfindliche<br />

Nachteile erleidet.<br />

Selbstgefährdung, Fremdgefährdung und schwere Störungen<br />

des Zusammenlebens lassen sich wie folgt beschreiben:<br />

11


Schwere Selbstgefährdung<br />

Selbstgefährdung liegt vor, wenn das krankhafte Verhalten<br />

nur dem Betroffenen selbst unmittelbaren Schaden zuzufügen<br />

droht. Dies erfordert bei jeglicher Art von Zwangsmassnahmen<br />

eine besonders sorgfältige Abwägung der Verhältnismässigkeit,<br />

insbesondere ist stets die Machbarkeit einer Einzelbetreuung<br />

zu prüfen. Zwangsmassnahmen wegen Selbstgefährdung<br />

sind deshalb nur bei Urteilsunfähigkeit zulässig.<br />

Schwere Fremdgefährdung<br />

Fremdgefährdung liegt vor, wenn für andere Personen eine<br />

absehbare Gefährdung besteht. Gefahr besteht insbesondere<br />

in aggressivem Verhalten bis zur Androhung von schwerer<br />

Gewalt oder in körperlichen Attacken. Medizinisches Eingreifen<br />

gegen den Willen des Betroffenen setzt voraus, dass<br />

die Ursache für das fremdgefährdende Verhalten in einer psychischen<br />

Störung liegt und die Gefährdung erheblich ist.<br />

Schwere Störung des Zusammenlebens<br />

Eine schwere Störung des Zusammenlebens liegt vor, wenn<br />

das Verhalten einer psychisch kranken Person in ihrem unmittelbaren<br />

Umfeld für die Betroffenen so stark belastend ist<br />

oder die Freiheit der anderen beeinträchtigt, dass für sie ein<br />

Zusammenleben mit dem psychisch Kranken nicht zumutbar<br />

ist 8 .<br />

Besonderes in psychiatrischen Notfallsituationen<br />

Ist die psychiatrische Notfallsituation nicht anders zu beheben,<br />

kommt eine FFE in Betracht (siehe Kapitel 3.3.). Unter<br />

FFE sind unter Umständen weitere allein fürsorgerisch nicht<br />

gerechtfertigte Massnahmen wie Isolierung, Fixierung und<br />

Zwangsmedikation nötig. Anlässe für Isolierung können z.B.<br />

vorübergehender Kontrollverlust mit manifester Gewalttätigkeit,<br />

ernst zu nehmende Androhung von Gewalt oder Gefährdung<br />

von Drittpersonen sowie eine schwere Störung des<br />

Zusammenlebens sein. Gründe für eine Fixierung sind z.B.<br />

schwere Selbstverletzungsversuche bzw. akute Selbstverletzungsgefahr.<br />

Eine Zwangsmedikation kann bei akuten Erregungszuständen<br />

mit Selbst- oder Fremdgefährdung oder zur<br />

Vermeidung einer andernfalls notwendigen wiederholten<br />

8 Eine schwere Störung des Zusammenlebens aus Krankheitsgründen besteht z.B.<br />

darin, dass ein psychisch kranker Mensch andere Personen in der Familie oder in<br />

einem Heim in ihrer Lebensführung durch schwere Verwahrlosung, anhaltende<br />

Ruhestörung oder ständige Beschimpfung bzw. Drohungen anhaltend beeinträchtigt.<br />

In einer psychiatrischen Klinik können lautstarke Verhaltensweisen, verbale und nonverbale<br />

Aggressivität oder das Herumwerfen von Gegenständen Massnahmen wie<br />

eine vorübergehende Isolation nötig machen, wenn alternative Interventionen ihr Ziel<br />

verfehlt haben.<br />

12


zw. längeren Isolierung bzw. Fixierung erforderlich werden.<br />

Isolierungen und Fixationen sollten in der Regel höchstens<br />

Stunden dauern.<br />

Gerade in psychiatrischen Notfallsituationen müssen zunächst<br />

in einem Stufenplan andere Deeskalationsmöglichkeiten<br />

erprobt werden, sofern nicht eine unmittelbare Gefahr<br />

besteht. Derartige Vorgehensweisen sind insbesondere im<br />

stationären Bereich verbale Deeskalation («talking down»),<br />

verbale Grenzsetzungen, «Time-out» im eigenen Zimmer, Anbieten<br />

von Bewegung oder Aufzeigen von anderen Lösungsmöglichkeiten.<br />

Auch eine Einzelbetreuung über längere Zeit<br />

mit ständiger Begleitung ist zu prüfen, sofern die Sicherheit<br />

der betreuenden Person gewährleistet werden kann.<br />

3.2.3. Im geriatrischen Bereich<br />

Bei der Betreuung von z.B. dementen Patienten sind freiheitsbeschränkende<br />

Massnahmen bei Verwirrtheit und Aggressivität<br />

oft unausweichlich. Die Schweizerische Akademie der<br />

Medizinischen Wissenschaften hat besondere Richtlinien zur<br />

Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen<br />

Menschen ausgearbeitet und in diesem Zusammenhang auch<br />

Empfehlungen im Umgang mit allfällig nötig gewordenen<br />

Freiheitsbeschränkungen bei verwirrten Menschen 9 abgegeben.<br />

«Eine freiheitsbeschränkende Massnahme darf, unter Vorbehalt<br />

anders lautender gesetzlicher Vorschriften, nur unter folgenden<br />

Bedingungen eingesetzt werden:<br />

a) das Verhalten der Person gefährdet in erheblichem Masse<br />

ihre eigene Sicherheit oder Gesundheit oder diejenige anderer<br />

Personen oder beeinträchtigt in hohem Ausmass<br />

Ruhe und Wohlbefinden Dritter;<br />

b) das beobachtete auffällige Verhalten ist nicht auf behebbare<br />

Ursachen zurückzuführen, wie z.B. Schmerz, Nebenwirkungen<br />

von Medikamenten oder zwischenmenschliche<br />

Spannungen;<br />

c) andere, die persönliche Freiheit weniger beeinträchtigende<br />

Massnahmen haben versagt oder sind nicht möglich.<br />

Eine freiheitsbeschränkende Massnahme wird vom Arzt, vom<br />

Pflegeteam und den Therapeuten gemeinsam besprochen,<br />

bevor sie der älteren Person (bzw. bei Urteilsunfähigkeit ihrer<br />

Vertrauensperson oder ihrem gesetzlichen Vertreter) vorgeschlagen<br />

wird.<br />

9 Medizinisch-ethische Richtlinien zur Behandlung und Betreuung älterer, pflegebedürftiger<br />

Menschen (2004).<br />

13


Die ältere Person bzw. ihre Vertrauensperson oder ihr gesetzlicher<br />

Vertreter müssen über den Zweck, die Art und die Dauer<br />

der Massnahme verständlich und angemessen informiert<br />

werden; gleichzeitig ist ihnen der Name der verantwortlichen<br />

Person mitzuteilen.<br />

Grundsätzlich darf eine freiheitsbeschränkende Massnahme<br />

nur mit Zustimmung der betroffenen älteren Person bzw. bei<br />

deren Urteilsunfähigkeit mit Zustimmung ihrer Vertrauensperson<br />

oder ihres gesetzlichen Vertreters ergriffen werden.<br />

Ist eine Person urteilsunfähig und hat weder Vertrauensperson<br />

noch gesetzlichen Vertreter, oder ist in einer Notfallsituation<br />

eine Rückfrage nicht möglich, haben der Arzt, die Pflegenden<br />

und allenfalls zuständige Therapeuten eine solche Massnahme<br />

in einem interdisziplinären Entscheidungsprozess, im<br />

besten Interesse der betroffenen Person und unter Einbezug<br />

der Angehörigen gemäss den obigen Kriterien zu beschliessen<br />

10 . Von einer einzigen Fachperson gefällte, kurzfristige<br />

Entscheide sollen anschliessend gemäss diesem Prozedere neu<br />

entschieden werden.»<br />

3.3. Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE)<br />

3.3.1. Generelles<br />

Psychisch kranke Menschen, die mit einer FFE in eine psychiatrische<br />

Institution eingewiesen werden müssen (vgl. 2.2,<br />

Rechtlicher Rahmen), sind häufig aufgrund ihres Zustandes<br />

nicht oder nur in Teilbereichen urteils- und einwilligungsfähig.<br />

Keinesfalls darf aber aus der blossen Tatsache einer<br />

erfolgten Zwangseinweisung abgeleitet werden, dass damit<br />

auch alle medizinischen (und weitere die persönliche Freiheit<br />

innerhalb der Institution zusätzlich einschränkenden) Massnahmen<br />

gegen den Willen des Patienten gerechtfertigt sind.<br />

Grundsätzlich haben auch mit FFE eingewiesene Personen<br />

Anspruch auf alle Patientenrechte, d.h. vor allem auf umfassende<br />

Aufklärung über ihr Krankheitsbild, die Behandlungsmöglichkeiten<br />

sowie deren Risiken und Nebenwirkungen und<br />

die Folgen einer Nichtbehandlung. Generell müssen auch<br />

zwangseingewiesene Patienten in alle diagnostischen und<br />

therapeutischen Massnahmen einwilligen. Von dieser Einwilligung<br />

kann im Rahmen einer Notfallbehandlung nur abgesehen<br />

werden, wenn eine sofortige Intervention dringend und<br />

10 Vorbehalten sind anderslautende gesetzliche Vorschriften, die z.B. generell die Bezeichnung<br />

und die Zustimmung einer Vertrauensperson oder eines gesetzlichen Vertreters<br />

verlangen.<br />

14


unerlässlich ist, um die unmittelbare Gefahr einer schweren<br />

Gesundheitsschädigung oder Lebensgefährdung abzuwenden.<br />

Erweist sich eine medizinische Massnahme gegen den<br />

Willen des Patienten als unumgänglich, sind die rechtlichen<br />

Rahmenbedingungen zu beachten. Auch unter FFE dürfen<br />

Zwangsmassnahmen nur so lange durchgeführt werden, als<br />

die sie veranlassende Situation (Selbst- oder Fremdgefährdung<br />

oder eine schwerwiegende Störung des Zusammenlebens innerhalb<br />

der Institution) andauert.<br />

3.3.2. Fürsorgerische Freiheitsentziehung bei Minderjährigen<br />

Bei der FFE bei Minderjährigen handelt es sich faktisch um<br />

einen Obhutsentzug durch die Vormundschaftsbehörde. Die<br />

Betreuung erfolgt in einer Institution (Heim, Klinik, Beobachtungsstation<br />

etc.). Für das Verfahren und die gerichtliche<br />

Beurteilung sind die Bestimmungen der FFE für Erwachsene<br />

analog anzuwenden. Ein Jugendlicher ab dem 16. Altersjahr<br />

kann selber die gerichtliche Beurteilung verlangen und jederzeit<br />

ein Entlassungsgesuch stellen (ZGB Art. 314 a, 405 a). Die<br />

mit der Einweisungskompetenz beauftragten Behörden sollen<br />

nach Möglichkeit einen 24-Stunden-Betrieb gewährleisten,<br />

auch an Sonn- und Feiertagen. In den meisten Kantonen<br />

sind auch die praktizierenden Ärzte zur Einweisung psychisch<br />

kranker Minderjähriger berechtigt.<br />

Minderjährige sollten von Erwachsenen getrennt untergebracht<br />

werden.<br />

4. Durchführung<br />

4.1. Grundsatz<br />

Jede Zwangsmassnahme muss einem klaren Handlungskonzept<br />

folgen. Ist die Entscheidung einmal gefallen, so ist ein<br />

zielgerichtetes, koordiniertes und entschiedenes Vorgehen<br />

aller beteiligten Personen erforderlich, welches – im stationären<br />

Bereich – im Behandlungsteam abgesprochen wurde.<br />

Jegliche unnötige – auch verbale – Aggressivität ist zu unterlassen.<br />

Es sind – auch im ambulanten Bereich – alle Massnahmen<br />

zu ergreifen, die zu einer Deeskalation der Situation<br />

beitragen können.<br />

Erlaubt sind grundsätzlich nur Massnahmen, die dem anerkannten<br />

aktuellen Standard des betroffenen medizinischen<br />

Fachgebietes entsprechen.<br />

15


Verboten sind Handlungen, die unnötig schmerzhaft sind<br />

oder die persönliche Freiheit, namentlich die Bewegungsfreiheit,<br />

mehr als unbedingt notwendig einschränken. Zwangsmassnahmen<br />

dürfen nicht dazu eingesetzt werden, um Patienten<br />

zu disziplinieren oder zu bestrafen.<br />

4.2. Spezielle Hinweise<br />

Bei der Durchführung von Zwangsbehandlungen insbesondere<br />

in psychiatrischen Institutionen sind speziell folgende<br />

Punkte zu beachten:<br />

– Es ist eine möglichst sichere Umgebung zu schaffen; Gegenstände,<br />

die den Patienten oder das Personal gefährden<br />

könnten, sind aus dem Umfeld zu entfernen. Der Ort der<br />

Durchführung soll sorgfältig gewählt werden.<br />

– Die Intimsphäre des Betroffenen ist zu schützen, die Anwesenheit<br />

Unbeteiligter soll vermieden werden.<br />

– Der Beginn der Durchführung der Zwangsmassnahme<br />

wird gegenüber dem betroffenen Patienten klar und verständlich<br />

deklariert. Günstig ist es, wenn eine einzige Person<br />

den Ablauf leitet. Zögerliches Verhalten oder widersprüchliche<br />

Anweisungen bei der Durchführung von<br />

Zwangsmassnahmen erschweren den Ablauf und belasten<br />

den Patienten.<br />

– Der Handlungsablauf bei der Zwangsmassnahme hat so<br />

ruhig wie nur möglich zu erfolgen.<br />

– Im weiteren Ablauf der Zwangsmassnahme sollen die<br />

einzelnen Schritte deutlich und prägnant angekündigt<br />

werden.<br />

– Die zahlenmässige Übermacht des personellen Aufgebotes<br />

ist in manchen Fällen für Patienten aggressionshemmend.<br />

Vor der Verabreichung einer allfälligen Zwangsinjektion sind<br />

grundsätzlich folgende Schritte zu empfehlen: Die Medikation<br />

ist nochmals per os anzubieten im Wissen darum, dass dieses<br />

Vorgehen bereits einer Zwangsmassnahme entspricht. Erst<br />

wenn der Patient die Einnahme weiterhin verweigert, wird<br />

eine Medikation gegen den Willen parenteral verabreicht.<br />

16


4.2.1. Dauer<br />

Die Dauer jeder Zwangsmassnahme insbesondere im stationären<br />

Bereich ist von vornherein zeitlich zu begrenzen. Bereits<br />

bei der Anordnung ist festzulegen, wann die nächste<br />

Überprüfung vorzunehmen ist. Diese sollte bei Isolation oder<br />

Fixation so oft als möglich (z.B. stündlich) erfolgen. Generell<br />

sind Zwangsmassnahmen nur so lange durchzuführen wie<br />

unbedingt erforderlich, und sie sind so schnell wie möglich<br />

aufzuheben.<br />

4.2.2. Stationäre Überwachung<br />

Die von der Zwangsmassnahme betroffene Person wird kontinuierlich<br />

betreut und der Situation entsprechend angemessen<br />

überwacht.<br />

In Abhängigkeit von der Massnahme und dem Zustand des<br />

Betroffenen sind geeignete Prophylaxemassnahmen durchzuführen<br />

(Pneumonie-, Dekubitusprophylaxe etc.).<br />

4.2.3. Begleitmassnahmen und Nachbetreuung<br />

Zwangsmassnahmen werden von den Betroffenen als besonders<br />

einschneidende Ereignisse erlebt, die zudem mit erheblichen<br />

körperlichen und psychischen Folgen verbunden sein<br />

können. Auch deshalb ist die Gesamtsituation regelmässig<br />

neu zu beurteilen, so dass die Zwangsmassnahme in jedem<br />

Fall so kurz wie nur irgend möglich andauert.<br />

Jede medizinische Zwangsmassnahme bedarf – sofern möglich<br />

und vom Patienten akzeptiert, sowohl im stationären<br />

wie im ambulanten Bereich – der ausführlichen Nachbesprechung<br />

mit dem Patienten, allenfalls unter Einbezug weiterer<br />

von ihm gewünschter Personen, sobald sein Zustand dies<br />

erlaubt. Dabei sind von den verantwortlichen Ärzten insbesondere<br />

nochmals die Gründe darzulegen, die aus ihrer Sicht<br />

die Massnahme notwendig gemacht haben. Dem Patienten<br />

ist ausreichend Raum für eine Darstellung seines Erlebens<br />

und seiner Sicht der Dinge zu geben. Es ist ihm zudem die<br />

Möglichkeit zu geben, sein Erleben zuhanden der Krankengeschichte<br />

schriftlich festzuhalten. Dabei ist zu bedenken, dass<br />

psychische Traumatisierungen umso eher zu erwarten sind, je<br />

stärker der Eingriff als ungerechtfertigt, beschämend oder gar<br />

als gezielte Schädigung erlebt wird.<br />

Es ist in der Folge darauf zu achten, ob die Zwangsmassnahme<br />

zu einer psychischen Beeinträchtigung geführt hat, die allenfalls<br />

eine fachspezifische Therapie erfordert. Durchgeführte<br />

Zwangsmassnahmen sollen auch im Behandlungsteam nachbesprochen<br />

werden.<br />

17


4.2.4. Dokumentation<br />

Alle Zwangsmassnahmen sind in den Krankenunterlagen und<br />

in der Pflegedokumentation sorgfältig festzuhalten. Mindestens<br />

festzuhalten sind: Begründung und allenfalls Rechtsgrundlage<br />

der Massnahme, Art, Dauer und Zeitpunkt des<br />

ausgeübten Zwanges, bei der Anordnung und Durchführung<br />

verantwortliche Personen, durchgeführte Kontrollen sowie<br />

erfolgte Information.<br />

In der Verfügung einer FFE soll mindestens Folgendes dokumentiert<br />

werden: Zeitpunkt der ärztlichen Untersuchung, Art<br />

der diagnostizierten psychischen Störung, Zeitpunkt und Ort<br />

der Einweisung, kurze Begründung der FFE, erfolgter Hinweis<br />

auf das rechtliche Gehör. Ein Exemplar der Verfügung muss<br />

dem Patienten ausgehändigt werden.<br />

4.2.5. Rechtsmittelbelehrung<br />

Der Zugang zu den gesetzlichen Einspruch- oder Beschwerdemöglichkeiten<br />

ist zu gewährleisten.<br />

Vor Anordnung einer geplanten Zwangsmassnahme sind der<br />

Patient und gegebenenfalls die von ihm bestimmte Vertrauensperson,<br />

wenn möglich schriftlich, auf die zugrunde liegenden<br />

rechtlichen Bestimmungen und seine konkreten Rekursmöglichkeiten<br />

hinzuweisen (siehe 3.1.1).<br />

5. Personelle und institutionelle Rahmenbedingungen<br />

18<br />

Jede Institution braucht die personellen und institutionellen<br />

Voraussetzungen, um möglichst auf Zwangsmassnahmen<br />

verzichten zu können. Institutionelle und personelle Mängel<br />

beeinflussen die Entscheidung zu Zwangsmassnahmen<br />

massgeblich, dürfen jedoch nicht als Legitimation dafür dienen.<br />

Deshalb ist dafür zu sorgen, dass insbesondere auch in<br />

psychiatrischen und geriatrischen Institutionen sowohl im<br />

ambulanten wie auch im stationären Bereich das nötige und<br />

adäquat ausgebildete Personal vorhanden ist.<br />

Für psychisch kranke Straftäter sind spezielle Institutionen<br />

notwendig.<br />

Die Institution ist dafür verantwortlich, dass die entsprechenden<br />

gesetzlichen Grundlagen und Richtlinien den Mitarbeitenden<br />

bekannt und die Entscheidungswege und Verantwortlichkeiten<br />

klar definiert und schriftlich festgelegt sind.<br />

Sie ist besorgt, dass für die Durchführung genügend ausgebildetes<br />

Personal zur Verfügung steht.<br />

Es sollen Fortbildungen und Supervisionen zum Thema Deeskalation<br />

und Umgang mit Zwangsmassnahmen und Gewalt<br />

angeboten werden.


III. <strong>Anhang</strong><br />

Zitierte Richtlinien der SAMW<br />

Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen<br />

Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen<br />

Weitere wichtige Regelwerke<br />

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde<br />

im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Biomedizin-<br />

Konvention des Europarates, von der Schweiz noch nicht ratifiziert)<br />

www.conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/164.htm<br />

Convention on the Rights of the Child. Office on the High Commissioner for<br />

Human Rights. www.unhchr.ch/html/menu2/6/crc/treaties/crc.htm<br />

Vorentwurf für eine Revision des Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz,<br />

Personenrecht und Kindesrecht)<br />

www.ofj.admin.ch/bj/de/home/themen/gesellschaft/gesetzgebung/vormundschaft.html<br />

Principles for Policy on Mental Health (UNO)<br />

Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien<br />

Mandat<br />

Verantwortliche<br />

Subkommission<br />

Beigezogene<br />

Experten<br />

Vernehmlassung<br />

Genehmigung<br />

Am 19. April 2002 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine<br />

Subkommission für die Ausarbeitung von Richtlinien zu Zwangsmassnahmen<br />

in der Medizin beauftragt.<br />

Prof. Dr. med. Daniel Hell, Zürich, Präsident<br />

Prof. Dr. med. Hans-Dieter Brenner, Bern<br />

Prof. Dr. med. Volker Dittmann, Basel<br />

Dr. phil. I Carlo Foppa, Lausanne<br />

lic.iur. Jürg Gassmann, Pro Mente Sana, Zürich<br />

Dr. med. Christian Hess, Affoltern<br />

Dr. phil. II Margrit Leuthold, Basel, ex officio<br />

Dr. med. Agnès Michon, Genf<br />

Dr. med. Eberhard Rust, Oberwil b. Zug<br />

Renata Schläpfer, VASK, Reussbühl<br />

PD Dr. med. Barbara Steck, Basel<br />

Urs Trottmann, Dipl. Pflegefachmann, Zürich<br />

Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Genf, Präsident ZEK, ex officio<br />

Prof. Dr. iur. Peter Aebersold, Basel<br />

Dr. iur. Giusep Nay, Lausanne<br />

Prof. Dr. med. Andreas Stuck, Bern<br />

lic.iur. Urs Vogel, Luzern<br />

Am 25. November 2004 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser<br />

Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt.<br />

Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 24. Mai 2005 vom Senat<br />

der SAMW genehmigt.<br />

19


Impressum<br />

Gestaltung<br />

vistapoint, Basel<br />

Druck<br />

Schwabe, Muttenz<br />

1. Auflage 1500 d, 800 f, 700 i<br />

2. Auflage 1500 d (März 2006)<br />

Bestelladresse<br />

SAMW<br />

Petersplatz 13<br />

CH-4051 Basel<br />

Tel.: +41 61 269 90 30<br />

Fax: +41 61 269 90 39<br />

E-mail: mail@samw.ch<br />

Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website<br />

www.samw.ch verfügbar.<br />

20


WORLD MEDICAL ASSOCIATION DECLARATION OF HELSINKI<br />

Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects<br />

Adopted by the 18th WMA General Assembly, Helsinki, Finland, June 1964, and amended by the:<br />

29th WMA General Assembly, Tokyo, Japan, October 1975<br />

35th WMA General Assembly, Venice, Italy, October 1983<br />

41st WMA General Assembly, Hong Kong, September 1989<br />

48th WMA General Assembly, Somerset West, Republic of South Africa, October 1996<br />

52nd WMA General Assembly, Edinburgh, Scotland, October 2000<br />

53rd WMA General Assembly, Washington 2002 (Note of Clarification on paragraph 29 added)<br />

55th WMA General Assembly, Tokyo 2004 (Note of Clarification on Paragraph 30 added)<br />

59th WMA General Assembly, Seoul, October 2008<br />

A. INTRODUCTION<br />

1. The World Medical Association (WMA) has developed the Declaration of Helsinki as a<br />

statement of ethical principles for medical research involving human subjects, including<br />

research on identifiable human material and data.<br />

The Declaration is intended to be read as a whole and each of its constituent paragraphs<br />

should not be applied without consideration of all other relevant paragraphs.<br />

2. Although the Declaration is addressed primarily to physicians, the WMA encourages<br />

other participants in medical research involving human subjects to adopt these<br />

principles.<br />

3. It is the duty of the physician to promote and safeguard the health of patients, including<br />

those who are involved in medical research. The physician's knowledge and conscience<br />

are dedicated to the fulfilment of this duty.<br />

4. The Declaration of Geneva of the WMA binds the physician with the words, “The<br />

health of my patient will be my first consideration,” and the International Code of<br />

Medical Ethics declares that, “A physician shall act in the patient's best interest when<br />

providing medical care.”<br />

5. Medical progress is based on research that ultimately must include studies involving<br />

human subjects. Populations that are underrepresented in medical research should be<br />

provided appropriate access to participation in research.<br />

6. In medical research involving human subjects, the well-being of the individual research<br />

subject must take precedence over all other interests.<br />

7. The primary purpose of medical research involving human subjects is to understand the<br />

causes, development and effects of diseases and improve preventive, diagnostic and<br />

therapeutic interventions (methods, procedures and treatments). Even the best current<br />

interventions must be evaluated continually through research for their safety,<br />

effectiveness, efficiency, accessibility and quality.<br />

8. In medical practice and in medical research, most interventions involve risks and<br />

burdens.<br />

1


DoH/Oct2008<br />

9. Medical research is subject to ethical standards that promote respect for all human<br />

subjects and protect their health and rights. Some research populations are particularly<br />

vulnerable and need special protection. These include those who cannot give or refuse<br />

consent for themselves and those who may be vulnerable to coercion or undue<br />

influence.<br />

10. Physicians should consider the ethical, legal and regulatory norms and standards for<br />

research involving human subjects in their own countries as well as applicable<br />

international norms and standards. No national or international ethical, legal or<br />

regulatory requirement should reduce or eliminate any of the protections for research<br />

subjects set forth in this Declaration.<br />

B. PRINCIPLES FOR ALL MEDICAL RESEARCH<br />

11. It is the duty of physicians who participate in medical research to protect the life, health,<br />

dignity, integrity, right to self-determination, privacy, and confidentiality of personal<br />

information of research subjects.<br />

12. Medical research involving human subjects must conform to generally accepted<br />

scientific principles, be based on a thorough knowledge of the scientific literature, other<br />

relevant sources of information, and adequate laboratory and, as appropriate, animal<br />

experimentation. The welfare of animals used for research must be respected.<br />

13. Appropriate caution must be exercised in the conduct of medical research that may<br />

harm the environment.<br />

14. The design and performance of each research study involving human subjects must be<br />

clearly described in a research protocol. The protocol should contain a statement of the<br />

ethical considerations involved and should indicate how the principles in this<br />

Declaration have been addressed. The protocol should include information regarding<br />

funding, sponsors, institutional affiliations, other potential conflicts of interest,<br />

incentives for subjects and provisions for treating and/or compensating subjects who are<br />

harmed as a consequence of participation in the research study. The protocol should<br />

describe arrangements for post-study access by study subjects to interventions identified<br />

as beneficial in the study or access to other appropriate care or benefits.<br />

15. The research protocol must be submitted for consideration, comment, guidance and<br />

approval to a research ethics committee before the study begins. This committee must<br />

be independent of the researcher, the sponsor and any other undue influence. It must<br />

take into consideration the laws and regulations of the country or countries in which the<br />

research is to be performed as well as applicable international norms and standards but<br />

these must not be allowed to reduce or eliminate any of the protections for research<br />

subjects set forth in this Declaration. The committee must have the right to monitor<br />

ongoing studies. The researcher must provide monitoring information to the committee,<br />

especially information about any serious adverse events. No change to the protocol may<br />

be made without consideration and approval by the committee.<br />

16. Medical research involving human subjects must be conducted only by individuals with<br />

the appropriate scientific training and qualifications. Research on patients or healthy<br />

2


DoH/Oct2008<br />

volunteers requires the supervision of a competent and appropriately qualified physician<br />

or other health care professional. The responsibility for the protection of research<br />

subjects must always rest with the physician or other health care professional and never<br />

the research subjects, even though they have given consent.<br />

17. Medical research involving a disadvantaged or vulnerable population or community is<br />

only justified if the research is responsive to the health needs and priorities of this<br />

population or community and if there is a reasonable likelihood that this population or<br />

community stands to benefit from the results of the research.<br />

18. Every medical research study involving human subjects must be preceded by careful<br />

assessment of predictable risks and burdens to the individuals and communities<br />

involved in the research in comparison with foreseeable benefits to them and to other<br />

individuals or communities affected by the condition under investigation.<br />

19. Every clinical trial must be registered in a publicly accessible database before<br />

recruitment of the first subject.<br />

20. Physicians may not participate in a research study involving human subjects unless they<br />

are confident that the risks involved have been adequately assessed and can be<br />

satisfactorily managed. Physicians must immediately stop a study when the risks are<br />

found to outweigh the potential benefits or when there is conclusive proof of positive<br />

and beneficial results.<br />

21. Medical research involving human subjects may only be conducted if the importance of<br />

the objective outweighs the inherent risks and burdens to the research subjects.<br />

22. Participation by competent individuals as subjects in medical research must be<br />

voluntary. Although it may be appropriate to consult family members or community<br />

leaders, no competent individual may be enrolled in a research study unless he or she<br />

freely agrees.<br />

23. Every precaution must be taken to protect the privacy of research subjects and the<br />

confidentiality of their personal information and to minimize the impact of the study on<br />

their physical, mental and social integrity.<br />

24. In medical research involving competent human subjects, each potential subject must be<br />

adequately informed of the aims, methods, sources of funding, any possible conflicts of<br />

interest, institutional affiliations of the researcher, the anticipated benefits and potential<br />

risks of the study and the discomfort it may entail, and any other relevant aspects of the<br />

study. The potential subject must be informed of the right to refuse to participate in the<br />

study or to withdraw consent to participate at any time without reprisal. Special<br />

attention should be given to the specific information needs of individual potential<br />

subjects as well as to the methods used to deliver the information. After ensuring that<br />

the potential subject has understood the information, the physician or another<br />

appropriately qualified individual must then seek the potential subject’s freely-given<br />

informed consent, preferably in writing. If the consent cannot be expressed in writing,<br />

the non-written consent must be formally documented and witnessed.<br />

3


DoH/Oct2008<br />

25. For medical research using identifiable human material or data, physicians must<br />

normally seek consent for the collection, analysis, storage and/or reuse. There may be<br />

situations where consent would be impossible or impractical to obtain for such research<br />

or would pose a threat to the validity of the research. In such situations the research may<br />

be done only after consideration and approval of a research ethics committee.<br />

26. When seeking informed consent for participation in a research study the physician<br />

should be particularly cautious if the potential subject is in a dependent relationship<br />

with the physician or may consent under duress. In such situations the informed consent<br />

should be sought by an appropriately qualified individual who is completely<br />

independent of this relationship.<br />

27. For a potential research subject who is incompetent, the physician must seek informed<br />

consent from the legally authorized representative. These individuals must not be<br />

included in a research study that has no likelihood of benefit for them unless it is<br />

intended to promote the health of the population represented by the potential subject,<br />

the research cannot instead be performed with competent persons, and the research<br />

entails only minimal risk and minimal burden.<br />

28. When a potential research subject who is deemed incompetent is able to give assent to<br />

decisions about participation in research, the physician must seek that assent in addition<br />

to the consent of the legally authorized representative. The potential subject’s dissent<br />

should be respected.<br />

29. Research involving subjects who are physically or mentally incapable of giving<br />

consent, for example, unconscious patients, may be done only if the physical or mental<br />

condition that prevents giving informed consent is a necessary characteristic of the<br />

research population. In such circumstances the physician should seek informed consent<br />

from the legally authorized representative. If no such representative is available and if<br />

the research cannot be delayed, the study may proceed without informed consent<br />

provided that the specific reasons for involving subjects with a condition that renders<br />

them unable to give informed consent have been stated in the research protocol and the<br />

study has been approved by a research ethics committee. Consent to remain in the<br />

research should be obtained as soon as possible from the subject or a legally authorized<br />

representative.<br />

30. Authors, editors and publishers all have ethical obligations with regard to the<br />

publication of the results of research. Authors have a duty to make publicly available<br />

the results of their research on human subjects and are accountable for the completeness<br />

and accuracy of their reports. They should adhere to accepted guidelines for ethical<br />

reporting. Negative and inconclusive as well as positive results should be published or<br />

otherwise made publicly available. Sources of funding, institutional affiliations and<br />

conflicts of interest should be declared in the publication. Reports of research not in<br />

accordance with the principles of this Declaration should not be accepted for<br />

publication.<br />

4


DoH/Oct2008<br />

C. ADDITIONAL PRINCIPLES FOR MEDICAL RESEARCH COMBINED WITH<br />

MEDICAL CARE<br />

31. The physician may combine medical research with medical care only to the extent that<br />

the research is justified by its potential preventive, diagnostic or therapeutic value and if<br />

the physician has good reason to believe that participation in the research study will not<br />

adversely affect the health of the patients who serve as research subjects.<br />

32. The benefits, risks, burdens and effectiveness of a new intervention must be tested<br />

against those of the best current proven intervention, except in the following<br />

circumstances:<br />

• The use of placebo, or no treatment, is acceptable in studies where no current<br />

proven intervention exists; or<br />

• Where for compelling and scientifically sound methodological reasons the use of<br />

placebo is necessary to determine the efficacy or safety of an intervention and the<br />

patients who receive placebo or no treatment will not be subject to any risk of<br />

serious or irreversible harm. Extreme care must be taken to avoid abuse of this<br />

option.<br />

33. At the conclusion of the study, patients entered into the study are entitled to be<br />

informed about the outcome of the study and to share any benefits that result from it, for<br />

example, access to interventions identified as beneficial in the study or to other<br />

appropriate care or benefits.<br />

34. The physician must fully inform the patient which aspects of the care are related to the<br />

research. The refusal of a patient to participate in a study or the patient’s decision to<br />

withdraw from the study must never interfere with the patient-physician relationship.<br />

35. In the treatment of a patient, where proven interventions do not exist or have been<br />

ineffective, the physician, after seeking expert advice, with informed consent from the<br />

patient or a legally authorized representative, may use an unproven intervention if in the<br />

physician's judgement it offers hope of saving life, re-establishing health or alleviating<br />

suffering. Where possible, this intervention should be made the object of research,<br />

designed to evaluate its safety and efficacy. In all cases, new information should be<br />

recorded and, where appropriate, made publicly available.<br />

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