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Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans ... - Sehepunkte

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<strong>Ralf</strong> <strong>Thies</strong>: <strong>Ethnograph</strong> <strong>des</strong> <strong>dunklen</strong> <strong>Berlin</strong>. <strong>Hans</strong> Ostwald und die<br />

"Großstadt-Dokumente" (1904-1908), Köln / Weimar / Wien:<br />

Böhlau 2006, 344 S., ISBN 978-3-412-30605-2, EUR 39,90<br />

Rezensiert von:<br />

Tobias Becker<br />

Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität, <strong>Berlin</strong><br />

Die von dem Schriftsteller und Journalisten <strong>Hans</strong> Ostwald (1873-1940)<br />

zwischen 1904 und 1908 herausgegebene Reihe der "Großstadt-<br />

Dokumente" ist eines der ambitioniertesten und zugleich gelungensten<br />

Unternehmen, die moderne Großstadt zu beschreiben. Angestoßen durch<br />

die Industrialisierung und den Aufstieg von einer preußischen Provinz- zur<br />

deutschen Reichshauptstadt erlebte <strong>Berlin</strong> seit dem letzten Drittel <strong>des</strong> 19.<br />

Jahrhunderts ein explosives demografisches, wirtschaftliches und<br />

räumliches Wachstum. Dieser Umwälzungsprozess beeinflusste sowohl die<br />

materielle Lebensweise, als auch die Mentalität der Stadtbewohner, die<br />

sich an die veränderten Bedingungen anpassen mussten und dabei neue,<br />

urbane Lebensstile entwarfen. Dies spiegelt kaum eine historische Quelle<br />

so komplex und lebendig wider wie die "Großstadt-Dokumente", deren<br />

Autoren sich auf eine geradezu ethnografische Entdeckungsreise in das<br />

dunkle Herz <strong>des</strong> Asphaltdschungels begaben.<br />

Trotzdem wurden sie nach ihrem Erscheinen rasch vergessen. Auch von<br />

<strong>Hans</strong> Ostwald ist heute kaum mehr als seine "<strong>Berlin</strong>er Kultur- und<br />

Sittengeschichte" bekannt. Seine Wiederentdeckung ist weitgehend Peter<br />

Fritzsche zu verdanken, der im Rahmen seiner Recherchen für "Reading<br />

<strong>Berlin</strong> 1900" auf die Großstadt-Dokumente stieß. [1] Nun hat <strong>Ralf</strong> <strong>Thies</strong><br />

mit der überarbeiteten Version seiner an der Humboldt Universität und<br />

dem Wissenschaftszentrum <strong>Berlin</strong> entstandenen Dissertation "<strong>Ethnograph</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>dunklen</strong> <strong>Berlin</strong>" die Biografie Ostwalds nachgezeichnet und<br />

gleichzeitig den historischen Hintergrund und den<br />

Entstehungszusammenhang der Großstadt-Dokumente erschlossen. Da<br />

diese ohne die Persönlichkeit und das Engagement <strong>des</strong> Herausgebers<br />

Ostwald weder zustande gekommen wären, noch zu verstehen sind, ist<br />

<strong>Thies</strong> Entscheidung für das biografische Genre sehr gut nachvollziehbar.<br />

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, deren erster - "Der Reporter" - der<br />

Kindheit und Jugend Ostwalds und seiner frühen journalistischen Tätigkeit<br />

nachgeht, während im zweiten Teil die Großstadt-Dokumente im<br />

Mittelpunkt stehen und im dritten - "Der Urberliner" - Ostwalds Leben von<br />

der Zeit vor dem Ausbruch <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs bis zu seinem Tod.<br />

<strong>Hans</strong> Ostwald wurde 1873 in ärmlichen Verhältnissen im proletarischen<br />

Norden <strong>Berlin</strong>s geboren. Nach einer Lehre zum Goldschmied lernte er auf<br />

der Walz das Leben der Vagabunden und Landstreicher kennen. Von ihrer<br />

Lebensweise fasziniert, entschied er sich, diese über ein Jahr lang zu


teilen. Die Erfahrung, plötzlich auf der niedrigsten Stufe der<br />

wilhelminischen Klassengesellschaft zu stehen, war <strong>Thies</strong> zufolge ein<br />

"Schlüsselerlebnis" (11), das Ostwalds weiteren Lebensweg prägte. Aus<br />

seinen Erlebnissen auf der Straße entstanden Schilderungen, die er, nach<br />

<strong>Berlin</strong> zurückgekehrt, an verschiedene Zeitungen sandte. Sie öffneten ihm<br />

zunächst die Türen der "Welt am Morgen", dann auch <strong>des</strong> "Vorwärts" und<br />

verschiedener anderer deutscher Zeitungen. Für diese schrieb Ostwald<br />

eine Reihe von Sozialreportagen, in denen er die Leser mit dem Elend der<br />

städtischen und ländlichen Unterschichten konfrontierte. Hatte er sich<br />

zuvor den Vagabunden angepasst, so bediente er sich nun der Kleidung<br />

und Sprache der Obdachlosen, Zuhälter und Landarbeiter, um als<br />

teilnehmender Beobachter über ihr Leben zu berichten. <strong>Thies</strong> zufolge war<br />

Ostwald durch seine "proletarische Herkunft und seinen<br />

unkonventionellen Werdegang" (108) darauf besser vorbereitet, als<br />

bürgerliche Journalisten und Schriftsteller.<br />

Ostwalds Artikel über das moderne <strong>Berlin</strong> gipfelten schließlich 1904 in<br />

dem von ihm initiierten und konzipierten Projekt der Großstadt-<br />

Dokumente. Zunächst auf 20 Bände ausgelegt, erreichte die Reihe<br />

schließlich 51. Jeder Band besteht aus etwa 80 bis 120 Seiten, sodass die<br />

Dokumente insgesamt annähernd 5.000 Seiten zählen. <strong>Thies</strong><br />

rekonstruiert sorgfältig den Entstehungskontext der Großstadt-<br />

Dokumente und analysiert das intellektuelle Netzwerk, welches das Herz<br />

<strong>des</strong> Unternehmens bildete. Beteiligt waren 40 Autoren (39 Männer und<br />

eine Frau), die entweder Schriftsteller und Journalisten oder Ärzte,<br />

Rechtsanwälte, Politiker, Verwaltungsexperten und Sozialarbeiter waren<br />

und die laut <strong>Thies</strong> sowohl ihre soziale Herkunft als auch ihre Stellung<br />

außerhalb <strong>des</strong> Establishments miteinander verband. Die Bandbreite der<br />

von ihnen bearbeiteten Themen lässt zunächst kaum auf einen<br />

gemeinsamen Nenner schließen: Der Theaterkritiker Julius Bab schrieb<br />

über die "<strong>Berlin</strong>er Boheme", der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld<br />

über "<strong>Berlin</strong>s Drittes Geschlecht", Albert Südekum - Sozialdemokrat und<br />

späterer Finanzminister - über "Großstädtisches Wohnungselend", und<br />

Ostwald selbst über "Dunkle Winkel", "Zuhältertum" und "<strong>Berlin</strong>er<br />

Kaffeehäuser". Andere Themen waren Alkoholismus, Varieté, Banken,<br />

Sport und Strafrecht. Stand <strong>Berlin</strong> auch eindeutig im Vordergrund, so<br />

wurden Wien und Hamburg mit wenigen Bänden doch zumin<strong>des</strong>t<br />

gestreift. Die Vielfalt und Unverbundenheit der Themen war beabsichtigt<br />

wie <strong>Thies</strong> zeigt. Ostwald, für den die moderne Großstadt nichts in sich<br />

Geschlossenes war, misstraute Großtheorien und geschlossenen<br />

Erzählungen, die den gegenteiligen Eindruck erweckten.<br />

Gerade in ihrem fragmentarischen Charakter, der durch die Montage von<br />

Interviews und faksimilierten Dokumenten (Annoncen, Werbezetteln,<br />

Visitenkarten usw.) in den Text noch betont wurde, sieht <strong>Thies</strong> (wie zuvor<br />

schon Fritzsche) die Modernität der Großstadt-Dokumente. Was deren<br />

Autoren vereinte, war die neugierige Aufgeschlossenheit, mit der sie der<br />

Moderne und der Großstadt gegenübertraten. Obschon sie deren<br />

Schattenseiten beleuchteten, stimmten sie nicht in die so verbreiteten<br />

Jeremiaden von "Agrarromantik und Großstadtfeindschaft" (Klaus


Bergmann) ein. Der Rezeption der Großstadt-Dokumente geht <strong>Thies</strong> in<br />

einem abschließenden Kapitel nach. War ihnen zunächst eine positive<br />

Resonanz bei einzelnen Wissenschaftlern und auch bei einer breiteren<br />

Öffentlichkeit beschieden, so fanden sie doch lange keine Aufnahme in die<br />

europäische Stadtsoziologie und Stadtethnologie, obschon sie sich als<br />

eine Art empirisches Gegenstück zu Georg Simmels berühmten Aufsatz<br />

über "Die Großstädte und das Geistesleben" lesen lassen. Rezipiert und<br />

als vorbildlich weiterempfohlen wurden sie aber - wie <strong>Thies</strong> zu zeigen<br />

vermag - jenseits <strong>des</strong> Atlantiks durch die Chicago School of Sociology<br />

(211 ff.).<br />

Der dritte Teil <strong>des</strong> Buches behandelt Ostwalds Leben und journalistische<br />

Tätigkeit (aber auch das weitere Schicksal der anderen Autoren der<br />

Dokumente) nach dem Abschluss <strong>des</strong> Projekts im Jahr 1908. Ostwald<br />

wandte sich bald von dem eingeschlagenen Pfad ab und suchte neue<br />

Betätigungsfelder als Kulturhistoriker und im "Verein für soziale<br />

Kolonisation Deutschlands". Während <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs war er in der<br />

Propagandaabteilung <strong>des</strong> Kriegsamtes tätig. 1919 trat er in die SPD ein,<br />

mit der er schon im Kaiserreich sympathisiert hatte. Die Hoffnung auf ein<br />

politisches Amt zerschlug sich jedoch bald, sodass Ostwald wieder ein<br />

Auskommen als freier Schriftsteller suchen musste. Als "lebender<br />

Anachronismus" (272) verlor er jedoch zunehmend den Kontakt zur<br />

Gegenwart. Seine "Sittengeschichte der Inflation", seine Bücher über den<br />

<strong>Berlin</strong>er Humor und seinen Freund Heinrich Zille waren zwar beim<br />

Publikum erfolgreich und trugen ihm den Titel <strong>des</strong> "Urberliners" ein,<br />

stellen aber laut <strong>Thies</strong> kaum mehr als "Blaupausen für Klischees" (264)<br />

dar. Von den Großstadt-Dokumenten hingegen distanzierte sich Ostwald<br />

zunehmend. Noch 1932 gegen Hitler polemisierend, suchte er bald darauf<br />

die Nähe zum Nationalsozialismus, dem er sich durch das Landleben<br />

verherrlichende Erzählungen andienen wollte, was ihm letztlich jedoch<br />

nicht gelang. Ostwald starb 1940 - bankrott und weitgehend vergessen.<br />

"Der <strong>Ethnograph</strong> <strong>des</strong> <strong>dunklen</strong> <strong>Berlin</strong>" ist uneingeschränkt zu empfehlen,<br />

besonders denjenigen Lesern, die sich für die Geschichte <strong>Berlin</strong>s, die<br />

Erforschung von Metropolen, die Schattenseiten der Urbanisierung und<br />

den "Aufbruch in die Moderne" interessieren. Trotz <strong>des</strong> Verlusts von<br />

Ostwalds Nachlass, <strong>des</strong>sen Selbststilisierungen und den absichtlichen und<br />

versehentlichen Irrtümer derer, die über ihn schrieben, gelingt <strong>Thies</strong> die<br />

Rekonstruktion eines alles andere als geradlinigen Lebens. Dabei stützt er<br />

sich auf akribische Recherchen: die Auswertung hunderter, über<br />

zahlreiche Zeitungen verstreuter Veröffentlichungen und die über viele<br />

Nachlässe verteilten Briefe Ostwalds. <strong>Thies</strong> umschifft manche Gefahr, die<br />

das biografische Genre (zumal bei einer Dissertation) bereit hält und<br />

verliert über die Person und das Leben Ostwalds die sozial- und<br />

kulturgeschichtlichen Hintergründe nicht aus den Augen. Das Herzstück<br />

<strong>des</strong> Buches ist zweifellos der Teil über die Großstadt-Dokumente, der sich<br />

ideal als Einführung in diese überaus originelle Quellengattung lesen<br />

lässt, ohne dass dadurch jedoch der Rahmen einer Biografie gesprengt<br />

würde. Nicht zuletzt besticht der "<strong>Ethnograph</strong> <strong>des</strong> <strong>dunklen</strong> <strong>Berlin</strong>" auch<br />

durch seine anschauliche Sprache.


Anmerkung:<br />

[1] Vgl. Peter Fritzsche: Reading <strong>Berlin</strong> 1900, Cambridge (Mass.) /<br />

London 1996; ders., Vagabond in the Fugitive City: <strong>Hans</strong> Ostwald,<br />

Imperial <strong>Berlin</strong> and the Grossstadt-Dokumente, in: Journal for<br />

Contemporary History 29 (1994), 385-402.<br />

Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag<br />

Empfohlene Zitierweise:<br />

Tobias Becker: Rezension von: <strong>Ralf</strong> <strong>Thies</strong>: <strong>Ethnograph</strong> <strong>des</strong> <strong>dunklen</strong> <strong>Berlin</strong>. <strong>Hans</strong><br />

Ostwald und die "Großstadt-Dokumente" (1904-1908), Köln / Weimar / Wien:<br />

Böhlau 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: <br />

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