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� <strong>Bildung</strong>


Der geragogische Begleitungsansatz<br />

Oder: Wie lässt sich die Altenpflege geragogischer denken?<br />

� Im CBT-Wohnhaus Margaretenhöhe in Bergisch Gladbach wird schon seit Jahren ein gera-<br />

gogischer Begleitungsansatz für die stationäre Altenpflege verfolgt. Was das konkret bedeu-<br />

tet, beschreibt Diplom-Sozialarbeiter Dr. Walter Wittkämper. �<br />

Der geragogische Begleitungsansatz<br />

basiert auf der Würde des Menschen<br />

und seinem Recht auf <strong>Bildung</strong>. Er<br />

greift das Konzept der lebenslangen<br />

Entwicklungsaufgaben von Robert<br />

James Havighurst und das Habitus-<br />

Konzept von Pierre Bourdieu auf. In<br />

der praktischen Umsetzung orientiert<br />

er sich an der Gesprächspsychotherapie<br />

von Carl Rogers und lässt<br />

sich mit vielen bekannten Methoden<br />

der Altenpflege verbinden, zum<br />

Beispiel mit der Biografiearbeit, der<br />

Basalen Stimulation, der Validation<br />

oder der personenzentrierten Pflege.<br />

Neu erscheint jedoch an dieser Perspektive,<br />

dass auch bei zunehmenden<br />

gesundheitlichen Einschränkungen<br />

weiterhin von einer lebenslangen<br />

Persönlichkeitsentwicklung ausgegangen<br />

wird und dass auch der ältere<br />

und hochaltrige pflegebedürftige<br />

Mensch mit seinen individuellen<br />

kulturellen Bedürfnissen – zumal<br />

bei bestehendem Migrationshintergrund<br />

– besonders ernst genommen<br />

und durch auf ihn abgestimmte<br />

ganzheitliche Anregungen und <strong>Bildung</strong>sangebote<br />

begleitet wird.<br />

Persönlichkeit und Kultur<br />

im Zentrum<br />

Im Mittelpunkt der geragogischen<br />

Wegbegleitung in der Altenpflege<br />

steht also der ältere Mensch mit<br />

seiner individuellen Persönlichkeit<br />

und seiner eigenen Kultur. GeragogInnen<br />

sehen sich dabei in erster<br />

Linie als akzeptierende „Förderer“<br />

einer selbstbestimmten und selbstständigen<br />

Lebensführung und erst<br />

bei stärkeren gesundheitlichen Einschränkungen<br />

als flexible „Ermöglicher“<br />

der Aktivitäten der älteren<br />

Menschen. Geragogik ist demnach<br />

keine starre Beschäftigungstherapie.<br />

Sie tritt höchstens als „Impulsgeberin“<br />

auf. Abhängig von den Bedürfnissen<br />

und Wünschen der älteren<br />

Menschen können beispielsweise<br />

Museums-, Kirchen- oder Konzertbesuche<br />

auf ihrem geragogischen<br />

Begleitungsprogramm stehen und<br />

den Menschen das Gefühl geben,<br />

noch zu einer größeren Kulturgemeinschaft<br />

zu gehören.<br />

Die drei ws<br />

Wesentliche Elemente des geragogischen<br />

Begleitungsansatzes sind<br />

die drei Ws: Wertschätzung, Wissensermittlung<br />

und Wegbegleitung.<br />

Damit soll der ältere Mensch ganzheitlicher<br />

gesehen werden: nicht nur<br />

als „Pflegeobjekt“, an dem Körper-<br />

Begriffsbestimmung<br />

pflege zu verrichten ist, sondern als<br />

individuell gebildete Persönlichkeit,<br />

die aufgrund ihrer Lebensgeschichte<br />

auch eigene kulturelle Bedürfnisse<br />

hat, die befriedigt werden wollen.<br />

Nach einem Einzug in eine stationäre<br />

Pflegeeinrichtung stehen gemäß der<br />

Bedürfnispyramide von Abraham H.<br />

Maslow zunächst oft die Sicherheitsbedürfnisse<br />

der BewohnerInnen im<br />

Vordergrund. (2) Die Menschen möchten<br />

sich erst einmal geborgen fühlen,<br />

um dann nach und nach ihr Leben<br />

wieder möglichst selbstbestimmt<br />

führen zu können. Hierzu ist Wertschätzung<br />

seitens der Pflegenden<br />

geboten.<br />

Die Wissensermittlung steht für das<br />

Sammeln von biografischen Daten<br />

– entweder von einem Bewohner<br />

selbst oder je nach Pflegedürftigkeit<br />

von den Angehörigen. Anhand dieser<br />

fundierten Wissensermittlung können<br />

die Mitarbeitenden herausfinden,<br />

mit welcher Persönlichkeit sie es zu<br />

tun haben und welche Kompetenzen<br />

sie trotz aller Defizite noch besitzt.<br />

Das Wort „Geragogik“ kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus<br />

den beiden Wortstämmen „geraios, geraos“ (alt, der Alte) und „ago“ (ich<br />

begleite) zusammen und bedeutet übersetzt so viel wie „Ich begleite den<br />

älteren Menschen“. (1) Eine einheitliche Definition gibt es gegenwärtig<br />

zwar nicht, aber die Geragogik etabliert sich immer mehr als Wissenschaftsdisziplin<br />

und Praxis der Altersbildung.<br />

BiLDUnG | ProAlter | September/Oktober 2012<br />

49


Wichtige biografische Daten<br />

Das biografische Wissen ist entscheidend<br />

für die Wegbegleitung,<br />

also für die Begleitung dieses Menschen<br />

in seiner neuen Lebenssituation.<br />

Geragogik hat viele Gesichter<br />

Auch bei geragogischen Aktivitäten<br />

kann ein intergenerationeller<br />

Rahmen angemessen sein und als<br />

erfrischende Bereicherung empfunden<br />

werden: Ein gemeinsamer<br />

Zoobesuch von älteren Menschen<br />

50<br />

Welche Vorlieben und Abneigungen zeichnen den Menschen aus?<br />

Was hat seine – bei älteren Menschen mit Demenz unter Umständen<br />

zerfallende – Identität geprägt?<br />

Was spielt heute in seinem (Er-)Leben eine wichtige Rolle?<br />

Was gehört zu seiner persönlichen Kultur?<br />

Welche Überzeugungen oder vielleicht auch welchen Glauben hat<br />

der Mensch?<br />

Welchen Beruf hat er erlernt?<br />

Wie gestaltet er seine Freizeit bzw. wie hat er sie gestaltet?<br />

Welche Musik, welche Bilder oder welche Textformen (Balladen,<br />

Gedichte) liegen ihm?<br />

Welche Körperpflege bevorzugt er (Duschen oder Baden,<br />

bestimmte Produkte)?<br />

Was isst und trinkt er gerne?<br />

Praxisbeispiel: Kultur in Köln<br />

Im Rahmen der Kölner Demenzwochen fanden unter der Leitung des<br />

Autors kleine museumsgeragogische Projekte statt, bei denen entweder<br />

das Kölnische Stadtmuseum besucht oder ein kleiner Spaziergang<br />

durch die Altstadt unternommen wurde. Die Teilnehmenden konnten im<br />

Museum alte Stadtansichten und Köln-Souvenirs betrachten oder sich<br />

vor Ort wieder einmal den Dom, den Heinzelmännchen-Brunnen oder<br />

den Roncalli-Platz ansehen. Diese Sehenswürdigkeiten waren ihnen von<br />

früheren Besuchen sehr vertraut und die Besichtigung gab ihnen das<br />

Gefühl, noch am kulturellen Leben der Stadt zu partizipieren. Eine ältere<br />

Dame studierte bezeichnenderweise trotz ihrer kognitiven Einschränkungen<br />

vor- und nachher einen Köln-Führer, den sie sich von ihren Angehörigen<br />

hatte besorgen lassen. Sie blätterte immer wieder interessiert darin<br />

herum, nahm ihn noch lange im Korb ihres Rollators mit und zeigte ihn<br />

dann gerne auch anderen Personen.<br />

BiLDUnG | ProAlter | September/Oktober 2012<br />

und Kindergartenkindern oder ein<br />

Kunst-Projekt zwischen einer Schule<br />

und einem Senioren-Wohnhaus<br />

sorgen für Spaß, Freude und gegebenenfalls<br />

auch noch für ein Voneinander-,<br />

Miteinander- und Übereinander-Lernen.<br />

(3)<br />

Wenn die gesundheitliche Verfassung<br />

solche Unternehmungen außer<br />

Haus nicht mehr zulässt, sind gegebenenfalls<br />

noch alltagsstrukturierende<br />

Sitzgymnastik-, Mal-, Spiel-,<br />

Gesprächs-, Vorlese- oder Ge-<br />

sangsrunden im Sinne einer ganzheitlichen<br />

Geragogik möglich. (4)<br />

Bei diesen Angeboten sollte jedoch<br />

kein festgelegtes Programm „abgespult“<br />

werden, sondern sensibel<br />

den Teilnehmenden, ihren Impulsen<br />

und Entwicklungswünschen<br />

bzw. -aufgaben Rechnung getragen<br />

werden. Auch eine von den älteren<br />

Menschen selbst individuell vorgenommene<br />

oder eine von ihnen mit<br />

unterstützte jahreszeitliche Milieugestaltung<br />

kann Anregungen bieten.<br />

So lassen sich gemeinsam Mobiles<br />

mit bekannten Heimatmotiven<br />

oder Plakate zu Festen, Feiern oder<br />

sonstigen Hausveranstaltungen gestalten,<br />

die für die BewohnerInnen<br />

immer wieder eine ansprechende<br />

Orientierungshilfe darstellen.<br />

Geragogik im Einzelkontakt<br />

Es gibt jedoch auch Menschen, die<br />

den Einzelkontakt vorziehen. Mit<br />

speziell an ihrer individuellen Biografie<br />

orientierten Medien – wie<br />

Fotoalben, Märchenbüchern oder<br />

auch Kreuzworträtseln – fühlen sie<br />

sich dabei womöglich auf ganz eigene<br />

Weise als „kultivierte Persönlichkeit“<br />

beachtet. (5) So können die<br />

Mitarbeitenden empathisch auf das<br />

individuelle Erleben der Betroffenen<br />

eingehen, indem sie zum Beispiel<br />

mit ihnen Aufnahmen ihrer<br />

ehemaligen Wohnorte betrachten,<br />

die ihnen immer noch sehr präsent<br />

sind und zu denen sie unter Umständen<br />

auch noch hingehen möchten.<br />

Solche gera gogischen Angebote,<br />

die freiwillig angenommen, aber<br />

auch abgelehnt werden können, lassen<br />

sich auch bei fortschreitender<br />

Demenz noch lange durchführen.<br />

Denn selbst wenn Gespräche nicht<br />

mehr geführt werden können und<br />

sogar eine Orientierung zur eigenen<br />

Person fehlt, hat der geragogische<br />

Ansatz weiterhin das Ziel, die Ent-


wicklung des älteren Menschen bis<br />

zu seinem Tod entsprechend seinen<br />

Bedürfnissen respektvoll – und auch<br />

nonverbal – auf der Gefühlsebene<br />

zu begleiten. Dies kann dann etwa<br />

mit bekannten Düften wie Kölnisch<br />

Wasser, aber auch mit ganz besonders<br />

zubereiteten Getränken oder<br />

gegebenenfalls auch mit altbekannten<br />

und biografisch bedeutsamen<br />

Gebeten, Gedichten und Musikstücken<br />

geschehen.<br />

Geragogik bildet –<br />

nicht nur die älteren Menschen<br />

Der geragogische Begleitungsansatz<br />

erfordert nicht nur bei den Pflegenden<br />

Offenheit und Anstrengungen<br />

für den älteren Menschen mit seiner<br />

einzigartigen Persönlichkeit und<br />

seinem eigenen, vielleicht manchmal<br />

auch eigensinnigen kulturellen<br />

Habitus. Diesen zu akzeptieren, ist<br />

sicher nicht immer einfach, aber es<br />

erweitert den persönlichen Horizont<br />

der „Wegbegleiter“ und reduziert<br />

gleichzeitig herausfordernde Verhaltensweisen<br />

des pflegebedürftigen<br />

Menschen. Der geragogische<br />

Begleitungsansatz umfasst dementsprechend<br />

nicht nur <strong>Bildung</strong> im Alter<br />

für die BewohnerInnen von Altenpflegeeinrichtungen,<br />

sondern auch<br />

<strong>Bildung</strong> für den Umgang mit den<br />

Älteren, zum Beispiel durch Fortbildungen<br />

für alle Berufsgruppen, die<br />

mit den pflegebedürftigen älteren<br />

Menschen zu tun haben. Nicht zuletzt<br />

werden in diesem Sinne auch<br />

Angehörige, freiwillig Engagierte<br />

und andere Interessierte mit intergenerationellen<br />

<strong>Bildung</strong>sangeboten<br />

zum hohen Alter, zu Pflegebedürftigkeit<br />

oder zu Fragen zum Syndrom<br />

Demenz begleitet. �<br />

LITERATUR<br />

(1) Gregarek, Silvia (2005): Fortbildung<br />

„Geragogik“ – Konzept und curriculum.<br />

In: Veelken, Ludger et al.:<br />

Altern, Alter, Leben lernen. Geragogik<br />

kann man lehren. Oberhausen:<br />

Athena-Verlag, S. 33<br />

(2) Maslow, Abraham H. (1981): Motivation<br />

und Persönlichkeit. Hamburg:<br />

Rowohlt<br />

(3) Franz, Julia; Frieters, Norbert;<br />

Scheunpflug, Annette; Tolksdorf,<br />

Markus; Antz, Eva-Maria (2009):<br />

Generationen lernen gemeinsam.<br />

theorie und Praxis intergenerationeller<br />

<strong>Bildung</strong>. Bielefeld: Bertelsmann,<br />

S. 21<br />

(4) Müller, Lotti (2011): Musiktherapie<br />

mit Menschen im hohen Senium.<br />

In: Petzold, Hilarion G. et al. (Hrsg.)<br />

(2011): Hochaltrigkeit. Herausforderung<br />

für persönliche Lebensführung<br />

und biopsychosoziale Arbeit. Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

S. 165–185<br />

Zum Autor:<br />

Arbeitskreis Geragogik<br />

(5) Wittkämper, Walter (2009): Lesen<br />

im höheren Lebensalter – auch ein<br />

geragogisches Handlungsfeld. In:<br />

Schorb, Bernd et al. (Hrsg.) (2009):<br />

Medien und höheres Lebensalter.<br />

theorie – Forschung – Praxis.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

S. 211–223<br />

(6) Bubolz-Lutz, Elisabeth; Gösken,<br />

Eva; Kricheldorff, Cornelia; Schramek,<br />

Renate (2010): Geragogik.<br />

<strong>Bildung</strong> und Lernen im Prozess<br />

des Alterns. Das Lehrbuch. Stuttgart:<br />

Kohlhammer, S. 228<br />

DR. WALTER WITTKÄMPER<br />

… aus Köln, ist Diplom-Sozialarbeiter, Lehrer und<br />

Autor. Er ist seit vielen Jahren im CBT-Wohnhaus<br />

Margaretenhöhe in Bergisch Gladbach tätig und<br />

setzt sich für eine geragogische Grundhaltung in der<br />

Altenpflege ein. Dr. Wittkämper ist außerdem aktives<br />

Mitglied im Arbeitskreis Geragogik.<br />

E-Mail: w.wittkaemper@cbt-gmbh.de<br />

Dem Arbeitskreis Geragogik gehören GeragogInnen mit unterschiedlichen<br />

Schwerpunkten an, die in Forschung, Lehre und Wissenschaft<br />

tätig sind oder an Schaltstellen bzw. in Verbindung zwischen Theorie<br />

und Praxis. Über den Arbeitskreis soll die inhaltliche und institutionelle<br />

Professionalisierung der Geragogik gefördert und die interdisziplinäre,<br />

internationale und kollegiale Vernetzung vorangetrieben werden. (6)<br />

Internet: www.ak-geragogik.de<br />

BiLDUnG | ProAlter | September/Oktober 2012<br />

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