TRADITIONELLER WEIHNACHTSMARKT - Grafisches Centrum Cuno
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WEIHNACHTSGESCHICHTE<br />
Text und Foto Dieter Horst Steinmetz<br />
„So viel Heimlichkeit in der<br />
Weihnachtszeit“ vor 100 Jahren<br />
Calbe. „Die Weihnachtsfeste waren<br />
früher feierlicher und schöner. Man<br />
konnte sich mehr darauf freuen<br />
und man war noch nicht so übersättigt.“<br />
Das sagte kürzlich eine<br />
109 Jahre alte Dame, die demnach<br />
1913 neun Jahre alt war. Die älteste<br />
Hannoveranerin muss es wohl<br />
wissen. Eines ist durchaus augenfällig:<br />
Die schönsten Erinnerungen<br />
an Weihnachten gehen meist auf<br />
Zeiten zurück, als die Menschen<br />
nicht unbedingt im Überfluss lebten<br />
und die Jagd nach „Fun“ und<br />
„Lifestyle“ noch nicht so ausufernd<br />
begonnen hatte. 1913 war das damals<br />
florierende Calbe an der Saale<br />
von der hastigen Konsum- und<br />
Wegwerfgesellschaft einige Jahrzehnte<br />
entfernt. Gerade für die<br />
Menschen der weniger privilegierten<br />
Bevölkerungsschichten bot das<br />
Weihnachtsfest eine Möglichkeit,<br />
trotz wirtschaftlicher und sozialer<br />
Mängel enger zusammenzurücken<br />
und eine ihrer Hauptstärken<br />
auszuspielen: ihren menschlichen<br />
Zusammenhalt, besonders im Familienkreis.<br />
Für einen unserer Ahnen aus dieser<br />
Zeit in Calbe, nennen wir ihn Willi,<br />
begann die Vorweihnachtszeit mit<br />
dem Ersten Advent. Zusammen<br />
mit seinen zwei Brüdern und zwei<br />
Schwestern, natürlich auch mit seinen<br />
Eltern besuchte der Elfjährige<br />
häufig die vorweihnachtlichen<br />
Musikveranstaltungen in der Stephani-Kirche.<br />
Dort sang auch regelmäßig<br />
der Schulchor der Volksschule.<br />
Weihnachts-Geschenke kaufte<br />
man vor 100 Jahren nicht, wie<br />
heute üblich, im letzten Moment<br />
in einem Kaufhaus. In den Familien<br />
wurden meist die kleinen Geschenke<br />
in der Adventszeit selbst<br />
gebastelt: Die Kinder beklebten<br />
beispielsweise ein Brillenetui des<br />
Vaters mit Bildchen oder strickten<br />
einen Topflappen für die Mutter.<br />
Der Vater schnitzte Pferdchen und<br />
Köpfe für die neuen Kasperle-Puppen,<br />
Mutter nähte die Kleidchen<br />
dazu und ein neues Kleid für die alte<br />
Puppe. So zog sich jede Gruppe<br />
in eine stille Kammer zurück und<br />
versteckte die entstehenden Geschenke<br />
gut. Auch die Weihnachtsnaschereien<br />
wurden noch nicht im<br />
Geschäft gekauft, sondern selbst<br />
angefertigt, Mutter und Töchter<br />
backten Kuchen und Plätzchen.<br />
Auch Obst wurde gedörrt oder in<br />
der Backröhre des Ofens gebrutzelt.<br />
So roch es in der Vorweihnachtszeit<br />
besonders würzig und<br />
fruchtig.<br />
Die Volkschule am Kirchplatz<br />
schloss zu den Weihnachtsferien<br />
am 23. Dezember mittags 12 Uhr.<br />
Willi und seine Freunde hatten<br />
Pech, denn auch 1913 gab es schon<br />
das „Weihnachtstauwetter“; von<br />
Schnee war weit und breit nichts zu<br />
sehen.<br />
Den Weihnachtsbaum hatte Vater<br />
in der „Guten Stube“ aufgestellt.<br />
Er wurde mit selbstgebastelten<br />
Kugeln aus Äpfeln, die mit Stanniolpapier<br />
umhüllt waren, geschmückt.<br />
Auch Zuckernaschereien<br />
und kleines Spielzeug, wie Engelchen<br />
und Mini-Musikinstrumente,<br />
hängten die Eltern an die Zweige.<br />
Die Kerzen am Fichtenbaum waren<br />
noch keine LED-Leuchtwunder,<br />
sie bestanden vielmehr ganz einfach<br />
aus Paraffinwachs. Wegen<br />
der Brandgefahr stand immer ein<br />
Löscheimer im Hausflur.<br />
Am Heiligabend gab es ein gutes<br />
Essen, danach fand die „Einbescherung“<br />
statt. Die Kinder standen<br />
aufgeregt und leise flüsternd<br />
im Flur. Dann erscholl eine Glocke.<br />
Mit glänzenden Augen traten Willi<br />
und seine Geschwister in die „Gute<br />
Stube“ mit dem funkelnden Weihnachtsbaum.<br />
Diesmal hatte sogar<br />
ein Weihnachtsmann im graugrünen<br />
Kapuzen-Mantel und mit großem<br />
Wattebart, einer Rute und<br />
einem Sack auf dem Rücken den<br />
Weg zu ihnen gefunden. Ein guter<br />
Nachbar war so nett gewesen, diese<br />
Rolle zu übernehmen. Und was<br />
er da alles, nachdem die Kinder<br />
ihre Gedichte aufgesagt hatten,<br />
unter den Christbaum stellte: ein<br />
Schaukelpferd und einen Puppenwagen,<br />
die Kasperle-Handpuppen,<br />
eine Blechtrommel zum Krachmachen<br />
für die Jungen, ein damals<br />
neu erfundenes Spiel: „Mensch<br />
ärgere dich nicht“, aber auch notwendige<br />
Dinge: neue Winterschuhe<br />
und zwei Pullover. Diesmal<br />
hatten die Eltern nach mehreren<br />
Jahren ein Geschenk für die ganze<br />
Familie zusammengespart, eine<br />
„Laterna magica“. Das war ein Bildwerfer<br />
ohne elektrische Birne, vielmehr<br />
mit einer Petroleumlampe.<br />
Vor und nach der Bescherung sangen<br />
die Familienmitglieder Weihnachtslieder,<br />
Willis Schwester Klara<br />
spielte dazu die Blockflöte. Danach<br />
gingen alle festlich angezogen zur<br />
Christmette in die Kirche.<br />
Am Weihnachtsmorgen klopften<br />
die Leute bei den Nachbarn und<br />
Bekannten an und wünschten sich<br />
„Frohe Weihnachten“. Vormittags<br />
begaben sich viele Familien zum<br />
Christfest-Gottesdienst in die Stephanikirche.<br />
Nach dem mittäglichen<br />
Festbraten ging man in den<br />
dämmrigen Nachmittagsstunden<br />
spazieren, während vom Südturm<br />
der Stadtkirche feierliche Blasmusik<br />
erklang. Am Abend konnte<br />
endlich das Geheimnis der neuen<br />
Attraktion gelüftet werden: Vater<br />
hängte ein Bettlaken in den Türrahmen,<br />
und kleine, von Künstlern<br />
bemalte Glasplättchen, ähnlich unseren<br />
heutigen Dias, wurden mit<br />
der „Laterna magica“ auf das weiße<br />
Tuch projiziert. Nicht nur Willi<br />
blieb der Mund offen stehen. Anschließend<br />
weihten Vater, Mutter<br />
und die Kinder das neue Menschärgere-dich-nicht-Spiel<br />
ein. Der<br />
kleinen Else musste die Mutter<br />
noch beim Setzen der Figuren helfen.<br />
Vier Tage später, in der Nacht zum<br />
29. Dezember 1913 schneite es<br />
dann doch noch kräftig in Calbe.<br />
Willi und seine Geschwister konnten<br />
endlich einen riesigen Schneemann<br />
bauen, bevor sie in den Hohendorfer<br />
Busch zum Rodeln stapften.<br />
n<br />
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Das Calbenser Blatt 12/13