Umgehen von Schutzeinrichtungen – ein Kavaliersdelikt?
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<strong>Umgehen</strong> <strong>von</strong> <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>ein</strong> <strong>Kavaliersdelikt</strong>?<br />
www.schmersal.com<br />
Dr.-Ing. Alfred Neudörfer<br />
<strong>Umgehen</strong> und Manipulation <strong>von</strong> Sicherheitsmaßnahmen:<br />
Ein Sachverhalt, deren wahren Ursachen<br />
<strong>von</strong> vielen tabuisiert werden; eigentlich unverständlich,<br />
denn ohne negative Rückmeldung<br />
kann es k<strong>ein</strong>e positiven Änderungen in der Konstruktion<br />
<strong>von</strong> Maschinen geben. Trotzdem ist es<br />
Realität, wie das folgende Beispiel aus der Praxis<br />
zeigt [1]:<br />
Unfallhergang<br />
Bei der Beseitigung <strong>ein</strong>er Störung in <strong>ein</strong>er Produktionsanlage<br />
für Betonst<strong>ein</strong>e ereignete sich<br />
dieser Unfall: Über die Trockenseite wurden sieben<br />
Zentimeter hohe St<strong>ein</strong>e ausgefahren. Das<br />
Programm sah <strong>ein</strong>e horizontale Umreifung jeder<br />
zweiten St<strong>ein</strong>lage vor. Dies wurde vor dem St<strong>ein</strong>lagendoppler<br />
durchgeführt. Der Anlagenführer<br />
wollte <strong>ein</strong>e Umreifung richten, als sich die St<strong>ein</strong>lage<br />
unter der Greif<strong>ein</strong>richtung des Dopplers befand.<br />
Zu diesem Zeitpunkt stand der Brettvorschub,<br />
weil gerade k<strong>ein</strong>e Bretter aus der<br />
Senkleiter ausgestoßen wurden. Während der Arbeiter<br />
im Gefahrenbereich des Greifers arbeitete,<br />
wurde er vom Wiederanlaufen der Anlage überrascht,<br />
<strong>von</strong> dem absenkenden Greifer erfasst<br />
und auf die St<strong>ein</strong>e gedrückt. Der Mann erlitt tödliche<br />
Verletzungen.<br />
Sicherheitskonzept<br />
Der Gefahrbereich war durch Einzäunung gesichert.<br />
Eine elektrisch verriegelte Zugangstür war<br />
vorhanden. In Nähe befand sich <strong>ein</strong> Bedienpult<br />
mit den notwendigen Schalt<strong>ein</strong>richtungen.<br />
Unfallursachen<br />
Der mit der Funktionsweise der Anlage vertraute<br />
Mitarbeiter hatte die Anlageteile des Gefahrenbereichs<br />
nicht abgeschaltet. Die Möglichkeit war<br />
gegeben. Um dies zu vermeiden, hatte er auch<br />
nicht die elektrisch verriegelte Zugangstür benutzt.<br />
Stattdessen hatte er sich <strong>ein</strong>e Öffnung<br />
durch Ausheben <strong>ein</strong>es Schutzgitters geschaffen.<br />
Das Schutzgitter war nicht gegen Aushängen gesichert.<br />
Es konnte nicht geklärt werden, wie häufig<br />
der Qualitätsmangel der Umreifung Ursache<br />
für den dargestellten Eingriff am Unfalltag oder in<br />
der Vorzeit war.<br />
Resümee<br />
Die auf die Qualitätsanforderungen des Produktes<br />
abgestimmte Funktionsweise der Anlagen ist<br />
wesentlicher Bestandteil der Arbeitssicherheit.<br />
Wirksame und handhabungsgerechte Sicherheitskonzepte<br />
müssen geschaffen und <strong>von</strong> den<br />
Beschäftigten auch genutzt werden. Dies umzusetzen<br />
ist die Aufgabe der Verantwortlichen und<br />
Beschäftigten in den Unternehmen!<br />
Also, wie so oft, menschliches Versagen! K<strong>ein</strong><br />
Einzelfall, weder in der Vergangenheit, noch in<br />
der Zukunft. Und das, obwohl alles in den Vorschriften<br />
geregelt ist. Oder gerade deshalb?<br />
Zur Rechtslage<br />
Sie ist <strong>ein</strong>deutig. Hersteller <strong>von</strong> Maschinen und<br />
anderen technischen Produkten sind aufgrund<br />
des europäischen und nationalen Rechts (z.B. EG<br />
Maschinenrichtlinie, EN Normen, Gerätesicherheitsgesetz)<br />
verpflichtet, nur sichere Produkte in<br />
den Verkehr zu bringen. Hersteller müssen vorab<br />
alle mit den Maschinen verbundenen Gefährdungen<br />
ermitteln und die mit ihnen verbundenen Risiken<br />
bewerten. Sie müssen an ihren Produkten<br />
unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Gefährdungsanalyse<br />
und Risikobewertung <strong>ein</strong>e Sicherheitskonzeption<br />
entwickeln, realisieren und<br />
dokumentieren, damit sich die Gefahren nicht<br />
schädigend auf spätere Benutzer oder Dritte bzw.<br />
auf die Umwelt auswirken können. Dazu müssen<br />
sie auch den vernünftigerweise vorhersehbaren<br />
Missbrauch mit <strong>ein</strong>beziehen. Damit wird letztendlich<br />
verlangt, dass Maschinen so zu konzipieren<br />
sind, dass <strong>ein</strong>e ordnungswidrige Verwendung<br />
Sicherheit im System. Schutz für Mensch und Maschine.<br />
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verhindert wird. Betriebsanleitungen müssen darüber<br />
hinaus den bestimmungsgemäßen Gebrauch<br />
<strong>ein</strong>deutig festlegen und bekannte sachwidrige<br />
Verwendungen verbieten. Konstrukteure<br />
müssen also begründete Entscheidungen für Situationen<br />
treffen, in denen mehr Ereignisse möglich<br />
sind, als eigentlich auftreten werden. Alles<br />
Sachverhalte, die allgem<strong>ein</strong> bekannt sind und die<br />
auch berücksichtigt werden, wie heute jede CE-<br />
Kennzeichnung nach außen signalisiert. Wohl<br />
nicht so ganz! Denn trotz dieser formalen Erklärung,<br />
dass alle Vorschriften erfüllt sind, treten an<br />
Maschinen verhaltensbedingte Unfälle auf. Diese<br />
Maschinen entsprachen wohl formal gesetzlichen<br />
Vorgaben, waren aber weder bedarfs- noch sicherheitsgerecht<br />
konstruiert.<br />
Sicherheitswidriges Verhalten <strong>–</strong><br />
Was steckt eigentlich dahinter?<br />
Mit der Konstruktion und der Gestaltung der Maschinen<br />
legen Hersteller nicht nur fest, was die<br />
Maschinen alles können werden sondern auch wie<br />
Benutzer mit ihnen umgehen werden. Zur erfolgreichen<br />
Konstruktion gehört nicht nur, dass die<br />
Maschine ihre technologische Funktion hinsichtlich<br />
der im Pflichtenheft dokumentierten Ausstoßmenge,<br />
Qualität und Toleranzen der zu erzeugenden<br />
Produkte erfüllt. Es muss auch <strong>ein</strong> schlüssiges<br />
Sicherheits- und Bedienungskonzept entwickelt<br />
s<strong>ein</strong>, damit die Benutzer die Maschinenfunktionen<br />
überhaupt erst realisieren können. Beide Gestaltungsbereiche<br />
greifen in<strong>ein</strong>ander, sollten daher<br />
auch gem<strong>ein</strong>sam und synchron entwickelt und<br />
verwirklicht werden. Trotzdem findet man, auch an<br />
neuen CE-geschmückten Maschinen, immer wieder<br />
planerische und konstruktive Unzulänglichkeiten,<br />
wie z.B.<br />
• wiederkehrende Störungen im Arbeitsablauf,<br />
hervorgerufen z.B. durch Mängel in der technologischen<br />
Konzeption oder in der Teilegenauigkeit<br />
(O-Ton <strong>ein</strong>es Betriebsingenieurs: „Den<br />
größten Beitrag zur aktiven Arbeitssicherheit<br />
können Konstrukteure leisten, wenn sie Maschinen<br />
so konstruieren, dass sie genauso funktionieren,<br />
wie es beim Kauf versprochen wurde“),<br />
• fehlende oder erschwerende Eingriffs- oder Zugriffsmöglichkeiten,<br />
um z.B. notwendige Stichproben<br />
gefahrlos entnehmen zu können,<br />
• fehlende Segmentabschaltungen mit Materialpuffern,<br />
um bei Störungen gefahrlos in Teilbereiche<br />
<strong>ein</strong>greifen zu können, ohne dass die Gesamtanlage<br />
abgeschaltet und dann wieder<br />
zeitraubend hochgefahren werden muss.<br />
Aber auch nicht zu Ende gedachte Sicherheitskonzepte<br />
findet man in der Praxis immer wieder.<br />
Viele Fehler werden bei verriegelten <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
gemacht, so z.B. wenn<br />
• ungefährliche oder häufig zu betätigende Funktionselemente,<br />
z.B. Bedienteile, Vorratsbehälter,<br />
Einfüllöffnungen hinter (verriegelten)<br />
<strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> untergebracht sind,<br />
• die Verriegelung beim Öffnen <strong>ein</strong>er Schutz<strong>ein</strong>richtung<br />
die gefahrbringende Situation zwar<br />
schnell und zwangsläufig unterbricht, die Maschine<br />
oder der Prozess sich aber nachher<br />
überhaupt nicht mehr weiterrücken lassen.<br />
Niemand zweifelt daran, dass Konstrukteure<br />
beim Konzipieren und Verwirklichen technologi-<br />
scher und menschenbezogener Funktionen nach<br />
bestem Wissen und Gewissen vorgehen. Man<br />
kann ihnen auch nicht verübeln, dass sie auch<br />
vorerst annehmen, dass sich spätere Benutzer<br />
beim Umgang mit den Maschinen vernünftig und<br />
korrekt verhalten werden.<br />
Doch Vorsicht, bitte: Menschen verhalten sich<br />
wie im täglichen Leben so auch beim Lösen <strong>von</strong><br />
Arbeitsaufgaben vor allem ökonomisch. Sie streben<br />
an, die ihnen übertragenen oder selbstgestellten<br />
Aufgaben so schnell und so gut wie nötig<br />
zu erledigen und sich dabei gleichzeitig so wenig<br />
wie möglich zu beanspruchen.<br />
Menschen versuchen aber auch aktiv und unterstützend<br />
in den Prozess <strong>ein</strong>zugreifen, wenn er<br />
nicht so läuft wie er soll. Sie versuchen, Störungen<br />
auf schnellsten und <strong>ein</strong>fachsten Wege zu beseitigen.<br />
Lässt das die Konzeption (und das in<br />
der Betriebsanleitung niedergeschriebene Entstörverfahren)<br />
nicht zu, suchen sie <strong>ein</strong>en Ausweg,<br />
indem sie z.B. Verriegelungen umgehen 2 .<br />
Sie fassen nämlich den Mehraufwand als persönlichen<br />
Misserfolg für die reibungslose Erfüllung<br />
ihrer Arbeitsaufgabe auf.<br />
Die unter Umgehung der vorgesehen Sicherheitsmaßnahmen<br />
weniger aufwendige Entstörungsprozedur<br />
wird als Erfolg erlebt. Erfolgreiches<br />
Verhalten tendiert dazu, wiederholt zu<br />
werden, bis es sich zu <strong>ein</strong>er, leider sicherheitswidrigen,<br />
gefährlichen Gewohnheit verfestigt, [2].<br />
Je häufiger <strong>ein</strong> Regelverstoß <strong>von</strong> der Führungsebene<br />
nicht sanktioniert wird, umso größer ist<br />
die Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit, weiterhin straflos gegen<br />
die Regel zu verstoßen, bis das unkorrekte Verhalten<br />
zur neuen informellen Regel wird, [3].<br />
Denn im Laufe der Zeit stumpft das Bewussts<strong>ein</strong><br />
über <strong>ein</strong>gegangene Risiken ab, da die Handelnden<br />
da<strong>von</strong> überzeugt sind, Gefahren durch umsichtiges<br />
Verhalten zu beherrschen. Doch die<br />
Gefahr ist jedoch objektiv vorhanden und wartet<br />
auf ihre Chance, die sie auch bekommt.<br />
Es steht außer Frage, dass die den Unfall auslösenden<br />
Faktoren vordergründig im Verhalten der<br />
Betroffenen liegen. Konzeptionelle Fehler der<br />
Maschine begünstigen jedoch das für die Betroffenen<br />
(lebens-)gefährliche Fehlverhalten. Solche<br />
Maschinen sind nicht konform mit der EG Maschinenrichtlinie:<br />
Mit anderen Worten, Hersteller<br />
sind verpflichtet, Schutzmaßnahmen so zu konzipieren,<br />
dass bei ausreichender, d.h. dem ermittelten<br />
Risiko entsprechende Sicherheit die<br />
Funktionsfähigkeit und Benutzerfreundlichkeit<br />
der Maschine gewährleistet bleibt [4].<br />
Was können Konstrukteure dagegen tun?<br />
Konstruieren sicherheitsgerechter Maschinen bedeutet<br />
mehr als das Einhalten <strong>von</strong> Vorschriften<br />
und anderer rechtlicher Vorgaben. Nachschlagen<br />
in Richtlinien und Normen sowie das abwehren-<br />
2 Dieses Verhalten kennt k<strong>ein</strong>e ethnische Unterschiede.<br />
Während m<strong>ein</strong>er Besuche in japanischen Firmen konnte<br />
ich mich mehrmals überzeugen, dass auch dort Arbeiter<br />
in ihrer Not mit nicht zu Ende gedachten Schutzkonzepten<br />
zur Tat schreiten und Schutzschalter gekonnt manipulieren.<br />
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Bild 1: Gestaltung trennender <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> (Auszug aus [8])<br />
de Fragen „Wo steht das?!“ <strong>–</strong> um nur die allernötigsten<br />
Sicherheitsmaßnahmen umsetzen zu<br />
müssen <strong>–</strong> können intensives Nachdenken über<br />
sicherheits- und menschengerechte aber trotzdem<br />
betriebstaugliche Lösungen nicht ersetzen.<br />
Vor allem müssen Konstrukteure sensibler auf<br />
die aus der Praxis kommenden Forderungen der<br />
Betreiber an die Bedienbarkeit <strong>von</strong> Maschinen<br />
und deren Sicherheits<strong>ein</strong>richtungen reagieren<br />
und auf sie ernsthaft <strong>ein</strong>gehen. Sie erschweren<br />
nicht das sicherheitsgerechte Konstruieren, sondern<br />
bilden die Grundlage, um benutzerfreundliche<br />
und zugleich sicherheitsgerechte Maschinen<br />
zu bauen. Das setzt voraus, dass dem eigentlichen<br />
Entwickeln und Konstruieren <strong>ein</strong>e ausführliche<br />
und redliche Analyse betrieblicher Anforderungen<br />
vorangeht, deren Ergebnisse in <strong>ein</strong>er<br />
verbindlichen Anforderungsliste festgehalten<br />
sind. Andernfalls kann es passieren, dass Maschinen<br />
bzw. die an ihnen getroffenen Sicherheitsmaßnahmen<br />
nicht akzeptiert werden. Vielmehr<br />
bringen sie ihre Benutzer auf „Ideen“, die<br />
meistens nicht im Sinne der Arbeitssicherheit<br />
sind. Sie können neue Gefährdungen heraufbeschwören,<br />
an die während des Konstruierens<br />
niemand gedacht hat.<br />
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Mit Manipulationen muss man immer dann rechnen,<br />
wenn die Maschinenbetreiber wegen <strong>ein</strong>geschränkten<br />
Maschinenfunktionen oder unzumutbaren<br />
Erschwernissen zum „Nachbessern“ verleitetet<br />
oder gar dazu gezwungen werden, da sie<br />
sonst ihre Arbeitsaufgabe nicht erfüllen können.<br />
Dabei dürfen die Konstrukteure weder die technische<br />
Intelligenz noch die Kreativität unterschätzen,<br />
die Maschinenarbeiter dabei offenbaren.<br />
Manipulationsversuche nur technisch zu erschweren,<br />
löst das Problem nur sch<strong>ein</strong>bar. Denn<br />
ist der Druck groß genug, findet man auch dann<br />
<strong>ein</strong>e „Lösung“. Schon die Aufgabe, alle möglichen<br />
Manipulationen vorauszudenken, ist<br />
widersprüchlich: unbescholtene Konstrukteure<br />
sollen die Phantasie und den Tatendrang der<br />
zwar unter Druck stehenden aber zugleich mit<br />
reichlich Zeit zu Nachdenken ausgestatteten Maschinenarbeiter<br />
nachvollziehen und die gewonnenen<br />
Erkenntnisse in ihren Konstruktionen unter<br />
den heute üblichen kurzen Zeitvorgaben in manipulationsfeste<br />
Maßnahmen umsetzen. Vielmehr<br />
muss die Ursache für Manipulationen behoben<br />
werden. Nicht Überfunktionalität, sondern Benutzerfreundlichkeit<br />
ist gefragt!<br />
geschützt werden sollen. Über die Befestigungsund<br />
Überwachungsmodalitäten der <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
entscheiden der Öffnungsgrund, die<br />
Öffnungshäufigkeit sowie das Risiko für Tätigkeiten,<br />
die hinter geöffneten <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
durchzuführen sind.<br />
Müssen <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> nur für Wartungsoder<br />
Reparaturarbeiten geöffnet werden, also für<br />
Arbeiten, die mit Werkzeugen durchgeführt werden<br />
oder <strong>ein</strong>en Montagevorgang bedeuten, so<br />
sind <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> mit dem Maschinengestell<br />
so zu verbinden, dass sie sich auch nur mit<br />
Werkzeug lösen lassen, Bild 2.<br />
Benutzerfreundliche trennende <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
Trennende <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> unterbinden<br />
durch materielle Barrieren das räumliche und<br />
zeitliche Zusammentreffen <strong>von</strong> Menschen mit gefährlichen<br />
Situationen. Grundlegende Anforderungen<br />
an deren Gestaltung enthalten die EN<br />
953 [5] und EN 1088 [6]. Konkrete Umsetzungen<br />
dieser Vorgaben findet man in [7] und [8].<br />
Neben den zu lösenden Fragen zur Werkstoffwahl<br />
und der Berücksichtigung mechanischer Gesichtspunkte<br />
wie z.B. Festigkeit, müssen sicherheitstechnische<br />
und ergonomische Aspekte berücksichtigt<br />
werden. Sie entscheiden nicht nur<br />
über die Qualität der Schutzfunktion sondern<br />
auch darüber, ob die mit erheblichen Aufwand<br />
konstruierten und gefertigten <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
<strong>von</strong> den Beschäftigten bereitwillig benutzt<br />
oder aber abgelehnt oder gar manipuliert werden.<br />
Die wichtigsten sicherheitstechnischen Gesichtspunkte<br />
sind die Abstimmung der Maschenweite<br />
und des Abstandes der Schutz<strong>ein</strong>richtung bzw.<br />
der Zusammenhang zwischen Öffnungsweite<br />
tunnelartiger Verdeckungen und des Abstandes<br />
zur Gefahrstelle gemäß EN 294.<br />
Ergonomische Gesichtspunkte entscheiden über<br />
die Handhabbarkeit und damit über die Akzeptanz<br />
<strong>von</strong> <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong>. Die wichtigste ergonomische<br />
Anforderung besteht darin, dass die<br />
Beschäftigten beim täglichen Hantieren mit der<br />
Schutz<strong>ein</strong>richtung nicht mehr als notwendig beansprucht<br />
werden dürfen. Praktische Umsetzungen<br />
sind im Bild 1 zusammengefasst.<br />
Die Erfahrung zeigt, dass trotz aller Beteuerungen<br />
nahezu jede Schutz<strong>ein</strong>richtung im Laufe der<br />
Zeit <strong>ein</strong>mal abgenommen oder geöffnet werden<br />
muss. Grundsätzlich gilt, dass auch bei geöffneten<br />
<strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> Gefährdungen möglichst<br />
vermieden und Beschäftigte vor Gefahren<br />
Bild 2: Öffnungs- und Befestigungsmodalitäten an<br />
trennenden <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
Müssen <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> betriebsmäßig oder<br />
häufig (zur Orientierung, mindestens <strong>ein</strong>mal pro<br />
Arbeitsschicht) geöffnet werden, muss dies ohne<br />
Werkzeug möglich s<strong>ein</strong>. Dann muss aber das<br />
Öffnen mit gefahrbringenden Situationen verriegelt<br />
oder zugehalten s<strong>ein</strong>. Damit dann die bei geöffneten<br />
<strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> notwendigen Tätigkeiten<br />
mit akzeptablen Risiken durchgeführt<br />
werden können, müssen weitergehende Schutzmaßnahmen<br />
mit dem sich jetzt ergebenden Risiko<br />
sowie mit (antriebs-)technischen und technologischen<br />
Gegebenheiten abgestimmt s<strong>ein</strong>.<br />
Dieses Vorgehen ist konform mit der EG-Maschinenrichtlinie.<br />
Sie gestattet, das Arbeiten bei geöffneten<br />
<strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> als Sonderbetriebsart<br />
sicher zu gestalten und diese Tätigkeiten<br />
zugleich auf <strong>ein</strong>e legale Basis zu stellen.<br />
Verriegelungen so zu konzipieren, dass nach<br />
dem Öffnen der Schutz<strong>ein</strong>richtung überhaupt<br />
k<strong>ein</strong>e Bewegung der Maschine oder deren Bau-<br />
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gruppen möglich ist, provoziert nur Manipulationen<br />
und sicherheitswidriges Verhalten!<br />
Die EN 1010 legt als <strong>ein</strong>e der wenigen harmonisierten<br />
Produktnormen für Sonderbetriebsarten<br />
bei geöffneten <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong> <strong>ein</strong> abgestuftes<br />
Bündel <strong>von</strong> Maßnahmen der dreistufigen Sicherheitstechnik<br />
(unmittelbare, mittelbare und<br />
hinweisende Sicherheitstechnik) mit verbindlicher<br />
Reihenfolge fest, Bild 3.<br />
Maßnahmen der unmittelbaren Sicherheitstechnik<br />
zielen dort auf die Begrenzung der in den Gefahrstellen<br />
wirksamen Energien, z.B. durch Reduzieren<br />
der Drehzahl oder durch Wegbegrenzung.<br />
Maßnahmen der mittelbaren Sicherheitstechnik<br />
schützen zusätzlich mit Zweihandschaltungen<br />
oder Schaltleisten vor gefahrbringenden Bewegungen<br />
an jetzt erreichbaren oder zugänglichen<br />
Gefahrstellen. So geschützt, können die Betroffenen<br />
unter festgelegten Risiken die Maschine<br />
selbstbestimmend weiterbewegen.<br />
Rang, Wertigkeit und die bei der Umsetzung der<br />
Norm <strong>ein</strong>zuhaltende Reihenfolge ergeben sich<br />
aus verfahrens- und antriebstechnischen Randbedingungen,<br />
wobei immer die höherwertige <strong>von</strong><br />
mehreren Maßnahmen anzuwenden ist.<br />
Ungeachtet der umgesetzten Konstruktionsmaßnahmen<br />
müssen die Hersteller ihrer Informationspflicht<br />
nachkommen. Vor allem müssen sie<br />
in der Betriebsanleitung alle Modalitäten für die<br />
sichere Durchführung der Sonderbetriebsarten<br />
verbindlich festlegen.<br />
Schlussbetrachtungen<br />
Nochmals zurück zum Unfall: Aufgrund der diskutierten<br />
Aspekte drängen sich folgende Fragen auf:<br />
1. Warum hat der Betreiber die Qualitätsmängel<br />
der Maschine nicht beim Hersteller beanstandet<br />
und für Abhilfe gesorgt?<br />
2. Wer alles hat über die Möglichkeit das Gitter<br />
auszuheben, das dem kürzestem Weg zur<br />
Störstelle im Wege stand, gewusst? Doch<br />
nicht nur der Verunglückte all<strong>ein</strong> <strong>–</strong> solche großen<br />
und teuren Anlagen werden zwei- bis dreischichtig,<br />
also <strong>von</strong> mehreren Mannschaften<br />
gefahren!<br />
3. Wie umständlich war die Benutzung der verriegelten<br />
Tür? Es gab ja wohl <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>facheren<br />
und kürzeren Weg, den der Verunglückte<br />
und nicht der Konstrukteur herausgefunden<br />
hat.<br />
4. War <strong>ein</strong> sinnvolles Entstören nach dem Ansprechen<br />
der Verriegelung, z.B. ohne <strong>ein</strong> umständliches<br />
Wiederanfahren überhaupt möglich?<br />
5. Gab es die Möglichkeit, nach dem Öffnen der<br />
Tür und Eintreten in den Gefahrenbereich sich<br />
zu sichern und die Anlage unter festgelegten<br />
Risiken selbstbestimmend weiter zu bewegen?<br />
6. Wo bleibt die Verantwortung der Führungsebene?<br />
Nicht nur um zu sanktionieren, sondern<br />
den gefundenen Weg zum <strong>ein</strong>fachen und für<br />
den Unternehmer vorerst billigeren (für den<br />
Betroffenen leider tragischen), weil schnelleren<br />
Entstören sicher zu machen: Den gefährlichen<br />
Trampelpfad in Zusammenarbeit mit dem Anlagenhersteller<br />
in <strong>ein</strong>en sicheren praxisgerechten<br />
Weg umzuwandeln!<br />
Ganz zum Schluss noch <strong>ein</strong> Merksatz für alle Konstrukteure:<br />
Funktioniert die Maschine nicht wie sie<br />
soll, versuchen die Benutzer ihr zu helfen <strong>–</strong> sie bedankt<br />
sich dafür irgendwann mit <strong>ein</strong>em Unfall.<br />
Dafür wurde sie aber eigentlich nicht konstruiert!<br />
Bild 3: Verriegelungskonzept für trennende <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong><br />
Sicherheit im System. Schutz für Mensch und Maschine.<br />
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Literatur:<br />
[1] N.N.:<br />
Tödlicher Unfall: Sicherheitskonzept nicht beachtet,<br />
Die Industrie der St<strong>ein</strong>e und Erden, Mitteilungsblatt<br />
der St<strong>ein</strong>bruchs-BG, Heft 1, 2001<br />
[2] Miesenbach, J.:<br />
Unfälle trotz <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong>. Fehler der Benutzer<br />
oder Fehler der Planer? MRL-News, Ausgabe<br />
03/07/97, Elan Schaltelemente (Hrsg.), Wettenberg,<br />
1997<br />
[3] Musahl, H.-P., Müller-Gethmann, H.:<br />
Störungs-Simulation: Eine notwendige und heuristisch<br />
fruchtbare Methode der Sicherheitspsychologie,<br />
XV. Internationales Sommer-Symposium<br />
der GFS vom 30.5 <strong>–</strong>1.6.1994, Bremerhaven:<br />
Wirtschaftsverlag, 1994<br />
Autor<br />
Dr.-Ing. Alfred Neudörfer<br />
z.Z. Gastprofessor für das Fach Sicherheitsgerechtes<br />
Konstruieren an der Nagaoka University of Technology,<br />
Japan<br />
Hinweis<br />
Quelle: Arbeitsschutz aktuell, 3/02, Seite 89 ff.<br />
Mit freundlicher Genehmigung des Erich Schmidt Verlages<br />
[4] Reudenbach, R.:<br />
Sichere Maschinen in Europa, Teil II: Anwendung<br />
europäischer und nationaler Rechtsgrundlagen,<br />
Bochum: Verlag Technik & Information, 2001<br />
[5] DIN EN 953<br />
Trennende <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong>,<br />
Allgem<strong>ein</strong>e Anforderungen an Gestaltung und<br />
Bau <strong>von</strong> feststehenden und beweglichen trennenden<br />
<strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong>, November 1997<br />
[6] DIN EN 1088<br />
Verriegelungs<strong>ein</strong>richtungen in Verbindung mit<br />
trennenden <strong>Schutz<strong>ein</strong>richtungen</strong>, Februar 1996<br />
[7] Sicherheitsgerechtes Konstruieren <strong>von</strong><br />
Druck- und Papierverarbeitungsmaschinen,<br />
Berufsgenossenschaft Druck und<br />
Papierverarbeitung, Wiesbaden: 9/1999<br />
[8] Neudörfer, A.:<br />
Konstruieren sicherheitsgerechter Produkte, 2.<br />
Auflage, Heidelberg, Berlin u.a.: Springer, 2002<br />
[9] DIN EN 294<br />
Sicherheitsabstände gegen das Erreichen <strong>von</strong><br />
Gefahrstellen mit den oberen Gliedmaßen,<br />
August 1992<br />
[10] DIN EN 1010<br />
Sicherheitsanforderungen an Konstruktion und<br />
Bau <strong>von</strong> Druck- und Papierverarbeitungsmaschinen,<br />
Teil 1: Gem<strong>ein</strong>same Anforderungen,<br />
Schlussentwurf, Januar 2001<br />
Sicherheit im System. Schutz für Mensch und Maschine.<br />
6/6<br />
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