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Die ganze Ausgabe als PDF (1476 K) - Inprekorr

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INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ<br />

Europa Krise und Widerstand<br />

Frankreich <strong>Die</strong> Bewegung ist noch lange nicht zu Ende<br />

Italien Das System Berlusconi in der Krise und die Linke<br />

orientierungslos Spanien Der Beginn einer neuen Etappe<br />

Griechenland Wie heiß wird der Herbst?“<br />

Nr. 468/469 November/Dezember 2010 € 4,–


INHALT<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>Inprekorr</strong> ist das Organ der IV. Internationale<br />

in deutscher Sprache. <strong>Inprekorr</strong><br />

wird herausgegeben von der<br />

deutschen Sektion der IV. Internationale,<br />

von RSB und isl. <strong>Die</strong>s geschieht<br />

in Zusammenarbeit mit GenossInnen<br />

aus Österreich und der Schweiz und<br />

unter der politischen Verantwortung<br />

des Exekutivbüros der IV. Internationale.<br />

<strong>Inprekorr</strong> erscheint zweimonatlich<br />

(6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich<br />

gekennzeichnete Artikel geben nicht<br />

unbedingt die Meinung des herausgebenden<br />

Gremiums wieder.<br />

Konto: Neuer Kurs GmbH,<br />

Postbank Frankfurt/M.<br />

(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604<br />

Abonnements:<br />

Einzelpreis: € 4,–<br />

Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–<br />

Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–<br />

Solidarabo: ab € 30,–<br />

Sozialabo: € 12,–<br />

Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–<br />

Auslandsabo: € 40,–<br />

Website:<br />

http://inprekorr.de<br />

Redaktion:<br />

Michael Weis (verantw.), Birgit Althaler,<br />

Daniel Berger, Wilfried Dubois,<br />

Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul<br />

Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mertens<br />

E-Mail: Redaktion@inprekorr.de<br />

Satz: Grafikkollektiv Sputnik<br />

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:<br />

<strong>Inprekorr</strong>, Hirtenstaller Weg 34,<br />

25761 Büsum,<br />

E-Mail: vertrieb@inprekorr.de<br />

Kontaktadressen:<br />

RSB,<br />

Revolutionär Sozialistischer Bund<br />

Postfach 10 26 10,<br />

68026 Mannheim<br />

isl, internationale sozialistische linke<br />

Regentenstr. 75–59, D-51063 Köln<br />

SOAL, Sozialistische Alternative<br />

office@soal.at<br />

Sozialistische Alternative<br />

Postfach 4070, 4002 Basel<br />

Eigentumsvorbehalt: <strong>Die</strong> Zeitung bleibt<br />

Eigentum des Verlags Neuer Kurs<br />

GmbH, bis sie dem/der Gefangenen<br />

persönlich ausgehändigt ist.<br />

„Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche<br />

Aushändigung im Sinne des<br />

Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeitschrift<br />

dem/der Gefangenen nicht<br />

persönlich ausgehändigt, ist sie dem<br />

Absender unter Angabe der Gründe<br />

der Nichtaushändigung umgehend<br />

zurückzusenden.<br />

Frankreich<br />

<strong>Die</strong> Bewegung ist noch lange nicht zu Ende, Sandra Demarcq ............................................3<br />

Italien<br />

Das System Berlusconi in der Krise und die Linke orientierungslos,<br />

Salvatore Cannavó ............................................................................................................5<br />

Von der KPI zur Demokratischen Partei, Lidia Cirillo .........................................................7<br />

Spanien<br />

Der Beginn einer neuen Etappe, Lluís Rabell .....................................................................11<br />

Der Streik vom 29. September: <strong>Die</strong> soziale Frage kehrt zurück, Miguel Romero ..............15<br />

Griechenland<br />

Wie heiß wird der Herbst?“, Tassos Anastassiadis, Andreas Sartzekis ...............................17<br />

Osteuropa<br />

Osteuropa in der Systemkrise, Catherine Samary ..............................................................20<br />

Türkei<br />

Im Labyrinth der bürgerlichen Politik, Ümit Çırak .............................................................31<br />

China<br />

Arbeiterfrühling im Herzen der „Werkstatt der Welt“, Danielle Sabaï ...............................37<br />

Nachruf<br />

Luis Vitale (1927–2010) – Ein revolutionärer Historiker aus Lateinamerika,<br />

Franck Gaudichaud .........................................................................................................40<br />

Geschichte<br />

<strong>Die</strong> grüne Fahne Mohammeds und die Ausbreitung des Welthandels, Jean Batou ............43<br />

Register ...............................................................................................................................48<br />

Ökologie<br />

Cancún – <strong>Die</strong> Via Campesina ruft die sozialen Bewegungen und alle Leute auf, überall auf<br />

der Welt zu mobilisieren! Organisiert Tausende von Cancúns! .......................................52<br />

Register 2010<br />

Register nach Ländern .........................................................................................................48<br />

Register nach Themen (Auswahl) .......................................................................................49<br />

die Internationale .................................................................................................................49<br />

die internationale<br />

Benjamins Thesen – Zu Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe , Helmut Dahmer ...........25<br />

Nachruf– Wilebaldo Solano (1917–2010), Jaime Pastor ....................................................28<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

der angekündigte „heiße Herbst“ der Gegenwehr gegen die Abwälzung der<br />

Krisenlasten auf die arbeitenden und von der Erwerbsarbeit ausgeschlossenen<br />

Teile der Bevölkerung hat zwar die notwendige Betriebstemperatur noch<br />

nicht erreicht – am ehesten noch in Frankreich –, aber für eine Bilanz der<br />

„Gegenwehr“ ist es noch zu früh. Eine sich langsam entwickelnde Tendenz<br />

zu mehr Selbstorganisation und einem Bewusstsein von der Notwendigkeit<br />

einer größeren Unabhängigkeit von den sozialpartnerschaftlich ausgerichteten<br />

Organisationen lässt sich aus einigen Beiträgen dieser letzten <strong>Inprekorr</strong><br />

des Jahres 2010 durchaus herauslesen.<br />

In diesem Sinne wünschen wir uns und Euch einen nahtlosen Übergang ins<br />

neue Jahr 2011.<br />

Eure Redaktion<br />

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:<br />

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507<br />

Postbank Köln (BLZ 370 100 50)<br />

2 INPREKORR 468/469


FRANKREICH<br />

Frankreich – die Bewegung ist noch<br />

lange nicht zu Ende<br />

Der folgende Beitrag wurde inmitten der landesweiten und massiven<br />

Proteste noch vor der (inzwischen erfolgten) Abstimmung<br />

des Gesetzesentwurfs im Senat verfasst und ist insofern vorläufig<br />

und für heutige LeserInnen von der Aktualität überholt. Aufgrund<br />

der enormen Bedeutung, auch für die weitere Entwicklung der sozialen<br />

Proteste in Europa, haben wir uns trotzdem für den Abdruck<br />

entschieden und werden in einer – hoffentlich positiven – Bilanz<br />

auf das Thema zurückkommen. <strong>Die</strong> Redaktion<br />

Sandra Demarcq<br />

Seit Mai drücken die Mobilisierungen<br />

gegen die geplante Rentenreform dem<br />

Land ihren Stempel auf. Mit jedem Aktionstag<br />

entwickelt sich die Bewegung<br />

weiter und gewinnt an Stärke. Darin<br />

zeigt sich, wie sehr sie die Bevölkerung<br />

mittlerweile durchdringt und nicht nur<br />

die massive Ablehnung der Rentenreform<br />

widerspiegelt sondern darin der<br />

Verdruss an der sozialfeindlichen, rassistischen<br />

und repressiven Politik von<br />

Sarkozy im Ganzen zum Ausdruck<br />

kommt. Und auch der Unmut über die<br />

immer größere und durch die Krise<br />

noch zugespitzte Ungerechtigkeit im<br />

Land treibt die Jugend und die Lohnabhängigen<br />

um.<br />

Vor diesem Hintergrund wird erklärlich,<br />

dass sich die Demonstrationen<br />

nicht totlaufen sondern weiter steigern<br />

und am 12. und 19. Oktober mit jeweils<br />

3,5 Millionen Teilnehmern einen Rekord<br />

erreichten. Zudem werden sie immer<br />

kämpferischer und radikaler und<br />

haben – nachdem auch der privatwirtschaftliche<br />

Sektor diesmal sehr stark<br />

vertreten ist – inzwischen die Jugend,<br />

d. h. im Moment noch vornehmlich die<br />

Schüler, erreicht. Denn diese haben kapiert,<br />

dass sie es mit dieser Reform erheblich<br />

schwerer haben werden, frühzeitig<br />

Arbeit zu finden und später die<br />

volle Rente in gesundem Zustand zu<br />

erreichen. Nach und nach hat sich das<br />

Klima geädert, und mittlerweile glauben<br />

sehr viele, dass wir gewinnen und<br />

Sarkozy zum Rückzug drängen können.<br />

Bereits jetzt und in der gegenwärtigen<br />

Mobilisierungsphase hat die Regierung<br />

den Kampf um die öffentliche<br />

Meinung verloren. Denn 70 % der Bevölkerung<br />

sind gegen diese Reform<br />

und unterstützen die Proteste. Und inzwischen<br />

weiß die Mehrheit der ArbeiterInnen,<br />

prekär Beschäftigten und Jugendlichen,<br />

dass es bei der Rente weder<br />

um ein demographisches noch um<br />

ein Finanzierungsproblem geht, wie<br />

uns die Regierung seit Monaten glauben<br />

machen will.<br />

<strong>Die</strong> Streiks haben sich so nach und<br />

nach eingenistet und mit jedem Aktionstag<br />

wurde es für immer mehr Bevölkerungsteile<br />

offenkundig, dass solche<br />

auseinander gerissenen Einzelaktionen<br />

die Regierung nicht zum Rückzug<br />

zwingen würden. Und bisher war auch<br />

nicht allerorten so sehr von unbefristeten<br />

Streiks die Rede wie in den letzten<br />

Wochen, wo sich in Umfragen 61 %<br />

dafür ausgesprochen haben. Was fehlt,<br />

sind die Gewerkschaftsführungen, die<br />

sich wohlweislich davor hüten, zum<br />

Gener<strong>als</strong>treik aufzurufen, auch wenn<br />

sie von der Basis zum Durchhalten gedrängt<br />

werden. <strong>Die</strong> Einheit der Gewerkschaften<br />

ist sicherlich von Beginn<br />

der Bewegung an ein Trumpf und elementar<br />

für den Erfolg der Streiks und<br />

Demonstrationen. Aber die Gewerkschaftskoordination<br />

vermeidet es nicht<br />

nur, zu einer entscheidenden sozialen<br />

Konfrontation aufzurufen, sondern sie<br />

verlangt noch nicht einmal die Rücknahme<br />

des Gesetzesentwurfs, sondern<br />

stattdessen bloß neue Verhandlungen<br />

und Abänderungen.<br />

Glücklicherweise haben jedoch<br />

Schlüsselsektoren der Wirtschaft beschlossen,<br />

sich unbefristet in den Streik<br />

zu begeben oder ihn auszuweiten. <strong>Die</strong>s<br />

gilt z. B. für die Eisenbahner, zentrale<br />

Stromversorgung oder Raffinerien,<br />

was so seit Mai 68 nicht mehr da gewesen<br />

ist. Seit dem 14. Oktober sind alle<br />

13 Raffinerien im unbefristeten Streik<br />

und haben den kompletten Betrieb<br />

und die Auslieferung von Treibstoff an<br />

Tankstellen und Lager eingestellt. Der<br />

Streik wird ungeheuer breit befolgt und<br />

nahezu einhellig fortgeführt.<br />

Ein weiteres typisches Merkmal<br />

dieser Bewegung ist aber auch,<br />

dass sich überall etwas rührt, tägliche<br />

neue Initiativen und Blockadeaktionen<br />

(Mautstellen, Straßen, Flughäfen,<br />

Industriezonen …) ergriffen werden<br />

und Demonstrationen vor Ort auf<br />

einheitlicher und berufsübergreifender<br />

Grundlage stattfinden. Genau so<br />

INPREKORR 468/469 3


FRANKREICH<br />

gibt es tägliche Vollversammlungen<br />

der verschiedenen Streiksektoren, anfangs<br />

noch schwach besucht, mit der<br />

Zeit aber immer stärker. Zugleich muss<br />

man aber sehen, dass zwar zahlreiche<br />

Streiks hier und da im öffentlichen wie<br />

privatwirtschaftlichen Sektor stattfinden,<br />

die unbefristeten jedoch noch zu<br />

verstreut sind und nur von einer Minderheit<br />

getragen werden und dass außerdem<br />

die Beteiligungsquote an den<br />

landesweiten Streiktagen zwar hoch,<br />

aber nicht außergewöhnlich war.<br />

Seit einigen Tagen und besonders<br />

seit dem 19. Oktober beteiligen sich<br />

die Jugendlichen mit breiten und dynamischen<br />

Demonstrationen sowie zahlreichen<br />

Schulblockaden an den Protesten.<br />

Man spürt dort eine Entschlossenheit<br />

und Politisierung wie nie zuvor<br />

bei vorangegangenen Protesten. Und je<br />

lauter es hallt, sie seien ferngesteuert<br />

und hätten kein Recht zu protestieren,<br />

umso größer wird ihre Entschlossenheit.<br />

Auch an den Universitäten fangen<br />

die Proteste langsam an zu greifen. <strong>Die</strong><br />

kommenden Tage kurz vor den Schulferien<br />

werden entscheidend sein.<br />

<strong>Die</strong> Rechte, die Unternehmer und<br />

die Regierung Sarkozy sind angesichts<br />

der Lage unnachgiebig entschlossen,<br />

die Reform durchzuziehen. Sarkozy<br />

versetzt das Land in eine Blockade<br />

und probt seine Macht. Und er schreckt<br />

dabei nicht vor Gewalt zurück, wie<br />

die Polizeieinsätze gegen Schüler und<br />

Streikende in den Raffinerien zeigen.<br />

Er zieht seine parlamentarische Mehrheit<br />

durch und verweigert jede Diskussion<br />

selbst mit den moderatesten Gewerkschaftsführern.<br />

<strong>Die</strong>se Entschlossenheit<br />

rührt daher, dass die Rentenreform<br />

das Herzstück der Austeritätspolitik<br />

ist, mit der sie die Zeche der Krise<br />

auf die Unbeteiligten abwälzen wollen.<br />

Gelingt sie, gewinnen sie Pluspunkte<br />

auf den Finanzmärkten und verschaffen<br />

sich die Gelegenheit, die Kräfteverhältnisse<br />

weiter zu ihren Gunsten zu<br />

ändern und die Umverteilung von unten<br />

nach oben voranzutreiben. Zudem<br />

können sie sich dann die „sozialen und<br />

steuerlichen Lasten“ vom H<strong>als</strong> schaffen,<br />

die in früheren Kämpfen errungen<br />

wurden, und die widerständigsten<br />

Kreise in die Knie zwingen. Für Sarkozy<br />

geht es auch darum, wenige Monate<br />

vor den Präsidentschaftswahlen sein<br />

Gefolge hinter sich zu scharen. Kurzum<br />

stehen bei den gegenwärtigen Protesten<br />

die globalen Kräfteverhältnisse<br />

zwischen den Klassen auf dem Spiel.<br />

Sarkozy ist weit davon entfernt, zu gewinnen<br />

und den Widerstand zu brechen<br />

und mundtot zu machen. Er, der zu Beginn<br />

seiner Präsidentschaft tönte, dass<br />

von den vermeintlichen Streiks nichts<br />

zu sehen sei, wird von den Ereignissen<br />

auf der Straße seit dem letzten Mai widerlegt.<br />

<strong>Die</strong> Breite der Proteste zeigt, dass<br />

eine Niederlage der Regierung machbar<br />

ist. Umso notwendiger ist die Einheit<br />

der gesamten politischen und sozialen<br />

Linken in diesem Kampf. In diesem<br />

Sinn engagiert sich die NPA in allen<br />

übergreifenden politischen Initiativen<br />

für die gemeinsame Formierung<br />

unserer Kräfte, besonders im Rahmen<br />

des von der Fondation Copernic und<br />

Attac initiierten Nationalen Kollektivs.<br />

Aber hinter den Parolen „Rente mit<br />

60“ und „Rücknahme des Gesetzesentwurfs“<br />

lassen sich grundsätzliche und<br />

strategische Differenzen besonders mit<br />

der PS nicht verbergen. <strong>Die</strong>se verteidigt<br />

zwar die Rente mit 60, hat aber mit der<br />

Rechten im Parlament für die Aufstockung<br />

der Beitragsjahre auf 41,5 gestimmt,<br />

was de facto das Eintrittsalter<br />

aufschiebt. Und angesichts der wachsenden<br />

Proteste verlegt sie sich auf<br />

Wahlversprechungen für 2012 und bereitet<br />

so einen Regierungswechsel vor.<br />

Es bestehen Divergenzen mit der radikalen<br />

Linken, besonders mit der Linkspartei<br />

von Melenchon, die im Wesentlichen<br />

auf die strategische Vorgehensweise<br />

zielen. Denn diese tritt für ein sofortiges<br />

Referendum ein und will damit<br />

die Proteste von der Straße an die Urne<br />

holen, obwohl die entscheidende Kraftprobe<br />

noch vor uns liegt.<br />

<strong>Die</strong> NPA tritt seit Beginn der Mobilisierung<br />

<strong>als</strong> treibende Kraft in den<br />

Kämpfen auf und macht sich für die<br />

Einigung der betroffenen Bevölkerung<br />

entlang bestimmter politischer Forderungen<br />

stark: Rücknahme bzw. – wie<br />

die Dinge liegen – Abschaffung der Gesetzesreform<br />

und Rücktritt von Sarkozy<br />

und Woerth, die für die soziale Krise<br />

verantwortlich sind. Daneben vermitteln<br />

wir antikapitalistische Perspektiven,<br />

die auf einen Bruch mit dem System<br />

und soziale wie politische Sofortmaßnahmen<br />

und auf Autonomie zielen.<br />

<strong>Die</strong> kommenden Tage werden die<br />

Entscheidung bringen. Das Gesetz<br />

wird angenommen, aber die Proteste<br />

nicht zum Verstummen bringen, weil<br />

die Machthaber in den Augen aller, die<br />

heute auf den Straßen und im Streik<br />

sind, keine Legitimation haben. Außerdem<br />

sind wir viel zu viele, die genau<br />

wissen, dass auch ein bereits verabschiedetes<br />

Gesetz zu Fall gebracht<br />

werden kann, was 2007 mit dem Erstanstellungsvertrag<br />

CPE geschehen ist<br />

und auf ein da capo wartet.<br />

22.10.2010<br />

Sandra Demarcq ist leitendes Mitglied der<br />

NPA und der IV. Internationale<br />

Übersetzung: MiWe<br />

4 INPREKORR 468/469


ITALIEN<br />

Das System Berlusconi in der Krise<br />

und die Linke orientierungslos<br />

Salvatore Cannavò<br />

<strong>Die</strong> politische Krise in Italien und die<br />

seit mehr <strong>als</strong> zwei Jahren anhaltende internationale<br />

Wirtschaftskrise sind unübersehbar<br />

miteinander verwoben. Trotzdem<br />

werden diese Zusammenhänge in<br />

der politischen Diskussion völlig ausgeblendet,<br />

und man kapriziert sich auf die<br />

unvorhergesehene Krise des Systems<br />

Berlusconi und des Mitte-Rechts-Bündnisses.<br />

Überraschend kam dies freilich<br />

nur für diejenigen, die in Berlusconi einen<br />

Magier sehen, der über die realen<br />

Klassenverhältnisse und die Rechtsentwicklung<br />

in unserem Land hinwegtäuschen<br />

konnte. Und dann passiert es, dass<br />

einer der treuesten Verbündeten Berlusconis,<br />

der Parlamentspräsident Gianfranco<br />

Fini, sich von ihm und seiner<br />

Partei distanziert und eine neue Organisation<br />

– Futuro e Libertà – gründet. Ein<br />

Schock für die italienische Rechte, weil<br />

die Unfehlbarkeit des Führers erschüttert<br />

wurde und eine ernste Krise entstanden<br />

ist, die im Moment zwar nicht die<br />

Regierung zu Fall bringt, aber doch eine<br />

Ära beendet, die mit dem Eintritt Berlusconis<br />

ins politische Leben 1994 begonnen<br />

hat.<br />

In der italienischen Presse wird diese<br />

Auseinandersetzung in erster Linie<br />

auf den „Charakter“ der Akteure zurückgeführt<br />

und <strong>als</strong> persönlicher Konflikt<br />

gedeutet und dabei die strukturellen<br />

Momente in den Hintergrund gedrängt.<br />

<strong>Die</strong> Wirtschaftskrise indessen ist so tiefgreifend<br />

und essentiell, dass sie die politischen<br />

Gleichgewichtsverhältnisse beeinflusst<br />

und zur politischen und mitunter<br />

sogar institutionellen Krise ausweitet.<br />

Beredtes Beispiel dafür sind die Probleme<br />

des US-Präsidenten Obama, der<br />

nach einem triumphalen Wahlsieg vor<br />

zwei Jahren inzwischen die Kongressmehrheit<br />

zu verlieren droht, oder auch<br />

Sarkozy in Frankreich, der 2007 die<br />

Wahlen haushoch gewonnen hat und inzwischen<br />

auf dem Tiefpunkt seiner Popularität<br />

angelangt ist. <strong>Die</strong> Wirtschaftskrise<br />

gebiert <strong>als</strong>o allenthalben politische<br />

Krisen.<br />

Berlusconi hat die Wahlen 2008 v. a.<br />

deswegen verloren, weil die linke Mitte<br />

versagt hat. In absoluten Zahlen ist<br />

der Wahlsieg überhaupt nicht vergleichbar<br />

mit 2001, <strong>als</strong> Berlusconi auf seinem<br />

Gipfelpunkt angelangt war. Nur dank<br />

eines „betrügerischen“ Wahlrechts 1<br />

konnte sich Berlusconi eine komfortable<br />

Parlamentsmehrheit sichern, die<br />

er ganz zielgerichtet und effizient einsetzte,<br />

um die Arbeiterbewegung in ihren<br />

Grundfesten zu attackieren, ihre historischen<br />

Errungenschaften (Statuto<br />

dei lavoratori) infrage zu stellen und ihre<br />

Reallöhne zu senken (Tarifvertrag des<br />

Öffentlichen <strong>Die</strong>nstes) und gleichzeitig<br />

die eigene Klientel aus Mittel- und Kleinunternehmern,<br />

Freiberuflern, Steuerhinterziehern,<br />

Banken und Finanzwirtschaft<br />

zu alimentieren. Mit seiner Steuergesetzgebung<br />

hebelte er die Politik<br />

des sozialen Burgfriedens aus, die das<br />

Land in den Nachkriegsjahren geprägt<br />

hatte. Durch die Krise ist diese Politik<br />

umstritten geworden oder sind zumindest<br />

politische Differenzen, Interessensgegensätze<br />

und unterschiedliche Optionen<br />

wieder zu Tage getreten, die ins<br />

Grundsätzliche gehen. <strong>Die</strong> Differenzen<br />

zu Fini betreffen nicht die Justiz- 2 sondern<br />

die Wirtschaftspolitik. Fini hat sich<br />

hinter den ÖD – namentlich die Sicherheitskräfte<br />

und die öffentlichen Schulen<br />

– gestellt und vertritt eine Industriepolitik,<br />

die auf Kompromissen zwischen<br />

„Kapital und Arbeit“ basiert und<br />

im Konflikt mit der Herangehensweise<br />

des Wirtschaftsministers Tremonti steht.<br />

Somit liegen die eigentlichen Gegensätze<br />

in der Bewertung der Wirtschaftskri-<br />

1 Das italienische Wahlrecht (Mehrheits-<br />

Proporzsystem) sieht eine automatische<br />

Mehrheit von 55 % der Parlamentssitze für<br />

die Partei oder Koalition vor, die die relative<br />

Stimmenmehrheit erhalten hat.<br />

2 Gegen Berlusconi laufen noch einige Prozesse,<br />

die durch Gesetzesänderungen ad personam<br />

(auf B. zugeschnitten) blockiert werden. <strong>Die</strong>se<br />

Gesetze wurden von Parlament oder auch nur<br />

Regierung gebilligt und Fini versucht, sich<br />

davon zu distanzieren.<br />

se und der anstehenden Maßnahmen zu<br />

ihrer Bewältigung.<br />

In diesem Konflikt offenbart sich in<br />

vollem Umfang, dass die Mitte-Rechts-<br />

Regierung ohne Perspektiven ist und in<br />

der Krise steckt. Zwar ist es Berlusconi<br />

in den fünfzehn Jahren seiner politischen<br />

Karriere gelungen, gewissermaßen<br />

eine politische „Gemeinde“ hinter<br />

sich zu scharen: Mittlere und Kleinunternehmer<br />

aus dem Norden, Händler,<br />

Freiberufler, Steuerhinterzieher;<br />

aber auch Lumpenproletarier, die von<br />

der „Stütze“ leben, Jugendliche mit prekären<br />

Jobs und ältere Wähler. Aber dieser<br />

heterogene Block basiert nicht auf<br />

gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen<br />

Interessen, sondern wird zusammengehalten<br />

durch die mediale Inszenierung<br />

der Person Berlusconi mit ihrer<br />

Rhetorik, Propaganda und ideologischen<br />

Ausstrahlungskraft. Und in<br />

dem Moment, wo dieser soziale Block<br />

durch die Krise bedroht und unterminiert<br />

wird, verfliegt auch die Kraft der<br />

Propaganda und Rhetorik von Berlusconi.<br />

Fini präsentiert sich heute <strong>als</strong> Kandidat<br />

eines Teils dieser Sektoren und für<br />

eine Politik, die eindeutig über Berlusconi<br />

hinausweist und ein neues Konzept<br />

für Mitte-Rechts entwerfen will. Wenn<br />

von einem „Dritten Block“ die Rede ist,<br />

geht es dabei weniger um eine neue strategische<br />

Option <strong>als</strong> um ein Durchgangsstadium<br />

bei der Etablierung einer konservativen<br />

Formation, die sich <strong>als</strong> eine<br />

liberale Alternative zu Mitte-Links versteht<br />

und die Belange der herrschenden<br />

Klasse angemessen vertritt.<br />

<strong>Die</strong> Krise trifft natürlich auch die<br />

herrschenden Klassen und ihre machtvollen<br />

Bastionen, die Confindustria<br />

(Unternehmerverband), die Banken<br />

und das Finanzkapital. Für sie ist aktuell<br />

unklar, ob sie weiter auf die Regierung<br />

Berlusconi setzen sollen, die – wie<br />

die Auseinandersetzung bei Fiat zeigt –<br />

fest entschlossen ist, die Lohnabhängigen<br />

dauerhaft zu paralysieren, oder ob<br />

sie versuchen sollen, ein neues Gleich-<br />

INPREKORR 468/469 5


ITALIEN<br />

Salvatore Cannavó<br />

gewicht herzustellen. Während Emma<br />

Marcegaglia <strong>als</strong> gegenwärtige Präsidentin<br />

der Confindustria weiterhin das bestehende<br />

soziale Gefüge aus den Angeln<br />

heben will, sucht deren Expräsident Luca<br />

Cordero de Montezemolo nach neuen<br />

Wegen. <strong>Die</strong> Divergenzen zwischen<br />

den beiden sind im Grunde charakteristisch<br />

für diese Verunsicherung. Auch<br />

wenn in der Krise deutlich wird, dass<br />

das System Berlusconi eigentlich über<br />

keine plausible Option verfügt sondern<br />

selbst in der Krise steckt und sich verschlissen<br />

hat, verfügt Berlusconi trotzdem<br />

noch über eine hohe soziale Akzeptanz<br />

und kann sich durch das Bündnis<br />

mit der Lega Nord sicher sein, erneut<br />

die Wahlen zu gewinnen. <strong>Die</strong>s macht<br />

die Situation für die Herrschenden problematisch<br />

und erzeugt Verunsicherung.<br />

Nichtsdestoweniger schreitet die Offensive<br />

gegen die Lohnabhängigen unvermindert<br />

voran. Fiat hat die Krise und die<br />

Verunsicherung der Beschäftigten ausgenutzt,<br />

um den Flächentarifvertrag zu<br />

kündigen und Hausverträge mit den Gewerkschaften<br />

auszuhandeln. <strong>Die</strong> Regierung<br />

unterstützt diese Vorgehensweise,<br />

indem sie eine Reform des Statuto dei<br />

lavoratori, <strong>als</strong>o der arbeitsrechtlichen<br />

Errungenschaften, ins Spiel bringt. <strong>Die</strong><br />

politische Lage wird durch diese Beispiele<br />

verständlicher: die Regierungskrise,<br />

über die man sich natürlich freuen<br />

darf, hat nicht die Handlungsspielräume<br />

der Herrschenden eingeengt, die<br />

eher noch stärker zum Tragen kommen.<br />

Es ist unübersehbar, dass die politische<br />

Opposition auf parlamentarischer, aber<br />

auch außerparlamentarischer Ebene der<br />

Situation nicht gewachsen ist. <strong>Die</strong> Konfusion<br />

und Verunsicherung der Pd (Demokratische<br />

Partei, Mitte-Links) sind<br />

Ausdruck nicht nur der internen irreversiblen<br />

Zerwürfnisse sondern auch davon,<br />

dass sich die Partei vollständig der<br />

Logik der Krise unterwirft und diese akzeptiert.<br />

So hat sie sich beispielsweise<br />

bei der parlamentarischen Abstimmung<br />

über den europäischen „Rettungsplan“<br />

für Griechenland, der die bis dato härtesten<br />

Angriffe auf die Lohnabhängigen<br />

dieses Landes beinhaltet, am meisten<br />

von allen Parteien für dessen Annahme<br />

stark gemacht. <strong>Die</strong>ses „europäische<br />

Denken“ – ohne Einschränkung<br />

und unternehmerfreundlich – ist ihr inzwischen<br />

in Fleisch und Blut übergegangen,<br />

und so nimmt es nicht wunder,<br />

dass sie trotz der schwierigen Lage<br />

Berlusconis keine Wähler zurückgewinnt<br />

und keine vorwärtstreibende Rolle<br />

in der Politik des Landes spielt.<br />

Zu dem Unvermögen der „demokratischen“<br />

Opposition kommt die Haltung<br />

weiter Teile der Gewerkschaften hinzu,<br />

die den Unternehmern bei ihrer Offensive<br />

noch sekundieren. Fiat ist dabei,<br />

den Flächentarifvertrag zu torpedieren,<br />

spaltet darüber Beschäftigte und<br />

Gewerkschaften und schafft sich somit<br />

freie Bahn in den Betrieben, um die Arbeiterrechte<br />

noch hinter den Stand von<br />

1968/69 zurück zu drängen. Dahinter<br />

stecken die internationale Ausrichtung<br />

des Unternehmens nach dem Einstieg<br />

bei Chrysler und der daraus entstehende<br />

Handlungsdruck, der zwangsläufig<br />

zu Lasten der Beschäftigten geht.<br />

Durch diese Offensive macht sich Fiat<br />

zum Vorreiter der italienischen Unternehmer<br />

und genießt dabei die aktive<br />

Unterstützung der Regierung, aber auch<br />

der beiden kleineren Gewerkschaften<br />

Cisl und Uil, die zusammen sechs Millionen<br />

Mitglieder haben. <strong>Die</strong> Cgil, der<br />

allein fünf Millionen angehören, leistet<br />

bisher noch Widerstand – aber mit wenig<br />

Nachdruck und nur, weil sie unter<br />

dem Druck der Metallergewerkschaft<br />

Fiom steht, in der die Linke dominiert<br />

und die Gegenwehr trägt. Und eben die<br />

Fiom hat die wichtigste öffentliche Aktion<br />

in diesem Herbst anberaumt, nämlich<br />

eine landesweite Demonstration am<br />

16. Oktober, zu der die gesamte radikale<br />

Linke Italiens aufgerufen hat.<br />

Vor diesem Hintergrund lautet das<br />

Gebot der Stunde, den Widerstand gegen<br />

die Abwälzung der Krisenlasten<br />

aufzubauen und eine Einheit im Kampf<br />

und die sozialen Bewegungen wiederherzustellen.<br />

Daher werden wir uns in<br />

den kommenden Monaten dafür einsetzen,<br />

die Kämpfe stärker untereinander<br />

zu koordinieren, dabei auch autonome<br />

Aktionen zu fördern, einheitliche Komitees<br />

gegen die Krise aufzubauen und gemeinsame<br />

Strukturen zwischen den Gewerkschaftslinken<br />

und anderen Aktiven<br />

– bspw. unter den Studierenden und<br />

Auszubildenden in prekären Verhältnissen<br />

– auf den Weg zu bringen. Zu diesem<br />

Behufe ist die Demonstration am<br />

16. Oktober ein wichtiger Meilenstein.<br />

Auf der strikt politischen Ebene wird<br />

sich leider vorerst wenig in diese Richtung<br />

bewegen lassen. <strong>Die</strong> Mitte-Links-<br />

Parteien offenbaren hier einmal mehr,<br />

dass sie den politischen Herausforderungen<br />

nicht gewachsen sind und der<br />

Entwicklung hinterher hinken. <strong>Die</strong> Pd<br />

macht sich mal wieder für eine Neuauflage<br />

des „Ulivo“ stark, <strong>als</strong> treibende<br />

Kraft einer Koalition, die nicht nur die<br />

(christdemokratische) Udc von Casini,<br />

sondern auch die neue Partei von Fini<br />

umfassen könnte. Eine völlig defensive<br />

und elektoralistische Herangehensweise,<br />

deren sozialer Gehalt ganz in der Tradition<br />

der Mitte-Links-Regierung steht.<br />

Was die Mehrheit der radikal linken<br />

Kräfte anbelangt, haben sie sich schon<br />

für ein Bündnis mit der Pd entschieden.<br />

Auf der einen Seite strebt die „Sinistra<br />

ecologia e Libertà“ (Ökologische Linke<br />

und Freiheit – SeL), die von Nichi Vendola<br />

– inzwischen zu einer sehr populären<br />

Führungsfigur avanciert – abhängige<br />

Formation sogar die Kandidatur für<br />

das Premierministeramt an. <strong>Die</strong> Überbleibsel<br />

der PRC 3 arbeiten auf ein Wahl-<br />

3 <strong>Die</strong> PRC (Partei der kommunistischen Wiedergründung)<br />

erlebte 2009 ihre jüngste Spaltung.<br />

<strong>Die</strong> Bertinotti-Strömung ist ausgetreten und hat<br />

Sinistra ecologia e Libertà gegründet, die ihre<br />

Identität auf der Popularität von Nichi Vendola,<br />

dem Präsidenten der Region Apulien, gründet.<br />

<strong>Die</strong>se Organisation, in die auch ein Teil der Grünen<br />

und eine Linksabspaltung von der Pd eingetreten<br />

sind, kann mit ca. 5% der Stimmen rechnen.<br />

Rifondazione selbst hat mit der Pdci – einer<br />

ehemaligen Rechtsabspaltung von ihr – die Föderation<br />

der Linken gegründet und wird auf 2%<br />

der Wahlstimmen veranschlagt. <strong>Die</strong> Föderation<br />

paktiert in nahezu allen Regionen mit der Pd,<br />

wo diese an der Regierung ist. Außer Sinistra<br />

Critica, die bei den letzten Parlamentswahlen<br />

0,5% erreicht hat, gibt es auf der extremen Linken<br />

noch die Kommunistische Arbeiterpartei<br />

(Pcdl) von Marco Ferrando. Sie hat bei den letzten<br />

Wahlen 0,6% erzielt und bereits erklärt, eine<br />

eigene Liste bei den kommenden Wahlen aufstellen<br />

zu wollen.<br />

6 INPREKORR 468/469


ITALIEN<br />

bündnis hin, das ihnen den Wiedereinzug<br />

ins Parlament ermöglichen soll. Wegen<br />

des italienischen Wahlrechts liefe<br />

ein solches Bündnis auf die Unterstützung<br />

der Pd <strong>als</strong> Spitzenkandidat hinaus,<br />

was de facto ein Verzicht auf eigenständige<br />

politische Ziele beinhaltet. Möglicherweise<br />

entsteht daraus ein „Demokratisches<br />

Bündnis“ mit noch unklaren<br />

Konturen.<br />

Für uns steht nach wie vor – auch<br />

unter schwierigen Bedingungen – auf<br />

der Tagesordnung, eine klassenkämpferische<br />

Linke <strong>als</strong> Alternative zu Pd und<br />

Mitte-Links aufzubauen. Eine antikapitalistische<br />

Linke auf der Grundlage bestimmter<br />

Eckpunkte: keine „demokratische“<br />

Koalition unter Führung der Pd;<br />

ein radikales Programm zur Krisenbewältigung;<br />

eine zukunftsorientierte Perspektive,<br />

die frei von den nostalgischen<br />

Zügen ist, von denen die klassenkämpferische<br />

Linke Italiens noch immer<br />

durchdrungen ist, und die umgekehrt in<br />

der Lage ist, eine erfindungsreiche politische<br />

Alternative anzubieten; ein Anziehungspunkt<br />

für soziale Bewegungen,<br />

Streikkomitees und v. a. die jüngere Generation,<br />

die für sozialen Widerstand<br />

und alternative Politik empfänglicher ist.<br />

Im Falle vorgezogener Neuwahlen, aber<br />

auch in Hinblick auf die Kommunalwahlen<br />

im nächsten Frühjahr, beabsichtigen<br />

wir, an der Entstehung einer antikapitalistischen<br />

Liste mit den genannten<br />

Charakteristika mitzuwirken. Unser Anliegen<br />

ist nicht, das Fähnlein von Sinistra<br />

Critica hochzuhalten und unsere Eigenkandidatur<br />

zu propagieren. Wir wollen<br />

einen Prozess in Gang setzen, der in<br />

ein attraktives, phantasievolles und im<br />

Kampf nützliches Projekt einmündet<br />

und die Erfahrungen der Kämpfe und<br />

die Impulse der jüngeren Generation<br />

aufgreift. Mit diesem Vorschlag werden<br />

wir uns an alle geeigneten politischen<br />

und sozialen Kräfte wenden, um dafür<br />

einzutreten, dass unser Leben mehr wert<br />

ist <strong>als</strong> deren Profite.<br />

Salvatore Cannavò gehört dem Büro der IV. Internationale<br />

und der Leitung der italienischen<br />

Organisation Sinistra Critica (Kritische Linke)<br />

an, die auf ihrer nationalen Konferenz im<br />

November 2009 beschlossen hat, Beziehungen<br />

der „politischen Solidarität“ zur IV. Internationale<br />

aufzunehmen und in sie ihre eigene historische<br />

Erfahrung einzubringen.<br />

Übersetzung: MiWe<br />

Von der KPI zur<br />

Demokratischen Partei<br />

Lidia Cirillo<br />

<strong>Die</strong> Demokratische Partei (PD) –<br />

Nachfahr der KPI-Mehrheit – hat bei<br />

den Europawahlen vom Juni 2009 gerade<br />

mal 26,13 % der Stimmen erhalten.<br />

Bei den Parlamentswahlen 2008<br />

waren es noch 33,2 % gewesen, schon<br />

dam<strong>als</strong> ein Rückgang um 5 180 000<br />

WählerInnen gegenüber den Wahlen<br />

von 2006, aus denen die Mitte-Links-<br />

Regierung von Romano Prodi hervorgegangen<br />

war. Angeschlagen musste<br />

sie bereits nach zwei Jahren das Feld<br />

für Silvio Berlusconi und seine Mitte-<br />

Rechts-Regierung räumen.<br />

<strong>Die</strong>se Wahlergebnisse spiegeln das<br />

Ausmaß der Krise dieser „Linken“ wider,<br />

sagen aber wenig aus über deren<br />

Beschaffenheit und Dynamik. Aussagefähiger<br />

war da schon die Wahlkampagne<br />

der PD, die überwiegend auf<br />

die Person ihres vorläufigen und wenig<br />

charismatischen Führers Dario<br />

Franceschini zugeschnitten war, indem<br />

die ehemaligen KP-WählerInnen<br />

wiederholt aufgerufen wurden, sich<br />

bei der Wahl nicht zu enthalten. Tatsächlich<br />

war in den Jahren zuvor die<br />

Zahl der NichtwählerInnen immer<br />

mehr gestiegen, was hauptsächlich zu<br />

Lasten der Linken gegangen war. Zum<br />

Teil könnten diese sicherlich wieder<br />

gewonnen werden, sofern eine Wahl<br />

in Zeiten einer starken Polarisierung<br />

stattfindet oder eine Reaktion auf die<br />

Regierungspolitik der Rechten darstellt.<br />

Aber der andere Teil unter ihnen<br />

repräsentiert ein für Italien relativ<br />

neues Phänomen, nämlich dass ein<br />

großer Teil der politisch aktiven Kräfte<br />

in der Gesellschaft sich nicht nur<br />

mit keiner der politischen Parteien<br />

mehr identifiziert, sondern Wahlen<br />

<strong>als</strong> nutzloses und verzichtbares Ritual<br />

empfindet.<br />

Ein weiteres bezeichnendes Charakteristikum<br />

der Wahlkampagne war<br />

das Bemühen, gegen das Medienmonopol<br />

von Silvio Berlusconi anzukämpfen<br />

und Zugang zum Wähler zu<br />

finden. Berlusconi kontrolliert inzwischen<br />

fünf der sechs großen Fernsehsender,<br />

die ihm teils gehören, teils unter<br />

der Kontrolle seiner Regierung stehen.<br />

Auch in dieser Hinsicht wurde<br />

der Wahlkampf nach US-Manier geführt:<br />

der PD-Vorsitzende begab sich<br />

persönlich ins Getümmel verschiedener<br />

Städte, durchquerte sie inmitten<br />

eines kleinen Pulks von Parteigängern<br />

in Trikots mit dem Emblem der Partei<br />

und zeigte Hände schüttelnd sein<br />

Grinsgesicht. Abgesehen von der völligen<br />

Wirkungslosigkeit einer solchen<br />

Kampagne hält sie auch keinem Vergleich<br />

mit der Fähigkeit der Rechten<br />

stand, die WählerInnen direkt an sich<br />

binden zu können.<br />

<strong>Die</strong> PD – und darüber hinaus die<br />

gesamte Linke – leidet unter dem<br />

schwerwiegenden Problem, dass keine<br />

organische Verbindung zu den gesellschaftlichen<br />

Kräften mehr vorhanden<br />

ist. In dieser Hinsicht ist ihnen<br />

die Rechte überlegen, dank der Medien<br />

und anderer Anstalten zur Berieselung<br />

der Gesellschaft, wie der katholischen<br />

Kirche und dem organisierten<br />

Verbrechen. Das heißt natürlich nicht,<br />

dass diese beiden sich mit der Rechten<br />

offen vereinigen oder ihr zu <strong>Die</strong>nsten<br />

stehen. Sie tragen vielmehr auf ihre<br />

jeweilige Weise zu dem „reaktionären<br />

Sumpf“ (Gramsci) bei, der spezifisch<br />

für die konservativen Kräfte der italienischen<br />

Gesellschaft ist.<br />

<strong>Die</strong> organisatorische Krise der alten<br />

KPI lässt sich in wenigen Zahlen<br />

wiedergeben. Im Jahr 1989, <strong>als</strong> die<br />

Partei Namen und Symbol wechselte,<br />

zählte sie noch fast anderthalb Millionen<br />

Mitglieder, wobei sie gegenüber<br />

dem Vorjahr bereits 50 000 verloren<br />

hatte. Ein Jahr nach der Wende waren<br />

weitere 200 000 ausgetreten und 1992<br />

hatte die Partei der Demokratischen<br />

Linken (PDS), wie sie nunmehr hieß,<br />

bloß noch 789 000 Mitglieder, <strong>als</strong>o<br />

halb soviel wie 1989 und lediglich ein<br />

Drittel wie zu der Zeit Enrico Berlin-<br />

INPREKORR 468/469 7


ITALIEN<br />

der Rechten bei einem Teil der Wähler<br />

Abscheu provoziert und nicht weil<br />

diese die politische Theorie und Praxis<br />

der PD teilen oder auch nur kennen<br />

würden. Gleichwohl geht in den Führungskreisen<br />

und innerhalb der Linken<br />

im Allgemeinen die Furcht vor einer<br />

„strukturellen Schwäche“ der Partei<br />

um, zumal die anderen politischen<br />

Formationen nicht fähig scheinen, sie<br />

aktuell zu ersetzen. Allein, dass die<br />

Führung der PD das schlechte Ergebnis<br />

der Europawahlen eher erleichtert<br />

hingenommen hat, spricht Bände und<br />

zeigt, dass ihnen das Ausmaß der Krise<br />

bewusst ist.<br />

Delegierte der PD<br />

guers. 1 Als sich die Partei 2002 nochm<strong>als</strong><br />

in Linksdemokraten (DS) umbenannte,<br />

waren es nur noch 534 000<br />

und seit der Umwandlung zur PD im<br />

Jahr 2007 gibt es gar keine offiziellen<br />

Zahlen mehr. Es ist allgemein bekannt,<br />

dass die Schätzungen hierüber<br />

auf Grundlage der Bescheinigungen<br />

vorgenommen wurden, die an die<br />

Teilnehmer der „Primärwahlen“ über<br />

die Spitzenkandidatur bei den Parlamentswahlen<br />

2006 ausgestellt worden<br />

waren, an denen theoretisch (und<br />

mitunter auch praktisch) gleichermaßen<br />

Mitte-Rechts-WählerInnen teilnehmen<br />

konnten. „Statt um eine flexible<br />

Partei – um einen Slogan von 1989<br />

aufzugreifen – geht es nunmehr um eine<br />

nebulöse Partei“, schreibt Luca Telese<br />

in seiner Analyse über die Mitgliederentwicklung.<br />

2<br />

Bei der Kampagne zu den Europawahlen<br />

2009 schließlich erschien die<br />

Identität der Nachfolgerin der KPI zur<br />

Unkenntlichkeit verblasst. <strong>Die</strong> Rechte<br />

war auf den ersten Blick zu erkennen,<br />

zunächst wegen ihrer Propaganda<br />

gegen die Einwanderer und in zweiter<br />

Linie über die Person ihres Führers,<br />

der den faschistischen Mythos vom<br />

„Mann der Vorsehung“ wiedergab und<br />

1 Enrico Berlinguer war von 1972 bis zu<br />

seinem Tod 1984 Gener<strong>als</strong>ekretär der KPI.<br />

Er löste die KPI aus der Kuratel der UdSSR<br />

und war federführend bei der Entstehung des<br />

„Eurokommunismus“. Unter seiner Führung<br />

erzielte die KPI im Juni 1976 ihr bestes<br />

Wahlergebnis (33,4 % im Parlament und<br />

33,8 % im Senat).<br />

2 Luca Telese: Qualcuno era comunista,<br />

Sperling&Kupfer, 2009, S. 90<br />

sich <strong>als</strong> Macher darstellte, der die Geschicke<br />

des Landes mit dem gleichen<br />

Geschick lenkt, wie er <strong>als</strong> Unternehmer<br />

seine Geschäfte erfolgreich geführt<br />

hat. Hingegen würde sich jemand,<br />

der nicht aufmerksam die Tagespresse<br />

verfolgt hat, schwer getan<br />

haben, etwas über die Positionen der<br />

PD zu sagen. Ebenso über deren Absichten,<br />

zumal die Partei sich anscheinend<br />

selbst nicht darüber im Klaren<br />

ist. Ist sie eine Partei der Mitte, vergleichbar<br />

mit einer weniger korrupten<br />

und klerikalen Christdemokratie?<br />

Oder eine Sozialdemokratie, d. h. eine<br />

Organisation, die sich trotz der unzähligen<br />

Anpassungsmanöver weiterhin<br />

auf die Lohnabhängigen bezieht?<br />

Oder die italienische Variante der Partei<br />

von Kennedy und Obama, wie der<br />

neue Name nahelegt? Damit ist nicht<br />

gemeint, dass solche Überlegungen<br />

ausdrücklich angestellt würden oder<br />

Ausdruck bestimmter Strömungen<br />

wären. <strong>Die</strong>ses Identitätsproblem ist<br />

objektiv vorhanden und die Diskussionen<br />

innerhalb der Parteiführung<br />

thematisieren dies mehr oder minder<br />

klar, bspw. anhand der Mitgliedschaft<br />

in der Sozialdemokratischen Partei<br />

Europas, die bei einem Teil der Partei<br />

auf Widerstand stieß. <strong>Die</strong> Gründung<br />

der Progressiven Allianz der Sozialisten<br />

und Demokraten <strong>als</strong> Gruppe<br />

im Europaparlament hat nur ein aktuelles<br />

Problem beseitigt aber nicht das<br />

viel komplexere der Identität der PD.<br />

Wenn ihr noch immer eine beträchtliche<br />

Wahlunterstützung zuteil<br />

wird, dann nur, weil der Führer<br />

METAMORPHOSE UND IDENTI-<br />

TÄTSKRISE<br />

Um die Gründe für den Zerfall der<br />

größten kommunistischen Partei der<br />

westlichen Welt, die <strong>als</strong> die „nebulöse“<br />

Partei von Dario Franceschini<br />

gestrandet ist, zu benennen, müsste<br />

man auf die Geschichte Europas und<br />

der kommunistischen Bewegung zurückgehen,<br />

was hier zu weit führt. Daher<br />

beschränken wir uns darauf, die<br />

jüngere Entwicklung zu umreißen, die<br />

diese Partei um ihr organisatorisches<br />

Netzwerk gebracht und ihrer Identität<br />

und Selbstsicherheit beraubt hat, sodass<br />

sie jetzt um ihr eigenes Überleben<br />

bangen muss.<br />

Es war am 12. November 1989,<br />

<strong>als</strong> der damalige Gener<strong>als</strong>ekretär der<br />

KPI, Achille Occhetto in der bolognesischen<br />

Sektion kundtat, dass die Partei<br />

ihren Namen ändern müsste. <strong>Die</strong>se<br />

Ankündigung rief einen Aufstand<br />

der Basis hervor, auch wenn diese zuvor<br />

alle Hiobsbotschaften geschluckt<br />

und die Konterkarierung der kommunistischen<br />

Attribute hingenommen<br />

hatte. Am deutlichsten spürbar waren<br />

die Auswirkungen in der Austrittswelle<br />

aus der Partei: gleich 200 000 Austritte<br />

im Jahr danach mit einem anhaltenden<br />

Aderlass in der Folgezeit, wie<br />

oben geschildert. „<strong>Die</strong> Wende“ – wie<br />

sie allgemein bezeichnet wurde – wurde<br />

seither in verschiedener und auch<br />

widersprüchlicher Weise in Biographien,<br />

Autobiographien, Zeitungsartikeln<br />

und Interviews thematisiert. Aber<br />

ungeachtet der persönlichen Färbung<br />

der Darstellung liefern die damaligen<br />

Ereignisse einen deutlichen Einblick<br />

in die Motive dieser Entscheidung.<br />

<strong>Die</strong> Berliner Mauer war gerade ge-<br />

8 INPREKORR 468/469


ITALIEN<br />

fallen, und einige Monate zuvor hatte<br />

das Massaker am Tian’anmen-<br />

Platz Anfang Juni den Kommunismus<br />

von seiner abstoßendsten Seite gezeigt.<br />

In Italien herrschte dam<strong>als</strong> die<br />

„Fünfparteien-Regierung“ 3 , die auf<br />

einem Bündnis zwischen Christdemokratie<br />

und der PSI von Bettino Craxi,<br />

dem Paten und Gönner des Unternehmers<br />

Silvio Berlusconi, gründete.<br />

<strong>Die</strong> Ereignisse in China und Osteuropa<br />

lieferten einen ausgezeichneten<br />

Vorwand, sich auf die KPI einzuschießen,<br />

die schon seit langem unter<br />

dem Druck der intellektuellen und<br />

liberalen SympathisantInnen stand,<br />

Namen und Emblem zu ändern. Zugleich<br />

war dies eine Gelegenheit, sich<br />

mit guten Argumenten von dem gescheiterten<br />

Experiment zu distanzieren<br />

und laut zu beanspruchen, nicht<br />

damit in einen Topf geworfen zu werden.<br />

Es mangelte noch nicht einmal an<br />

einschlägigen Leninzitaten, und hatte<br />

nicht der Führer der Oktoberrevolution<br />

selbst umstandslos den Namen seiner<br />

Partei aus viel geringeren Gründen<br />

<strong>als</strong> den Schandtaten von Stalin,<br />

Pol Pot oder Ceausescu gewechselt?<br />

In der 1991 gegründeten PDS<br />

tobten Grabenkämpfe, ob sie sich<br />

<strong>als</strong> sozialdemokratisch, „Kennedylike“<br />

oder einfach <strong>als</strong> „neu“ verstehen<br />

sollte. Durch den Zusammenschluss<br />

mit Splittern – hauptsächlich<br />

– der ehemaligen Christdemokratie<br />

und PSI entstand 1998 die DS. Und<br />

2007 wurde daraus durch die Fusion<br />

mit einer Partei der Mitte – der Margherita<br />

von Romano Prodi – die PD,<br />

<strong>als</strong> deren Vorsitzender Walter Veltroni<br />

aus Primärwahlen hervorging. Bei<br />

dieser Gelegenheit schlossen sich weitere<br />

Grüppchen und Einzelpersonen<br />

aus der vorm<strong>als</strong> christdemokratischen<br />

Seilschaft an, um Mandatspöstchen zu<br />

ergattern und wieder einer „richtigen“<br />

Partei anzugehören. Aber mit diesen<br />

Wandlungen allein und dem Beitritt<br />

einzelner Fragmente oder auch <strong>ganze</strong>r<br />

Parteien der Mitte lässt sich die Identitätskrise<br />

nicht vollständig erklären.<br />

<strong>Die</strong> Identität einer Partei beruht vielmehr<br />

auf ihrer politischen Praxis …<br />

3 <strong>Die</strong>ser Ausdruck bezeichnet die<br />

Regierungskoalition in Italien 1980–1992, die<br />

aus fünf Parteien bestand: der Christdemokratie<br />

(DC), der Sozialistischen Partei Italiens (PSI),<br />

der Italienischen Sozialdemokratischen Partei<br />

(PSDI), der Italienischen Republikanischen<br />

Partei (PRI) und der Italienischen Liberalen<br />

Partei (PLI)<br />

Von der KPI zur Demokratischen Partei<br />

und genau darin liegt der Schwachpunkt<br />

der PD.<br />

Im Jahr 1996 gelang die Bildung einer<br />

Mitte-Links-Regierung, da sie <strong>als</strong><br />

Hüter des Sozi<strong>als</strong>taats auftreten konnte,<br />

der in der ersten Amtszeit Berlusconis<br />

ab 1994 bereits unter Beschuss<br />

geraten war. <strong>Die</strong>ses Image ging durch<br />

die politische Praxis der zweimaligen<br />

Mitte-Links-Regierung (1996–2001<br />

und 2006–2008) über Bord. <strong>Die</strong> PD<br />

gilt noch nicht einmal <strong>als</strong> eine liberale<br />

Partei, die die bürgerlichen Rechte<br />

garantiert: <strong>Die</strong> im Verlauf der Metamorphose<br />

absorbierten katholischen<br />

Gruppierungen konnten verhindern,<br />

dass in der zweiten Amtszeit Prodi<br />

die Rechte der Homo- und Transsexuellen<br />

anerkannt wurden, und sogar<br />

ein harmloses Gesetz gegen Homophobie<br />

erfolgreich blockieren. <strong>Die</strong> PD<br />

war aber nicht nur an der Regierung<br />

wenig erfolgreich, auch <strong>als</strong> Oppositionspartei<br />

tut sie sich schwer. Sie kann<br />

nicht die Rechte auf deren ureigenen<br />

Terrain ausstechen, auch wenn es an<br />

derlei Versuchen nicht gefehlt hat. Der<br />

Rassismus und das Spiel mit den Ängsten<br />

seitens der italienischen Rechten<br />

überschreiten in der Tat für gemäßigte<br />

Kräfte die Grenzen des Hinnehmbaren<br />

und selbst die katholische Amtskirche<br />

hat mehrere Male interveniert und zu<br />

Gemeinsinn und Mäßigung aufgerufen.<br />

<strong>Die</strong> PD kann die politische Auseinandersetzung<br />

auch nicht einfach umbiegen<br />

und sich zum Sachwalter der<br />

Rechte der Lohnabhängigen machen,<br />

da sich sämtliche Parteiflügel einschließlich<br />

der Ex-KPI für die „wirtschaftliche<br />

Entwicklung“ und die Interessen<br />

der „produktiven Schichten“<br />

(wie in der PD die Klein- und Großunternehmer<br />

genannt werden) stark machen.<br />

Außerdem kommt angesichts<br />

der Wirtschaftskrise ein Selbstverständnis,<br />

das auf Maßhalten und Geduld<br />

(das Wort „geduldig“ ist das<br />

von Veltroni meist gebrauchte) setzt,<br />

schlecht an beim Volk, das zu Recht in<br />

Wallung ist, aber von der Rechten gegen<br />

die ImmigrantInnen <strong>als</strong> Sündenbock<br />

aufgewiegelt wird.<br />

DER TIEFGREIFENDE WANDEL<br />

DER ITALIENISCHEN GESELL-<br />

SCHAFT<br />

<strong>Die</strong> damalige KP und ihre Nachfolger<br />

haben die Umbrüche und Transformationsprozesse<br />

der Gesellschaftsstruktur<br />

mitgemacht, ohne recht zu verstehen,<br />

was vor sich ging. In ihren Augen<br />

war das Ende des dreißigjährigen<br />

Wirtschaftswachstums (1945–1975)<br />

eine Konjunkturkrise. Den Prozess<br />

der Globalisierung und Finanzialisierung<br />

(Kasino-Kapitalismus) haben sie<br />

<strong>als</strong> Bestätigung der unbeugsamen Vitalität<br />

des Kapitalismus begriffen und<br />

überhaupt nicht wahrgenommen, welche<br />

Destruktivkraft in der Offensive<br />

des Kapit<strong>als</strong> gegen die Lohnabhängigen<br />

steckt. Natürlich ging es nicht in<br />

erster Linie um die mangelnde Auffassungsgabe,<br />

sondern KPI, PDS,DS<br />

und PD haben nacheinander genau die<br />

Rolle gespielt wie die Sozialdemokratie<br />

im übrigen Europa und aktiv an der<br />

Niederlage der Lohnabhängigen mitgewirkt.<br />

Im Lauf der letzten Jahrzehnte sind<br />

die Bindungen der Partei an die unteren<br />

Schichten, die sich bereits während<br />

der 80er Jahre gelockert hatten,<br />

völlig zerrissen. Wie überall haben<br />

in Italien die Niederlagen, die Prekarisierung,<br />

das Outsourcing etc. dazu<br />

beigetragen, das Terrain zu destabilisieren,<br />

in dem die KPI verwurzelt<br />

war. Aber mehr <strong>als</strong> sonstwo hat in Ita-<br />

INPREKORR 468/469 9


ITALIEN<br />

lien die Krise der Großfabriken die<br />

Reorganisierung der Lohnabhängigen<br />

in jeder Form erschwert. Als es Ende<br />

der 60er Jahre einen starken Anstieg<br />

der Arbeiterkämpfe gab, verfügte Italien<br />

über ein Netz von Industriekomplexen,<br />

das zu den größten in Europa<br />

zählte und bis Mitte der 80er Jahre<br />

zum Ausgangspunkt der sozialen<br />

Kämpfe wurde. Aber um diese großen<br />

Fabriken herum siedeln sich kleine<br />

und kleinste Unternehmen an, die oft<br />

unter dem Druck stehen, sich an Fiskus,<br />

gesetzlichen Auflagen und Konflikten<br />

mit den Gewerkschaften vorbei<br />

zu lavieren. Nachdem die großen<br />

Fabriken geschlossen worden sind, ist<br />

das <strong>ganze</strong> Gefüge auseinander gebrochen<br />

und zerfallen, wodurch die Konsequenzen<br />

dieser ansonsten universalen<br />

Entwicklung für Italien besonders<br />

schwerwiegend waren.<br />

Wie überall hat in Italien der systematische<br />

Abbau der tariflichen Arbeitsplätze<br />

die Gewerkschaften geschwächt,<br />

auch wenn die CGIL in gewissem<br />

Maß weiterhin handlungsfähig<br />

ist und über sie die PD noch über<br />

indirekten Zugang zu den unteren<br />

Schichten verfügt.<br />

Stärker <strong>als</strong> in anderen Ländern hat<br />

die Krise der italienischen Gewerkschaften<br />

irreparable Schäden hinterlassen.<br />

Nach 1969 waren die Gewerkschaften<br />

knapp zwanzig Jahre lang<br />

in Form von Räten, die von den ArbeiterInnen<br />

gewählt wurden, organisiert<br />

und diese Räte waren von fundamentaler<br />

Bedeutung in den Zeiten<br />

der großen Kämpfe und Widerstandsaktionen.<br />

Der Niedergang und das<br />

schließliche Ende des „Rätesyndikalismus“<br />

waren nicht nur die Folge sondern<br />

zugleich die Ursache der Zersetzung<br />

der sozialen Strukturen. <strong>Die</strong> Arbeiterklasse<br />

in den großen Fabriken<br />

(Fiat, Alfa Romeo, It<strong>als</strong>ider etc.) erlitt<br />

eine entscheidende Niederlage gegen<br />

die Unternehmer, weil eben die<br />

Räte die Kraftprobe mit der Gewerkschaftsbürokratie<br />

verloren haben. Wie<br />

sehr sich die Bürokratie – und leider<br />

sie allein – der Bedeutung dieses Konflikts<br />

voll bewusst war, davon zeugt<br />

die Lektüre der damaligen Gewerkschaftspresse.<br />

DER STRUKTURELLE WANDEL<br />

DES PARTEIMODELLS<br />

<strong>Die</strong> Aufspaltung und Streuung der<br />

Lohnabhängigen erschweren deren<br />

Reorganisierung in jeder Hinsicht.<br />

Aber jenseits dieser objektiven<br />

Schwierigkeiten stellt sich die PD<br />

gar nicht erst den Problemen, zu deren<br />

Lösung sie strukturell unfähig ist.<br />

Und dieser Umstand verdammt die<br />

linken Kräfte innerhalb der Organisation<br />

zu ewigem Verlieren. Sie waren<br />

sich zwar oft darüber im Klaren,<br />

welcher Voraussetzungen es bedurfte,<br />

um den Verfall der sozialen Kräfteverhältnisse<br />

aufzuhalten, aber sie richteten<br />

sich damit an eine Partei, die weder<br />

fähig noch willens war, sich damit<br />

aufzuhalten.<br />

Seit 1997 ist die Bildung von Strömungen<br />

innerhalb der Partei erlaubt.<br />

Aber da gibt es Überschneidungen<br />

und Vermischungen mit anderen Interessenssphären,<br />

wo es um Macht geht.<br />

<strong>Die</strong> vorm<strong>als</strong> monolithische Partei hat<br />

einen zunehmenden Balkanisierungsprozess<br />

durchgemacht, in dem führende<br />

Mitglieder eine Entourage von<br />

Zeitungen, Magazinen, Stiftungen,<br />

Verbänden etc. schaffen, um Karriere<br />

zu machen. <strong>Die</strong>ser Mechanismus<br />

erinnert an die „Notabeln“ in der früheren<br />

Christdemokratie, in der bestimmte<br />

Personen die Mitgliedschaften<br />

und die Klientel kontrollierten. Allerdings<br />

verhält es sich nicht so, dass<br />

für diese Zustände in der PD v. a. die<br />

ehemaligen Christdemokraten verantwortlich<br />

wären. Überwiegend handelt<br />

es sich dabei um einen substantiellen<br />

Umwandlungsprozess innerhalb der<br />

Bürokratie der KPI, der in gewisser<br />

Weise mit dem der ehemaligen Nomenklatura<br />

in Osteuropa vergleichbar<br />

ist. <strong>Die</strong> immerwährende Anpassung<br />

an das bestehende politische und soziale<br />

Umfeld und die Auswahlkriterien<br />

für den Führungsnachwuchs haben eine<br />

Politikerkaste herangezüchtet, die<br />

von primitiven materiellen Motiven<br />

und starken Partikularinteressen umgetrieben<br />

wird. <strong>Die</strong>se Führer, die in<br />

erster Linie um Posten in Partei und<br />

Institutionen schachern, haben absolut<br />

kein Interesse, sich mit der undankbaren<br />

und ungewissen Aufgabe zu befassen,<br />

die Arbeiterbewegung wieder<br />

aufzubauen. Indem das traditionelle<br />

Modell des Parteikaders quasi ausgestorben<br />

ist, ist auch das unerlässliche<br />

Bindeglied zwischen Parteiapparat<br />

und Gesellschaft verschwunden. Zwar<br />

verfügt die PD noch immer über Sektionen,<br />

aber die fungieren <strong>als</strong> Wahlkomitees<br />

und sind weit weniger effizient<br />

<strong>als</strong> in der Vergangenheit.<br />

Dennoch bleibt es der PD unbenommen,<br />

dass sie noch immer in der<br />

Lage ist, Massen zu vereinen, Primärwahlen<br />

mit hunderttausenden von<br />

Teilnehmern durchzuführen und zu<br />

Massenkundgebungen aufzurufen.<br />

Aber dies sind Ausnahmeereignisse<br />

und das teilnehmende undifferenzierte<br />

„Volk“ aus Mitgliedern und SympathisantInnen<br />

bleibt bis zur nächsten<br />

Veranstaltung passiv.<br />

EINE ANDERE GESCHICHTE<br />

Um den Abgesang der KPI wirklich zu<br />

verstehen, müsste auch auf diejenigen<br />

eingegangen werden, die die „Wende“<br />

abgelehnt und die Partei der Kommunistischen<br />

Wiedergründung (PRC) gegründet<br />

haben. <strong>Die</strong>ses Thema hätte eine<br />

lange Serie von Spaltungen, Ausschlüssen<br />

und Brüchen zum Inhalt.<br />

Das Erbe der KPI teilen sich gegenwärtig<br />

diejenigen, die den Namen<br />

der PRC beibehalten haben, und diejenigen,<br />

die dem ehemaligen Parteivorsitzenden<br />

Fausto Bertinotti gefolgt<br />

sind und die Sinistra ecologia e Libertà<br />

(SeL) gegründet haben. Auch wenn<br />

sich deren Geschichte von der der PD<br />

unterscheidet, ähneln sich die Ergebnisse<br />

ziemlich: Misserfolge bei den<br />

Wahlen (weder PRC noch SeL konnten<br />

Sitze im italienischen oder europäischen<br />

Parlament erringen), ambivalente<br />

Haltung gegenüber den Interessen<br />

der Arbeiterklasse, Hammer und<br />

Sichel – ja oder nein, mangelnde soziale<br />

Verankerung, innere Zersplitterung,<br />

Aufweichung der Kaderstrukturen, interne<br />

Machtkämpfe, Pöstchenjägerei.<br />

Lidia Cirillo, Mitglied der nationalen Koordination<br />

von Sinistra Critica und Redakteurin<br />

der Zeitschrift ERRE. Mitglied der IV. Internationale<br />

seit 1966, Mitbegründerin des Weltfrauenmarsches<br />

in Italien und Gründerin der<br />

feministischen Zeitschrift QUADERNI VIO-<br />

LA. Verfasserin zahlreicher Werke.<br />

Übersetzung: MiWe<br />

10 INPREKORR 468/469


SPANIEN<br />

Der Beginn einer neuen Etappe<br />

Lluís Rabell<br />

Es wäre unnütz, einige Tage vorher,<br />

über die Beteiligung am Gener<strong>als</strong>treik<br />

zu spekulieren. Aber unabhängig davon,<br />

was letztendlich an diesem Gener<strong>als</strong>treik<br />

erfolgreich sein wird und<br />

wo sich seine Grenzen zeigen werden,<br />

bleibt eine Sache auch schon vorher<br />

sicher feststellbar: <strong>Die</strong>ser Aufruf<br />

der Gewerkschaften beendet einen<br />

langen Abschnitt ziemlich ruhiger<br />

gesellschaftlicher Beziehungen<br />

im Spanischen Staat und führt uns in<br />

eine neue, vermutlich unruhigere und<br />

ungewissere Etappe, die die aus der<br />

Transición 1 geerbten wirtschaftlichen<br />

Grundmodelle genauso wie die politischen<br />

Einrichtungen <strong>als</strong> auch den organisatorischen<br />

Rahmen der Arbeiterbewegung<br />

zur Disposition stellt.<br />

<strong>Die</strong> Krise des globalisierten Kapitalismus<br />

schlug in der spanischen<br />

Ökonomie, deren Parameter in Europa<br />

am glaubwürdigsten durch diese<br />

Globalisierung geformt worden waren,<br />

besonders heftig ein. Das „wunderbare“<br />

Modell des spanischen Wirtschaftswachstums<br />

– 2008 konnte Zapatero<br />

sogar verwegen behaupten,<br />

dass „wir in der Champions League<br />

der Weltwirtschaft spielen“ – kollabierte<br />

sprichwörtlich im Strudel der<br />

von der Wall Street ausgehenden Finanzkrise.<br />

Eigentlich basierte die spanische<br />

Wirtschaft auf einer gigantischen<br />

Spekulationsblase im Immobiliensektor,<br />

die Motor des 15jährigen<br />

Wachstums des Bruttoinlandprodukts<br />

gewesen war. <strong>Die</strong> sich daraus ergebende<br />

Konjunktur verhüllte aber die<br />

reale strukturelle Schwäche, die dann<br />

von der Krise gnadenlos enthüllt wurde,<br />

gefolgt von enormen sozialen Verwerfungen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit pendelte<br />

sich bei rund 20 % der erwerbsfähigen<br />

Bevölkerung ein und ist damit<br />

rund doppelt so hoch wie der EU-<br />

Durchschnitt. Rund ein Viertel der<br />

Bevölkerung erfüllt die Lebensbedingungen<br />

der Armut und 1 Million Menschen<br />

überlebt nur durch soziale und<br />

1 Übergangsphase vom Franco-Regime zur<br />

konstitutionellen Monarchie, 1975-1981/82<br />

wohlfahrtstaatliche Hilfen. Nach einigen<br />

Schätzungen werden in den nächsten<br />

18 Monaten rund 350 000 Familien<br />

ihr Haus verlieren, da sie ihre Hypotheken<br />

nicht auslösen können. <strong>Die</strong><br />

Illusion von Wachstum und Reichtum<br />

hat sich endgültig in Luft aufgelöst<br />

und hinterlässt eine bittere Narbe<br />

der Enttäuschung in der Gesellschaft.<br />

EIN GESCHEITERTES MODELL<br />

Es muss festgestellt werden, dass alle<br />

Triebkräfte des neoliberalen spanischen<br />

Modells schon die Keime des<br />

jetzigen Scheiterns beinhalteten. Unter<br />

dem Antrieb der „fortschrittlichen“<br />

Regierungen von Felipe González<br />

passte der Spanische Staat seine Wirtschaft<br />

den Forderungen der europäischen<br />

Bauwirtschaft an. <strong>Die</strong> Schwerindustrien<br />

in staatlicher Hand – Schiffbau,<br />

Metallverarbeitung, Teile des<br />

Bergbaus … – wurden seit den 1980er<br />

Jahren geschliffen. Das Land verwandelte<br />

sich in eine Spielwiese für die<br />

großen multinationalen Unternehmen,<br />

deren Investitionen durch zahlreiche<br />

administrative Anreize und Erleichterungen<br />

begünstigt wurden. Durch<br />

diese Rahmenbedingungen blühte ein<br />

dichtes Netz von Zulieferfirmen – immer<br />

abhängig von den Entscheidungen<br />

der großen Wirtschaftsunternehmen.<br />

Während des Höhepunkts dieser neoliberalen<br />

Politik in den 1990er Jahren<br />

und massiv unterstützt durch die konservative<br />

Regierung Aznars wurden<br />

die zentralen Sektoren im Energieund<br />

Kommunikationsbereich privatisiert.<br />

Das neu geschriebene Bodengesetz<br />

verwandelte das gesamte Territorium<br />

in Bauland und entfesselte eine<br />

Expansion des Immobilienmarktes,<br />

die keine Grenzen zu kennen schien.<br />

In den 20 Jahren vor der jetzigen Wirtschaftskrise<br />

wurde z. B. in Katalonien<br />

mehr gebaut <strong>als</strong> in der gesamten Zeit<br />

von der römischen Antike bis zum Ende<br />

der Francozeit. In dieser Zeit wurde<br />

im Spanischen Staat mehr gebaut <strong>als</strong><br />

in Frankreich, Deutschland und Großbritannien<br />

zusammen.<br />

<strong>Die</strong> Folgen dieser unbeschränkten<br />

Entwicklung des Produktionsmodells<br />

in Kombination mit einer strikten<br />

Orientierung zugunsten des Tourismus<br />

und des <strong>Die</strong>nstleistungssektors<br />

insgesamt haben einen tiefgreifenden<br />

Wandel des Landes bewirkt,<br />

der in allen Bereichen spürbar ist. <strong>Die</strong><br />

Städte haben sich weitläufig ausgedehnt.<br />

Das Land wurde durch die unnachhaltige<br />

Bauwut an den Stadträndern<br />

übel zugerichtet. Der Druck dieses<br />

Wachstumsmodells, das Eindringen<br />

der großen multinationalen Handelsunternehmen<br />

und die Ausdehnung<br />

des Agrarhandels – gefördert durch<br />

die EU-Politik – veränderte das Gesicht<br />

der Landschaft grundlegend und<br />

begünstigte den Zuzug der Bevölkerung<br />

in die großen Städte. In Katalonien<br />

ist nur noch 1 % der Bevölkerung<br />

in der Landwirtschaft tätig, im gesamten<br />

Spanischen Staat sind es weniger<br />

<strong>als</strong> 5 %. <strong>Die</strong> Bevölkerungsentwicklung<br />

und die ethnische und kulturelle<br />

Zusammensetzung der Bevölkerung<br />

veränderten sich: Aufgrund der Migration<br />

stieg die Bevölkerung in Katalonien<br />

inerhalb von zehn Jahren von 6<br />

auf 7,5 Millionen Menschen.<br />

<strong>Die</strong>se Jahre der Veränderung der<br />

wirtschaftlichen und sozialen Situation<br />

des Landes mussten jedoch zwangsläufig<br />

zu signifikanten Änderungen in<br />

den Arbeitsbeziehungen und den Bedingungen<br />

der Arbeiterbewegung führen.<br />

Von den unterschiedlichen Regierungen<br />

wurden wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen<br />

durchgeführt,<br />

die die durch die Arbeiterbewegung<br />

erreichten Errungenschaften<br />

und Rechte untergruben. Durch den<br />

machtvollen, von den Gewerkschaften<br />

CCOO 2 und UGT 3 ausgerufenen<br />

Gener<strong>als</strong>treik am 14 Dezember 1988<br />

wurde die „sozialistische“ Regierung<br />

von Felipe González gezwungen, ihre<br />

geplanten Arbeitsreformen zurückzuziehen<br />

und stattdessen die Sozial-<br />

2 Gewerkschaft, die der kommunistischen Partei<br />

nahesteht.<br />

3 Gewerkschaft, die der „sozialistischen“ PSOE<br />

nahesteht.<br />

INPREKORR 468/469 11


SPANIEN<br />

Protest vor dem Finanzministerium im Madrid: Angestellte des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes im<br />

Streik (8.6.2010)<br />

ausgaben in den folgenden Jahren zu<br />

erhöhen, die dam<strong>als</strong> deutlich unter<br />

dem europäischen Durchschnitt lagen.<br />

Trotzdem gelang es der neoliberalen<br />

Politik seit den 1990er Jahren, die Arbeitsschutzrechte<br />

und die Löhne abzubauen.<br />

Nach dem wenig erfolgreichen<br />

Gener<strong>als</strong>treik 1994 begann in diesen<br />

Gewerkschaften erneut eine Dynamik<br />

der Sozialpartnerschaft und zurückhaltenden<br />

Taktik, wie sie seit 1977 sowohl<br />

unter rechten wie linken Regierungen<br />

üblich war. Lediglich der Gener<strong>als</strong>treik<br />

im Juni 2002 gegen eine<br />

Gesetzesreform der zu diesem Zeitpunkt<br />

schon unbeliebten Aznar-Regierung,<br />

die die Rechte der Arbeitslosen<br />

beschneiden wollte, unterbrach diese<br />

Politik des „sozialen Friedens“.<br />

<strong>Die</strong> letzten 15 Jahre waren entscheidend,<br />

da sie einen Prekarisierungsprozess<br />

in den Arbeitsverträgen,<br />

sowohl im privatwirtschaftlichen<br />

wie auch im staatlichen Sektor,<br />

und die Vertiefung der sozialen Ungleichheit<br />

mit der Illusion des trickle<br />

down des Reichtums verbunden haben.<br />

<strong>Die</strong> spanische Wirtschaft hat mit<br />

gut 2 Millionen Arbeitslosen <strong>als</strong> Sockel<br />

ein beachtliches Niveau struktureller<br />

Arbeitslosigkeit. <strong>Die</strong> Wirtschaft<br />

war durch Schwankungen geprägt.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitsplätze verwandelten sich<br />

in unsichere Stellen, unvorhersehbare<br />

Kündigungen nahmen zu. Aber<br />

dank der Nachfrage im Bauwesen<br />

und <strong>Die</strong>nstleistungssektor gab es eine<br />

feste Nachfrage nach Arbeitskräften.<br />

<strong>Die</strong> Charakteristiken dieser beiden<br />

Sektoren erklären auch die Nachfrage<br />

nach MigrantInnen, die zugleich<br />

beschimpft wie benötigt werden. <strong>Die</strong><br />

Gehälter verloren an Kaufkraft. Aber<br />

die Kredite waren günstig – und durch<br />

die Banken wie die öffentliche Hand<br />

propagiert – und erlaubten den Familien<br />

ein Konsumniveau aufrecht zu erhalten,<br />

das nicht mehr mit ihren Einkünften<br />

übereinstimmte. In Spanien<br />

kam es zu einem ähnlichen Phänomen<br />

wie im US-amerikanischen Immobiliensektor.<br />

So etwas Ähnliches wie Sozialbauwohnungen<br />

gibt es nicht. <strong>Die</strong><br />

Regierungen förderten das Geschäft<br />

der Banken und Baufirmen, indem sie<br />

den hypothekengestützten Kauf von<br />

Wohnungen und Häusern durch die<br />

Begünstigung der Kreditabschlüsse<br />

mittels Steuernachlässen anstachelten.<br />

Parallel dazu und trotz des Wachstums<br />

des BIP blieben die öffentlichen <strong>Ausgabe</strong>n<br />

für Bildung, Gesundheit und<br />

Sozialversorgung weiterhin 9 Punkte<br />

unter dem Mittel des „Europa der 15“.<br />

Alles in allem wurde eine schadhafte<br />

Realität des Sozialgefüges hinter der<br />

Fassade einer Scheinprosperität verborgen.<br />

DIE AUSWIRKUNGEN DER<br />

KRISE<br />

<strong>Die</strong>ser Abbau des Arbeitsmarktes und<br />

die Zerbrechlichkeit der spanischen<br />

Wirtschaftsstruktur erklären die blitzschnellen<br />

Auswirkungen der Krise. Im<br />

Herbst 2008 gab es eine Welle von Firmenschließungen<br />

und Belegschaftsreduzierungen<br />

– mit Pirelli oder Nissan<br />

<strong>als</strong> besonders auffälligen Beispielen.<br />

<strong>Die</strong> Antwort der Gewerkschaften<br />

war, jeden Fall einzeln zu verhandeln.<br />

Gleichzeitig reklamierten sie vergeblich<br />

auf nationaler Ebene einen sozialen<br />

Dialog mit den Kapitalverbänden<br />

und der Regierung, um gemeinsam<br />

die Krise zu meistern. Gleichwohl war<br />

die Mehrzahl der neuen Arbeitslosen<br />

nicht Opfer der Auswirkungen der Regulierungsgesetze<br />

[ERE: spanisches<br />

Gesetz, das in Krisenzeiten außerordentliche<br />

Kündigungen ermöglicht],<br />

sondern sie stammten aus prekären<br />

Arbeitsverträgen, die nun nicht<br />

erneuert wurden und des Pleitegehens<br />

der zahlreichen „selbständigen“<br />

ArbeiterInnen. Das Bauwesen kam<br />

über Nacht zum Erliegen und hinterließ<br />

über eine Million neue und unverkaufte<br />

Wohnungen und Häuser. <strong>Die</strong><br />

Kredite versiegten und dies beschleunigte<br />

den Zusammenbruch von tausenden<br />

kleinen Firmen und Geschäften.<br />

<strong>Die</strong> Bank von Spanien ist ein besonderer<br />

Fall: sowohl durch ihren entscheidenden<br />

Einfluss in der Politik,<br />

<strong>als</strong> auch aufgrund der unglaublichen<br />

Privilegien, die sie genießt. Es reicht<br />

zu erwähnen, dass im Falle der Zahlungsunfähigkeit<br />

die Banken nicht nur<br />

die Zwangsräumung der Familien erreichen,<br />

sondern auf den Versteigerungen<br />

trickreich auch die Wohnung<br />

– und dies meistens zu halbem Preis<br />

– und dann noch den Rest der Hypothekenschuld<br />

versuchen einzutreiben.<br />

<strong>Die</strong> defizitären Zahlungsbilanzen<br />

(der Wert der Importe übersteigt den<br />

der Exporte 4 ) bedingten, dass die spanischen<br />

Kreditinstitute seit Jahren sich<br />

um Kapital auf dem interbankären europäischen<br />

Markt bemühen mussten<br />

um in Spanien Geld verleihen und Geschäfte<br />

tätigen zu können – besonders<br />

um Immobiliengeschäfte zu finanzie-<br />

4 <strong>Die</strong> hier definierte Handelsbilanz ist nur<br />

ein – wenn auch sehr wichtiger – Teil der<br />

Zahlungsbilanz [Anm. d. Red.]<br />

12 INPREKORR 468/469


SPANIEN<br />

ren und für deren Kauf Kredite vergeben<br />

zu können. <strong>Die</strong> Zapatero-Regierung<br />

mobilisierte enorme Mengen an<br />

öffentlichen Geldern (260 000 Millionen<br />

Euro) um eine Krise unvorhersehbaren<br />

Ausmaßes im Finanzbereich zu<br />

vermeiden. <strong>Die</strong> Banken nutzten diese<br />

Finanzspritzen und Bürgschaften vor<br />

allem, um ihre Bilanzkonten zu sanieren<br />

und danach, um auf das Defizit<br />

des Staates zu spekulieren, indem<br />

sie Teile der öffentlichen Schuld kauften<br />

– aufgenommen eben darum, um<br />

die Kosten der Rettung des Bankensektors<br />

zu finanzieren. (Ungefähr die<br />

Hälfte davon ist in den Händen der<br />

großen europäischen Finanzinstitute.<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Bank besitzt mehr <strong>als</strong><br />

45 000 Millionen Euro an spanischen<br />

Staatsschulden).<br />

<strong>Die</strong> Kreditvergabe bleibt weiterhin<br />

blockiert und die nationale Wirtschaft<br />

verharrt in der Rezession. Währenddessen<br />

sitzen die Banken, die sich<br />

in Besitzerinnen von Tausenden von<br />

Wohnungen, Ausschreibungen und<br />

Grundstücken verwandelt haben, auf<br />

offensichtlich gefälschten Bilanzen<br />

mit überbewerteten Aktiva, die sie<br />

nur künstlich aufrecht erhalten können.<br />

Nach Meinung von ExpertInnen<br />

müsste sich der Preis des Wohnraums<br />

mindestens um 30 % verringern, um<br />

den Markt wieder zu reaktivieren.<br />

Und die Zukunft hält für uns neue<br />

Schrecken bereit. Um die Gesamtlage<br />

zu vervollständigen, bleibt hinzuzufügen,<br />

dass das spanische Steuerrecht<br />

eines der regressivsten in Europa ist.<br />

Mitten in der Krise wurden die Steuergeschenke<br />

an die Firmen und Besitzenden<br />

von Vermögen vervielfacht.<br />

<strong>Die</strong> Investmentgesellschaften mit variablem<br />

Kapital – SICAV – zahlen nur<br />

1 % des Kapit<strong>als</strong>. Und der Anteil der<br />

vor der Steuer verborgenen Ökonomie<br />

wird vom Finanzministerium auf<br />

23 % des BIP geschätzt.<br />

All dieses hilft zu verstehen, wie<br />

zerbrechlich die spanische Wirtschaftssituation<br />

ist. Aber auch die endemische<br />

Korruption des neoliberalen<br />

Wirtschaftsmodells und die Offensive<br />

der herrschenden Klassen in<br />

der momentanen Situation werden so<br />

verständlich. <strong>Die</strong> antisoziale Wende<br />

der Regierung Zapatero hat die großen<br />

Gewerkschaften überrascht, die<br />

auf eine Zusammenarbeit mit der „befreundeten“<br />

Regierung gehofft hatten<br />

und nun irritiert sind. <strong>Die</strong> Reaktionen,<br />

denen sich die Gewerkschaftsführungen<br />

ausgesetzt sahen, haben<br />

die Unvorbereitetheit der Arbeiterbewegung<br />

klar zu Tage treten lassen. Es<br />

geht dabei nicht einfach nur um die<br />

Mitgliedschaft in den Gewerkschaften<br />

(CCOO und UGT haben jeweils etwas<br />

mehr <strong>als</strong> eine Million Mitglieder, und<br />

die gewerkschaftliche Organisationsquote<br />

liegt bei rund 17 %). Aber diese<br />

Zahlen spiegeln auch den Einfluss dieser<br />

Organisationen wider. Im Grunde<br />

genommen stützen sich die Gewerkschaften<br />

auf eine Struktur von Delegierten,<br />

die ohne eine aktive Basis in<br />

den Firmen agiert. <strong>Die</strong> Fragmentation<br />

der Produktion und der Arbeitsverträge<br />

der arbeitenden Klasse hat den für<br />

die Epoche des Fordismus aufgestellten<br />

Gewerkschaften ihre Grenzen aufgezeigt.<br />

Zudem wurden die Gewerkschaften<br />

während der Transición darauf<br />

beschränkt, Konflikte in Firmen<br />

und politischen Bereichen zu verhandeln,<br />

die die neoliberale Politik und<br />

die Globalisierung in Unordnung gebracht<br />

haben: <strong>Die</strong> Realitäten der Arbeitsverträge<br />

sind heute in jeder Firma<br />

anders, und die Wertschöpfungsprozesse<br />

korrespondieren nicht mehr<br />

mit den traditionellen industriellen<br />

Zyklen. <strong>Die</strong> Jahre der ökonomischen<br />

Gutwetterlage haben zugleich den Individualismus<br />

<strong>als</strong> auch die Wehrlosigkeit<br />

der Arbeitskraft erhöht. Eine <strong>ganze</strong><br />

Generation von gewerkschaftlichen<br />

AktivistInnen hat im Prinzip keine andere<br />

Gewerkschaftsaktion <strong>als</strong> die des<br />

gerichtlichen Einspruchs erlebt. Einige<br />

der kämpferischsten Streiks hatten<br />

nichts anderes <strong>als</strong> Ziel, <strong>als</strong> die Verhandlung<br />

über die Abfindungen bei<br />

Kündigungen entsprechend der Zahl<br />

der Beschäftigungsjahre in einer Firma.<br />

Auf der andere Seite reiben die<br />

Bürokratie und die Abhängigkeit von<br />

Geldern die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften<br />

auf und verschlechtern<br />

die Beziehung zu einer durch<br />

die Schwere der Krise eingeschüchterten,<br />

ungeschützten und vom Bestreben<br />

des „rette sich wer kann“ beeinflussten<br />

Arbeiterklasse. <strong>Die</strong>s sind<br />

nicht die besten Bedingungen um eine<br />

neue und konfliktive Etappe des Klassenkampfes<br />

zu meistern, die sich andeutet.<br />

Aber mensch muss der Realität<br />

so, wie sie ist, gegenüber treten.<br />

DER BEVORSTEHENDE WAN-<br />

DEL<br />

Und was noch zu all dem hinzukommt,<br />

ist ganz klar ein neuer Abschnitt von<br />

historischer Reichweite. <strong>Die</strong> Arbeiterklasse<br />

hat sich noch nicht auf die Angriffe<br />

der Regierung, die diese im Namen<br />

des Marktes durchführt, eingestellt.<br />

Im Juni beschloss sie die Reduzierung<br />

der Gehälter der Staatsangestellten,<br />

was eine direkte Auswirkung<br />

auf die privatwirtschaftlichen Sektoren<br />

hatte, zudem das Einfrieren der<br />

Renten und der sozialen Hilfen sowie<br />

drastische Sparmaßnahmen in den öffentlichen<br />

<strong>Ausgabe</strong>n, welche die Infrastruktur,<br />

die staatlichen Einrichtungen<br />

und die öffentlichen <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

betreffen. <strong>Die</strong>se Verschlechterungen<br />

öffnen einer weiteren Anzahl von Privatisierungen<br />

die Tür. <strong>Die</strong> Arbeitsreformen,<br />

die die Leidensfähigkeit der<br />

Gewerkschaften überstrapazierten, erleichtern<br />

die Kündigungen, geben den<br />

Firmen einen größeren Ermessensspielraum<br />

und erweitern die Möglichkeiten,<br />

Zeitarbeitsverträge einzurichten<br />

– und dies bis in den Sektor der öffentlichen<br />

Verwaltung hinein. Zudem<br />

– und das ist sehr schwerwiegend – erlauben<br />

sie den Firmen, sich von kollektiven<br />

Arbeitsverträgen abzukoppeln,<br />

sofern es die partikularen Interessen<br />

der Firma erfordern. <strong>Die</strong>s ist<br />

ein deutlicher Angriff auf die linienlose<br />

Politik der Gewerkschaften. <strong>Die</strong><br />

Frage der kollektiven Arbeitsverträge<br />

ist ein zentrales Anliegen der Gewerkschaften,<br />

ohne diese gibt es eine<br />

Zersplitterung der Arbeiterklasse, eine<br />

Verwandlung der ArbeiterInnen in eine<br />

Menge von wehrlosen und der gegenseitigen<br />

Konkurrenz ausgesetzten<br />

Individuen. Dass die Rentenreform im<br />

Parlament debattiert wird, mit der wie<br />

in vielen anderen europäischen Ländern<br />

die Absicht verfolgt wird, das<br />

Renteneintrittsalter auf 67 zu erhöhen,<br />

die Einkommen der RentnerInnen zu<br />

kürzen und die privaten Rentenversicherungen<br />

zu fördern, verdeutlicht die<br />

Offensive des Großkapit<strong>als</strong> gegen den<br />

Wohlfahrtsstaat. <strong>Die</strong> im Nachkriegseuropa<br />

erreichten Beziehungen zwischen<br />

den Klassen sind in Frage gestellt<br />

– und mit ihren spezifischen Eigenarten<br />

damit auch ganz besonders<br />

die im Spanischen Staat. <strong>Die</strong> Jahre des<br />

siegreichen Neoliberalismus haben ihr<br />

INPREKORR 468/469 13


SPANIEN<br />

Streik in Spanien<br />

Feld erfolgreich vorbereitet. Mittels<br />

einer neuen Variante seiner bekannten<br />

Schocktherapie versucht der Kapitalismus<br />

eine qualitativ neue Schwelle<br />

zu überschreiten.<br />

Der Streik vom 29. September<br />

wird zeigen wo die Arbeiterbewegung<br />

steht, um sich dieser Herausforderung<br />

zu stellen. <strong>Die</strong> sozialpartnerschaftlich<br />

eingestellten Führungen der einflussreichen<br />

Gewerkschaften sind widersprüchlichen<br />

Einflüssen ausgesetzt:<br />

Sie fühlen sich dem Druck der eigenen<br />

Organisation und deren Bedeutung<br />

ausgesetzt, aber sie träumen von<br />

der Rückkehr der sozialpartnerschaftlichen<br />

Zeiten. Ihre Proklamationen<br />

kritisieren heftig die Reformen der<br />

Regierung. Einige Positionspapiere<br />

von den Gewerkschaften eng verbundenen<br />

Nachbarschaftsvereinigungen<br />

schlagen einen klar linken Kurs aus<br />

der Krise vor: öffentliche Banken,<br />

progressive Steuergesetzgebung, Verstaatlichungen,<br />

Verteidigung des öffentlichen<br />

Sektors, Senkung der Militärausgaben,<br />

ökologische Umgestaltung<br />

der Produktion und Maßnahmen<br />

zur geschlechterunabhängigen Bezahlung<br />

(Frauen sind bei Zeitarbeitsverträgen<br />

mit 80 % vertreten, werden<br />

weiterhin schlechter bezahlt <strong>als</strong> Männer,<br />

und jeder weitere Rückschritt auf<br />

dem Arbeitsmarkt bezüglich der Sozialleistungen<br />

und der öffentlichen<br />

<strong>Ausgabe</strong>n betrifft sie besonders deutlich)<br />

… Trotzdem enden diese Statements<br />

mit einer Aufforderung, den sozialen<br />

Dialog wieder auf zu nehmen.<br />

<strong>Die</strong>s wird sicherlich mit den Mobilisierungserfolgen<br />

eines Delegiertenapparats<br />

zu tun haben, der häufig wenig<br />

Präsenz und Einfluss in den Arbeitervereinigungen<br />

hat. <strong>Die</strong> linken GewerkschafterInnen<br />

ihrerseits – vertreten<br />

durch Minderheitenströmungen<br />

wie die anarchosyndikalistische CNT,<br />

die Eisenbahngewerkschaft, Cobas,<br />

die intergewerkschaftliche Alternative<br />

in Katalonien oder die andalusische<br />

SAT – können trotz der Anzahl ihrer<br />

AktivistInnen und trotz ihrer Präsenz<br />

in den verschiedenen Sektoren in keinem<br />

Fall den Kräfteschwund der großen<br />

Gewerkschaften kompensieren.<br />

Außerdem ist festzustellen, dass ihre<br />

Möglichkeiten nicht dieselben sind:<br />

Während CCOO sich bei der Mobilisierung<br />

für den 29. September engagierter<br />

zeigt, ist die UGT unschlüssig,<br />

da sie starke interne Spannungen<br />

zu verarbeiten hat, die von den Pressionen<br />

seitens der PSOE herrühren, der<br />

diese Gewerkschaft ja historisch und<br />

innigst verbunden ist. Bleibt auf eine<br />

Besonderheit hinzuweisen, die die<br />

Gesamtlage kompliziert: die Situation<br />

in Euskadi (Baskenland). Dort ist die<br />

gewerkschaftliche Mehrheit, vertreten<br />

durch ELA, LAB, STES u. a., traditionell<br />

nationalistisch und hat sich häufig<br />

schon mit den gesamtspanischen Gewerkschaften<br />

angelegt. Es wurde bereits<br />

zu zwei Gener<strong>als</strong>treiks mobilisiert,<br />

einer im vergangenen Jahr, der<br />

andere in diesem Juni, wobei letzteren<br />

die CCOO unterstützte, und beide<br />

mit einem bemerkenswerten Erfolg.<br />

Aber dieses Mal hat die gewerkschaftliche<br />

Mehrheit in Euskadi entschieden,<br />

den Streikaufruf von CCOO<br />

und UGT zu ignorieren und Einsprüche<br />

anzumelden sowie einen eigenen<br />

zeitlichen Ablauf der Mobilisierung<br />

einzufordern. <strong>Die</strong> nationale Problematik,<br />

durch die Krise eher verstärkt <strong>als</strong><br />

abgeschwächt, beeinträchtigt die Aktionseinheit<br />

der Arbeiterbewegung.<br />

Und natürlich ist dies nicht die einzige<br />

Verzerrung auf politischer Ebene.<br />

Der Streik zeigt auch deutlich die unvermeidliche<br />

politische Krise der Linken.<br />

<strong>Die</strong> PSOE zeigt sich verpflichtet,<br />

Harakiri zu begehen zugunsten<br />

der Reichen. Ihre Politik bereitet die<br />

Rückkehr der Rechten an die Macht<br />

vor, deren schmutzige Arbeit sie zu<br />

erledigen sich bemüht. <strong>Die</strong> Wahlen in<br />

Katalonien diesen Herbst werden sicherlich<br />

einen Erfolg der nationalistischen<br />

Rechten bringen und damit ein<br />

Ende des Zyklus linksliberaler Regierungen.<br />

<strong>Die</strong> Vereinigte Linke (Izquierda<br />

Unida) debattiert darüber, sich mit<br />

einem antikapitalistischen Aspekt neu<br />

zu gründen … und über ihre Kompromisse<br />

auf lokaler und regionaler Ebene<br />

mit der PSOE zusammen zu regieren.<br />

<strong>Die</strong>se neue Periode beginnt mit<br />

der dringenden Notwendigkeit einer<br />

grundlegenden Neuorganisation der<br />

sozialen und politischen Linken. Mit<br />

ihren bescheidenen aktiven Kräften<br />

des Neuaufbaus hat sich die antikapitalistische<br />

Linke (Izquierda Anticapitalista)<br />

klar für eine Beteiligung im<br />

Kampf für den Gener<strong>als</strong>treik entschieden.<br />

Sie ist sich dabei der Wichtigkeit<br />

und der Notwendigkeit bewusst,<br />

aus diesem Kampf den Beginn eines<br />

<strong>ganze</strong>n Zyklus von Kämpfen zu machen,<br />

der eine fortschrittliche Perspektive<br />

heraus aus der systemimmanenten<br />

Krise und zu Gunsten der arbeitenden<br />

Klassen eröffnet.<br />

23/09/2010<br />

Lluís Rabell ist Leitungsmitglied der Izquierda<br />

anticapitalista (Antikapitalistische Linke),<br />

der Sektion der IV. Internationale im spanischen<br />

Staat.<br />

Übersetzung aus dem Spanischen:<br />

Sven<br />

14 INPREKORR 468/469


SPANIEN<br />

Der Streik vom 29. September:<br />

<strong>Die</strong> soziale Frage kehrt zurück<br />

Miguel Romero<br />

1.<br />

Eines der Ziele des Neoliberalismus<br />

bestand darin, die „soziale<br />

Frage“ – das heißt die vom Kapitalismus<br />

aufgrund der sozialen Ungerechtigkeit<br />

und Ungleichheit hervorgerufenen<br />

Konflikte – nicht nur aus<br />

der Politik sondern auch aus dem Bewusstsein<br />

der Menschen, die Mehrheit<br />

der arbeitenden Klassen inbegriffen,<br />

zu verbannen. Dazu beigetragen<br />

hat insbesondere im Spanischen<br />

Staat der sogenannte „soziale Dialog“.<br />

Das heißt die Erarbeitung eines<br />

Konsenses, bei welchem systematisch<br />

die gemeinsamen Interessen zwischen<br />

Unternehmern und Gewerkschaften<br />

gesucht werden. <strong>Die</strong>ser „soziale Dialog“<br />

ist in den Beziehungen zwischen<br />

Kapital und Arbeit zu einer grundlegenden<br />

Norm geworden. In wirtschaftlicher<br />

Hinsicht sind die Folgen<br />

katastrophal: Rückgang des Lohnanteils<br />

am Bruttoinlandprodukt und rekordhohes<br />

Wachstum der Unternehmens-„Überschüsse“<br />

(Profite) während<br />

längerer Zeit.<br />

Für die Gewerkschaften und sozialen<br />

Bewegungen sind die Folgen<br />

ebenso katastrophal: <strong>Die</strong> Lohnabhängigen<br />

in ihrer Mehrheit organisieren<br />

sich nicht mehr in den Gewerkschaften,<br />

weil sie in ihnen Kampforganisationen<br />

sehen. Folglich sind sie in deren<br />

Strukturen auch nicht mehr aktiv.<br />

Politisch ausgedrückt hat sich eine<br />

bipolare Koexistenz von PSOE und<br />

PP herausgebildet und gefestigt. 1 Und<br />

die Stimmenmehrheit der PSOE bei<br />

Wahlen wird <strong>als</strong> linke Mehrheit definiert.<br />

Mit dem Gener<strong>als</strong>treik vom 29.<br />

September 2010 scheint die „soziale<br />

Frage“ zurückgekehrt und wieder<br />

sichtbar geworden zu sein. Ich sage,<br />

es „scheint“ so. Denn zweifellos liegt<br />

dieser Gener<strong>als</strong>treik noch nicht lange<br />

genug zurück, um daraus bereits<br />

Schlussfolgerungen ziehen zu kön-<br />

1 PSOE: Partido socialista obrero español, PP:<br />

Partido popular<br />

nen. In diesem Umfeld ist die Gefahr<br />

groß, dass die Hoffnung mit der Realität<br />

verwechselt wird. Alles, was dieser<br />

Gener<strong>als</strong>treik ausgelöst hat, ist noch<br />

zuwenig entwickelt und zu zerbrechlich.<br />

Was dabei herausgeschaut hat,<br />

hat mehr mit dessen Möglichkeiten,<br />

mit den in ihn gesetzten Erwartungen<br />

zu tun <strong>als</strong> mit tatsächlichen Errungenschaften.<br />

Doch es gibt konkrete Fakten,<br />

die mit einiger Gewissheit darauf<br />

schließen lassen, dass die „soziale Frage“<br />

zurückgekehrt ist, die es dringend<br />

braucht und die in der gegenwärtigen<br />

Krise des kapitalistischen Systems lebenswichtig<br />

ist. Zu diesen Fakten gehören<br />

insbesondere die Reaktionen<br />

der Wortführer der Unternehmer und<br />

der politischen Rechten. <strong>Die</strong> Schlagzeilen<br />

auf den ersten Seiten sprachen<br />

von „Generalniederlage“ – nicht zufällig<br />

in jenen Zeitungen zu finden, die<br />

sich vor allem durch gezielte F<strong>als</strong>chinformation<br />

auszeichnen, nämlich El<br />

Mundo und ABC. Sie erheben keinesfalls<br />

den Anspruch, die Wirklichkeit<br />

wiederzugeben, sie wollen sie<br />

vielmehr heraufbeschwören, um ihre<br />

Kunden zu beruhigen wie die Reliquien<br />

und Medaillons, die die Carlisten<br />

2 im spanischen Bürgerkrieg trugen<br />

und auf denen stand „Deténte bala!“<br />

(„Kugel: Halt!“).<br />

2.<br />

Der Gener<strong>als</strong>treik ist mehr wegen<br />

der Möglichkeiten ein politischer<br />

Erfolg, die er eröffnet hat, <strong>als</strong><br />

was damit erreicht werden konnte. <strong>Die</strong>s<br />

zu übersehen wäre ein großer Fehler.<br />

Aber es müssen auch die Schwächen<br />

gesehen werden, alles, was noch<br />

zu tun ist, um ausgehend von diesem<br />

ersten Schritt weiter voranzukommen.<br />

Um so Zielen näher zu kommen, die<br />

noch in weiter Ferne liegen, deren es<br />

aber für radikale wirtschaftliche und<br />

politische Änderungen unbedingt bedarf.<br />

2 Strömung der Royalisten, entstanden in<br />

Spanien in der ersten Hälfte des 19. Jh.<br />

Zum Beispiel:<br />

<strong>Die</strong> Teilnahme an den Streiks vom<br />

29. September muss im Detail genau<br />

angeschaut werden: In den einzelnen<br />

Wirtschaftsbranchen sowie in den einzelnen<br />

Regionen, vor allem dort, wo<br />

er zu schwach befolgt wurde, um Wirkung<br />

zu zeitigen: in den Banken, Spitälern,<br />

Schulen und wie immer im Handel,<br />

insbesondere in den Warenhäusern.<br />

Einige zweideutige Losungen müssen<br />

diskutiert werden: „Korrektur (der<br />

Reform)“, „So nicht“ oder die Forderungen<br />

nach Wiederaufnahme des „sozialen<br />

Dialogs“, was Antonio Gutiérrez<br />

prompt erlaubt, am 30. September<br />

im El País die Ernennung eines „Vermittlers“<br />

zu fordern.<br />

Man wird sich vor den Versuchen<br />

der Comisiones Obreras (CCOO, Arbeiterkommissionen)<br />

und der UGT<br />

(Unión General de Trabajadores, Allgemeine<br />

Arbeiterunion) hüten müssen,<br />

den Streik zu monopolisieren.<br />

Es hat weitere Gewerkschaften gegeben,<br />

die für den Streik einen großen<br />

Einsatz geleistet haben, was sich auch<br />

ausbezahlt hat, wie dies die von der<br />

CGT 3 initiierte und geführte Demo in<br />

Madrid zeigt. Es war die größte Demo,<br />

zu welcher diese Gewerkschaft<br />

je aufgerufen hat. Ein Grund mehr<br />

zur Annahme, dass ihre Teilnahme an<br />

der Demonstration der CCOO und der<br />

UGT ein größeres Echo gehabt hätte<br />

<strong>als</strong> der Aufruf zu einer Paralleldemo.<br />

Es gab auch originelle und wirksame<br />

Beiträge, die in Zukunft übernommen<br />

werden können: Einheitliche<br />

Forderungsplattformen in einzelnen<br />

Regionen, Fahrrad-Demos, Aktionen<br />

im Kulturbereich (die allerdings zahlenmäßig<br />

kleiner ausfielen <strong>als</strong> andere<br />

Arten von Mobilisierungen).<br />

3 Confederación General de Trabajo,<br />

Minderheitsgewerkschaft, aber sehr aktiv,<br />

selbstverwaltet, auf Klassenpositionen; sie ist<br />

aus einer Abspaltung von der anarchistischen<br />

CNT entstanden.<br />

INPREKORR 468/469 15


SPANIEN<br />

Schließlich muss auch über etwas<br />

Negatives berichtet werden. ELA und<br />

LAB (zwei Gewerkschaften im Baskenland-Euskadi)<br />

sind dem Streikaufruf<br />

nicht gefolgt und haben sogar Aktionen<br />

und Streikposten aktiv behindert.<br />

<strong>Die</strong>ses Problem kann nicht in<br />

wenigen Zeilen abgehandelt werden.<br />

<strong>Die</strong>s ist auf Probleme zurückzuführen,<br />

die weit in der Vergangenheit zurückliegen<br />

und von allgemeinerer Natur<br />

sind. Es ist auch nicht erkennbar, wie<br />

solche Probleme überwunden werden<br />

können.<br />

Zusammengefasst lässt sich sagen,<br />

dass der Ausdruck „politischer Sieg“<br />

folgende innere Bedeutung hat: Er ist<br />

die Demonstration einer kollektiven<br />

Kraft, das Gefühl, jene besiegt zu haben,<br />

die entschieden der Meinung waren,<br />

der Gener<strong>als</strong>treik würde scheitern.<br />

Er zeigt, dass die Leute „von unten“,<br />

die bis anhin skeptisch und resigniert<br />

waren, ihre Einstellung ändern<br />

können. An vielen Orten ist die Basis<br />

der Mehrheitsgewerkschaften von einer<br />

beginnenden gewerkschaftlichen<br />

Eigenaktivität erfasst worden. Man<br />

kann sagen, was man will, aber künftig<br />

kann die Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />

nicht mehr im geschlossenen Kreis<br />

von Sitzungen mit den „Agenten des<br />

Marktes“ und in den Gängen des Parlamentes<br />

festgelegt werden. Von jetzt<br />

an ist mit der Straße zu rechnen, die<br />

bis jetzt nicht zu den offiziellen Festlichkeiten<br />

geladen war und deren Präsenz<br />

den etablierten Marschplan der<br />

Regierung etwas ins Wanken gebracht<br />

hat.<br />

3.<br />

Es hat sich eine Bresche geöffnet,<br />

allerdings nur eine Bresche.<br />

Der Optimismus jener, die zum<br />

Streik aufgerufen haben („Alle Gener<strong>als</strong>treiks<br />

waren siegreich“, „Zapatero<br />

wird seine Haltung früher oder später<br />

ändern“ …) ist ok, wenn er der Vorbereitung<br />

eines Streiks dient. Aber heute<br />

müssen wir uns der Wirklichkeit stellen,<br />

voller Hoffnung aber illusionslos.<br />

Denn es ist f<strong>als</strong>ch, dass „alle Gener<strong>als</strong>treiks“<br />

siegreich waren. Es wurden<br />

jeweils Teilresultate von unterschiedlicher<br />

Bedeutung erzielt, aber in der<br />

Sozial- und Wirtschaftspolitik wurden<br />

keine grundlegenden Änderungen<br />

erzielt. Wenn man so will, haben sie<br />

zu „Korrekturen“ geführt, von denen<br />

die Gewerkschaftsführer sprechen,<br />

was nur kleine Änderungen von unterschiedlichem<br />

Ausmaß waren (Rückzug<br />

eines Gesetzes, das zur Türe hinausgeht,<br />

aber wenig später wieder<br />

zum Fenster reinkommt, was mehr <strong>als</strong><br />

einmal vorgekommen ist).<br />

Aber heute haben wir es nicht mit<br />

einem Gesetz zu tun sondern mit einer<br />

Wirtschaftspolitik, die in großem Umfang<br />

„korrigiert“ werden müsste. Wir<br />

haben es mit einer knallharten Politik<br />

zu tun, einer „strukturellen Anpassung“,<br />

die den Normen und dem Diktat<br />

des Marktes unterworfen ist, von<br />

der EU beschlossen wurde und der<br />

sich die Regierung Zapatero wie ein<br />

Vasall unterwirft.<br />

<strong>Die</strong> einzige Korrektur, die Sinn<br />

macht, besteht in der Veränderung der<br />

Grundlagen von Wirtschaft und Politik,<br />

darin, sich von den „Märkten“ zu<br />

lösen und von dieser Position aus den<br />

Angriffen zu trotzen. Dafür fehlt noch<br />

ein wirksames soziales Netz, ein Subjekt,<br />

das sich von unten her aufbaut.<br />

Oder anders gesagt: Es fehlt ein Bündnis,<br />

in dem die soziale und politische<br />

Linke für eine längere Zeit des Widerstandes<br />

und des Erlernens neuer Aktions-<br />

und Organisationsformen zusammenfindet.<br />

Um hier voranzukommen,<br />

muss eine „Linke links der Linken“<br />

gestärkt werden, die mit der heutigen<br />

Politik der institutionellen Linken<br />

bricht, einem schlimmen Erbe der<br />

Übergangszeit. 4<br />

4.<br />

Hat ein neuer politischer Zyklus<br />

begonnen? Im Moment ist dafür<br />

die Möglichkeit gegeben. Also muss<br />

der Beginn möglich gemacht werden.<br />

Wir haben alles erreicht, worin wir<br />

Vertrauen hatten und was wir für diesen<br />

Streik gemacht haben. Bestimmt<br />

die einen mehr, die anderen weniger.<br />

4 Nach dem Ende der Franco-Diktatur Übergang<br />

zu einer Zweiparteiendemokratie unter einem<br />

tendenziell bonapartistischen König.<br />

Jene, die meinen, aus diesem Streik<br />

mit politischer Autorität und gestärkt<br />

hervorgegangen zu sein, in erster Linie<br />

die Comisiones Obreras, wären<br />

gut beraten, wenn sie sich etwas umsehen<br />

und erkennen würden, dass sie<br />

nicht die einzigen waren, schon gar<br />

nicht in den Streikposten. Und wenn<br />

sie zur Kenntnis nehmen würden, dass<br />

die Koexistenz von Leuten aus verschiedenen<br />

politischen Strömungen in<br />

den Streikposten viel einfacher war,<br />

<strong>als</strong> dies die Zusammenstöße zwischen<br />

den Organisationen vermuten lässt.<br />

Mit dem 29. September bietet sich jedenfalls<br />

seit 20 Jahren zum ersten Mal<br />

auch die Gelegenheit, dass eine gewerkschaftliche,<br />

pluralistische, radikale<br />

und einheitliche Linke entsteht,<br />

die sich in den täglichen Kämpfen mit<br />

den sozialen Bewegungen verbindet.<br />

Es ist auch ein neuer, größerer<br />

Spielraum für die antikapitalistische<br />

Linke entstanden wie für viele andere<br />

organisierte und unorganisierte Aktivistinnen<br />

und Aktivisten. Jetzt geht<br />

es darum, sich ehrgeizig und gleichzeitig<br />

bescheiden in Bewegung zu setzen.<br />

Der Schlüssel der Zukunft liegt<br />

in der Fähigkeit, Einheit in der Aktion<br />

zu erreichen und diese Arbeit mit<br />

antikapitalistischen Forderungen zu<br />

kombinieren, die den gegenwärtigen<br />

Tageskämpfen entsprechen. Entscheidend<br />

ist jetzt auch, sich mit all jenen<br />

Menschen zu verbinden, die bei<br />

den Demos zur Überzeugung gekommen<br />

sind, dass weitere Streiks notwendig<br />

sind, dass diese gut vorbereitet<br />

und gut durchgeführt werden müssen<br />

und dass sie mit Sicherheit breiter<br />

und stärker sein werden <strong>als</strong> der Streik<br />

vom 29. September.<br />

30. September 2010<br />

Miguel Romero ist verantwortlicher Herausgeber<br />

der Zeitschrift Viento Sur<br />

Übersetzung: Ursi Urech<br />

16 INPREKORR 468/469


GRIECHENLAND<br />

Wie heiß wird der Herbst?“<br />

Tassos Anastassiadis, Andreas Sartzekis<br />

<strong>Die</strong> Troika: So nennt man in Griechenland<br />

die dreifache Diktatur aus<br />

IWF, Europäischer Kommission und<br />

Europäischer Zentralbank. Sie hat<br />

dem Land ein Sparprogramm 1 aufgezwungen,<br />

das von der PASOK-Regierung<br />

in vollem Umfang akzeptiert<br />

wurde. <strong>Die</strong>ses Sparprogramm wird<br />

von Fachleuten <strong>als</strong> noch undemokratischer<br />

eingestuft <strong>als</strong> jenes aus dem<br />

Jahr 1898, <strong>als</strong> Griechenland während<br />

einer schweren Wirtschaftskrise internationaler<br />

Kontrolle unterstellt wurde.<br />

Am Ende dieses Sommers beglückwünscht<br />

der ach so sozialistische IWF-<br />

Präsident Strauss-Kahn im Namen der<br />

berühmten Troika seinen Genossen<br />

Premierminister Giorgos Papandreou<br />

für die großen Fortschritte seiner Regierung<br />

in so kurzer Zeit. <strong>Die</strong>ser brüstet<br />

sich mit seinem entschiedenen Kampf<br />

gegen Steuerbetrug; so lässt er vor<br />

allem die Wohnviertel der Reichen im<br />

Zentrum Athens überfliegen, um nicht<br />

deklarierte private Swimmingpools<br />

auszumachen … <strong>Die</strong> Bekämpfung des<br />

tatsächlich bestehenden Steuerbetrugs<br />

wird zum Leitmotiv, aber kein Wort zu<br />

den Steuergeldern, die dem Staat entgehen,<br />

weil sich die großen griechischen<br />

Reeder in Steuerparadiesen niederlassen!<br />

<strong>Die</strong>s ist einer der dramatischsten<br />

Aspekte dieses Herbstes: Obwohl<br />

sich die PASOK völlig von ihren<br />

Wahlversprechen vom Oktober 2009<br />

abgewendet hat und trotz ihrer unsozialen<br />

Maßnahmen, die das Land um<br />

Jahrzehnte zurückwerfen, vermag sie<br />

mit ihrer Demagogie („Wenn ich ein<br />

gewöhnlicher Bürger wäre, würde ich<br />

selbstverständlich auch gegen solche<br />

Maßnahmen demonstrieren.“) eine gewisse<br />

Popularität zu bewahren. In Meinungsumfragen<br />

steht die PASOK trotz<br />

Verlusten einsam an der Spitze.<br />

1 Das Sparprogramm besteht aus einem Kredit<br />

von 110 Milliarden € zu einem Zins von beinahe<br />

5 % (selbst auf den „Märkten“ wurde Mitte<br />

September weniger Zins verlangt: 4,85 %!).<br />

Als Gegenleistung wird eine Lohn- und<br />

Rentensenkung verlangt, die Abschaffung des<br />

Arbeitsrechts, die „Belebung“ der Konkurrenz<br />

mit möglichst vielen Reprivatisierungen.<br />

DIE KRISE VERSCHÄRFT SICH<br />

Wie sehen nun die großen Fortschritte<br />

aus, die die Troika Mitte September<br />

auszumachen vorgibt? <strong>Die</strong> Sommerschlussverkäufe<br />

(Sommerausverkäufe),<br />

die von den Familien mit<br />

tiefem Einkommen immer sehnlichst<br />

erwartet wurden, sind dieses Jahr<br />

um 25 % zurückgegangen, in einigen<br />

Städten im Norden sogar bis 65 %.<br />

<strong>Die</strong>s lässt sich einfach erklären: ein<br />

Arbeiterehepaar verliert ab sofort vier<br />

Monatslöhne pro Jahr. <strong>Die</strong>s weil der<br />

monatliche Nettolohn gekürzt und<br />

die Preise erhöht wurden (Erhöhung<br />

der Mehrwertsteuer auf 23 %, höhere<br />

Preise für Heizmaterial). Der jährliche<br />

Einkommensverlust eines Beamtenehepaares<br />

wird auf 11 000 € geschätzt<br />

(–20 %), für ein Arbeiterehepaar aus<br />

der Privatwirtschaft auf –5 % … Ein<br />

anderes Beispiel: im Tourismus, eine<br />

alte Einnahmequelle, ist auf einigen<br />

beliebten Inseln die Bettenbelegung in<br />

den Hotels trotz Preissenkungen um<br />

bis zu 30 % zurückgegangen (–29 %<br />

auf den Zeltplätzen). So verstärkt sich<br />

das Problem ungenügender Einnahmen<br />

trotz der „Jagd auf Steuersünder“<br />

weiter. Hinzu kommt die wachsende<br />

Erwerbslosigkeit, die im Juli offiziell<br />

bei 11,6 % lag, in Wirklichkeit<br />

20 % überschritten hat. <strong>Die</strong> Situation<br />

verschlechtert sich dramatisch, insbesondere<br />

in den alten Industriestädten<br />

im Norden des Landes: in Thessaloniki<br />

liegt die Arbeitslosigkeit bei<br />

25 % (zweitgrößte Stadt des Landes),<br />

in Kozani, Kastoria und Serres zwischen<br />

30 % und 35 % und in Naussa<br />

sogar bei 50 %. Zudem nehmen<br />

die prekären Arbeitsverhältnisse explosionsartig<br />

zu: In Kavala wurden<br />

60 % der Arbeitsverträge in Teilzeitverträge<br />

umgewandelt (gemäß der Tageszeitung<br />

Eleftherotypia). Im Oktober<br />

soll die Zahl der Erwerbslosen um<br />

100 000 steigen (auf eine Bevölkerung<br />

von 11 Mio.), vor allem im Tourismus<br />

und im Baugewerbe.<br />

Ein weiterer Aspekt darf nicht vergessen<br />

werden: Um wegen des neuen<br />

Rentengesetzes nicht länger arbeiten<br />

zu müssen, sind diesen Sommer<br />

Tausende von Beamten frühzeitig<br />

in Pension gegangen. Vor allem in<br />

Schulen und Krankenhäusern werden<br />

sie schmerzlich fehlen. <strong>Die</strong>s <strong>als</strong> Folge<br />

der neuen Regel, wonach fast alle<br />

Lohnabhängigen, die in Pension gehen,<br />

nicht ersetzt werden dürfen. In<br />

den Schulen ist die Lage wegen fehlender<br />

Mittel schon heute miserabel:<br />

Im Norden führt der Mangel an Schulhäusern<br />

dazu, dass ein Teil der Schülerinnen<br />

und Schüler am Morgen, der<br />

andere gegen Abend unterrichtet wird.<br />

Einige Klassen wurden in ehemaligen<br />

Lagerhäusern untergebracht. <strong>Die</strong>se<br />

Situation verschlimmerte sich nach<br />

den Sommerferien, zu Beginn des<br />

neuen Schuljahres, wegen fehlender<br />

Lehrkräfte weiter. <strong>Die</strong> Gewerkschaft<br />

OLME (Oberstufe) kritisiert, dass<br />

die Klassen auf 30 SchülerInnen oder<br />

mehr erhöht werden … In den Krankenhäusern<br />

führt der Personalmangel<br />

bei verschiedenen Behandlungen<br />

zu langen Wartefristen: zum Beispiel<br />

bis zu 30 Tage für ärztliche Untersuchungen.<br />

Und selbst der Mangel<br />

an Polizeibeamten behindert einfache<br />

Verwaltungsdienstleistungen wie das<br />

Ausstellen von Papieren. <strong>Die</strong> Troika<br />

kann beruhigt sein: Am 11. September<br />

waren an der Demo in Thessaloniki<br />

über 5000 MAT (Bereitschaftspolizei)<br />

präsent! Und alles in allem geht<br />

es gar nicht so schlecht: <strong>Die</strong> deutsche<br />

Firma Thyssen Krupp wird zwei neue<br />

U-Boote liefern zum bescheidenen<br />

Preis von 1,2 Milliarden Euro …<br />

<strong>Die</strong> wenigen Beispiele zeigen: <strong>Die</strong><br />

„Hilfe“ europäischer und internationaler<br />

Organisationen bringt nicht<br />

den geringsten wirtschaftlichen Fortschritt,<br />

sondern führt im Gegenteil zu<br />

Elend und verstärkt noch die Krise des<br />

Systems, das darauf die Flucht nach<br />

vorn ergriffen hat: Das Bruttoinlandprodukt<br />

(BIP) wird dieses Jahr voraussichtlich<br />

um 4 % sinken. Der IWF<br />

hat soeben grünes Licht gegeben für<br />

einen zweiten Kredit von 2,57 Milliar-<br />

INPREKORR 468/469 17


GRIECHENLAND<br />

Griechenland: Polizei schützt die Banken<br />

den Euro. Und die Regierung scheint<br />

jede Art ausländischer Investitionen<br />

zu akzeptieren, insbesondere im Tourismus:<br />

Russische Kapitalisten und<br />

die israelische Regierung scheinen<br />

sehr am online-Casino-Geschäft interessiert<br />

zu sein sowie am Kauf kleinerer<br />

Flughäfen, an Energie-Anlagen …<br />

GROSSE, ABER UNGENÜ-<br />

GENDE MOBILISIERUNGEN<br />

<strong>Die</strong> Frage, die sich jetzt, Mitte September<br />

stellt, ist die folgende: Warum<br />

vermochte die Arbeiterbewegung die<br />

unsozialen Maßnahmen nicht zumindest<br />

teilweise zu verhindern, nachdem<br />

der Gener<strong>als</strong>treik am 5. Mai im öffentlichen<br />

Sektor praktisch zu 100 %<br />

und in der Privatwirtschaft gut befolgt<br />

wurde? Es fand die größte Demonstration<br />

seit dem Sturz der Militärdiktatur<br />

statt (1974). Wie groß ist die Kampfbereitschaft<br />

der Arbeiterbewegung<br />

heute?<br />

Es lässt sich nur sehr schwer abschätzen,<br />

wieweit der Tod der drei<br />

Bankangestellten die Bewegung zurückzuwerfen<br />

vermochte, die in einem<br />

Brand umgekommen waren, der von<br />

einem Molotow-Cocktail ausgelöst<br />

worden war, von dem man immer<br />

noch nicht weiß, ob es sich dabei um<br />

eine Provokation der Polizei oder von<br />

Faschisten handelt oder um eine tödliche<br />

Idiotie einer kleinen Gruppe aus<br />

der autonomen Szene. Anarchistische<br />

Gruppen haben sich im Nachhinein<br />

in vielen Texten gegen Gewalt ausgesprochen,<br />

die an die Stelle der Massenbewegung<br />

gesetzt wird. Es kann<br />

aber mit Bestimmtheit gesagt werden,<br />

dass die dam<strong>als</strong> bestehende Aussicht<br />

auf unbefristete Streiks mit einer<br />

antikapitalistischen Massendynamik<br />

(Tausende verharrten vor dem Parlament,<br />

um gegen die unsoziale Rolle<br />

dieser Versammlung zu demonstrieren)<br />

großenteils neutralisiert wurde<br />

und dass es keine zweite solche Gelegenheit<br />

mehr gegeben hat.<br />

Selbstverständlich hat die Taktik<br />

der Gewerkschaftsführungen – GSEE<br />

für den Gewerkschaftsbund der Privatwirtschaft,<br />

ADEDY für den öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst, beide mit mehrheitlicher<br />

PASOK-Führung – lähmend gewirkt.<br />

Bis Ende Juni haben die Gewerkschaften<br />

zu eintägigen Gener<strong>als</strong>treiks aufgerufen,<br />

die genügend weit auseinander<br />

lagen, sodass die ArbeiterInnen<br />

diese nicht unbefristet weiterführten,<br />

solange kein neuer Streikbeschluss<br />

vorlag. <strong>Die</strong>se Taktik ist bekannt und<br />

kann schwere Konsequenzen haben,<br />

wie zum Beispiel 2009 in Frankreich,<br />

<strong>als</strong> sich am letzten Streik im Juni<br />

nur noch wenige beteiligt hatten. In<br />

Griechenland haben die brutalen Abbaumaßnahmen<br />

und die große Wut<br />

dazu geführt, dass die Bewegung bis<br />

zum letzten Streik ziemlich stark war,<br />

doch die Demos wurden immer kleiner.<br />

Sechs oder sieben landesweite<br />

Streiktage in sechs Monaten, tägliche<br />

Streiks in verschiedenen Sektoren und<br />

<strong>als</strong> Ergebnis die vollumfängliche Umsetzung<br />

der arbeiterfeindlichen Maßnahmen<br />

– dies führt unweigerlich zu<br />

einer mehr oder weniger starken Entmutigung.<br />

Selbst wenn am 11. September<br />

zwischen 15 000 und 20 000<br />

Arbeiterinnen, Arbeiter und Jugendliche<br />

an der nationalen Demonstration<br />

in Thessaloniki teilgenommen haben,<br />

entspricht dies doch nicht dem Schaden,<br />

den die bereits getroffenen und<br />

die zukünftigen Maßnahmen anrichten<br />

und noch anrichten werden.<br />

Aber wenn die Gewerkschaftsbürokratie<br />

mit ihrem Terminkalender die<br />

Bewegung so leicht ermatten konnte,<br />

so ist dies vielleicht vor allem auf die<br />

Schwäche der griechischen Arbeiterbewegung<br />

zurückzuführen. <strong>Die</strong> antikapitalistische<br />

Linke sollte jetzt dringend<br />

konkrete Vorschläge machen,<br />

damit die Bewegung wieder Vertrauen<br />

fasst. Sonst droht sie zu resignieren<br />

oder es kommt zu sozialen Explosionen,<br />

die in der Sackgasse enden. Es<br />

ist jetzt vorrangig, die Bürokraten und<br />

verschiedenen Sektierer daran zu hindern,<br />

die Arbeiterbewegung zu spalten,<br />

indem mit dem Argument zu getrennten<br />

Demonstrationen aufgerufen<br />

wird, die anderen seien Klassenverräter.<br />

In den Kämpfen muss dringend eine<br />

Einheitsdynamik angestoßen werden.<br />

<strong>Die</strong> äußerst sektiererische KKE<br />

(Kommunistische Partei Griechenlands<br />

2 ), die bestens zu spalten versteht,<br />

muss daran gehindert werden.<br />

<strong>Die</strong> Demonstration vom 5. Mai war<br />

nur deshalb so groß und stark, weil<br />

wegen der riesigen Zahl von Teilnehmenden<br />

zwischen den einzelnen Demozügen<br />

kein Abstand durchzusetzen<br />

war. Im Gegenteil: Es kam an jenem<br />

Tag sogar zu einer gewissen Vermischung,<br />

was der KKE-Führung nicht<br />

gefallen hat.<br />

Eine weitere große Schwäche der<br />

Bewegung (wie übrigens auch der Jugendbewegung<br />

im Dezember 2008)<br />

besteht darin, dass ihr jede Selbstorganisierung<br />

fehlt. Ein klarer Fortschritt<br />

hat sich in einer Differenzierung ge-<br />

2 (Kommounistikó kómma Elládas)<br />

18 INPREKORR 468/469


GRIECHENLAND<br />

zeigt. In den Demonstrationszügen<br />

waren Gruppierungen von Gewerkschaftssektionen<br />

oder sogar von regionalen<br />

Gewerkschaftsbünden mit radikalen<br />

Forderungen zu sehen (für unbefristete<br />

Streiks). Aber de facto gibt<br />

es bis heute keine wirkliche Arbeiterkoordination.<br />

<strong>Die</strong> radikale und antikapitalistische<br />

Linke (Syriza, Antarsya)<br />

hat zur Schaffung von Einheitskomitees<br />

gegen die Abbaumaßnahmen aufgerufen,<br />

aber bis heute sind sie nicht<br />

sehr zahlreich und mit einem zu kleinen<br />

Echo, um wirklich Gewicht zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Bildung von offenen und demokratischen<br />

Strukturen der Selbstorganisierung<br />

vorschlagen und dazu<br />

beitragen ist eine weitere Priorität.<br />

Kommt eine weitere Dimension<br />

dazu: <strong>Die</strong> Radikalität der Forderungen<br />

der KKE („Gegen den Kapitalismus<br />

… und die Monopole“) und<br />

der der PASOK nahe stehenden Gewerkschaftsführungen<br />

(„Wir bezahlen<br />

nicht für ‚deren’ Krise“) mag manchmal<br />

erstaunen. <strong>Die</strong> Forderungen und<br />

Transparente der kleinsten Demonstrationen<br />

zeigen klar eine Massenradikalisierung.<br />

Doch dahinter stehen große<br />

Zweifel wie bei der <strong>ganze</strong>n europäischen<br />

Arbeiterbewegung. In den Augen<br />

der allermeisten Lohnabhängigen<br />

muss sich die konkrete Umsetzung der<br />

am meisten erhobenen Forderungen<br />

erst noch zeigen. <strong>Die</strong>s gilt für Massenforderungen<br />

wie „Nein zu den Privatisierungen!“,<br />

„Keine (Teil-) Rückzahlung<br />

der Schulden!“, „Kein Geld für<br />

die Armee!“. <strong>Die</strong> kürzliche Gründung<br />

eines Komitees gegen die Rückzahlung<br />

der Schulden, das dem CADTM 3 nahe<br />

steht, ist eine gute Sache, aber die fortschrittlichsten<br />

Teile der Arbeiterbewegung<br />

müssen dringend zusammen solche<br />

Fragen diskutieren, um für solche<br />

Forderungen wirksame und selbstorganisierte<br />

Massenkämpfe zu initiieren.<br />

DIE KOMMENDEN WOCHEN<br />

<strong>Die</strong> Kämpfe der Lohnabhängigen und<br />

Jugendlichen muss neu lanciert werden.<br />

Denn die Troika stellt weitere<br />

Forderungen. Sie verlangt die Deregulierung<br />

des Arbeitsrechts (keine<br />

Flächentarifverträge mehr in der<br />

Privatwirtschaft), weitere Privatisie-<br />

3 Komitee für die Annullierung der Schulden der<br />

„Dritten Welt“.<br />

4.5.2010: Besetzung der Akropolis durch die KP Griechenlands (KKE)<br />

rungen (die Bahnen sind im Visier).<br />

<strong>Die</strong> Unternehmer verlangen Steuergeschenke,<br />

und Papandreou scheint bereit,<br />

die Gewinnsteuer von 24 % auf<br />

20 % zu senken, was bedeutet, dass es<br />

in den öffentlichen Kassen noch weniger<br />

Geld geben wird. Vor diesem Hintergrund<br />

erstaunt es nicht, dass einer<br />

von zwei EinwohnerInnen Papandreou<br />

nicht glaubt, wenn er verspricht,<br />

dieses Jahr keine weiteren Abbaumaßnahmen<br />

mehr zu erlassen.<br />

<strong>Die</strong> Gemeinde- und Regionalwahlen<br />

Anfang November sind in diesem<br />

Zusammenhang fast eine Farce.<br />

<strong>Die</strong>s auch, weil sie zugleich die zunehmende<br />

Dezentralisierung der Sparpolitik<br />

und einen wahnsinnigen Fusionsprozess<br />

der Gemeinden absegnen.<br />

Wenn auch in verzerrter Form, so werden<br />

sie doch das Kräfteverhältnis widerspiegeln.<br />

<strong>Die</strong> Wahlabstinenz wird<br />

groß sein. <strong>Die</strong> AntikapitalistInnen<br />

müssen diese Menschen ansprechen<br />

können. Heute besteht das Hauptproblem<br />

in der schnellen Stärkung der antikapitalistischen<br />

Linken in einem Umfeld,<br />

wo sich links der PASOK (in der<br />

es für zentrifugale Kräfte ein gewisses<br />

Potenzial gibt) die KKE zu verstärken<br />

scheint (laut Umfragen auf 9 %), wo<br />

Syriza abstürzt (2,8 % verglichen mit<br />

6,8 % der extrem rechten LAOS 4 ) und<br />

4 Laïkós Orthódoxos Synagermós – „orthodoxe<br />

wo es zwischen der ehemaligen und<br />

der heutigen Führungsfigur von Syriza<br />

zum offenen Streit gekommen ist.<br />

<strong>Die</strong>s wiederum hat dazu geführt, dass<br />

es in Attika, der größten Arbeiterregion<br />

Griechenlands, zwei Syriza-Kandidaturen<br />

geben wird. Wir kommen darauf<br />

zurück, denn die Situation verändert<br />

sich rasch, und eine Bilanz Bilanz<br />

dieses radikal-reformistischen Bündnisses<br />

drängt sich auf. Wichtig ist aber<br />

vor allem die Frage, ob der antikapitalistische<br />

Zusammenschluss Antarsya<br />

(mit – unter anderen – den beiden<br />

wichtigsten Organisationen der revolutionären<br />

Linken und mit OKDE-Spartakos,<br />

der griechischen Sektion der IV.<br />

Internationale), welche bei den Mobilisierungen<br />

im Frühling eine Rolle gespielt<br />

hat, die wahrgenommen wurde,<br />

sich zu entwickeln vermag.<br />

Athen, 15. September 2010<br />

Tassos Anastassiadis und Andreas Sartzekis<br />

sind Leitungsmitglieder der OKDE-Spartakos,<br />

griechische Sektion der IV. Internationale.<br />

<strong>Die</strong>se wiederum ist Mitglied des Bündnisses<br />

der antikapitalistischen Linken Antarsya.<br />

Übersetzung: Ursi Urech<br />

Sammlung des Volkes“ (Wikipedia: „völkischorthodoxe<br />

Sammlung“), wobei das Parteikürzel<br />

selbst wieder „Volk“ bedeutet.<br />

INPREKORR 468/469 19


OSTEUROPA<br />

Osteuropa in der Systemkrise<br />

Catherine Samary<br />

Der Aufbau eines vereinten Europa rief<br />

Hoffnungen unter der Bevölkerung hervor,<br />

die im diametralen Gegensatz zur<br />

gegenwärtigen Entwicklung standen.<br />

Ein weltoffenes Europa, in dem keine<br />

Politik gegen das Volk gemacht würde<br />

und das auf demokratischen, sozialen,<br />

ökologischen und solidarischen Werten<br />

basiert – so waren die Hoffnungen<br />

in Osteuropa, dessen Bevölkerung sich<br />

ein freieres und besseres Leben versprach.<br />

Ihre Erwartungen wurden zutiefst<br />

enttäuscht und damit der Boden<br />

für fremdenfeindliche Tendenzen geschaffen.<br />

Um wieder Herr der eigenen<br />

Entscheidung werden und über ihre<br />

Zukunft bestimmen zu können, müssen<br />

die Betroffenen verstehen, welche Umbrüche<br />

in der Vergangenheit stattgefunden<br />

haben und wo es Fehlentwicklungen<br />

gegeben hat und wie die gegenwärtige<br />

Krise beschaffen ist.<br />

DER EINTRITT OSTEUROPAS IN<br />

DIE NEUE WELTORDNUNG WÄH-<br />

REND DER 80ER JAHRE<br />

<strong>Die</strong> 70er Jahre waren geprägt durch eine<br />

Krise der Profitrate und der Weltordnung,<br />

die die kapitalistischen Metropolen<br />

betraf. <strong>Die</strong> Länder Ost- und Mitteleuropas<br />

hingegen waren weiterhin<br />

von der wirtschaftlichen „Unterstützung“<br />

durch die UdSSR abhängig, die<br />

durch Panzerläufe gelegentlich ergänzt<br />

wurde, wie das Beispiel der Tschechoslowakei<br />

zeigte. Zu ihrer Verschuldung<br />

gegenüber Moskau in nicht konvertierbaren<br />

Rubeln, die sich im Rahmen<br />

der Tauschbeziehungen innerhalb<br />

des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)<br />

ergab, kamen nunmehr<br />

Schulden in harter Währung hinzu,<br />

die besonders drückten. <strong>Die</strong> UdSSR<br />

war davon nicht betroffen, da sie noch<br />

dem finanziellen und ökonomischen<br />

Boykott des Kalten Krieges unterworfen<br />

war, der seit 1917 den Import<br />

von Spitzentechnologie blockiert hatte.<br />

<strong>Die</strong> Öffnung gegenüber Westimporten<br />

mit dem Ziel, moderne Technologien<br />

zu erwerben, ging daher – mit der<br />

Billigung Moskaus – von den osteuropäischen<br />

Ländern aus, die nicht dem<br />

westlichen Boykott unterlagen. Für<br />

die betroffenen Regimes ging es auch<br />

um den Erwerb westlicher Konsumgüter,<br />

um die Unzufriedenheit unter der<br />

eigenen Bevölkerung nach den fehlgeschlagenen<br />

Wirtschaftsreformen in<br />

den 60ern aufzufangen. Zudem sollten<br />

westliche Technologien Qualität und<br />

Produktivität in der Exportwirtschaft<br />

verbessern, damit durch diese Exporte<br />

die Schulden in fremder Währung bezahlt<br />

werden konnten. Durch den bürokratischen<br />

Konservatismus jedoch<br />

wurden die Technologieimporte wenig<br />

effizient eingesetzt, so dass die Verschuldung<br />

immer weiter anstieg und<br />

durch die steigenden Zinssätze Anfang<br />

der 80er noch zusätzlich beschleunigt<br />

wurde.<br />

Zugleich war mit dem Regierungsantritt<br />

von Reagan das Wettrüsten nach<br />

der Sowjetintervention in Afghanistan<br />

in eine entscheidende Phase eingetreten,<br />

was der Sowjetunion in der ersten<br />

Hälfte der 80er schwer zu schaffen<br />

machte. Den USA hingegen ermöglichte<br />

dies eine Offensive auf mehreren<br />

Ebenen, in denen sie selbst von der<br />

Krise betroffen war. Einerseits wurden<br />

im eigenen Land durch die öffentlichen<br />

Rüstungsausgaben Forschung und Innovation<br />

gefördert und die seit Beginn<br />

des Jahrzehnts in der Rezession steckende<br />

Wirtschaft angekurbelt. Andererseits<br />

wurde im internationalen Maßstab<br />

die Wiedererlangung der politischmilitärischen<br />

und technologischen Hegemonie<br />

eingeläutet und durch die militärischen<br />

Interventionen des Folgejahrzehnts<br />

gesichert. <strong>Die</strong> technologische<br />

Revolution in den USA und den<br />

entwickelten kapitalistischen Ländern,<br />

die entscheidend dazu beitrug, dass die<br />

herrschenden Klassen die sozialen Verhältnisse<br />

und die Weltordnung neu aufstellen<br />

konnten, stellte den Vorsprung<br />

vor den UdSSR und Osteuropa wieder<br />

her, der in den Jahrzehnten nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg drastisch geschrumpft<br />

war.<br />

In den 80er Jahren wurde die Schuldenkrise<br />

in etlichen osteuropäischen<br />

Ländern – Rumänien, Jugoslawien,<br />

Ungarn, Polen und der DDR – unübersehbar.<br />

Unfähig zu einer wirklichen<br />

Reform von innen, solange es nicht zu<br />

einer echten antibürokratischen Transformation<br />

der Gesellschaft kam, hatten<br />

sie sich in den 70er Jahren munter<br />

bei den Banken 1 verschuldet, um westliche<br />

Technologie zu importieren. <strong>Die</strong>se<br />

Schuldenkrise war Auftakt zu einer<br />

neuen historischen Phase, in der die<br />

osteuropäischen Gesellschaften von<br />

außen real unter Druck gesetzt werden<br />

konnten, zumal die UdSSR unter Gorbatschow<br />

dam<strong>als</strong> ihr „Engagement“<br />

nach außen zurückzunehmen begann,<br />

um ihrerseits westliche Kredite für die<br />

fällige eigene Modernisierung zu erhalten.<br />

<strong>Die</strong> Jagd nach harter Währung<br />

zur Finanzierung der Importe führte<br />

Ende der 80er Jahre zu neuen Spannungen<br />

und Pressionen innerhalb des<br />

RGW, da die Sowjetunion inzwischen<br />

ihrerseits auf Schuldentilgung – möglichst<br />

in harter Währung – bestand,<br />

und stellte die Außenpolitik unter den<br />

Primat, vom Westen Gelder und Technologien<br />

zu erhalten. Nunmehr wurde<br />

die „Nichteinmischungspolitik“ praktiziert,<br />

wie das Abkommen mit dem<br />

Kanzler Kohl zur deutschen Wiedervereinigung<br />

zeigte.<br />

Inzwischen hatten die fünf verschuldeten<br />

Länder Osteuropas sich<br />

wirtschaftlich und politisch in unterschiedlicher<br />

Weise neu ausgerichtet,<br />

was sich entscheidend bei der historischen<br />

Wende hin zu einem neuen<br />

System Anfang der 80er Jahre auswirken<br />

sollte:<br />

Jugoslawien geriet in den 80ern<br />

unter den Druck des IWF und war<br />

durch die aufkommenden sozialen<br />

und ethnischen Konflikte so-<br />

1 In den 70er Jahren haben die westlichen<br />

Banken versucht die Petro-Dollars anzulegen,<br />

in dem sie den Ländern des Südens<br />

umfangreiche Kredite anboten. Weniger<br />

bekannt ist, dass sie das auch in Bezug auf<br />

östliche Staaten (Jugoslawien, Ungarn,<br />

Rumänien, Polen und die DDR) taten. Deren<br />

Schuldenkrise im folgenden Jahrzehnt war<br />

ein entscheidender Hebel für den auswärtigen<br />

Druck durch westliche Gläubiger und den<br />

WWF.<br />

20 INPREKORR 468/469


OSTEUROPA<br />

wie durch die dreistellige Hyperinflation<br />

<strong>als</strong> Ausdruck der Zersetzung<br />

des Systems paralysiert. <strong>Die</strong> ethnischen<br />

Säuberungskriege, die mit<br />

der Zerschlagung des jugoslawischen<br />

Staatenbundes und Systems<br />

einherging, und die Untauglichkeit<br />

der Friedenspläne von EU und UN<br />

wurden von den USA ausgenutzt,<br />

um die Nato nach Auflösung des<br />

Warschauer Paktes neu zu positionieren:<br />

<strong>Die</strong> Jugoslawienkrise war<br />

ein entscheidender Schritt zur euroatlantischen<br />

Integration dieser Region.<br />

2<br />

<strong>Die</strong> ungarische KP-Führung war die<br />

einzige, die auf die Außenverschuldungskrise<br />

mit dem Ausverkauf der<br />

heimischen Spitzenunternehmen<br />

an ausländisches Kapital reagierte,<br />

was anfangs eine nur moderate<br />

Austeritätspolitik im Innern ermöglichte<br />

und Ungarn im darauf folgenden<br />

Jahrzehnt des „Übergangs“<br />

zum Hauptziel ausländischer Direktinvestitionen<br />

machte. Und im<br />

Gefolge der von Gorbatschow geschaffenen<br />

neuen europäischen Beziehungen<br />

zögerten sie auch nicht,<br />

für ein gewisses Entgegenkommen<br />

am Fall der Mauer mitzuwirken.<br />

Umgekehrt wollte der Diktator<br />

Ceausescu die rumänischen Schulden<br />

komplett auf dem Rücken des<br />

eigenen Volkes zurück bezahlen.<br />

Schließlich schreckte die Nomenklatura<br />

selbst vor der Sprengkraft<br />

dieses Vorhabens zurück und inszenierte<br />

eine Pseudorevolution, die<br />

mit der Hinrichtung des Diktators<br />

Ende der 80er Jahre endete.<br />

Zur gleichen Zeit beschloss die<br />

BRD, sich die DDR wieder einzuverleiben<br />

– im Einverständnis mit<br />

der Sowjetunion, die von Deutschland<br />

Ausgleichszahlungen im Zuge<br />

der Truppenrückführung erhielt.<br />

In Polen schließlich ermöglichten<br />

Kompromissabkommen nach<br />

der Unterdrückung von Solidarnosc<br />

unter dem Regime von General<br />

Jaruzelski die Einführung einer<br />

neoliberalen Schocktherapie, die<br />

von einem Schuldenerlass durch<br />

die USA Anfang der 90er Jahre gestützt<br />

wurde. Man scheute keine<br />

Kosten, um die neuen „Eliten“ an<br />

2 S. die Website von Catherine Samary (in<br />

französisch) http://csamary.free.fr, in den<br />

Artikeln wird auf die „Unordnung in der Welt“<br />

eingegangen.<br />

der Macht für Privatisierungen und<br />

die Nato zu gewinnen.<br />

Aber wie war das Wachstum (<strong>als</strong> BIP<br />

ausgedrückt) beschaffen, das nach der<br />

Zerstörung des alten Systems unter<br />

den Bedingungen der Marginalisierung<br />

(im Sinne der Unterordnung unter<br />

externe Maßstäbe und Finanzierungen)<br />

entstand und dem EU-Eintritt<br />

voranging?<br />

Bei der Beantwortung dieser Frage<br />

müssen wir zwei Hauptphasen unterscheiden<br />

und dabei den Sonderweg<br />

Sloweniens vor der politischen Kehrtwende<br />

2008/9 berücksichtigen.<br />

1989 BIS ENDE DER 90ER JAH-<br />

RE: „SYSTEMKRISE“ UND „PRI-<br />

VATISIERUNG OHNE KAPITAL“<br />

<strong>Die</strong> 90er Jahre wurden zum Jahrzehnt<br />

der durchgängigen Zerstörung des alten<br />

Systems (Privatisierungen, geänderte<br />

Kriterien der Unternehmensführung<br />

etc.) in zwei Phasen: in der ersten<br />

Hälfte brach die Wirtschaft in allen<br />

Branchen um 20-30 % ein. Dann<br />

setzte eine Erholung ein 3 , die ungleich<br />

von statten und mit Arbeitsplatzverlusten<br />

und Lohnspreizungen<br />

einher ging. „<strong>Die</strong> Ungleichheit wuchs<br />

in der Wirtschaft aller Übergangsgesellschaften“,<br />

an deren „Ausgang die<br />

weltweit geringsten Ungleichheiten<br />

bestanden hatten“. 4<br />

Ohne diese Quelldaten ließe sich<br />

nicht verstehen, warum zu Beginn der<br />

90er Jahre bei den ersten pluralistischen<br />

Wahlen – die Haupterrungenschaft<br />

gegenüber den alten Regimes<br />

– die Stimmen des Volkes an die ehemaligen<br />

KPen gingen. <strong>Die</strong>s war nicht<br />

Ausdruck einer Sehnsucht nach dem<br />

Einparteienstaat, der radikal abgelehnt<br />

wurde, sondern nach dem Recht<br />

auf einen Arbeitsplatz und Zugang für<br />

Alle zu den elementaren Gütern und<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen. Bloß, dass dann die<br />

„Ex“ diese Rechte nicht weiter ver-<br />

3 Polen war das erste Land, dessen Wirtschaft<br />

wieder wuchs und das Niveau des BIP von<br />

1989 wieder erreichte ... durch Streichung<br />

seiner Auslandsschulden – was selten erwähnt<br />

wird – und einem Jahrzehnt der Repression<br />

ausgehend von einem sehr tiefen Niveau. …<br />

Nur die Länder Zentraleuropas haben im Jahr<br />

2000 das Niveau ihres BIP von 1989 wieder<br />

erreicht.<br />

4 Weltbank (BM), Regional Overview , 1998. S.<br />

auch BM „Dix ans de transition“, Bericht von<br />

2002.<br />

traten, die mit dem Verständnis von<br />

Wachstum und „Konvergenz“ seitens<br />

Westeuropas nicht vereinbar waren.<br />

Fortan wurde der „Aufholungsprozess“<br />

gegenüber dem Westen nur noch<br />

nach Wachstumsraten des BIP definiert,<br />

was keineswegs ein Indikator<br />

des „Wohlergehens“ ist. <strong>Die</strong> Angleichung<br />

der Systeme wurde nach Privatisierungsgrad<br />

bemessen. Bloß, woher<br />

kam das Geldkapital? Im alten System<br />

war eine Akkumulation nicht möglich<br />

und diejenigen, die früher den<br />

Parteienstaat verwaltet hatten, zogen<br />

es nun vor, Nutznießer der Privatisierungen<br />

zu sein. Also wurden die „Massenprivatisierungen“<br />

geschaffen, bei<br />

denen die Unternehmen auf verschiedene<br />

Weise legal in private GmbH umgewandelt<br />

wurden. Ihr Gesellschafterkapital<br />

wurde in Anteile unterteilt und<br />

virtuell kostenlos verteilt – teils an die<br />

Beschäftigten und BürgerInnen und<br />

der Rest an den Staat. Nur Ungarn und<br />

Estland entschieden gleich zu Beginn<br />

des „Übergangs“ ihre führenden Unternehmen<br />

für „echtes“ Geld-Kapital<br />

zu verkaufen, d. h. an ausländisches<br />

Kapital. 5<br />

1999–2008: EU-ERWEITERUNG<br />

NACH OSTEN UND ZUTIEFST<br />

UNAUSGEWOGENES WACHS-<br />

TUM<br />

Das 1999 beschlossene Unterfangen<br />

der EU, zehn mittel- und osteuropäische<br />

Länder aufzunehmen 6 zielte de<br />

facto darauf ab, die wachsende Unzufriedenheit<br />

in der Bevölkerung einzudämmen.<br />

<strong>Die</strong>se zeigt sich bis heute auf<br />

Wahlebene in zunehmender Stimmenthaltung<br />

und Voten für fremdenfeindliche<br />

Parteien und in der Problematik,<br />

regierungsfähige Mehrheiten zu bilden.<br />

Somit war die Erweiterung geo-<br />

5 <strong>Die</strong> Entwicklung dieser Analysen über die<br />

„große kapitalistische Transformation“ im<br />

Osten, sowie die Ausdehnung der EU nach<br />

Osten sind zu finden auf der Website http://<br />

csamary.free.fr. S. ebenfalls Jean-Pierre<br />

Pagé, „Europe de l’Est : économie politique<br />

d’une décennie de transition“, Critique<br />

internationale, n° 6, hiver 2000.<br />

6 Nach den acht im Jahr 2004 zusammen mit<br />

Zypern und Malta zuerst aufgenommenen<br />

Ländern, denen Rumänien und Bulgarien im<br />

Jahr 2007 folgten, versprach die Ratstagung<br />

von Thessaloniki im Jahr 2003, dass die<br />

EU sich auch für Kandidatenländer auf<br />

dem westlichen Balkan (Albanien und die<br />

Republiken Ex-Jugoslawiens mit Ausnahme<br />

Sloweniens, das schon Mitglied ist) öffnen<br />

würde.<br />

INPREKORR 468/469 21


OSTEUROPA<br />

Tabelle 1: Durchschnittliche Wachstumsrate des BSP und der<br />

Beschäftigtenzahlen<br />

BSP<br />

politisch motiviert, ging aber nicht mit<br />

Maßnahmen einher, die soziale und<br />

wirtschaftliche Stabilität herstellten.<br />

(Tabelle 1)<br />

<strong>Die</strong> Unterschiede bzgl. des BIP pro<br />

Einwohner zwischen den ärmsten und<br />

reichsten E-Staaten betrugen nach dem<br />

Beitritt Spaniens und Portug<strong>als</strong> bis zum<br />

4,9-fachen. Nach dem Beitritt Rumäniens<br />

und Bulgariens reichte die Spanne<br />

bis zum 20,1-fachen. Aber während die<br />

Erweiterung um die südeuropäischen<br />

Länder und Irland durch eine Aufstockung<br />

des EU-Budgets um Strukturbeihilfen<br />

flankiert worden war, wurde mit<br />

der „Agenda 2000“ der EU das Gegenteil<br />

beschlossen. Deutschland hatte seine<br />

eigene Währung nur unter der Maßgabe<br />

strikter Haushaltsvorgaben aufgegeben<br />

und war nicht bereit, für die Integration<br />

der Länder Mittel- und Osteuropas<br />

„zuzuzahlen“. 7 Hingegen konnte<br />

Deutschland bei der Erweiterung „kassieren“:<br />

viele Arbeitsplätze wurden<br />

dorthin verlagert, wodurch die Löhne<br />

in Deutschland unter Druck gerieten<br />

und das (schwache) Wirtschaftswachstum<br />

in den ersten zehn Jahren des neuen<br />

Jahrtausend auf Exportüberschüssen<br />

beruhte. Der EU-Haushalt wurde<br />

auf ein Prozent des BIP gedeckelt<br />

7 <strong>Die</strong> Vereinigung Deutschlands führte während<br />

eines Jahrzehnts zum Transfer von ca. jährlich<br />

100 Milliarden DM in die neuen Länder.<br />

1989-1994 1994-2000 2000-2007<br />

Beschäftigtenzahl<br />

BSP<br />

BSP<br />

– wohingegen der Bundeshaushalt der<br />

USA bei 20 % liegt – und die Maastricht-Verträge<br />

limitierten zugleich die<br />

Verschuldung und das Staatsdefizit und<br />

untersagten jedwede Staatsfinanzierung<br />

durch die Zentralbanken zu ermäßigten<br />

oder zinslosen Bedingungen <strong>als</strong><br />

Voraussetzung für den Beitritt in die<br />

Euro-Zone.<br />

So wurden diese Länder i. W. dazu<br />

getrieben, auf private Finanzierung zurückzugreifen,<br />

die <strong>als</strong> effizient gepriesen<br />

wurden und mit freiem Kapitalverkehr<br />

einhergingen.<br />

Wie können ausländische Direktinvestitionen<br />

angezogen werden? Durch<br />

Sozial- (niedrigere Löhne und Sozi<strong>als</strong>icherung)<br />

und Steuerdumping. <strong>Die</strong> Kapit<strong>als</strong>teuerquote<br />

sank zwischen 2000<br />

und 2009 um 8,4 Punkte, wobei im<br />

Osten die niedrigsten Lasten bestehen<br />

mit der stärksten Ausprägung in Lettland,<br />

wo nur 15 % vs. 23,5 % im EU-<br />

Gesamtdurchschnitt erhoben werden. 8<br />

In Einklang mit den „Kriterien“ wurde<br />

die Senkung der Einkommenssteuer<br />

flankiert von Einschnitten bei den Sozialausgaben.<br />

Als Ungarn die Staatsausgaben<br />

für Erziehung und Gesundheit<br />

zwischen 2003 und 2006 erhöhen<br />

wollte, musste es sich an die Finanz-<br />

8 S. Eurostats vom 22 Juni 2009.<br />

Nahezu die gesamten Schulden Osteuropas<br />

in Höhe von 1,7 Billionen Dollar<br />

werden de facto von westeuropäischen<br />

Banken gehalten – darunter Osterreich,<br />

Italien, Frankreich, Belgien,<br />

Deutschland und Schweden mit zu-<br />

Beschäftigtenzahl<br />

Beschäftigtenzahl<br />

Bulgarien -5,7 -5,8 -0,2 0,0 5,6 2,0<br />

Estland -1,6 -4,3 5,8 -2,7 8,0 1,7<br />

Ungarn -3,2 -4,2 3,6 0,5 3,8 0,3<br />

Lettland -11,2 -5,1 4,3 -2,3 9,0 2,4<br />

Litauen -11,5 -2,0 4,5 -1,2 8,0 1,3<br />

Polen -1,6 -3,6 5,7 -0,2 4,0 0,6<br />

Tschech. Republik -2,3 -2,0 2,2 -0,8 4,5 0,8<br />

Rumänien -4,6 -1,8 0,1 -2,4 6,1 -0,8<br />

Slowakei -2,4 nd* 3,8 -0,6 6,2 1<br />

Slowenien -2,3 -4,6 4,3 -0,3 4,4 0,9<br />

Tabelle 2 : Das unausgewogene Wachstum der baltischen Länder vor<br />

der Krise<br />

2006 Litauen Estland Lettland<br />

Anstieg des BIP 7,8 % 10,4 % 12,1 %<br />

Zunahme der Kredite 35,0 % 53,0 % 52,0 %<br />

Leistungsbilanz<br />

(in % des BIP)<br />

-9,5 % -14,6 % -21,3 %<br />

Source : BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich)<br />

märkte wenden, um das Staatsdefizit<br />

von 9 % zu finanzieren.<br />

<strong>Die</strong> freie Kapitalbewegung erschließt<br />

andere, private Finanzierungsquellen:<br />

die Banken. Nach der kapitallosen<br />

Privatisierung entstand im ersten<br />

Jahrzehnt 2000 eine existentielle Abhängigkeit<br />

von den Banken, die durch<br />

die EU-Mitgliedschaft befördert wurde.<br />

(Tabelle 2)<br />

In 2008 lagen die Bankschulden in den<br />

zehn neuen Mitgliedstaaten mit der<br />

Ausnahme Sloweniens größtenteils bei<br />

Auslandsbanken (65-80 % für Lettland<br />

und Polen und 82–100 % für die anderen<br />

sieben). 9 Slowenien bewahrte hartnäckig<br />

70 % des Bankengeschäfts unter<br />

staatlicher Kontrolle und zudem den<br />

Großteil seiner Infrastruktur (Energieund<br />

Transportwesen …) trotz der wiederholten<br />

Vorhaltungen seitens EU-<br />

Kommission, Weltbank, OECD und<br />

EBRD. 10 Der für Slowenien einmalige<br />

Einfluss der Gewerkschaften, die mehrere<br />

Gener<strong>als</strong>treiks organisierten, setzte<br />

den Einschnitten bei Steuern und Löhnen<br />

Grenzen. Somit verfügt Slowenien<br />

über die geringsten „Konkurrenzvorteile“<br />

aller mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten in puncto Löhne … und über<br />

den geringsten Grad an ausländischen<br />

Direktinvestitionen pro Kopf, die zwischen<br />

1989 und 2008 bei 1500 Dollar<br />

lagen, während der Durchschnitt etwa<br />

4500 Dollar beträgt und in der Spitze<br />

bei über 6500 Dollar (Ungarn und Estland)<br />

liegt. Das BIP pro Kopf hingegen<br />

ist das höchste von all diesen Ländern<br />

und reicht an Spanien heran. <strong>Die</strong>s verhinderte<br />

freilich nicht, dass es „schlechte<br />

Noten“ wegen der mangelnden Compliance<br />

für die „Regeln“ des reinen und<br />

vollendeten (ungleichen) Wettbewerbs<br />

erhielt.<br />

DAS NEUE OSTEUROPÄISCHE<br />

„MEZZOGIORNO“ VOR DEM KRI-<br />

SENTEST<br />

9 Quelle: EBRD (Europäische Bank für<br />

Wiederaufbau und Entwicklung).<br />

10 In dem Bericht über Slownien „Transition<br />

report“ 2009, S. 224, werden alle diese Klagen<br />

dargestellt.<br />

22 INPREKORR 468/469


OSTEUROPA<br />

sammen 84 %. <strong>Die</strong> Privatbanken räumten<br />

jedoch öffentlichen Schuldnern und<br />

Verbraucherkrediten Vorrang ein, um so<br />

den multinationalen Konzernen den Zugang<br />

zum Einzelhandel und zu Immobilieninvestitionen<br />

zu ebnen. Der Irrsinn<br />

des durch Verschuldung angeheizten<br />

Konsums bei gleichzeitiger allgemeiner<br />

Verarmung war somit die Grundlage für<br />

den jüngsten Wachstumsschub – bes. in<br />

den baltischen Staaten – und der damit<br />

einher gehenden zutiefst unausgewogenen<br />

Handelsbilanz, letzteres namentlich<br />

in den Ländern, deren Währungskurs<br />

durch die rigide Anbindung an den<br />

Euro konstant gehalten wird – wiederum<br />

bes. in den baltischen Staaten.<br />

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verführten<br />

die weltweit sinkenden Zinssätze<br />

zur Verschuldung in Fremdwährung,<br />

wo immer günstige Wechselkurse bestanden.<br />

Fast 90 % der in Ungarn seit<br />

2006 aufgenommenen Hypotheken lauten<br />

in Schweizer Franken und die Gesamtsumme<br />

der Darlehen in SF außerhalb<br />

der Schweiz liegt bei schätzungsweise<br />

500 Mrd. Euro. 45 % der Immobiliendarlehen<br />

und 40 % aller Verbraucherkredite<br />

lauten in SF – mehr <strong>als</strong> in<br />

der landeseigenen Währung Forint. Als<br />

die Zinsen auf den SF stiegen und die<br />

Kapitalflucht den Kurs des Forint verfallen<br />

ließ, waren die Folgen fatal.<br />

<strong>Die</strong> vorwiegend von österreichischen<br />

und schwedischen Instituten gewährten<br />

Darlehen entsprechen 20 % des<br />

BIP in Tschechien, Ungarn und der Slowakei<br />

und 90 % in den baltischen Staaten.<br />

Allein 2009 mussten diese Länder<br />

umgerechnet 400 Mrd. Dollar zurückzahlen<br />

oder umschulden – ein Viertel<br />

des BIP der gesamten EU <strong>als</strong>o. (Tabelle<br />

3)<br />

Ab September 2008 schlugen die<br />

Kapitalabflüsse und Exportrückgänge<br />

in etlichen Ländern durch und zwangen<br />

sie, sich an den IWF zu wenden. In erster<br />

Linie waren die Länder betroffen,<br />

deren Wirtschaftswachstum am stärksten<br />

von Darlehen und Finanzierungen<br />

von außen abhing, nämlich Ungarn,<br />

die Ukraine und die baltischen Staaten.<br />

In 2009 wies lediglich Polen 11 eine<br />

(schwach) positive Wachstumsrate<br />

auf, während in den anderen Ländern<br />

der Region ein Rückgang zwischen 3 %<br />

und über 10 % zu verzeichnen war – am<br />

11 Außer den Ländern Zentral- und Ost-Europas<br />

hatte Albanien 2009 noch eine Wachstumsrate<br />

von 3 Prozent, bevor dort die Rezession<br />

Anfang 2010 begann.<br />

Tabelle 3 : Wachstumsrate des BSP und der Beschäftigtenzahlen (und<br />

Arbeitlosenquote) 2008 und 2009<br />

2008 2009<br />

BSP<br />

meisten betroffen wiederum das Baltikum<br />

– was entsprechende politische und<br />

soziale Krisen nach sich zog.<br />

Natürlich kamen jetzt Zweifel auf 12 :<br />

„<strong>Die</strong> mittel- und osteuropäischen Länder<br />

waren (…) bereits vor Ausbruch der<br />

Krise durch die strukturelle Unausgewogenheit<br />

ihres Wachstumsmodells angeschlagen.<br />

Insofern war der Integrationsprozess<br />

wohl nicht wirklich nachhaltig.<br />

(…) Aber es bedurfte offensichtlich<br />

erst der Krise, damit dies augenscheinlich<br />

wurde.“ 13<br />

Nichtsdestotrotz galt in dem Bericht<br />

der EBRD von 2009 die <strong>ganze</strong> Sorge der<br />

Weiterführung der Privatisierungen und<br />

der Marktfinanzierung <strong>als</strong> Inbegriff des<br />

„Übergangs“. Aus guten Gründen ist<br />

man erfreut darüber, dass sich die dort<br />

engagierten westlichen Banken nicht<br />

wie bloße Spekulanten einfach zurückgezogen<br />

haben. Dennoch gehen die finanziellen<br />

Engagements angesichts der<br />

damit verbundenen Risiken zurück.<br />

EIN RÜCKBLICK AUF DIE<br />

„GROSSZÜGIGEN“ ANGEBOTE<br />

BEI DER „HISTORISCHEN“ VER-<br />

EINIGUNG EUROPAS<br />

Der Fall der Berliner Mauer war für<br />

Osteuropa der Auftakt zu einer neuen<br />

geschichtlichen Etappe. Zugleich war<br />

12 S. Jason Bush, „Latvia’s Crisis Mirrors<br />

eastern Europe’s Woes“, vom 03.03.2009 nach<br />

Spiegelonline.<br />

13 Alexandre Vincent, „PECO : la convergence à<br />

l’épreuve de la crise“. In : Conjoncture Nr. 1,<br />

Januar 2010.<br />

Reallohn<br />

BSP<br />

Beschäftigtenzahl<br />

(Arbeitslosen-quote)<br />

Beschäftigtenzahl<br />

(Arbeitslosenquote)<br />

Reallohn<br />

Bulgarien 6,0 3,3 (5,6) 7,4 -1,6 -2,2 (7,9) 3,4<br />

Estland<br />

-3,6 0,2 (5,5) 4,1 -10,3 -7,0 (15,2) -3,6<br />

Ungarn<br />

0,5 -1,2 (7,8) 1,5 -6,3 -3,0 (9,9) -3,2<br />

Lettland<br />

-4,6 0,7 (7,5) 0,9 -13,1 -8,9 (20,9) -10,8<br />

Litauen 3,0 -0,5 (5,8) 4,3 -11,0 -7,7 (13,8) -12,9<br />

Polen 4,8 4,0 (7,1) 3,7 -1,4 -2,3 (8,4) 0,8<br />

Tschech. Republik<br />

3,2 1,2 (4,4) 0,8 -2,7 -1,7 (7,1) 2,1<br />

Rumänien 7,1 0,3 (5,8) 12,0 -4,0 -2,2 (6,4) 2,2<br />

Slowenien 3,5 2,9 (4,4) 2,0 -3,4 -4,7 (6,2) 1,6<br />

Slowakei 6,4 2,9 (9,5) 4,2 -2,6 -1,7 (12,2) 2,5<br />

Quelle: Eurostat und online database des WIIW (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche)<br />

er aber auch ein Wendepunkt der neoliberalen<br />

Globalisierung und des Aufbaus<br />

eines vereinten Europa.<br />

<strong>Die</strong> Maastricht-Verträge von 1992<br />

versuchten, die sozialökonomische<br />

und politische Heterogenität der Mitgliedsstaaten<br />

zu glätten, indem sie<br />

strenge monetaristische Kriterien<br />

festlegten, die in keinem anderen der<br />

reichsten Staaten dieses Planeten (Japan,<br />

USA …) angewendet werden:<br />

Begrenzung der Staatsdefizite und –<br />

schulden, wobei Finanzhilfen für die<br />

Mitgliedsstaaten durch die Zentralbanken<br />

innerhalb der Eurozone verboten<br />

sind. Hintergrund für die weitgehend<br />

willkürlichen Kriterien war bei den<br />

Verhandlungen der Verzicht Deutschlands<br />

auf die eigene Währung und seine<br />

Vorbehalte gegenüber der „Laxheit“<br />

der Randstaaten. Dam<strong>als</strong> misstraute<br />

Deutschland den Ländern am südlichen<br />

Rand der EU bei der Einführung<br />

des Euro und der künftigen Rolle der<br />

EZB. Von einem Beitritt der Länder<br />

Mittel- und Osteuropas war noch lange<br />

nicht die Rede. Es stand außer Zweifel<br />

– und Deutschland nahm es sogar<br />

in seine Verfassung auf – dass die EZB<br />

einem Mitgliedsstaat in Schwierigkeiten<br />

nicht beistehen durfte. <strong>Die</strong> nationalen<br />

Haushalte waren <strong>als</strong>o gehalten,<br />

für Ausgeglichenheit zu sorgen, ohne<br />

dass auf europäischer Ebene ein Ausgleich<br />

für die daraus entstehenden Probleme<br />

vorgesehen war.<br />

<strong>Die</strong> früheren Erweiterungen um die<br />

Länder im Süden waren mit einer Erhöhung<br />

des europäischen Budgets –<br />

INPREKORR 468/469 23


OSTEUROPA<br />

insbesondere des sogenannten Kohäsionsfonds<br />

– verbunden, um die Länder<br />

zu unterstützen, deren BIP unterhalb<br />

des Durchschnitts lag. <strong>Die</strong> neuen Erweiterungen<br />

wurden mit einem minimalen<br />

europäischen Budget vorgenommen.<br />

Das französich-deutsche Duo<br />

setzte für die Dekade 2000 eine Deckelung<br />

dieses Budgets auf 1 Prozent<br />

des BIP fest. <strong>Die</strong> EU hat somit eine gemeinsame<br />

Währungspolitik, die unterschiedliche<br />

Auswirkungen auf Staaten<br />

mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen<br />

hat. Sie verfügt nicht über ein<br />

Budget, das ausreicht, um diese Asymmetrien<br />

auf dem Wege der Umverteilung<br />

auszugleichen und setzt stattdessen<br />

<strong>als</strong> gemeinsamen Wert ein Recht<br />

auf Wettbewerb durch, das Vorrang vor<br />

den Prinzipien von Solidarität und sozialer<br />

Sicherheit hat.<br />

Hinter diesen Kriterien steckten<br />

große Machtunterschiede zwischen<br />

den Staaten, und es gab insbesondere<br />

eine „deutsche Ausnahme“, festgeschrieben<br />

im europäischen Verfassungsprojekt:<br />

im Zeitraum von mehr<br />

<strong>als</strong> 10 Jahren beliefen sich die Transfers<br />

von der Bundesrepublik in die<br />

„neuen Länder“ auf mehr <strong>als</strong> 100 Mil-<br />

Lebenserwartung in den osteuropäischen Ländern 1970 und 2002 im Vgl. zu Frankreich<br />

Durchschnitt 1970–1975 Durchschnitt 2000–2005<br />

Bulgarien 98,1 % 89,7 %<br />

Ungarn 95,7 % 91,0 %<br />

Polen 97,4 % 93,5 %<br />

Tschech. Republik 96,8 % 95,4 %<br />

Rumänien 95,6 % 89,2 %<br />

Slowakei 96,7 % 93,3 %<br />

Quelle: UNDP-Bericht 2004 zur menschlichen Entwicklung<br />

Vor der geschlossenen<br />

Tveruniversalbank<br />

liarden DM pro Jahr (pro Jahr mehr<br />

<strong>als</strong> die Gesamtsumme privater Investitionen<br />

in den Ländern von Zentralund<br />

Ost-Europa in der <strong>ganze</strong>n Periode).<br />

Im Verlauf des Jahrzehnts haben<br />

diese kolossalen Resourcen nicht dazu<br />

geführt, dass die Ostdeutschen sich<br />

besser fühlten (wie ihre Unzufriedenheit<br />

und ihr politisches Verhalten zeigen),<br />

sondern zum Abbau des Sozi<strong>als</strong>taats,<br />

zu Privatisierungen und zum<br />

Drücken der Einkommen unter dem<br />

Druck der Konkurrenz mit dem benachbarten<br />

Ländern Osteuropas.<br />

Standortverlagerungen wurden<br />

durch die Vergrößerung der Union begünstigt.<br />

Und Deutschland benutzte<br />

seine Nähe zu den neuen östlichen Mitgliedsstaaten,<br />

um eine radikale Lohnausterität<br />

durchzusetzen: zwischen<br />

2000 und 2007 nahmen die nominalen<br />

bereinigten Arbeitskosten in Deutschland<br />

pro Jahr um 0,2 Prozent ab, während<br />

sie in Frankreich um 2 Prozent,<br />

in Großbritannien um 2,3 Prozent und<br />

zwischen 3,2 und 3,7 Prozent in Italien,<br />

Spanien, Irland und Griechenland stiegen<br />

(in den Ländern der Peripherie war<br />

die nominelle Steigerung wie auch die<br />

Inflationsrate höher).<br />

Und da gabe es noch einen weiteren<br />

Faktor, der für tiefe Ungleichgewichte<br />

in dieser Konstruktion sorgte:<br />

das (schwache) deutsche Wachstum<br />

basierte auf Exportüberschüssen verbunden<br />

mit niedriger Inflation, schwacher<br />

Inlandsnachfrage und einem durch<br />

die Standortverlagerung von deutschen<br />

Werken nach Osten begünstigten radikalen<br />

Rückgang des Lohnniveaus. Aber<br />

den Exportüberschüssen Deutschlands<br />

standen wachsende Defizite der Peripherie<br />

im Süden und Osten gegenüber,<br />

ohne dass es sich bei letzterem um ein<br />

homogenes Ganzes handelt. 14<br />

Global gesehen, ist neben dem<br />

„neuen Europa“, dessen untergeord-<br />

Fortsetzung Seite 29<br />

14 <strong>Die</strong> Wachstumsstrategien unterschieden<br />

sich von Griechenland (Finanzierung von<br />

Konsumwachstum durch Verschuldung)<br />

bis Spanien, das für sein Wachstum auf ein<br />

Szenarium ähnlich der Immobilienblase in<br />

den Vereinigten Staaten und Großbritannien<br />

setzte. Im Osten gab es in Polen mehr<br />

Wachstumsfaktoren, die daher weniger<br />

anfällig waren, <strong>als</strong> in den baltischen<br />

Republiken. Und da die Länder Zentral- und<br />

Ost-Europas mit Ausnahme von Slowenien<br />

und der Slowakei nicht zur Eurozone<br />

gehörten, war die Unterschiedlichkeit ihrer<br />

Austauschbeziehungen und Budgetpolitik<br />

noch größer.<br />

24 INPREKORR 468/469


die<br />

internationale<br />

die 4<br />

internationale 2010<br />

Benjamins Thesen<br />

Zu Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe 1<br />

Helmut Dahmer, Wien<br />

„Vergangenes1historisch artikulieren<br />

heißt […], sich einer<br />

Erinnerung bemächtigen,<br />

wie sie im Augenblick einer<br />

Gefahr aufblitzt“, schrieb der<br />

Mitte März 1933 aus Hitlerdeutschland<br />

nach Paris geflohene<br />

Philosoph und Literaturkritiker<br />

Walter Benjamin in der<br />

sechsten seiner achtzehn Thesen<br />

„Über den Begriff der Geschichte“.<br />

Nach dem Verlust<br />

der Publikationsmöglichkeiten<br />

bei deutschen Zeitungen und<br />

Verlagen in dürftigen Verhältnissen<br />

lebend, in steter Sorge<br />

um das Stipendium, das er von<br />

dem in die USA emigrierten<br />

(Frankfurter) „Institut für Sozialforschung“<br />

erhielt, arbeitete<br />

Benjamin in der zweiten<br />

Hälfte der dreißiger Jahre vor<br />

allem an einer großen Studie<br />

über Baudelaire 2 und (im Zusammenhang<br />

damit) an seinem<br />

unvollendet gebliebenen „Passagen-Werk“<br />

3 . Der kampflose<br />

Sieg Hitlers über die deutsche<br />

Arbeiterbewegung und die<br />

Verleugnung dieser Niederlage<br />

durch die stalinisierte Komintern,<br />

der „Große Terror“ in der<br />

Sowjetunion mit den Moskauer<br />

Schauprozessen gegen die<br />

alten Bolschewiki, der Niedergang<br />

der „Volksfront“ in Fran-<br />

1 Benjamin, Walter (2010): Über<br />

den Begriff der Geschichte. Werke<br />

und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe,<br />

Bd. 19. Herausgegeben<br />

von Gérard Raulet. Berlin (Suhrkamp),<br />

380 Seiten, 34.80 Euro.<br />

2 Benjamin (1974): Charles Baudelaire.<br />

Ein Lyriker im Zeitalter<br />

des Hochkapitalismus. In: Benjamin,<br />

Gesammelte Schriften, Bd. I.<br />

2, Frankfurt, S. 509-690.<br />

3 Benjamin (1982): Das Passagen-<br />

Werk. Ges. Schr., Bd. V. 1 und 2,<br />

Frankfurt.<br />

kreich und die Niederlage der<br />

Republikaner im spanischen<br />

Bürgerkrieg machten die Hoffnung<br />

des Emigranten auf eine<br />

europäische Arbeiterrevolution,<br />

die einen zweiten Weltkrieg<br />

verhindern könnte, zunichte.<br />

1937/38 begann er, sich der<br />

„theoretischen Armatur“ zu<br />

vergewissern, die seinen historischen<br />

Arbeiten (über das<br />

deutsche Trauerspiel der Barockzeit<br />

und die Kunstkritik<br />

der deutschen Romantik)<br />

ebenso wie seinem ‚work in<br />

progress’ (der „Passagenarbeit“)<br />

zugrunde lag. In der Folge<br />

des Hitler-Stalin-Pakts vom<br />

23. August 1939, der Hitler die<br />

Möglichkeit gab, halb Polen<br />

zu besetzen und sodann in rascher<br />

Folge auch Dänemark,<br />

Norwegen, die Niederlande<br />

und Belgien, geriet Benjamin<br />

– wie viele andere deutsche<br />

Flüchtlinge in Frankreich – in<br />

einen tödlichen M<strong>als</strong>trom. Zunächst<br />

wurde er ins Olympia-<br />

Stadion von Colombes (bei<br />

Paris) beordert, das <strong>als</strong> Sammelplatz<br />

für „feindliche Ausländer“<br />

diente, dort zehn Tage<br />

lang festgehalten und dann für<br />

drei Monate in einem anderen<br />

Auffanglager (in einem heruntergekommenen<br />

Schloss bei<br />

Nevers) interniert.<br />

Als er, gesundheitlich angeschlagen,<br />

Ende November<br />

endlich nach Paris zurückkehren<br />

konnte und seine Arbeit in<br />

der Nationalbibliothek wieder<br />

aufnahm, blieb ihm noch ein<br />

gutes halbes Jahr, ehe die deutschen<br />

Truppen (am 14. 6. 1940)<br />

Paris besetzten. Benjamin floh<br />

rechtzeitig mit Zehntausenden<br />

südwärts, über Lourdes nach<br />

Marseille. Max Horkheimer<br />

und anderen Freunden gelang<br />

es schließlich, ihn mit den erforderlichen<br />

Papieren auszustatten,<br />

die es ihm ermöglichen<br />

sollten, den Menschenfängern<br />

„Vichy“-Frankreichs und der<br />

Gestapo zu entkommen und<br />

über Franco-Spanien die Vereinigten<br />

Staaten zu erreichen.<br />

Doch der Alkalde 4 von Port<br />

Bou, das Benjamin mit einer<br />

kleinen Gruppe von Flüchtlingen<br />

nach einem beschwerlichen<br />

Fußmarsch erreicht hatte,<br />

drohte, sie über die Grenze<br />

zurückzuschicken. Daraufhin<br />

endete Benjamin in der Nacht<br />

vom 26. auf den 27. September<br />

1940 sein Leben mit Hilfe von<br />

Morphium-Tabletten.<br />

In seine „Geschichtsphilosophischen<br />

Thesen“ nahm<br />

er Bruchstücke aus früher geschriebenen,<br />

veröffentlichten<br />

und unveröffentlicht gebliebenen<br />

Texten ebenso wie Zitate<br />

aus neueren Lektüren auf. Ihre<br />

definitive Gestalt erhielten sie<br />

erst in den Monaten, die auf<br />

den Schock des Hitler-Stalin-<br />

Paktes und der Internierung<br />

folgten, <strong>als</strong>o zwischen Dezember<br />

1939 und Mai 1940. Benjamin<br />

sorgte dafür, dass dies<br />

„Vermächtnis“ – das Legat<br />

einer „geschlagenen Generation“<br />

– in unterschiedlichen<br />

Versionen an einige wenige<br />

gute Freunde ging: Ein Exemplar<br />

erreichte über Hannah<br />

Arendt Theodor W. Adorno,<br />

ein anderes übermittelte seine<br />

Schwester Dora Benjamin mit<br />

Hilfe von Martin Domke ebenfalls<br />

Adorno; der für Gershom<br />

Scholem bestimmte Text ging<br />

4 Bürgermeister, (Anm. d. Red.)<br />

verloren, und das von Georges<br />

Bataille (mit anderen Manuskripten<br />

Benjamins) in der<br />

„Bibliothèque Nationale“ versteckte<br />

„Handexemplar“ der<br />

Thesen übergab dessen Witwe<br />

erst 1981 unter dem Siegel<br />

der Verschwiegenheit Giorgio<br />

Agamben...<br />

Benjamin markierte drei<br />

Grundfehler „unserer linken<br />

Führer“: ihren Fortschrittsoptimismus,<br />

das Vertrauen auf ihre<br />

„Massenbasis“ und „ihre servile<br />

Einordnung in einen unkontrollierbaren<br />

Apparat“. Besonders<br />

dem „frömmelnden<br />

Optimismus“ galt (wie er Mitte<br />

Dezember 1939 an Horkheimer<br />

schrieb) sein „unerbittlicher<br />

Haß“. Einflussreiche<br />

Historiker des 19. Jahrhunderts<br />

wie Leopold von Ranke<br />

oder Fustel de Coulanges hatten<br />

die Geschichtsschreibung<br />

dem Modell der Naturwissenschaft<br />

anzunähern gesucht.<br />

„Geschichte“ imaginierten sie<br />

<strong>als</strong> eine Kette von Ereignissen,<br />

die in einer leeren, homogenen<br />

Zeit aufeinander folgen und<br />

sich dann nacherzählen lassen.<br />

Benjamin schrieb, bei der Einfühlung<br />

dieser Historiker in<br />

vergangene Epochen handele<br />

es sich allemal um eine Identifikation<br />

mit den Siegern, und<br />

diese sei eine Folge von „Herzensträgheit“<br />

(acedia), nämlich<br />

der Weigerung, sich der<br />

namenlosen Fronsklaven, der<br />

Unterlegenen, der Opfer der<br />

Kultur zu erinnern und deren<br />

Perspektive einzunehmen.<br />

Unter dem Einfluss neukantianischer<br />

Philosophen (wie<br />

Paul Natorp und Karl Vorländer)<br />

zeichneten sozialdemokratische<br />

Ideologen (Benja-<br />

INPREKORR 468/469 25


die<br />

internationale<br />

min nennt unter anderen Josef<br />

<strong>Die</strong>tzgen und Robert Schmidt)<br />

ein Bild der historischen Entwicklung,<br />

auf dem diese einer<br />

Rolltreppe glich, die die<br />

Menschheit langsam, aber unaufhaltsam<br />

ihrem „Ideal“, der<br />

Zukunftsgesellschaft, näherbrachte.<br />

Angesichts der Katastrophen<br />

seit 1914, der Gräuel<br />

des Faschismus und des Umschlags<br />

der russischen Revolution<br />

in eine despotische Schreckensherrschaft<br />

plädierte Benjamin,<br />

der in den Thesen <strong>als</strong><br />

der „historische Materialist“<br />

(oder „Dialektiker“) auftritt,<br />

für einen radikalen Bruch mit<br />

der Vorstellung von Geschichte<br />

und Geschichtsschreibung,<br />

wie sie dem Historismus ebenso<br />

wie dem Vulgärmarxismus<br />

der Sozialdemokraten zugrunde<br />

lag.<br />

„<strong>Die</strong> Gegenstände, die die<br />

Klosterregel den Brüdern zur<br />

Meditation anwies“, schrieb<br />

er, „hatten die Aufgabe, sie der<br />

Welt und ihrem Treiben abhold<br />

zu machen. Der Gedankengang,<br />

den wir hier verfolgen,<br />

ist aus einer ähnlichen Bestimmung<br />

hervorgegangen. Er beabsichtigt<br />

in einem Augenblick,<br />

da die Politiker, die solange<br />

das große Wort geführt<br />

haben, am Boden liegen und<br />

ihre Niederlage mit dem Verrat<br />

an der eigenen Sache bekräftigen,<br />

das politische Weltkind<br />

aus den Netzen zu lösen,<br />

mit denen sie es umgarnt hatten.“<br />

(X. These)<br />

Seinen „Brüdern“ im Geiste<br />

und in der Politik riet Benjamin,<br />

radikal mit liebgewordenen<br />

Denkgewohnheiten zu<br />

brechen und ein neuartiges<br />

Geschichtsverständnis – das<br />

Faschismus wie Stalinismus<br />

Rechnung trägt – demjenigen<br />

entgegenzusetzen, an dem die<br />

(von ihm nicht genannten) Partei-Führer<br />

und -Ideologen festhielten,<br />

die aus ihren Niederlagen<br />

nichts gelernt hatten. In<br />

seinen Thesen umriss er die<br />

ihm vorschwebende gründliche<br />

Revision des vulgarisierten,<br />

konformistisch gewordenen<br />

historischen Materialismus.<br />

Weder Max Horkheimer<br />

noch Gretel Adorno mochte er<br />

sie in ihrer provisorischen Fassung<br />

vorlegen, schon gar nicht<br />

wollte er sie veröffentlicht sehen.<br />

Er fürchtete das „enthusiastische<br />

Mißverständnis“ und<br />

hatte bei der Redaktion mindestens<br />

einer der überlieferten<br />

sechs Varianten auch die (französische)<br />

Zensur im Sinn. So<br />

ließ er fort, was er bei den wenigen<br />

guten Freunden, die seinen<br />

Text lesen sollten, glaubte<br />

voraussetzen zu können. <strong>Die</strong>ser<br />

elliptische („knappe“, „reduzierte“)<br />

und darum enigmatische<br />

Charakter seiner Thesen<br />

hat, seit sie (1942 beziehungsweise<br />

1950) veröffentlicht<br />

wurden, nicht wenig zu<br />

Fehldeutungen beigetragen.<br />

Günther Stern-Anders hielt<br />

sie (laut Brecht) für „dunkel<br />

und verworren“, Brecht selbst<br />

aber (1941) für „klar und entwirrend“;<br />

Adorno und Horkheimer<br />

sahen, dass Benjamins<br />

„letzte Konzeption“ ihren eigenen<br />

Intentionen nahekam,<br />

bemängelten aber „eine gewisse<br />

Naivität in den Partien,<br />

in denen von Marxismus und<br />

Politik die Rede ist“, beziehungsweise<br />

die allzu „unverhüllte“<br />

Terminologie.<br />

Hannah Arendt und Heinrich<br />

Blücher wiederum hielten<br />

die Thesen für eine Art Abrechnung<br />

mit der Philosophie<br />

Horkheimers und Adornos,<br />

und Arendt fürchtete gar, diese<br />

„Schweinebande“ werde<br />

den Text „einfach unterschlagen“:<br />

„<strong>Die</strong> werden sich rächen,<br />

wie sich Benji im Grunde<br />

durch Schreiben dieser Sache<br />

gerächt hat.“ Jüngst noch<br />

meinte ein Rezensent, vor vier,<br />

fünf Jahrzehnten habe Benjamins<br />

„rätselhafte Orakelrede“<br />

<strong>als</strong> eine Art „heiliger Text“ gegolten,<br />

nun aber – in der neuen<br />

Edition – erwiesen sich seine<br />

Thesen <strong>als</strong> ein weit überschätzter,<br />

widersprüchlicher<br />

und „diffuser Komplex von<br />

Papieren“. 5<br />

<strong>Die</strong> früheste (H. Arendt<br />

übergebene) wie die späteste<br />

Fassung der Thesen (in Benja-<br />

5 Matz, Wolfgang (2010): „Der Engel<br />

der Philologie muß so aussehen.“<br />

Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, 3. 8. 2010, S. 32.<br />

mins „Handexemplar“) nimmt<br />

im Druck nur 12 oder 13 Seiten<br />

ein. In dem von Gérard<br />

Raulet herausgegebenen Band<br />

19 der Kritischen Gesamtausgabe<br />

der Werke und des Nachlasses<br />

von Benjamin umfassen<br />

die sechs verschiedenen, chronologisch<br />

angeordneten Versionen<br />

der Thesen (samt Faksimiles)<br />

etwa 100 Druckseiten.<br />

Sie werden ergänzt durch<br />

50 Seiten Benjaminscher Entwürfe,<br />

und darauf folgt erst der<br />

Kommentar, der (31 Briefe aus<br />

den Jahren 1940-1967 eingeschlossen)<br />

200 Seiten umfasst.<br />

Vor dem Hintergrund all’<br />

dieser Materialien wird deutlich,<br />

warum Benjamins Reflexionen<br />

schon bei den ersten<br />

Lesern so unterschiedliche<br />

Reaktionen hervorriefen.<br />

Der Versuch, den gesamten<br />

Thesen-Komplex, wie ihn die<br />

neue Edition präsentiert, aus<br />

den Fragmenten, die Benjamin<br />

seinen Freunden übermittelt<br />

hatte, zu erschließen, musste<br />

scheitern. Denn Benjamin hatte<br />

gerade diejenigen Notate, in<br />

denen er das „Programm“ der<br />

Thesen formulierte 6 , zurückbehalten<br />

(oder schon im Entwurf<br />

gestrichen), so <strong>als</strong> folge<br />

er der Maxime „Das Beste,<br />

was du wissen kannst, darfst<br />

du den Buben doch nicht sagen.“<br />

Erst die Reunion der verstreuten<br />

Versionen und Entwürfe<br />

zeigt, dass es sich bei<br />

den Thesen um die Disposition<br />

zu einem theologisch-politischen<br />

Traktat handelt. Dessen<br />

Thema ist die ausstehende<br />

Revolution, eine, die dem ruinösen<br />

„Fortschritt“, wie er im<br />

Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen<br />

gedeiht, „Trümmer<br />

auf Trümmer häuft“ und Massaker<br />

auf Massaker, ein Ende<br />

setzt. Der Leser meint, einem<br />

Gespräch der unterschiedlichen<br />

Personen beizuwoh-<br />

6 Es handelt sich dabei vor allem<br />

um das Konvolut IV mit dem Entwurf<br />

einer These XVII a (messianische<br />

Zeit und klassenlose Gesellschaft,<br />

S. 152 f.) und um die<br />

(nur im Handexemplar enthaltene)<br />

These XVIII (über Neukantianismus<br />

und Sozialdemokratie,<br />

S. 42 f.).<br />

nen, die Walter Benjamin in<br />

sich vereinigte, oder hört aus<br />

diesem Symposion die einander<br />

widerstreitenden Stimmen<br />

seiner Freunde Bertolt Brecht<br />

und Gershom Scholem heraus.<br />

Auch andere seiner literarischen<br />

Favoriten kommen zu<br />

Wort: Marcel Proust bringt die<br />

Lehre von der unwillkürlichen<br />

Erinnerung einer verlorenen<br />

Zeit <strong>als</strong> einer „Jetztzeit“ ein,<br />

Schlegel und Novalis mahnen,<br />

„wir sind auf der Erde erwartet<br />

worden“, und Franz Kafka gibt<br />

zu bedenken: „<strong>Die</strong> frohe Botschaft,<br />

die der Historiker der<br />

Vergangenheit mit fliegenden<br />

Pulsen bringt, kommt aus<br />

einem Munde, der vielleicht<br />

schon im Augenblick, da er<br />

sich auftut, ins Leere spricht.“<br />

„Das Subjekt historischer<br />

Erkenntnis ist die kämpfende,<br />

unterdrückte Klasse selbst“,<br />

heißt es (im Anschluss an Georg<br />

Lukács) in der XII. These.<br />

Der revolutionäre Historiker<br />

ist deren Mandatar. Im Unheil<br />

der Gegenwart manifestiert<br />

sich ihm die Quintessenz (oder<br />

„Abbreviatur“) der gesamten<br />

Klassengeschichte. Wo andere<br />

dem technischen Fortschritt<br />

huldigen, erblickt er dessen<br />

Nachtseite, den gesellschaftlichen<br />

Rückschritt. Wo andere<br />

die Kulturgüter feiern, erinnert<br />

er sich mit Grausen der Generationen<br />

von Fronarbeitern,<br />

die vernutzt wurden, um sie zu<br />

schaffen.<br />

Mit Rosa Luxemburg (im<br />

Text ist von „Spartacus“ die<br />

Rede) erkennt Benjamin in der<br />

Katastrophe die wahre „Daseinsform“<br />

des Kapitalismus 7 ,<br />

7 „Der Imperialismus führt […]<br />

die Katastrophe <strong>als</strong> Daseinsform<br />

aus der Peripherie der kapitalistischen<br />

Entwicklung nach ihrem<br />

Ausgangspunkt zurück. Nachdem<br />

die Expansion des Kapit<strong>als</strong> vier<br />

Jahrhunderte lang die Existenz<br />

und die Kultur aller nichtkapitalistischen<br />

Völker in Asien, Afrika,<br />

Amerika und Australien unaufhörlichen<br />

Konvulsionen und dem<br />

massenhaften Untergang preisgegeben<br />

hatte, stürzt sie jetzt die<br />

Kulturvölker Europas selbst in<br />

eine Serie von Katastrophen, deren<br />

Schlußergebnis nur der Untergang<br />

der Kultur oder der Übergang<br />

zur sozialistischen Produktionsweise<br />

sein kann.“ Luxemburg,<br />

26 INPREKORR 468/469


die<br />

internationale<br />

in der vermeintlichen Ausnahme<br />

die Regel. Weder die Führer,<br />

Ideologen und Anhänger<br />

der sozialdemokratisch-reformistischen<br />

noch die der stalinisierten<br />

kommunistischen Parteien<br />

haben sich dem gewachsen<br />

gezeigt; ihr Fortschrittsoptimismus<br />

schlug sie mit Blindheit.<br />

1914 wie 1933 und 1939<br />

wurden sie von den „Ereignissen“<br />

überrascht.<br />

Benjamin war – wie Sigmund<br />

Freud – vor allem am<br />

„Problem der Erinnerung (und<br />

des Vergessens)“ interessiert,<br />

und wie dieser überzeugt, dass<br />

stets das Beste vergessen wird,<br />

das nämlich, was, zur Erinnerung<br />

gebracht, aus dem Irrgarten<br />

des Seelen- und Soziallebens<br />

herausführen kann. 8 In<br />

scheinbar aussichtslosen Situationen<br />

erschließt oft nur der<br />

Rückweg einen Ausweg. So<br />

drängen sich Individuen wie<br />

Kollektiven in Augenblicken<br />

äußerster Gefährdung unwillkürlich<br />

Erinnerungsbilder<br />

(Szenen) aus ihrer Geschichte<br />

auf. Ein verborgener – ebenso<br />

bedrückender wie befreiender<br />

– Zusammenhang zwischen<br />

einer bestimmten historischen<br />

Situation und der aktuellen<br />

wird plötzlich kenntlich<br />

und eröffnet dem Mann der<br />

Feder wie dem Mann der Tat<br />

eine „revolutionäre Chance im<br />

Kampfe für die unterdrückte<br />

Vergangenheit“ und gegen eine<br />

Zukunft, die ihr gleicht. Vergangenheit<br />

und Gegenwart finden<br />

zu einer flüchtigen, höchst<br />

bedeutsamen Konstellation zusammen.<br />

So war, schreibt Benjamin,<br />

für Robespierre und die<br />

Seinen das antike Rom „eine<br />

mit ,Jetztzeit‘ geladene Vergangenheit“,<br />

und so verstan-<br />

Rosa ([1915] 1919): <strong>Die</strong> Akkumulation<br />

des Kapit<strong>als</strong> oder Was<br />

die Epigonen aus der Marxschen<br />

Theorie gemacht haben. Eine Antikritik.<br />

In: Luxemburg (1975):<br />

Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin,<br />

S. 521.<br />

8 „Aber das Vergessen betrifft immer<br />

das Beste, denn es betrifft<br />

die Möglichkeit der Erlösung.“<br />

Benjamin ([1934] 1955): „Franz<br />

Kafka. Zur zehnten Wiederkehr<br />

seines Todestages.“ In: Benjamin<br />

(1977): Ges. Schr., Bd. II.2,<br />

Frankfurt, S. 434.<br />

den sich (fügen wir hinzu) die<br />

Bolschewiki <strong>als</strong> neue Jakobiner<br />

(und fürchteten einen russischen<br />

„Thermidor“).<br />

Benjamin, der historische<br />

Materialist, holte sich bei Fortschritts-Skeptikern<br />

(wie Baudelaire),<br />

utopischen Sozialisten<br />

(wie Fourier) und intransigenten<br />

Revolutionären (wie<br />

Blanqui) Rat, vor allem aber<br />

bei Marx selbst, dessen kritische<br />

Begriffe von Arbeit, Natur<br />

und klassenloser Gesellschaft<br />

er sich zu eigen machte.<br />

Im Hintergrund der modernen<br />

Konzeptionen der Weltgeschichte<br />

steht noch immer die<br />

Heilsgeschichte. „Marx hat in<br />

der Vorstellung der klassenlosen<br />

Gesellschaft die Vorstellung<br />

der messianischen Zeit<br />

säkularisiert“, schrieb Benjamin<br />

im Handexemplar seiner<br />

Thesen. 9 Eben dies haben<br />

die Marx-Epigonen verdrängt.<br />

<strong>Die</strong> „messianische“ Zeit beginnt,<br />

wenn der Krieg aller gegen<br />

alle entbehrlich wird und<br />

die „freie Assoziation der Produzenten“<br />

aufhört, ihre Naturbasis<br />

zu verwüsten. Der „Messias“<br />

aber wird erst kommen,<br />

wenn wir ihn nicht mehr brauchen.<br />

10<br />

<strong>Die</strong> klassenlose Gesell-<br />

9 <strong>Die</strong> Folge dieser Säkularisierung<br />

veranschaulichte er in der I. seiner<br />

Thesen mit Hilfe einer Parabel:<br />

Im 18. Jahrhundert trat der<br />

Baron von Kempelen mit einem<br />

unschlagbaren Schachspiel-Automaten<br />

auf. Es handelte sich<br />

dabei um „eine Puppe in türkischer<br />

Tracht“, die – wie eine Marionette<br />

– von einem „buckligen<br />

Zwerg“ mit Hilfe von verborgenen<br />

Schnüren gelenkt wurde, der<br />

sich im Inneren des Schachtischs<br />

verbarg und ein wirklicher Großmeister<br />

war. Benjamin schreibt,<br />

zum Verhältnis von Puppe und<br />

Zwerg finde sich eine Art „Gegenstück<br />

in der Philosophie“: <strong>Die</strong><br />

Puppe „historischer Materialismus“<br />

könne es „ohne weiteres mit<br />

jedem aufnehmen, wenn sie die<br />

Theologie in ihren <strong>Die</strong>nst nimmt,<br />

die heute bekanntlich klein und<br />

häßlich ist und sich ohnehin nicht<br />

darf blicken lassen.“<br />

10 Vgl. Kafka, Franz (1953): Hochzeitsvorbereitungen<br />

auf dem Lande<br />

und andere Prosa aus dem<br />

Nachlaß. Gesammelte Werke, hg.<br />

von Max Brod. („Das dritte Oktavheft“,<br />

Eintrag vom 4.12.1917.)<br />

Frankfurt, S. 90.<br />

Walter Benjamin<br />

schaft wird von leidenden und<br />

denkenden Menschen herbeigeführt;<br />

sie löst die blutige<br />

Ära der Klassengesellschaften<br />

ab. 11 Daran muss das Denken<br />

und Handeln der Revolutionäre<br />

sich messen lassen. Denn<br />

dass alles so weitergeht wie<br />

jetzt und immer schon, ist die<br />

eigentliche Katastrophe. War<br />

die Geschichte der Klassenkämpfe<br />

eine endlose Folge von<br />

Massakern, so kommt alles darauf<br />

an, diese verhängnisvolle<br />

„Kontinuität“ aufzusprengen,<br />

<strong>als</strong>o einen „wirklichen Ausnahmezustand“<br />

(Benjamin)<br />

herbeizuführen. „<strong>Die</strong> klassenlose<br />

Gesellschaft ist nicht das<br />

Endziel des Fortschritts in der<br />

Geschichte sondern dessen so<br />

oft mißglückte, endlich bewerkstelligte<br />

Unterbrechung.“<br />

Hatte Marx im Rahmen der<br />

Eisenbahn-Metaphorik des 19.<br />

Jahrhunderts in den Revolutionen<br />

noch „Lokomotiven“ gesehen,<br />

die den langsamen Zug<br />

der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

beschleunigen können,<br />

so hatte Benjamin, ein<br />

11 „<strong>Die</strong> Zentralisation der Produktionsmittel<br />

und die Vergesellschaftung<br />

der Arbeit erreichen einen<br />

Punkt, wo sie unverträglich werden<br />

mit ihrer kapitalistischen<br />

Hülle. Sie wird gesprengt. <strong>Die</strong><br />

Stunde des kapitalistischen Privateigentums<br />

schlägt. <strong>Die</strong> Expropriateurs<br />

werden expropriiert.“<br />

Marx, Karl (1867): Das Kapital.<br />

Kritik der politischen Ökonomie.<br />

Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin<br />

1962, Kap. 24, S. 791.<br />

halbes Jahrhundert später, eine<br />

ganz andere Funktion der<br />

Revolutionen im Sinn: „Vielleicht<br />

sind [sie] der Griff des<br />

in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts<br />

nach der<br />

Notbremse.“<br />

Benjamins Thesen haben<br />

der Lektüre von Trotzkis Revolutionsgeschichte<br />

12 vielleicht<br />

ebenso viel zu verdanken<br />

wie der Kabbala. <strong>Die</strong>se<br />

seine „Quellen“ aber teilen<br />

inzwischen das Schicksal der<br />

Schriften Auguste Blanquis,<br />

von dem Benjamin sagte, es<br />

sei der „Sozialdemokratie“ gelungen,<br />

seinen Namen, „dessen<br />

Erzklang das [19.] Jahrhundert<br />

erschüttert hat“, „fast<br />

auszulöschen“. In tiefer Vergessenheit<br />

harren sie einer Generation,<br />

die sie wieder herbeizitiert,<br />

weil sie verzweifelt<br />

nach einem Ausweg sucht.<br />

Denn auch nach dem Untergang<br />

Hitlers und Stalins hinterlässt<br />

uns der „Fortschritt“<br />

allenthalben verbrannte Erde,<br />

Ruinen und Massengräber.<br />

12 „Im übrigen war ich vierzehn<br />

Tage ganz im Russischen versunken:<br />

ich habe erst die Geschichte<br />

der Februarrevolution von Trotzki<br />

gelesen und bin jetzt im Begriff,<br />

seine Autobiographie zu beendigen.<br />

Seit Jahren glaube ich<br />

nichts mit so atemloser Spannung<br />

in mich aufgenommen zu haben.“<br />

Benjamin an Gretel Karplus,<br />

Mitte Mai 1932. In: Benjamin<br />

(1998): Gesammelte Briefe, Bd.<br />

IV (1931-1934), Frankfurt, S. 97.<br />

INPREKORR 468/469 27


die<br />

internationale<br />

Wilebaldo Solano (1917–2010)<br />

Symbol einer Generation<br />

Jaime Pastor<br />

Mit Wilebaldo Solano ist am 7.<br />

September in Barcelona einer<br />

der besten Repräsentanten jener<br />

Generation von RevolutionärInnen<br />

verstorben, die in den<br />

1930er Jahren in Erscheinung<br />

getreten ist und für die der Ausspruch<br />

„es ist einfach, sein Leben<br />

für die Revolution hinzugeben,<br />

viel schwieriger ist es,<br />

ihr sein <strong>ganze</strong>s Leben zu widmen“<br />

voll und ganz zutrifft.<br />

Er ist 1916 in Burgos geboren,<br />

kam kurz darauf nach Barcelona,<br />

und seit seinem Abitur<br />

beteiligte er sich an dem<br />

Kampf für den Sozialismus,<br />

den er niem<strong>als</strong> aufgeben sollte.<br />

<strong>Die</strong>ses Engagement hat bedeutet,<br />

dass er 1932 dem Bloc Obrer<br />

i Camperol (BOC, Arbeiterund<br />

Bauernblock) beitrat, 1935<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär der Iberischen<br />

Kommunistischen Jugend und<br />

1936 Mitglied im Exekutivkomitee<br />

der Partido Obrero de<br />

Unificación Marxista (POUM,<br />

Arbeiterpartei der marxistischen<br />

Vereinigung) wurde.<br />

Nach den Maitagen 1937,<br />

dem Verbot seiner Partei und<br />

der Verschleppung von Andreu<br />

Nin wurde er im April<br />

1938 von Kräften der „republikanischen<br />

Ordnung“ festgenommen<br />

und ins Gefängnis<br />

gesteckt. Das gleiche geschah<br />

ihm im Exil in Frankreich auf<br />

Anordnung eines Gerichts im<br />

<strong>Die</strong>nste der Nazis. Nachdem<br />

er im Juli 1944 von der Résistance<br />

befreit worden war, bildete<br />

er das Batallón Libertad<br />

(Bataillon Freiheit), das weitere<br />

gefangene Genossen befreite,<br />

darunter Juan Andrade, einen<br />

Mitbegründer der Spanischen<br />

Kommunistischen Partei und<br />

der POUM.<br />

Im Exil wurde er 1947 zum<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär der POUM und<br />

Direktor ihrer Zeitung La Batalla<br />

gewählt. In den sechziger<br />

Jahren gründete er in Paris die<br />

Zeitschrift Tribuna Socialista,<br />

die zum Organ der „POUM-<br />

Linken“ wurde und zu dem<br />

Sektor der POUM, der in die<br />

Sozialistische Partei von Katalonien<br />

eintrat, auf Distanz ging.<br />

Trotz des Scheiterns von<br />

Versuchen, eine neue starke revolutionäre<br />

Linke aufzubauen,<br />

die dazu in der Lage gewesen<br />

wäre, das Geschehen bei der<br />

„transición“ [dem Übergang,<br />

am Ende des Franco-Regimes]<br />

in Spanien zu ändern, blieb er<br />

bei seinem unermüdlichen politischen<br />

Engagement; er gab<br />

die Geschichte und die Ideen<br />

der POUM weiter und blieb<br />

dem Gedenken an sie treu, indem<br />

er für einen Sozialismus<br />

kämpfte, der einen radikalen<br />

Bruch mit dem Kapitalismus<br />

und mit dem Stalinismus darstellt.<br />

Da Wilebaldo nicht nur über<br />

die Vergangenheit gesprochen<br />

hat, übte er mit politischer Festigkeit<br />

und einer enormen Leidenschaft<br />

für die Zukunft nachdrücklich<br />

Kritik an der Wirklichkeit<br />

eines ständig wilderen<br />

Kapitalismus. Er trat dafür ein,<br />

den Begriff des „Sozialismus“<br />

von seiner Belastung durch den<br />

Stalinismus zu befreien.<br />

<strong>Die</strong>jenigen, die davon profi-<br />

tieren konnten, wie er und seine<br />

Lebensgefährtin María Teresa<br />

Freundschaft und Überzeugungen<br />

lebten – bei mir war<br />

dies seit unserer ersten Begegnung<br />

1969 der Fall –, werden<br />

ihn nie vergessen.<br />

Ein Teil seiner Schriften,<br />

Vorträge und Interviews sind<br />

auf der Webseite der Stiftung<br />

Andreu Nin (http://www.fundanin.org/biowile.htm)<br />

zugänglich.<br />

Man sollte sein Buch zur<br />

Geschichte der POUM lesen. 1<br />

Aus dem Französischen übersetzt<br />

von Friedrich Dorn.<br />

1 Wilebaldo Solano, El POUM<br />

en la historia. Andreu Nin en la<br />

revolución española, Madrid:<br />

Libros de la Catarata, 1999;<br />

2. Aufl. 2000. Französische<br />

<strong>Ausgabe</strong>: Le POUM. Révolution<br />

dans la guerre d’Espagne, aus dem<br />

Spanischen übersetzt von Olga<br />

Balaguer u. Manuel Periañez, mit<br />

einem Vorwort von Jean-René<br />

Chauvin u. Patrick Silberstein,<br />

Paris: Éditions Syllepse, 2002,<br />

(Collection Utopie Critique).<br />

Kapitalistische Klimaveränderung und unsere Aufgaben<br />

Resolution des 16. Weltkongresses der Vierten Internationale, Februar<br />

2010<br />

Im Anhang: Beschluss desWeltkongresses zur Klimawandel-Konferenz<br />

in Cochabamba und Hinweise zum Weiterlesen<br />

24 Seiten, Preis: 1 € (im Direktverkauf)<br />

Bestellungen der Broschüre nur gegen Vorkasse: bitte Brief schicken<br />

und Briefmarken im Wert von 1,50 € beilegen.<br />

Herausgegeben von:<br />

internationale sozialistische linke (isl), Regentenstr. 57–59, 51063 Köln<br />

isl@islinke.de, http://www.islinke.de<br />

Revolutionär Sozialistischer Bund/IV. Internationale (RSB), Postfach<br />

102610, 68026 Mannheim, Telefon und Fax 0621 / 15 64 046<br />

buero@rsb4.de, http://www.rsb4.de/<br />

28 INPREKORR 468/469


OSTEUROPA<br />

Fortsetzung von Seite 24<br />

nete Rolle die lange Beitrittsphase<br />

kennzeichnete, die südliche Peripherie<br />

der Euro-Zone das schwache Kettenglied<br />

des „alten asymmetrischen Europa“.<br />

Deutschland hat zusammen mit<br />

Frankreich die Kriterien von Maastricht<br />

festgelegt und war eines der ersten<br />

Länder, die sie nicht respektierten.<br />

Deutschland kontrolliert das<br />

Budget und (Tabelle 4) betont, wie<br />

viel es einzahlt, ohne zu sagen, wie<br />

viel es durch seine Exporte einstreicht.<br />

Es profitiert von der Krise, indem<br />

es auf den Euro und die öffentliche<br />

Verschuldung Griechenlands, Spaniens<br />

und der schwächsten Staaten spekuliert,<br />

um die eigene Austeritätspolitik<br />

im sozialen Bereich und bei den<br />

Löhnen zu festigen.<br />

NEUE AUSTERITÄTSPLÄNE:<br />

DIE PERIPHERIE GEGEN DAS<br />

ZENTRUM<br />

<strong>Die</strong> Kräfteverhältnisse zwischen den<br />

Staaten, ihre jeweilige Stärke und die<br />

sozialen Widerstände im Innern bestimmen<br />

die Kriterien des Umgangs<br />

mit der Staatverschuldung. Und die<br />

zentralen Länder, in denen bei Festansprachen<br />

der „Rückzug des Staates“<br />

zugunsten der Märkte und des privaten<br />

Sparens gepriesen wurde, verzeichnen<br />

seit 30 Jahren einen Anstieg<br />

der öffentlichen Verschuldung. Der<br />

war in den Vereinigten Staaten, dem<br />

„alten Europa“ und Japan wesentlich<br />

höher <strong>als</strong> in der Nachkriegsperiode,<br />

die durch sozialen Staatinterventionismus<br />

gekennzeichnet war. 15 Es<br />

gab geringere Steuereinnahmen aufgrund<br />

sinkender Wachstumsraten und<br />

wegen der neoliberalen Entscheidung,<br />

dem Kapital Steuerbefreiungen zu gewähren.<br />

<strong>Die</strong> Sozialausgaben wurden<br />

gesenkt, aber wegen des Anstiegs der<br />

Arbeitslosigkeit und des sozialen Widerstandes<br />

konnten sie nicht beseitigt<br />

werden. In den Vereinigten Staaten<br />

führte der Anstieg der Rüstungsausgaben<br />

in den 80er Jahren, dem letzten<br />

Jahrzehnt des „Kalten Krieges“, und<br />

dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts<br />

zu einem kolossalen Wachstum<br />

der Staatsverschuldung, durch die das<br />

15 S. die detaillierte Darstellung von Alain<br />

Bihr, „Que cache la croissance de la dette<br />

publique ?“. Online unter: http://www.cadtm.<br />

org/Que-cache-la-croissance-de-la.<br />

Rumänien: Streikende Bergleute (1991)<br />

Wirtschaftswachstum gestützt wurde.<br />

Allgemein hat der Rückgriff auf die<br />

Emission von Staatsanleihen (statt der<br />

Finanzierung durch die Zentralbanken)<br />

zu einer Erhöhung der Zinssätze<br />

(und damit der „Bedienung der Schulden“)<br />

geführt, um spekulatives Kapital<br />

anzulocken.<br />

Mit anderen Worten: die neue Phase<br />

der Krise der öffentlichen Verschuldung<br />

bewegt sich in einem Rahmen,<br />

der durch das Versagen des Liberalismus<br />

gekennzeichnet ist. Aber sie ist<br />

auch eine neue Phase der Bankenkrise<br />

von 2007 bis 2009, deren Epizentrum<br />

sich in den USA befindet und die<br />

sich von dort auf die <strong>ganze</strong> Welt ausgedehnt<br />

hat. <strong>Die</strong> massiven Unterstützungszahlungen<br />

zur Rettung der Privatbanken,<br />

die Opfer ihrer Gier und<br />

Finanzprodukte wurden, und die Konjunkturstützungsprogramme<br />

um der<br />

Weltwirtschaftskrise zu begegnen, haben<br />

zu der neuen Krise geführt, die<br />

insbesondere Europa betrifft. <strong>Die</strong> Rettung<br />

der Privatbanken durch die Zentralbanken<br />

und die Konjunkturstützungsprogramme,<br />

die von den Staaten<br />

aufgelegt wurden, haben den Wachstumsrückgang<br />

gestoppt, aber nicht<br />

die Entlassungen und nicht die spekulative<br />

Logik, die nach wie vor wirkt.<br />

Und die Banken verwenden heute das<br />

Geld, das sie zu niedrigsten Zinssätzen<br />

erhalten, gegen die Staaten, die sie<br />

wieder flott gemacht haben.<br />

Der ideologische Diskurs über die<br />

Staatsverschuldung verfolgt folgende<br />

Ziele: einerseits wird versucht, unter<br />

Hinweis auf die Dringlichkeit und die<br />

Offensichtlickeit „notwendiger“ Austeritätsmaßnahmen<br />

zu verbergen, in<br />

welchem Maß diese „Notwendigkeit“<br />

variabler geometrischer Natur ist; andererseits<br />

geht es darum, die wahren<br />

Ursachen der Verschuldung, die mit<br />

INPREKORR 468/469 29


OSTEUROPA<br />

den Transformationen seit der Wende<br />

in den 80er Jahren verbunden sind, zu<br />

verschleiern. <strong>Die</strong> Änderung der Verteilung<br />

der neu geschaffenen Werte zuungunsten<br />

der Löhne, die <strong>als</strong> zu reduzierende<br />

Kosten gesehen wurden, war begleitet<br />

von der Verschuldung der Haushalte<br />

zur Stützung des Konsums, insbesondere<br />

auf dem Wohnungssektor.<br />

Der wachsende Anteil der Profite,<br />

der nicht reinvestiert wurde, wurde<br />

für spekulative Anlagen in Finanzprodukten<br />

bzw. für die freie Kapitalzirkulation<br />

verwendet. <strong>Die</strong> liberalen<br />

Versprechungen, einen Beitrag zu Effektivität<br />

und Freiheit zu leisten, übersetzen<br />

sich heute in Verlängerung der<br />

Arbeitszeiten, die Zerstörung sozialen<br />

Schutzes und der Umwelt, die Herrschaft<br />

des Königs Geld beim Zugang<br />

zu Bildung, Wohnung und Gesundheit<br />

(und für Millionen von Bauern zu Boden<br />

und Wasser).<br />

ZU DEN WURZELN DER KRISE<br />

GEHEN …<br />

<strong>Die</strong> Effekte dreier Krisen sind dabei<br />

zusammenzuwirken. Es handelt sich<br />

um die von 2007 bis 2009, deren Ausgangspunkt<br />

die USA war, das Herz<br />

des globalisierten Systems; die zweite<br />

ist die Bedrohung des Euro in Gestalt<br />

der schwachen Mitglieder der Eurozone;<br />

die dritte hat 2009 begonnen und<br />

trifft Osteuropa. <strong>Die</strong>se Krisen haben<br />

etwas gemeinsam: egal ob es sich um<br />

die USA, Griechenland oder die baltischen<br />

Staaten handelt, lassen sie sich<br />

auf ein wachsendes Ungleichgewicht<br />

zurückführen, bei dem die Schwäche<br />

der Lohnentwicklung und der Staatseinkommen<br />

durch eine massive Verschuldung<br />

kompensiert wurde, eine<br />

Quelle von Finanzprofiten. Der wahnsinnige<br />

Höhenflug dieser Verschuldung<br />

wurde – wie in jeder kapitalistischen<br />

Krise seit dem XIX Jahrhundert<br />

– erleichtert durch Finanz- und Börsengeschäfte,<br />

die von dem freien Kapital<br />

getätigt wurden.<br />

Der Rückgriff auf den IWF in den<br />

zwei „Peripherien“ der EU zielt darauf<br />

ab, diese Architektur zu erhalten.<br />

Angewandt im Zentrum der europäischen<br />

Konstruktion zeigt er einerseits<br />

die Anfälligkeit der Union auf<br />

und verstärkt sie gleichzeitig: es geht<br />

darum, das monetaristische Joch der<br />

Verträge wieder in den Sattel zu heben,<br />

in dem man die private Finanzwirtschaft<br />

schützt, die für die Krise direkt<br />

verantwortlich ist und von ihr profitiert.<br />

Ziel ist es unter Ausnutzung der<br />

Krise, eine neue Radikalisierung der<br />

bisher schon verfolgten Politik durchzusetzen:<br />

die Sozialausgaben, die auf<br />

der Solidarität zwischen den Generationen<br />

basierenden Renten, die Einkommen<br />

im öffentlichen <strong>Die</strong>nst, die<br />

letzten sozialen Sicherungen sollen<br />

eingedampft werden. <strong>Die</strong> extreme Flexibilisierung<br />

der Arbeit, die gegen jeden<br />

Gedanken kollektiver Rechte, angemessener<br />

Entlohnung und angemessenen<br />

Status verstößt, soll nicht nur<br />

zusätzlichen Profit schaffen. Sie dient<br />

auch dazu, die Arbeitslosen, arbeitenden<br />

Armen und prekär Beschäftigten<br />

„schuldig“ zu sprechen, „zuviel“ zu<br />

verlangen. Sie soll sie spalten, überlasten,<br />

atomisieren, um sie zu jeder Gegenwehr<br />

unfähig zu machen.<br />

Ohne fortschrittliche Alternativen<br />

weisen die Wahlergebnisse der extremen<br />

Rechten von Ungarn bis zu den<br />

Niederlanden und Schweden auf eine<br />

traurige Zukunft.<br />

Der europäische Aufbau geht wie<br />

in jeder Phase seit seinem Beginn „voran“,<br />

weil die Entscheider (aber auch<br />

die Bevölkerung, in Ermangelung<br />

glaubhafter Alternativen) fürchten,<br />

dass es schlimmer wäre, anzuhalten<br />

<strong>als</strong> weiterzumachen. Nationalistische<br />

und frendenfeindliche Reaktionen<br />

sind Teil dieses möglichen Schlimmeren.<br />

Aber es wird die Akzeptanz der<br />

heute von WWF und den europäischen<br />

Institutionen aufgezwungenen, sozial<br />

zutiefst ungerechten Austeritätspläne<br />

sein, die den fremdenfeindlichen Antieuropäern<br />

den Weg bereiten werden.<br />

Denn es handelt sich um einen spezifischen<br />

europäischen Aufbau, der in<br />

der Krise ist. Er ist eingebettet in den<br />

globalisierten Kapitalismus. <strong>Die</strong> Regierungen,<br />

die an der Macht sind, dienen<br />

den Märkten (alle europäischen<br />

Verträge seit dem Vertrag 1986 sind in<br />

diesem Sinne abgefasst) und die Märkte<br />

dienen den dominierenden Staaten:<br />

sie verstecken sich hinter dem anonymen<br />

„Richterspruch“ der Märkte<br />

und hinter den Verträgen (die sie unterschrieben<br />

haben), um fatalistisch<br />

„festzustellen“, welche Politik am besten<br />

verfolgt werden müsse. Und diese<br />

Politik beinhaltet immer das Gleiche:<br />

Reduktion der Sozialausgaben,<br />

Zerstörung des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes,<br />

um neue Bereiche für Privatisierungen<br />

und Finanzspekulation zu erschließen.<br />

<strong>Die</strong> europäischen Verträge und<br />

die Wirtschaftspolitik, deren Ergebnis<br />

sie sind, sind bankrott. Sie wurden mit<br />

variabler Geometrie auf dem Rücken<br />

der Völker abgeschlossen, und ihr Zustandekommen<br />

spricht jeder Demokratie<br />

Hohn, die diesen Namen verdient.<br />

Was geschützt werden muss, ist<br />

die Bewegungsfreiheit und die Freiheit<br />

der Wahl der Menschen, nicht<br />

die des Kapit<strong>als</strong>. Und auf der Ebene,<br />

wo Entscheidungen getroffen werden<br />

– insbesondere der europäischen –<br />

muss der solidarische Widerstand organisiert<br />

werden – und zwar von unten<br />

–, der die Verträge, die Finanzierungen<br />

und die Finalität bei der Befriedigung<br />

sozialer Bedürfnisse und<br />

grundlegender Rechte zum Scheitern<br />

bringt und der sich gegen die Logik<br />

des Schaffens von Sündenböcken (die<br />

„Ausländer“) und des Ausbaus der Sicherheitspolitik,<br />

was mit dem Abbau<br />

sozialer Errungenschaften einhergeht,<br />

richtet. <strong>Die</strong> Kriminalisierung der Armut<br />

und die Ethnisierung sozialer Fragen<br />

zielen darauf ab, durch das Ablenken<br />

von den wahren Gründen und<br />

Verursachern der Krise, die Unterdrückung<br />

der Widerstände zu erleichtern.<br />

Catherine Samary, Wirtschaftswissenschaftlerin,<br />

ist Aktivistin der Nouveau parti anticapitaliste<br />

(Neue Antikapitalistische Partei, NPA,<br />

Frankreich) und Mitglied des Internationalen<br />

Komitees der IV Internationale. Sie ist Autorin<br />

von Yougoslavie, de la décomposition aux<br />

enjeux européens (Éditions du cygne, 2008),<br />

Les conflits yougoslaves de A à Z (L’Atelier,<br />

2000), La Déchirure yougoslave — Questions<br />

pour l’Europe (mit Jean-Arnault Dérens,<br />

L’Harmattan, 1994), Le marché contre l’autogestion,<br />

l’expérience yougoslave, (Publisud-La<br />

Brêche, 1988).<br />

Übersetzung: MiWe und W.Weitz<br />

30 INPREKORR 468/469


TÜRKEI<br />

Türkei – Im Labyrinth der bürgerlichen<br />

Politik<br />

Ümit Çırak<br />

Seit dem Staatsstreich des Militärs am<br />

12. September 1980 strukturieren zwei<br />

grundlegende Phänomene die gesellschaftliche<br />

und politische Entwicklung<br />

in der Türkei: Der türkische Kapitalismus<br />

integriert sich immer stärker<br />

in die globalisierte Weltwirtschaft,<br />

und die kurdische nationale Frage hat<br />

sich verschärft.<br />

Natürlich existierten diese beiden<br />

Phänomene auch schon vor 1980. <strong>Die</strong><br />

türkische Wirtschaft wurde seit den<br />

sechziger Jahren von einer Exportindustrie<br />

getragen, die ein Auffangbecken<br />

für die aus dem überbevölkerten<br />

Anatolien abwandernde Landbevölkerung<br />

darstellte. Nach dem Scheitern<br />

der großen kurdischen Revolten – namentlich<br />

des Aufstands von Scheich<br />

Saïd 1 –, die sich noch auf traditionelle<br />

Strukturen gestützt gegen die<br />

neue, zentralistische türkische Republik<br />

richteten, die auf ihrem Territorium<br />

keinen nationalen Pluralismus duldete,<br />

entstand im Laufe der 70er Jahre,<br />

ausgehend von kurdischen Studierenden<br />

aus der türkischen Linken, eine<br />

neue kurdische nationale Bewegung.<br />

Jedoch ist ein wesentliches Element<br />

der 70er Jahre verschwunden:<br />

nämlich die Bewegung der Arbeitenden<br />

und der Jugend, die zu wirklich<br />

politischen Lösungen nicht in der Lage<br />

war, die eine organische Fortführung<br />

ermöglicht hätten; daher wurden<br />

sie durch den Militärputsch von 1980<br />

zerstört. <strong>Die</strong> brutale Repression, die<br />

auf den Militärputsch folgte, eröffnete<br />

seitdem den Weg für einen neoliberalen<br />

Umbau der Gesellschaft.<br />

1 Der Scheich-Said-Aufstand war ein religiös<br />

und nationalistisch motivierter Aufstand<br />

sunnitischer Kurden im Jahre 1925 unter<br />

der Führung Scheich Saids, eines hohen<br />

Vertreters der Naqschbandi-Tarikat, gegen<br />

die neue säkulare türkische Republik. Der<br />

Aufstand wurde von dem Regime Mustafa<br />

Kem<strong>als</strong> blutig unterdrückt und Scheich Said<br />

mit 47 Mitkämpfern durch ein türkisches<br />

Unabhängigkeitsgericht zum Tode verurteilt<br />

und in Diyarbakir öffentlich gehängt.<br />

DIE BEIDEN STRUKTURIE-<br />

RENDEN DYNAMIKEN<br />

1. Eine auf den Export ausgerichtete<br />

Wirtschaft, die stark<br />

im globalisierten Kapitalismus<br />

verankert ist.<br />

<strong>Die</strong> Integration des türkischen Kapitalismus<br />

in die Weltwirtschaft ist nichts<br />

Neues, doch sie wurde in den vergangenen<br />

dreißig Jahren massiv vorangetrieben.<br />

Seit Beginn der 1980er Jahre<br />

stützt sich der türkische Kapitalismus<br />

stärker auf den Export <strong>als</strong> den Binnenmarkt.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklung wurde heftig<br />

von den liberalen Regierungen unter<br />

Führung von Turgut Özal 2 vorangetrieben,<br />

die durch ihre Politik die<br />

Türkei in den kapitalistischen Weltmarkt<br />

integrieren wollten, indem sie<br />

umfangreichere Importe erlaubten<br />

und – mehr noch – die Türkei in ein<br />

auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiges<br />

Land verwandelten. 1980 beliefen<br />

sich die Ausfuhren der Türkei auf<br />

drei Milliarden Dollar; 2008 betrugen<br />

sie 132 Mrd. $. <strong>Die</strong>ses Wachstum war<br />

nicht linear, denn die türkischen Ausfuhren<br />

lagen 2000 erst bei 28 Mrd. $,<br />

doch zwischen 2001 und 2005 gab es<br />

ein massives Wachstum. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />

ging mit einer starken Industrialisierung<br />

einher, deren Produkte hauptsächlich<br />

für die Märkte der USA und<br />

der EU bestimmt waren. Der Anteil<br />

von Fabrikprodukten, vor allem Textilien<br />

und Autos, am Export nahm von<br />

10 Prozent auf 92 Prozent zu. Es entstanden<br />

neue Industrieregionen, vor<br />

allem in Anatolien in Städten wie<br />

Mersin, Konya, Kayseri oder Denizli,<br />

2 Der ehemalige hohe Staatsbeamte und leitende<br />

Berater bei der Weltbank mit anschließenden<br />

Spitzenpositionen in Privatunternehmen war<br />

bis zum Militärputsch von 1980 Mitglied<br />

der rechten Regierung unter Demirel. Sein<br />

Name steht für die vom IWF oktroyierten<br />

Austeritätsmaßnahmen vom Januar 1980.<br />

Nach dem Putsch wurde er Wirtschaftsminister<br />

und 1983 für die von ihm gegründete<br />

Mutterlandspartei ANAP Ministerpräsident.<br />

wo auch zahlreiche kleine und mittlere<br />

Unternehmen gegründet wurden und<br />

eine industrielle Bourgeoisie der Provinz<br />

entstand. Seit 2002 hat sich diese<br />

Entwicklung mit dem Regierungsantritt<br />

der AKP 3 enorm beschleunigt,<br />

was besonders auf die Aufstellung<br />

eines Dreijahresplans zur Steigerung<br />

der Exporte und auf die gesetzliche<br />

Flexibilisierung des Arbeitsmarktes<br />

zurückzuführen ist.<br />

Der türkische Kapitalismus wurde<br />

<strong>als</strong>o in den Jahren ab 2000 zumindest<br />

regional vorherrschend und konnte eine<br />

bis dahin nie gekannte Akkumulation<br />

erreichen. Als bezeichnende Anekdote<br />

sei angefügt, dass Istanbul mit 28<br />

Milliardären nunmehr weltweit Rang<br />

vier hinter New York, Moskau und<br />

London belegt.<br />

2. Eine noch immer ungelöste<br />

nationale Frage<br />

Nach dem Aufblühen von kurdischen<br />

Organisationen Ende der 1970er Jahre<br />

spielt heute nur noch die PKK (die<br />

1978 von linken kurdischen StudentInnen<br />

gegründet wurde) eine größere<br />

Rolle. Sie kann von sich behaupten,<br />

die politische Bewegung der Kurden<br />

im Südosten der Türkei zu repräsentieren.<br />

Nach einer Reihe von schwierigen<br />

Jahren, in denen es der PKK<br />

mehr schlecht <strong>als</strong> recht gelang, ihre<br />

Organisation zu halten, hat sie sich eine<br />

größere gesellschaftliche Basis erobert<br />

und zahlreiche Mitglieder gewonnen,<br />

vor allem wegen des Rassismus<br />

des Staates und der Brutalität der<br />

Repression gegen die kurdische Bevölkerung<br />

im Südosten des Landes. 4<br />

3 <strong>Die</strong> Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für<br />

Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP) wurde<br />

2001 vom Reformflügel der islamistischen<br />

politischen Bewegung unter Recep Tayyip<br />

und Teilen der parlamentarischen<br />

Rechten gegründet. Sie verfügt derzeit über die<br />

absolute Mehrheit im Parlament..<br />

4 So war beispielsweise das Gefängnis in<br />

Diyarbakir, wo eine große Zahl von kurdischen<br />

INPREKORR 468/469 31


TÜRKEI<br />

<strong>Die</strong> Kämpfe zwischen der PKK und<br />

der türkischen Armee und ihren Verbündeten<br />

(die kurdischen Dorfmilizen<br />

Korucu, die kurdische Hizbollah, ultrasektiererische<br />

und gewaltbereite<br />

religiöse Gruppen, die in die beiden<br />

Fraktionen Menzil und Ilim gespalten<br />

sind) haben zu einem richtigen Bürgerkrieg<br />

geführt, der im türkischen<br />

Teil von Kurdistan stattfindet, gelegentlich<br />

aber auch in den Großstädten<br />

der Türkei. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen<br />

erreichten ihren Höhepunkt zwischen<br />

1995 und 1996; in dieser Zeit nutzten<br />

die Sicherheitsorgane (die Armee<br />

und die Geheimdienste) ihre Autonomie<br />

und führten in den Kurdengebieten<br />

Maßnahmen des „Ausnahmezustandes“<br />

durch oder setzten die Jitem-<br />

Einheiten (eine geheime Zelle der<br />

Gendarmerie, die den Kampf gegen<br />

den Terrorismus durchsetzen soll) ein.<br />

<strong>Die</strong> „Kurdenfrage“ verkam so zu<br />

einer einfachen „militärischen“ Frage,<br />

während der plurale Charakter<br />

der Türkei zugunsten der Dreieinigkeit<br />

aus „Flagge, Sprache und Nation“<br />

verneint wurde. Der Tod zahlreicher<br />

einfacher Soldaten bei den Zusammenstößen<br />

zwischen der Armee und<br />

der PKK und das Fehlen eines glaub-<br />

Gefangenen einsaßen, für seine Härte bekannt.<br />

Zwischen 1981 und 1989 verloren dort 34<br />

Häftlinge ihr Leben.<br />

Erdoan träumt von der EU<br />

würdigen alternativen Diskurses verstärkten<br />

den Nationalismus, während<br />

die Zeremonien der Einberufung zum<br />

Militärdienst und die Beerdigung von<br />

Rekruten die Gelegenheit abgaben, ultranationalistische<br />

Gewaltdemonstrationen<br />

vom Zaun zu brechen.<br />

Auch heute noch bleibt Abdullah<br />

Öcalan, der historische Führer der<br />

PKK und Objekt eines starken Persönlichkeitskultes,<br />

das Gravitationszentrum<br />

der kurdischen Bewegung, trotz<br />

der Krise, die diese Organisation nach<br />

seiner Verhaftung durchmachen musste.<br />

Er stellt die wichtigste, ja einzige<br />

Legitimitätsquelle für die große Mehrheit<br />

der kurdischen Massen und besonders<br />

für die jungen Menschen dar,<br />

die mehr noch „Apoisten“ 5 <strong>als</strong> Sympathisanten<br />

der BDP 6 sind. <strong>Die</strong> Krise,<br />

die die PKK nach der Verhaftung von<br />

Öcalan durchmachen musste, bedeutete<br />

keineswegs ihr Ende.<br />

5 „Apo“ ist eine geläufige Kurzform für<br />

Abdullah und bezeichnet häufig Öcalan.<br />

Seine Anhänger und Mitkämpfer standen<br />

schon vor der Gründung der PKK <strong>als</strong><br />

„Apocular“ (Apo-Anhänger) in den öffiziellen<br />

Fahndungsbüchern.<br />

6 <strong>Die</strong> Barı ve Demokrasi Partisi (Partei<br />

des Friedens und der Demokratie, BDP)<br />

ist gegenwärtig die Partei der kurdischen<br />

Bewegung in der Türkei. Sie wurde 2008<br />

<strong>als</strong> Nachfolgerpartei der DTP, die unter dem<br />

Vorwand der PKK-Nähe aufgelöst worden war,<br />

gegründet.<br />

So ist das AKP-Projekt einer „demokratischen<br />

Öffnung“, mit dem versucht<br />

wurde, Veränderungen in die <strong>als</strong><br />

unerträglich empfundene Lage der<br />

Kurden und Kurdinnen zu bringen,<br />

ohne jedoch die PKK zum Gesprächspartner<br />

zu machen, schon deswegen<br />

gescheitert, weil diese Organisation<br />

auf den Versuch entschlossen und heftig<br />

reagierte und sich nicht auf diese<br />

Weise zur Seite drängen lassen wollte.<br />

<strong>Die</strong> Zusammenstöße führten auf der<br />

einen Seite zum Tod von kurdischen<br />

Militanten und Zivilisten, auf der anderen<br />

Seite verloren Einberufene ihr<br />

Leben, was zu einer verstärkten Ethnisierung<br />

der Politik führte. Ein weiterer<br />

Beweis (für die Stärke der PKK) war<br />

der Erfolg des Boykotts des Verfassungsreferendums,<br />

der von der BDP<br />

im türkischen Teil von Kurdistan im<br />

Rahmen ihrer Kampagne für eine „demokratische<br />

Autonomie“ (diese Formel<br />

läuft auf ein föderales Modell hinaus)<br />

organisiert wurde. <strong>Die</strong>se beiden<br />

Beweise zeigen eindeutig, dass es unmöglich<br />

ist, zu einer politischen Vereinbarung<br />

über diese Frage zu kommen,<br />

ohne den wichtigsten Bestandteil<br />

der kurdischen Bewegung daran<br />

zu beteiligen. Eine solche Lösung<br />

könnte von wichtigen Sektoren des<br />

türkischen Kapitalismus vorgeschlagen<br />

werden, wie etwa zur Zeit der Regierung<br />

Özal 1993 7 , bevor es dann zur<br />

militärischen Eskalation der 1990er<br />

Jahre kam, die den türkischen Kapitalismus<br />

durchaus nicht gestärkt hat.<br />

WAS IST DER SINN DER AKP-<br />

REGIERUNG UND DER VERFAS-<br />

SUNGSÄNDERUNG IN DIESEM<br />

RAHMEN?<br />

<strong>Die</strong> Diskussionen über die soziale und<br />

politische Einordnung der AKP, die<br />

seit 2002 an der Regierung ist, werden<br />

durch das Etikett „islamistisch“ und<br />

einige Initiativen zu einer „Öffnung“<br />

sowie durch die Frage nach ihrer „sozialen<br />

Basis“ verzerrt.<br />

Das Adjektiv „islamistisch“, das<br />

häufig durch „gemäßigt“ ergänzt wird,<br />

ist vielleicht das größte Problem bei<br />

der Einschätzung der AKP, denn diese<br />

Kategorie ist nichts weiter <strong>als</strong> der<br />

7 1993 gab es öffentliche Debatten an der<br />

Spitze des Staates über die Möglichkeit,<br />

die KämpferInnen der PKK aus den<br />

Bergen herauszuführen, indem man ihnen<br />

Sicherheitsaufgaben anvertrauen wollte.<br />

32 INPREKORR 468/469


TÜRKEI<br />

Gebrauch einer bestimmten religiösen<br />

Bezeichnung, ohne dass man<br />

sich über den wirklichen sozialen und<br />

politischen Charakter des von ihr vertretenen<br />

Projektes Rechenschaft gibt.<br />

Einerseits ist die AKP unbestreitbar<br />

aus der Strömung Millî Görü (nationale<br />

Vision) hervorgegangen, der<br />

wichtigsten Strömung, die dem Bezug<br />

zur Religion in ihren Diskursen einen<br />

zentralen Platz einräumte, andererseits<br />

hat die AKP diesen Bezug „gemäßigt“<br />

in dem Sinne, dass dieser Bezug<br />

weniger ausgeprägt ist (das Prinzip<br />

des Laizismus 8 wird akzeptiert)<br />

und die Religion wird nicht <strong>als</strong> Quelle<br />

der politischen Legitimität angesehen.<br />

9 Jedoch gehen diese Feststellungen<br />

nicht auf den Klasseninhalt der<br />

AKP ein. Auch wenn ihre Wählerbasis<br />

in der einfachen Bevölkerung liegt,<br />

was es ihr ermöglicht, über eine absolute<br />

Mehrheit im Parlament zu verfügen,<br />

so stellt sich die AKP doch entschlossen<br />

in den Rahmen der Interessen<br />

der Bourgeoisie. Schematisch lassen<br />

sich drei Sektoren dieser Bourgeoisie<br />

herausstellen:<br />

a. Das konservativ-nationalistische<br />

Kleinbürgertum: Handwerker und<br />

kleine Eigner in Anatolien und den<br />

Städten, wichtigere Unternehmer,<br />

die erst jüngst aus diesem Kleinbürgertum<br />

aufgestiegen sind und das<br />

Rückgrat des „muslimischen“ Kapit<strong>als</strong><br />

darstellen, subalterne Beamte,<br />

Grundbesitzer usw. Ihre Wünsche<br />

gehen wesentlich in Richtung<br />

Verteidigung des kleinen Kapit<strong>als</strong><br />

gegen die Erschütterungen der kapitalistischen<br />

Weltwirtschaft, dazu<br />

kommt der moralische Konservatismus<br />

und Nationalismus. Das<br />

Kleinbürgertum stellte traditionell<br />

die soziale Basis der konservativen<br />

parlamentarischen Parteien oder<br />

des politischen Islam dar und teilte<br />

sich auf die Regierungspartei AKP,<br />

aber auch auf die ultranationalistische<br />

(MHP) oder andere islamis-<br />

8 <strong>Die</strong> türkische Variante des „Laizismus“<br />

zeigt viel eher eine Kontrolle der religiösen<br />

Institutionen durch den Staat <strong>als</strong> eine Trennung<br />

vom Staat. So ist die Führung des Instituts<br />

für religiöse Angelegenheiten eine staatliche<br />

Institution, die Imame werden normalerweise<br />

in öffentlichen Schulen ausgebildet und sind<br />

Beamte.<br />

9 Wir möchten auch darauf hinweisen, dass<br />

eine <strong>ganze</strong> Reihe von Politikern der AKP aus<br />

Formationen der parlamentarischen Rechten<br />

stammen, die verschwunden sind.<br />

tische Gruppierungen (Saadet) auf.<br />

b. <strong>Die</strong> „liberale“ Bourgeoisie – die<br />

klar in den globalisierten Kapitalismus<br />

integriert ist, Leiter von Unternehmen,<br />

Teile der Intelligenz<br />

und der Hochschullehrer, die –<br />

trotz aller Spannungen – hinter der<br />

AKP stehen, weil es keine glaubwürdigen<br />

anderen „liberalen“ Parteien<br />

gibt. Sie wünschen sich einen<br />

Umbau der Gesellschaft gemäß<br />

der neoliberalen Doktrin, was<br />

zu einer noch stärkeren Integration<br />

in den globalisierten Kapitalismus<br />

führen würde, wobei man die<br />

Vorteile des Landes (das industrielle<br />

Netz, die Infrastruktur, die qualifizierten<br />

und relativ billigen ArbeiterInnen)<br />

nutzen möchte. Unter<br />

diesem Gesichtspunkt ist der Anschluss<br />

an die Europäische Union,<br />

auch die demokratischen Veränderungen,<br />

die er mit sich brächte,<br />

vor allem ein Projekt dieser „liberalen“<br />

Bourgeoisie, auch wenn diese<br />

Perspektive, die häufig mit einer<br />

höheren Lebensqualität in Verbindung<br />

gebracht wird, sich einer weit<br />

breiteren Unterstützung erfreut (etwa<br />

beim kurdischen Nationalismus,<br />

wir kommen darauf zurück). <strong>Die</strong><br />

große Stärke der AKP liegt in ihrer<br />

Fähigkeit, während ihres Aufstiegs<br />

an die Regierung den Spagat zwischen<br />

dem konservativen Kleinbürgertum<br />

und der „liberalen“ Bourgeoisie<br />

hinbekommen zu haben.<br />

Wir haben „liberal“ in Anführungszeichen<br />

gesetzt, um auf den äußerst<br />

wetterwendigen Charakter dieses<br />

„Liberalismus“ hinzuweisen. Im<br />

Verlauf der vergangenen Jahrzehnte<br />

hat sich diese Bourgeoisie nicht gegen<br />

die politische Autorität des bestehenden<br />

politischen Regimes gewehrt<br />

(wie etwa in Frankreich und<br />

Großbritannien), sondern ist ganz<br />

und gar in dessen Schatten verblieben.<br />

<strong>Die</strong> ersten großen industriellen<br />

Vermögen der republikanischen<br />

Türkei (unter Atatürk) wurden im<br />

Schatten des neuen Staates und seines<br />

Willens, eine industrielle, türkische<br />

und muslimische Bourgeoisie<br />

gegen die jüdische und christliche<br />

(Armenier, d. Ü.) Handelsbourgeoisie<br />

aufzubauen, akkumuliert<br />

(obgleich das neue Regime<br />

immer wieder große Erklärungen<br />

über seinen Laizismus abgab).<br />

<strong>Die</strong> Anwandlungen im Hinblick<br />

auf den politischen Liberalismus<br />

dieser großen türkischen Bourgeoisie<br />

haben sich generell <strong>als</strong> äußerst<br />

beschränkt erwiesen. Angesichts<br />

des Auftauchens von sozialen<br />

Bewegungen mit ihren Forderungen<br />

im Verlauf der 70er Jahre<br />

stellte sie sich schnell hinter die Armee<br />

und die staatliche Repression.<br />

So hat die TÜSIAD (Vereinigung<br />

der Geschäftsleute und der Industriellen<br />

der Türkei), eine der wichtigsten<br />

Organisationen des Großkapit<strong>als</strong>,<br />

den Staatsstreich vom September<br />

1980 eindeutig unterstützt.<br />

Heute verteidigt die gleiche Unternehmerorganisation,<br />

die immer<br />

noch die Großbourgeoisie vertritt,<br />

die Perspektive eines Beitritts zur<br />

EU und in diesem Rahmen auch die<br />

kulturellen Rechte der Kurden (etwa<br />

den Gebrauch der Muttersprache<br />

im Unterricht). In der gegenwärtigen<br />

Phase des Kapitalismus<br />

und wegen des Fehlens einer realen<br />

gesellschaftlichen und politischen<br />

Opposition verteidigt diese Bourgeoisie<br />

politische Reformen einer<br />

„Liberalisierung“ des Regimes,<br />

die ziemlich weit gehen, um jene<br />

Probleme zu klären, die zu einer<br />

„Schwächung der Türkei“ (<strong>als</strong>o des<br />

türkischen Kapitalismus) führen<br />

könnten, besonders natürlich die<br />

kurdische nationale Frage. Insgesamt<br />

betrachtet handelt es sich um<br />

den Willen, eine parlamentarische<br />

Demokratie zu haben, die durch einen<br />

Föderalismus ergänzt wird, für<br />

den es aber gegenwärtig keine nennenswerte<br />

Anhängerschaft gibt.<br />

c. <strong>Die</strong> Zwischenschichten und die<br />

etatistische, militaristische und nationalistische<br />

Bourgeoisie: Hier<br />

handelt es sich um hohe und mittlere<br />

Beamte, Magistrate, gewisse<br />

Fraktionen von „liberalen“ Berufen<br />

(der Begriff ist eher unzutreffend),<br />

etwa Rechtsanwälte oder<br />

„Intellektuelle“ aus den Universitäten,<br />

vor allem aber die militärische<br />

Führung (die Offiziere und<br />

der Gener<strong>als</strong>tab); sie stellen das<br />

Knochengerüst der Verteidiger des<br />

„Kemalismus“ dar. Wir können zu<br />

dieser keineswegs erschöpfenden<br />

Liste noch die militärische Bourgeoisie<br />

hinzufügen, die sich nicht<br />

nur im Schatten des Staates entwickeln<br />

konnte, sondern ihre Existenz<br />

den beträchtlichen Militär-<br />

INPREKORR 468/469 33


TÜRKEI<br />

haushalten verdankt. So haben die<br />

Arbeiten des Hochschullehrers Ismet<br />

Akça sehr deutlich den Charakter<br />

eines „kollektiven Kapitalismus“<br />

des Militärs gezeigt. <strong>Die</strong><br />

Führer der türkischen Armee stellen<br />

nicht nur den bewaffneten Arm<br />

des Kapit<strong>als</strong> dar, sondern sie sind<br />

selbst Kapitalisten, entweder über<br />

die wirtschaftlichen Direktinvestitionen<br />

der Armee, die Aktivitäten<br />

der Stiftungen, die mit ihr verbunden<br />

sind, oder aber den militärischindustriellen<br />

Sektor, der dank der<br />

Verträge mit den Militärs besteht<br />

und die Offiziere im Ruhestand und<br />

ihre Familien aufnimmt.<br />

ERFOLG UND SACKGASSE DES<br />

REFERENDUMS<br />

<strong>Die</strong> Haltung der AKP sowie die Charakteristika<br />

ihres Projektes für die Verfassung<br />

können über die Beziehungen<br />

mit jedem dieser drei Sektoren verstanden<br />

werden. <strong>Die</strong> Beibehaltung einer<br />

großen Zahl von früheren Verfügungen,<br />

die die konservativ-nationalistische<br />

Kleinbourgeoisie ruhig stellen<br />

sollen (der unitarische Charakter des<br />

Staates und die Verneinung jedes Bezugs<br />

auf den nationalen Pluralismus),<br />

die kosmetischen und formalen Fortschritte<br />

in der politischen Liberalisierung<br />

(Abbau der Kompetenzen der Militärgerichte)<br />

und vor allem der Zugriff<br />

auf das Justizmilieu, das dem dritten<br />

Sektor der Bourgeoisie nahe steht und<br />

der AKP feindlich gesonnen ist. <strong>Die</strong>se<br />

hat <strong>als</strong>o ihre vorherrschende politische<br />

Position ganz logisch eingesetzt,<br />

um ihre Position zu stärken und ihren<br />

Zugriff auf die Teile der Bourgeoisie,<br />

die ihr feindlich gesonnen sind, zu verbessern,<br />

indem sie ein Projekt durchgesetzt<br />

hat, was noch hinter eine „parlamentarische<br />

Demokratie“ zurückfällt –<br />

trotz aller ohnmächtigen Kritiken von<br />

Seiten von Liberalen und der frontalen,<br />

aber erfolglosen Gegnerschaft der<br />

etatistischen Bourgeoisie. Wir möchten<br />

aber noch anmerken, dass diese Spannungen<br />

sich strikt im kapitalistischen<br />

Rahmen abspielen. Es scheint daher,<br />

dass die „neue“ Verfassung der AKP<br />

den Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />

kapitalistischen Sektoren<br />

entspricht, wie sie sich im langen Prozess<br />

des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft<br />

herausgebildet haben, der in<br />

der Türkei im wesentlichen zu Beginn<br />

der 1980er Jahre von Turgut Özal begonnen<br />

wurde.<br />

Gegen dieses Projekt sind mehrere<br />

Oppositionsfronten aufgetaucht:<br />

Das „Nein“ der Liberalen vor allem<br />

des TÜSIAD (eine Art türkischer<br />

BDI), der die Großkapitalisten repräsentiert:<br />

sie fanden, das Projekt<br />

sei zu weit von einem bürgerlichen<br />

Parlamentarismus entfernt.<br />

Das ultranationalistische Nein der<br />

MHP, die sich vor allem abgrenzen<br />

wollte. <strong>Die</strong> extreme Rechte prangert<br />

die Politik der AKP generell an<br />

und meint, sie mache den Kurden<br />

zu viele Konzessionen (der Versuch<br />

einer „demokratischen Öffnung“),<br />

obwohl es im Projekt überhaupt<br />

keinen Bezug zu den Rechten<br />

der Kurden gibt. Hier handelt e<br />

sich somit um eine reaktionäre Opposition.<br />

Das zweischneidige Nein der wichtigsten<br />

Oppositionspartei im Parlament,<br />

der „kemalistischen“ CHP,<br />

die ein paar vage Überlegungen zu<br />

sozialen Fragen mit einem nationalistischen<br />

und etatistischen Diskurs<br />

verband.<br />

Der von der BDP angeleierten Boykottkampagne<br />

muss man einen besonderen<br />

Platz einräumen. Denn<br />

di kurdische Bewegung und ihre<br />

Führung stellten fest, das Projekt<br />

bringe den Kurden absolut nichts,<br />

was zutrifft. Sie riefen daher eher<br />

zum Boykott <strong>als</strong> einem Nein auf.<br />

<strong>Die</strong>se Taktik verweist auf den Charakter<br />

der kurdischen Frage. Denn<br />

die politische Lage in Kurdistan<br />

ist ganz anders <strong>als</strong> die im übrigen<br />

Land. <strong>Die</strong> BDP verfügt über einen<br />

Massenanhang, boykottierte das<br />

Referendum und startete <strong>als</strong> Alternative<br />

eine Kampagne zugunsten<br />

einer „demokratischen Autonomie“<br />

(eine Formel, die man gemäß<br />

dem deutschen Föderalismus verstehen<br />

darf). Wenn der Boykott aus<br />

der Sicht der BDP einen Sinn hat,<br />

gilt es zu betonen, dass auch mehrere<br />

Gruppen der radikalen Linken<br />

sich ihm angeschlossen haben, die<br />

aber isoliert sind und natürlich keine<br />

der „demokratischen Autonomie“<br />

der BDP vergleichbare Aussicht<br />

für den Rest des Landes besitzen.<br />

Wir müssen <strong>als</strong>o feststellen,<br />

dass es außerhalb Kurdistans keine<br />

Bedingungen gab, diese Taktik erfolgreich<br />

umsetzen zu können.<br />

Im Unterschied zu diesen verschiedenen<br />

Ablehnungen, allerdings weniger<br />

hörbar, gab es ein „linkes<br />

Nein“, das dem Entwurf demokratische<br />

und soziale Forderungen entgegen<br />

stellte, und das von verschiedenen<br />

nationalen Vereinigungen,<br />

Berufsverbänden und politischen<br />

Organisationen vertreten wurde:<br />

der ÖDP (Özgürlük v Dayanıma<br />

Partisi, Partei der Freiheit und der<br />

Solidarität, in der die türkischen<br />

Mitglieder der IV. Internationale<br />

Mitglied sind), die TKP (kommunistische<br />

Partei der Türkei), die<br />

Emep (Emen Partisi, Partei der<br />

Arbeit, pro-albanisch), aber auch<br />

die Volkshäuser haben sich auf dieser<br />

Grundlage erklärt. <strong>Die</strong>se Position<br />

erfreute sich auch der Unterstützung<br />

von gewissen Gewerkschaften<br />

und Vereinigungen. <strong>Die</strong> Wirkung<br />

blieb wegen der Schwäche der Linken<br />

in der Türkei beschränkt, aber<br />

auch, weil die Kampagne zu spät<br />

gestartet wurde und sich nicht auf<br />

Basisgruppen, etwa lokale Komitees<br />

stützen konnte, in denen sich<br />

alle AnhängerInnen eines „Neins<br />

der Linken“ hätten zusammenfinden<br />

können. <strong>Die</strong>se Begrenztheiten<br />

trübten die Dynamik dieser Zusammenarbeit,<br />

doch ist positiv zu werten,<br />

dass es sie überhaupt gab. Und<br />

damit lässt sich auch die Konfusion<br />

angehen, die sich aus dem „Ja der<br />

Linken“ ergab.<br />

Es scheint daher ziemlich erstaunlich<br />

zu sein, dass es Individuen und<br />

Gruppen 10 der radikalen Linken gab,<br />

die beim Referendum für ein „kritisches<br />

Ja“ eingetreten sind. Sie haben<br />

behauptet, die Annahme der Verfassungsänderungen<br />

würde es ermöglichen,<br />

die Seite des Staatsstreichs von<br />

1980 zu wenden, während aber das<br />

Projekt der AKP keinerlei soziale und<br />

politische Freiheiten enthält, die es<br />

den Arbeitenden erleichtern würden,<br />

sich selbst zu organisieren. So macht<br />

10 <strong>Die</strong> bekanntesten sind: die EDP (Esitlik ve<br />

Demokrasi Partisi, Partei der Gleichheit und<br />

der Demokratie), die kleine Gruppe von Ufuk<br />

Uraz, dem „Einheits“-Abgeordneten der<br />

Linken in Istanbul, von Antikapitalist, die<br />

zur Internationalen Sozialistischen Tendenz<br />

gehört und die DSIP (Devrimci Sosyalist<br />

Partisi (Revolutionär-Sozialistische<br />

Arbeiterpartei), die früher mit der SWP<br />

verbunden war und immer noch Beziehungen<br />

unterhält.<br />

34 INPREKORR 468/469


TÜRKEI<br />

die Aufhebung des Verbots von politischen<br />

oder von Solidaritäts-Streiks,<br />

worüber viel geredet wurde, nur wenig<br />

Sinn, weil die Möglichkeit, einen<br />

Streiks „auszusetzen“, wenn die „nationale<br />

Sicherheit“ gefährdet ist, beibehalten<br />

wurde. Wenn es nicht zu einer<br />

Vereinbarung kommt, dann entscheidet<br />

schließlich eine Schiedskommission<br />

(die in der Regel für die Arbeitenden<br />

ungünstig ist), deren Entscheidung<br />

nicht mehr angefochten werden<br />

kann (Art. 54). Zu diesem Vorgehen<br />

haben die Regierungen, auch die der<br />

AKP, schon häufig gegriffen. 11 <strong>Die</strong>s<br />

ist auch ganz logisch, denn aufgrund<br />

des Fehlens einer starken Arbeiterbewegung<br />

gibt es kein Kräfteverhältnis,<br />

was wirkliche Veränderungen durchsetzen<br />

könnte.<br />

Ein „kritisches Ja“ liefe <strong>als</strong>o im<br />

Grunde darauf hinaus, größere demokratische<br />

Fortschritte von der Partei<br />

des Präsidenten der Republik Abdullah<br />

Gül zu erwarten, der zur Kurdenfrage<br />

äußerte: „Es wäre schlecht für<br />

den Kampf (gegen den Terrorismus),<br />

Einzelheiten zu nennen, nachdem die<br />

Entscheidung getroffen wurde. (…)<br />

Es wird bereits ein Programm ausgearbeitet,<br />

doch es wäre schlimm, darüber<br />

zu reden.“ 12 Er kritisierte indirekt<br />

den Chef des Gener<strong>als</strong>tabes, der angeblich<br />

der Presse zu viel erzählt habe,<br />

ohne dass es in seinem Lager auch<br />

nur die geringste Regung gab. In der<br />

Zeitschrift der türkischen Sektion der<br />

IV. Internationale beschrieb Masis<br />

Kürkçügil dieses Vorgehen des Präsidenten,<br />

er habe sich „im Labyrinth der<br />

bürgerlichen Politik verloren“ 13 . <strong>Die</strong>s<br />

11 Zwischen 1983 und 2007 gab es 27<br />

Entscheidungen eines „Aufschubs“ eines<br />

Streiks, wovon über 600 Arbeitsstätten<br />

betroffen waren (eine Entscheidung gilt<br />

für diverse Betriebe). <strong>Die</strong>se Praxis wird<br />

weitergeführt: In den Jahren seit 2000 waren<br />

die Reifenproduktion (Goodyear, Pirelli,<br />

Bridgestone, Petlas), eine Kristallfabrik<br />

(Pasabahçe), die Bergwerke (Erdemir)<br />

usw. betroffen. Vgl. dazu Aziz Çelik, Milli<br />

Güvenlik Gerekçeli Grev Ertelemeleri,<br />

Çalima ve Toplum, Nr. 18-3, unter www.<br />

birikimdergisi.com/birikim/makale.<br />

aspx?mid=475<br />

12 Milliyet, 8. Juli 2010, „Gülirdi:<br />

Detay mücadeleyi etkiler“. Auch im Netz<br />

unter http://www.milliyet.com.tr/gul-basbugu-elestirdi-detay-mucadeleyi-etkiller-/siyaset/<br />

sondakika/08.07.2010/1260883/default.htm<br />

13 http://www.sdyeniyol.org/index.php/siyasalguendem/353-esas-felaket-zihinlerde-yaanmyenilgidir-masis-kuerkcuegil.<br />

Wahlkampf in der Türkei<br />

bedeutete gleichzeitig, aus den Augen<br />

zu verlieren, dass sogar die geringsten<br />

Fortschritte zugunsten der Arbeitenden<br />

nur aus der realen Bewegung der<br />

Arbeitenden stammen, weil es ihnen<br />

gelang, ein bestimmtes Kräfteverhältnis<br />

aufzubauen.<br />

<strong>Die</strong> Annahme dieser Verfassung<br />

durch ein Referendum geschah zu<br />

einem Zeitpunkt, da die Arbeiterbewegung<br />

stark geschwächt ist, was<br />

gleichzeitig bedeutet, dass die soziale<br />

Frage aus der politischen Agenda<br />

verschwunden ist und die zersplitterte<br />

Linke sich unfähig zeigt, ihre Isolierung<br />

zu überwinden. <strong>Die</strong> politische<br />

Agenda ist daher im Allgemeinen<br />

von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen<br />

abgekoppelt und zwischen<br />

dem Imperativ des „Kampfes<br />

gegen den Terrorismus“ (der kurdischen<br />

Bewegung) und dem Aufbrechen<br />

der Spannungen zwischen verschiedenen<br />

Sektoren der Bourgeoisie<br />

eingezwängt. Das kann auf völlig<br />

künstliche Weise geschehen wie etwa<br />

die Aufdeckung des „Ergenekon“-<br />

Netzwerkes, das in der Türkei und im<br />

Ausland häufig <strong>als</strong> ein dramatischer<br />

Kampf zwischen der AKP und dem<br />

putschlüsternen Teil der Armee hingestellt<br />

wird, obwohl es sich nur um<br />

die Verhaftung der härtesten Teile der<br />

kemalistischen Opposition gehandelt<br />

hat, die überhaupt nicht in der Lage<br />

wären, einen Staatsstreich durchzuziehen.<br />

Es kann auch um die Probleme<br />

gehen, die einen Großteil der Bevölkerung<br />

betreffen wie die Kurdenfrage,<br />

die es ermöglicht, auf dem Klavier der<br />

nationalen Eintracht zu spielen und jeden<br />

subversiven Diskurs zu disqualifizieren,<br />

oder aber um das Tragen des<br />

Schleiers. Das Tragen des Schleiers in<br />

öffentlichen Gebäuden (der Universität)<br />

nimmt einen wichtigen Platz ein,<br />

weil es eine starke Opposition von<br />

Seiten der etatistischen Bourgeoisie<br />

gibt, die sich immer mehr verkrampft,<br />

weil sie nach und nach viele Positionen<br />

verloren hat. Das ermöglicht es<br />

der AKP, mit wenig Kosten <strong>als</strong> Vertreterin<br />

der Interessen des Volkes zu erscheinen,<br />

obwohl sie eine brutale Politik<br />

gegen die Mobilisierungen der<br />

Arbeitenden veranstaltet. Aber es sind<br />

genau diese Mobilisierungen, die es<br />

von Zeit zu Zeit möglich gemacht haben,<br />

dass die soziale Frage auf der politischen<br />

Agenda aufgetaucht ist.<br />

INPREKORR 468/469 35


TÜRKEI<br />

DER BEISPIELHAFTE KAMPF<br />

DER BESCHÄFTIGTEN VON<br />

TEKEL<br />

<strong>Die</strong>s traf zu während des großen Marsches<br />

der Bergleute von Zonguldak<br />

nach Ankara im Jahr 1991 oder für den<br />

Kampf der Beamten 1995. <strong>Die</strong> markanteste<br />

Mobilisierung in den vergangenen<br />

Jahren war die der Arbeitenden<br />

von Tekel (dem früher staatlichen Unternehmen<br />

für Alkohol und Tabak) in<br />

diesem Jahr, die sich gegen ein neues<br />

Statut zur Wehr setzen, das nach der<br />

Privatisierung des Unternehmens und<br />

den Teilschließungen für sie höchst<br />

nachteilig ausgefallen wäre. <strong>Die</strong>se<br />

massenhafte und lange Mobilisierung,<br />

bei der 78 Tage lang in Ankara eine<br />

Vertretung eingerichtet wurde, war in<br />

mehrfacher Hinsicht aufschlussreich.<br />

Nicht nur handelte es sich um eine direkte<br />

Reaktion auf den Neoliberalismus<br />

in der Türkei, sondern auch – da<br />

der Großteil der beispiellosen Privatisierungen<br />

bereits erfolgt war – um eine<br />

verspätete Reaktion und einen notwendigen<br />

Kampf, der wertvoll, aber<br />

ein Nachhutgefecht war. Neuerlich hat<br />

die AKP ihren wahren Charakter <strong>als</strong><br />

bürgerliche Partei gezeigt, indem sie<br />

sich der Arbeiterklasse brutal in den<br />

Weg stellte und heftigste Repressionsformen<br />

einsetzte. Schließlich war diese<br />

Mobilisierung mit einer Front des<br />

Schweigens von Seiten der Gewerk-<br />

schaftsbürokratien konfrontiert, die<br />

gegen das Entstehen einer radikalen<br />

Bewegung mit dieser Dauer und diesem<br />

Umfang waren. So waren die ArbeiterInnen<br />

von Tekel nicht nur mit<br />

der polizeilichen Gewalt konfrontiert,<br />

sondern auch mit zahlreichen Manövern<br />

der Führung des Dachverbandes,<br />

zu dem ihre Gewerkschaft gehört, um<br />

die Bewegung zu kanalisieren und dadurch<br />

zu schwächen. <strong>Die</strong> Reaktion der<br />

Arbeitenden von Tekel, denen sich andere<br />

kämpfende Sektoren anschlossen,<br />

war entschlossen und nahm eine<br />

ganz radikale Wendung, <strong>als</strong> die Tribüne<br />

des 1. Mai, auf der die Führer<br />

der verschiedenen Gewerkschaftsverbände<br />

saßen, von den Arbeitern gestürmt<br />

wurde und es ihnen gelang,<br />

den Vorsitzenden der T zu verjagen.<br />

<strong>Die</strong>se Aktion wurde von allen<br />

sechs Gewerkschaftsführungen verurteilt,<br />

auch von derjenigen, die man<br />

<strong>als</strong> die linkeste ansieht, nämlich der<br />

KESK. Darauf antworteten die Arbeitenden<br />

von Tekel mit einer Besetzung<br />

der Lokale der Türknbul und<br />

erhielten die Unterstützung von vielen<br />

Gewerkschaftsmitgliedern. <strong>Die</strong> Mobilisierungen<br />

führten schließlich zu<br />

einem Sieg in der Sache beim Staatsrat;<br />

der Fall gelangte schließlich sogar<br />

zum Verfassungsgericht, dessen Entscheidung<br />

allerdings noch aussteht.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbewegung von Tekel<br />

kann natürlich nicht allein den Weg<br />

ändern, auf dem sich die Türkei befindet<br />

und zu dem die neue Verfassung<br />

nur einen weiteren Stein darstellt; damit<br />

meine ich den Weg des neoliberalen<br />

Umbaus der gesamten Gesellschaft,<br />

bei dem die soziale Dimension<br />

aus den politischen Debatten verschwunden<br />

ist und die Auseinandersetzungen<br />

sich auf die Spannungen<br />

zwischen den verschiedenen Sektoren<br />

der Bourgeoisie beschränken. Trotzdem<br />

stellt die Bewegung von Tekel<br />

ein beachtliches Beispiel dar, um zu<br />

zeigen, wie man in der Türkei die sozialistische<br />

Linke neu aufbauen muss,<br />

um den Weg der Gesellschaft zu ändern.<br />

<strong>Die</strong>s ist eine immense Aufgabe,<br />

die mit dem Bewusstsein beginnt,<br />

dass es keine Abkürzungen gibt, etwa<br />

künstliche Wahlen für ein neues Parlament,<br />

Brosamen einer Demokratie,<br />

die vom Tisch der Parteien der Bourgeoisie<br />

gefallen sind, oder aber Umbesetzungen<br />

innerhalb der gewerkschaftlichen<br />

Bürokratien, die über keine<br />

wirklichen Bindungen an die Arbeiterklasse<br />

verfügen.<br />

Ümit Çırak ist Politologe und Mitglied der<br />

Neuen antikapitalistischen Partei (NPA, Frankreich)<br />

und in der Vierten Internationale.<br />

Übersetzung aus dem Französischen:<br />

Paul B. Kleiser<br />

IV. Internationale im Internet<br />

englisch:<br />

http://www.internationalviewpoint.org<br />

französisch:<br />

http://www.inprecor.fr<br />

spanisch:<br />

http://puntodevistainternacional.org<br />

deutsch:<br />

http://www.inprekorr.de<br />

36 INPREKORR 468/469


CHINA<br />

Arbeiterfrühling im Herzen der<br />

„Werkstatt der Welt“<br />

Danielle Sabaï<br />

Seit Mai/Juni 2010 haben in China in<br />

zahlreichen Fabriken Arbeitskonflikte<br />

und Streiks stattgefunden.<br />

Im Land mit der zahlenmäßig<br />

größten und billigsten Arbeitskraft<br />

der Welt (sie wird auf ca. 300 Millionen<br />

Menschen geschätzt) sind Arbeitskonflikte<br />

relativ häufig, doch berichten<br />

westliche Medien selten darüber.<br />

Nach Angaben der offiziellen chinesischen<br />

Zeitschrift Outlook Weekly<br />

wurden 2008 280‘000 Arbeitskonflikte<br />

registriert und haben diese<br />

im ersten Halbjahr 2009 im Vergleich<br />

zum Vorjahr um 30% zugenommen.<br />

Dass den Konflikten im Mai/Juni<br />

2010 plötzlich soviel Aufmerksamkeit<br />

gewidmet wurde, ist bestimmt kein<br />

Zufall. <strong>Die</strong>se Konflikte könnten sehr<br />

wohl Ausdruck wesentlicher Veränderungen<br />

sein, die es wert sind, analysiert<br />

zu werden.<br />

HONDA FOSHAN: EIN VORBILD-<br />

LICHER STREIK<br />

<strong>Die</strong> Streikwelle begann in der Honda-Fabrik<br />

Foshan. Obwohl die Streikführer<br />

verhaftet wurden und trotz<br />

der Spaltungsversuche der Direktion,<br />

blieben die Arbeiter während des<br />

zweiwöchigen Streiks fest zusammen.<br />

In dieser Fabrik sind 80 % der Arbeiter<br />

Technikum-Studenten mit einem<br />

Firmenarbeitsvertrag. Sie unterstehen<br />

nicht dem geltenden Arbeitsgesetz<br />

und ihr Lohn liegt weit unter einem<br />

regulären Arbeiterlohn.<br />

Der Konflikt wurde von diesen<br />

Technik-Studenten ausgelöst, die nach<br />

1980 geboren sind und die die Zeit<br />

Maos nicht erlebt haben. Der Streik<br />

hat gezeigt, dass sie mit der Durchsetzung<br />

besserer Arbeitsbedingungen<br />

ihrer Menschenwürde entschlossen<br />

Respekt verschaffen wollen. Sie<br />

sind nicht mehr bereit, für die Fabrik<br />

und für die Hierarchie ihr Leben<br />

zu opfern und die schlimmsten Ungerechtigkeiten<br />

hinzunehmen. Sie haben<br />

ein Wachstumsmodell an den Pranger<br />

gestellt, das auf billiger Arbeit und<br />

Überausbeutung der Arbeitskraft beruht,<br />

aber auch auf der Schamlosigkeit<br />

der Großbetriebe, die ihnen extrem<br />

niedrige Löhne bezahlen, selber<br />

aber schwindelerregend hohe Profite<br />

einfahren.<br />

Gleichzeitig hat eine Reihe von<br />

Selbstmorden in der taiwanesischen<br />

Fabrik Foxconn – ein Elektronikriese,<br />

der Teile für Dell, Apple und Hewlett<br />

Packard herstellt – ein grelles Licht<br />

auf das Schicksal der Arbeiter in Fabriken<br />

geworfen, die wie Gefängnisse<br />

organisiert sind.<br />

<strong>Die</strong> eiserne Disziplin und die niedrigen<br />

Löhne haben die multinationalen<br />

Konzerne angelockt und dazu beigetragen,<br />

dass China zur „Werkstatt der<br />

Welt“ geworden ist. Eine Werkstatt,<br />

die eher einem Arbeitslager gleicht.<br />

Zum ersten Mal haben sich die<br />

jungen Honda-Angestellten nicht für<br />

die Auszahlung ihrer Löhne oder für<br />

die Umsetzung ihrer Rechte gewehrt,<br />

wie dies bei Arbeitskonflikten in China<br />

normalerweise der Fall ist, sondern<br />

für eine substantielle Lohnerhöhung.<br />

Sie forderten eine sofortige Erhöhung<br />

der Grundlöhne von 800 Yuan (91 €),<br />

das heißt ohne Überstunden, sowie eine<br />

jährliche Lohnerhöhung von mindestens<br />

15 %. <strong>Die</strong>ser Streik hat Honda<br />

während mehrerer Tage zur Stillegung<br />

der Produktion im <strong>ganze</strong>n Land<br />

gezwungen, weil es infolge des Konflikts<br />

an Einzelteilen mangelte. <strong>Die</strong><br />

Honda-Direktion musste mit einer<br />

von den Streikenden ernannten Delegation<br />

verhandeln und bedeutende<br />

Lohnerhöhungen sowie bessere Arbeitsbedingungen<br />

zugestehen. Der<br />

Sieg der Honda-Foshan-Arbeiter ist<br />

ein phantastisches Beispiel für deren<br />

Kampfbereitschaft. Im Gefolge dieses<br />

Kampfes kam es in Zweigniederlassungen<br />

von Honda, Toyota, Mitsumi<br />

Electric, Nippon Sheet Glass, Atsumitec<br />

und vielen anderen ebenfalls zu<br />

Konflikten, in deren Verlauf Lohnerhöhungen<br />

zugestanden werden mussten.<br />

<strong>Die</strong>s war in allen Konflikten die<br />

Hauptforderung. Presseberichten zufolge<br />

haben einige Betriebe und sogar<br />

Provinzbehörden die Löhne ihrer Angestellten<br />

erhöht, bevor es überhaupt<br />

zu Konflikten gekommen war!<br />

DIE GRÜNDE FÜR DIE WUT<br />

<strong>Die</strong>se Lohnforderungen überraschen<br />

nicht. <strong>Die</strong> unterste Kategorie bilden<br />

die ungefähr 130 Millionen Wanderarbeiter,<br />

die der Armut auf dem Land<br />

entflohen sind. Sie stellen die Mehrheit<br />

der Ungelernten, auf die die<br />

Großbetriebe und multinationalen<br />

Konzerne so gierig sind, die sich in<br />

den großen Zentren der verarbeitenden<br />

Industrie Chinas wie Guangzhou,<br />

Shenzhen und Suzhou sowie in Großstädten<br />

wie Schanghai und Peking<br />

niedergelassen haben. Dort arbeiten<br />

sie hauptsächlich auf dem Bau. Aufgrund<br />

des Hukou-Systems (Niederlassungsrecht)<br />

werden die Wanderarbeiter<br />

von den Behörden nicht <strong>als</strong> Stadtbewohner<br />

anerkannt. Dadurch sind<br />

sie verletzlich, weil Sans-Papiers im<br />

eigenen Land. Sie haben kein Recht<br />

auf öffentliche <strong>Die</strong>nstleistungen, <strong>als</strong>o<br />

auch auf keine Sozialversicherungen.<br />

Ihre Kinder dürfen keine öffentlichen<br />

Schulen besuchen.<br />

Gemäß Angaben des Landwirtschaftsministeriums<br />

verdienen sie<br />

heute im Durchschnitt 1348 Yuan monatlich,<br />

das sind 154 €. Trotz jährlicher<br />

Lohnerhöhungen von 10 bis<br />

15 % bleiben diese extrem niedrig.<br />

<strong>Die</strong> Zahl der Luxus-Einkaufszentren<br />

ist explodiert, wo die Konsumbefriedigung<br />

der ungefähr 300 Mio. Ange-<br />

INPREKORR 468/469 37


CHINA<br />

hörigen der Mittelklasse – Neureiche<br />

und Bürokraten nicht mitgezählt<br />

– zur Schau gestellt wird. Den Arbeitern<br />

hingegen hat das fulminante chinesische<br />

Wirtschaftswachstum wenig<br />

gebracht. <strong>Die</strong> sozialen Ungleichheiten<br />

haben zugenommen, vor allem<br />

zwischen Stadt und Land. Eine Wirtschaftsstudie<br />

kommt zu dem Schluss,<br />

dass sich die Arbeits“kosten“ in den<br />

Großbetrieben von 1995 bis 2004 verdreifacht<br />

haben, dass sich die Produktivität<br />

in der gleichen Zeit jedoch verfünffacht<br />

hat, was zu einer Senkung<br />

der Lohnstückkosten um 43 % 1 geführt<br />

hat. Zur Illustration eine weitere<br />

Zahl: Der Anteil der Arbeitseinkommen<br />

hat in 15 Jahren um 10 % abgenommen,<br />

was zu einem Rückgang<br />

der <strong>Ausgabe</strong>n der Haushalte geführt<br />

hat. 2 Mit den gegenwärtigen Lohnerhöhungen<br />

hat demnach eine gerechtere<br />

Verteilung des Nationaleinkommens<br />

zugunsten der Arbeiter eigentlich<br />

erst begonnen.<br />

WERKSTATT DER WELT GEGEN<br />

SUPERMARKT<br />

<strong>Die</strong> Behörden sehen diese Lohnerhöhungen<br />

gerne und zwar aus zwei<br />

Gründen. Erstens möchte die Regierung<br />

den inländischen Konsum erhöhen,<br />

um die Verlangsamung der Exporte<br />

zu kompensieren. Zweitens bedeuten<br />

Lohnerhöhungen auch eine<br />

Verbesserung der Lebensbedingungen,<br />

was für die Aufrechterhaltung<br />

der politischen Stabilität ein wichtiger<br />

Faktor darstellt. <strong>Die</strong> Arbeitskämpfe<br />

der vergangenen Monate sind<br />

in Fabriken ausgebrochen, die ausländischen,<br />

hauptsächlich japanischen<br />

Gesellschaften gehören. Das war der<br />

Regierung hochwillkommen; sie ließ<br />

den Dingen ihren Lauf, hat den Lokalmedien<br />

sogar erlaubt, darüber zu berichten.<br />

Damit hat sie den Eindruck<br />

erweckt, die ausländischen Betriebe<br />

1 Untersuchung von Ms Chen und Bart van Ark<br />

von der Wirtschaftsorganisation „Conference<br />

Board“ sowie Harry Wu von der japanischen<br />

Hitotsubashi University, Angaben nach<br />

„China’s Labour Market: The Next China“,<br />

in: The Economist, http://www.economist.<br />

com/research/articlesBySubject/displaystory.<br />

cfm?subjectid=478048&story_id=16693397<br />

(29. Juli 2010).<br />

2 Jean Sanuk, „La Chine peut-elle sauver<br />

le capitalisme mondial?“, in: Inprecor Nr.<br />

543/544, November/Dezember 2008<br />

seien schuld an der Unzufriedenheit<br />

der Arbeiter. Gleichzeitig wurden damit<br />

nationalistische Gefühle gestärkt.<br />

Der Regierung bringt es mehr,<br />

wenn ausländische Konzerne Zugeständnisse<br />

machen müssen <strong>als</strong> wenn<br />

sie Arbeitskämpfe unterdrücken würde.<br />

Sie befürchtet nicht, dass das Land<br />

wegen der Konflikte und der Lohnerhöhungen<br />

an Attraktivität verliert.<br />

In China sind die Lohnkosten zwar<br />

für die stark exportorientierte Industrie<br />

entscheidend, sie sind aber keineswegs<br />

das einzige Argument dafür,<br />

dass ausländische Firmen in China<br />

investieren. Der durchschnittliche<br />

Monatslohn in Thailand, auf den Philippinen,<br />

in Vietnam und Indonesien<br />

liegt heute unter demjenigen Chinas. 3<br />

Aber die Arbeitskräftereserven dieser<br />

Länder sind unvergleichlich viel kleiner.<br />

Zudem können nicht alle Firmen<br />

einfach umziehen. <strong>Die</strong>s trifft zum Beispiel<br />

auf die Automobilfabriken, die<br />

Stahlproduktion und die chemische<br />

Industrie zu.<br />

<strong>Die</strong> meisten Unternehmen investieren<br />

hauptsächlich deshalb in China,<br />

weil sich hier rasant ein riesiger<br />

nationaler Markt entwickelt, während<br />

der Konsum in den westlichen<br />

Ländern <strong>als</strong> Folge der Krise stagniert.<br />

Mit den Lohnerhöhungen wird dieser<br />

Markt noch lukrativer. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />

kann kein Investor übersehen.<br />

Höhere Arbeits„kosten“ und die<br />

Zunahme an Arbeitskonflikten führen<br />

nicht dazu, dass die multinationalen<br />

Konzerne ins Ausland abwandern,<br />

sondern sie verlagern ihre Fabriken<br />

vielmehr in China selbst. <strong>Die</strong><br />

Firmen ziehen lieber von der Küste<br />

weg und ins Landesinnere, wo der Boden<br />

und die Löhne viel günstiger sind.<br />

Mit der Verlagerung der Industrie können<br />

sie den beginnenden Arbeitskräftemangel<br />

in den küstennahen Industriezonen<br />

wettmachen, was die Folge<br />

der geografischen Aufteilung des Arbeitsmarktes<br />

ist. Nach Meinung von<br />

Deng Quheng von der chinesischen<br />

Akademie der Sozialwissenschaften<br />

und Li Shi von der Pekinger Universität<br />

gibt es noch 70 Millionen chine-<br />

3 Patrick Barta und Alex Frangos, „Southeast<br />

Asia Tries to Link Up to Compete“, in: The<br />

Wall Street Journal, http://online.wsj.com/article/NA_WSJ_PUB:SB1000142405274870<br />

4488404575441802903187976.html<br />

(22. August 2010).<br />

sische Landarbeiter, die der Industrie<br />

zur Verfügung stehen. Doch das Hukou-System<br />

und die Furcht, ihr Stück<br />

Land zu verlieren, wenn sie es nicht<br />

bearbeiten, hindern sie daran, in den<br />

Küstenstädten Arbeit zu suchen.<br />

<strong>Die</strong> chinesische Bevölkerung wird<br />

zudem älter. Ein Sechstel jener, die<br />

keine Wanderarbeiter sind, finden, sie<br />

seien zu alt um wegzugehen, selbst<br />

wenn sie noch nicht 40 Jahre alt sind. 4<br />

VERBESSERTES ARBEITSGE-<br />

SETZ<br />

Das Wiederaufflammen der Arbeitskämpfe,<br />

die durch die siegreichen<br />

Kämpfe im Frühling gestärkt wurden,<br />

ist zweifellos auch auf das neue<br />

Arbeitsgesetz zurückzuführen. Das<br />

am 1. Januar 2008 in Kraft getretene<br />

„ Arbeitsvertrags-Gesetz der Volksrepublik<br />

China“ ist „eines der wichtigsten<br />

Arbeitsgesetze der letzten zehn<br />

Jahren.“ 5 Mit ihm sollen vor allem die<br />

Missbräuche der Unternehmer gegenüber<br />

ihren Angestellten eingeschränkt<br />

werden, wie missbräuchliche Kündigungen<br />

und Nichtbezahlung der Löhne.<br />

<strong>Die</strong> Regierung möchte einen ständigen<br />

Anlass für Arbeitskämpfe ausschalten,<br />

deren politische Dynamik<br />

für sie gefährlich werden könnte. Sie<br />

hofft zudem, mit einem besseren Arbeitsschutz<br />

die hohe Fluktuation in<br />

den Betrieben einzudämmen. Von<br />

1980 bis 1990 verließen die Angestellten<br />

den Betrieb, wenn sie mit den<br />

Arbeitsbedingungen oder ihrem Lohn<br />

nicht zufrieden waren und suchten sich<br />

eine neue Stelle. Sie hatten auch gar<br />

keine andere Wahl, da die staatliche<br />

Repression jede kollektive Organisierung<br />

am Arbeitsplatz verhinderte. <strong>Die</strong><br />

Hauptaufgabe des offiziellen Gewerkschaftsbundes<br />

bestand darin, Kämpfe<br />

zu verhindern. Mit dem beginnenden<br />

Arbeitskräftemangel in den Küstenregionen,<br />

der Überalterung der Bevölke-<br />

4 Angaben nach: „The Next China“, in: The<br />

Economist, a.a.O.<br />

5 Jeffrey Becker und Manfred Elfstrom<br />

(International Labor Rights Forum),<br />

„The Impact of China’s Labor Contract<br />

Law on Workers “ (12. Mai 2010), http://<br />

www.laborrights.org/sites/default/<br />

files/publications-and-resources/<br />

ChinaLaborContractLaw2010_0.pdf;<br />

Zusammenfassung: http://www.laborrights.<br />

org/creating-a-sweatfree-world/rule-of-law/<br />

china-program/resources/12318<br />

38 INPREKORR 468/469


CHINA<br />

rung und aufgrund der besseren Ausbildung müssen Behörden<br />

und Unternehmen eine Arbeitskraft stabilisieren,<br />

die zudem immer mehr Forderungen stellt. <strong>Die</strong> jungen<br />

Wanderarbeiter haben am meisten vom neuen Gesetz<br />

profitiert, zweifellos weil sie dank Internet besser informiert<br />

sind. Es überrascht deshalb nicht, wenn sie an den<br />

Kämpfen in den japanischen Betrieben beteiligt waren.<br />

<strong>Die</strong>se Jungen sind heute besser ausgebildet und haben<br />

qualifiziertere Jobs <strong>als</strong> früher. Welten trennen sie von ihren<br />

Eltern auf dem Land. <strong>Die</strong>se jungen Arbeiter, alles<br />

Einzelkinder, streben nach einem anständigen Leben in<br />

den Großstädten, was mit ihren Hungerlöhnen aber ein<br />

Ding der Unmöglichkeit ist. Deshalb werden die siegreichen<br />

Arbeitskämpfe der vergangenen Monate die soziale<br />

Lage stark prägen. <strong>Die</strong> Regierung hofft auf Lohnerhöhungen,<br />

damit sich die soziale Lage entspannt. Es<br />

ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass sich die Streiks<br />

vom Frühjahr und Sommer noch ausweiten werden.<br />

<strong>Die</strong>s deshalb, weil eines der wichtigsten Merkmale<br />

der Kämpfe bei Honda war, dass die Streikenden den<br />

Vertretern der offiziellen, von der KP kontrollierten Gewerkschaft<br />

(die „All Chinese Federation of Trade Union“<br />

ACFTU) die Gefolgschaft verweigert haben. <strong>Die</strong>se<br />

Vertreter haben sich mit gewalttätigen Aktionen gegen<br />

Streikende in Misskredit gebracht, da sie <strong>als</strong> Streikbrecher<br />

aufgetreten waren und dadurch den Eindruck<br />

erweckt haben, sie stünden auf der Seite der Direktion.<br />

In mindestens drei Honda-Fabriken haben die Streikenden<br />

verlangt, ihre Vertreter selbst zu wählen und die<br />

Gewerkschaft neu zu organisieren, was ein Affront gegen<br />

die AFCTU-Vertreter war. <strong>Die</strong>se „Gewerkschafter“<br />

haben systematisch für die Unternehmer Partei ergriffen<br />

und entpuppten sich <strong>als</strong> treue Helfer der Polizei. Dass<br />

sich die Honda-Arbeiter unter diesen äußerst schwierigen<br />

Umständen selber zu organisieren vermochten, ist<br />

eine große Leistung. Dank dieser Formen der Selbstorganisierung<br />

konnte sich ein neues Arbeiterbewusstsein<br />

entwickeln.<br />

<strong>Die</strong> zahlreichen Konflikte haben sich auf die Wirtschaft<br />

konzentriert, doch die Behörden achten sehr darauf,<br />

dass sie nicht zu einem politischen Protest werden.<br />

<strong>Die</strong> Streikerfahrung in den Honda-Fabriken zeigt, dass<br />

die Regierung in Zukunft mehr Mühe haben wird, die<br />

Kämpfe mit Hilfe des weitgehend diskreditierten Gewerkschaftsbundes<br />

zu kontrollieren.<br />

Auch in Bangladesch, Vietnam und Kambodscha haben<br />

in den vergangenen Monaten Kämpfe für höhere<br />

Löhne stattgefunden. Das Elend ist <strong>als</strong>o nicht Schicksal.<br />

Danielle Sabaï, Mitglied der Nouveau parti anticapitaliste<br />

(NPA) und der IV. Internationale, ist Asien-Korrespondentin<br />

von Inprecor. Sie betreibt eine interessante Website „Extrême<br />

Asie, Pour une politique progressiste en Asie“: http://daniellesabai.wordpress.com<br />

Übersetzung: Ursi Urech<br />

Ellen Meiksins Wood<br />

Demokratie contra Kapitalismus<br />

Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus<br />

Aus dem Englischen von Ingrid Scherf und Christoph Jünke<br />

304 Seiten, kartoniert, 29,80 Euro<br />

ISBN 978-3-89900-123-5<br />

Vorbemerkung des Verlages<br />

Dass wir hiermit ein Buch erstm<strong>als</strong> in deutscher Übersetzung verlegen, dessen<br />

englisches Original bereits vor 15 Jahren erschien, bedarf für manche vielleicht<br />

der Erklärung.<br />

Nicht nur, aber vor allem hat unsere Entscheidung damit zu tun, dass es<br />

sich bei Ellen Meiksins Woods Werk Democracy against Capitalism. Renewing<br />

Historical Materialism um einen Beitrag zur neueren internationalen<br />

Marxismus-Diskussion handelt, der bereits zum Klassiker geworden ist. Wir<br />

haben es hierbei mit einem der wichtigsten und anregendsten Versuche der<br />

letzten beiden Jahrzehnte zu tun, den historischen Materialismus zu erneuern<br />

und auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform in Geschichte und<br />

Gegenwart anzuwenden.<br />

Ellen Meiksins Wood gilt <strong>als</strong> eine der bedeutendsten marxistischen TheoretikerInnen<br />

der angloamerikanischen Welt. 1942 in New York geboren, studierte<br />

sie in den sechziger Jahren an der University of California. Von 1967<br />

bis 1997 unterrichtete sie Politische Wissenschaften an der York University in<br />

Toronto, Kanada, und veröffentlichte in den siebziger Jahren erste Bücher<br />

und Aufsätze (u. a. zusammen mit ihrem 2003 gestorbenen Ehemann Neal<br />

Wood). Einem größeren Publikum wurde sie aber erst in den achtziger Jahren<br />

bekannt, <strong>als</strong> Redakteurin der renommierten britischen Theoriezeitschrift<br />

New Left Review und <strong>als</strong> Autorin des preisgekrönten Werkes The Retreat<br />

from Class: A New »True« Socialism (London 1986), in welchem sie sich kritisch<br />

mit postmarxistischen und postmodernen Theoretikern der internationalen<br />

Linken auseinandersetzt. In den dann folgenden Büchern Peasant-Citizen<br />

and Slave: The Foundations of Athenian Democracy (London 1988), The<br />

Pristine Culture of Capitalism (London 1992), Democracy Against Capitalism:<br />

Renewing Historical Materialism (Cambridge 1995) und The Origin of<br />

Capitalism: A Longer View (London 2002) widmete sie sich vor allem der<br />

Diskussion über die sozialgeschichtliche Herausbildung des modernen Kapitalismus<br />

und die unterschiedlichen Grundlagen antiker wie moderner Demokratiekonzeptionen.<br />

Der politisch-theoretische Aufbruch der internationalen<br />

Linken am Ende der neunziger Jahre sah sie <strong>als</strong> aktive Herausgeberin der USamerikanischen<br />

Zeitschrift Monthly Review, für die sie von 1997 bis 2000<br />

verantwortlich zeichnete und zahllose Beiträge verfasste. Nachdem ihr Werk<br />

bereits in zahllose Sprachen übersetzt war, wurde sie nun auch in Deutschland<br />

wahrgenommen und übersetzt, nicht nur, aber vor allem in den Zeitschriften<br />

Sozialistische Zeitung (Köln) und Sozialismus (mit ihrem Hambur-<br />

<strong>Die</strong> Autorin<br />

Ellen Meiksins Wood gilt <strong>als</strong> eine der bedeutendsten marxistischen TheoretikerInnen<br />

der angloamerikanischen Welt. 1942 in New York geboren, studierte<br />

sie in den sechziger Jahren an der University of California. Von 1967 bis<br />

1997 unterrichtete sie Politische Wissenschaften an der York University in<br />

Toronto, Kanada, und veröffentlichte in den siebziger Jahren erste Bücher<br />

und Aufsätze. In den achtziger Jahren war sie Redakteurin der renommierten<br />

britischen Theoriezeitschrift New Left Review, dann von 1997 bis 2000 Herausgeberin<br />

der US-amerikanischen Zeitschrift Monthly Review. Heute lebt<br />

Ellen Meiksins Wood in London. Eine ausführlichere Würdigung ihres<br />

Schaffens enthält die Vorbemerkung des Verlages.<br />

INPREKORR 468/469 39


NACHRUF<br />

Luis Vitale (1927–2010)<br />

Ein revolutionärer Historiker aus<br />

Lateinamerika<br />

Franck Gaudichaud<br />

Luis Vitale hat uns am 27. Juni 2010 verlassen<br />

– und mit ihm scheint ein <strong>ganze</strong>r<br />

Abschnitt der Geschichte der chilenischen<br />

(und lateinamerikanischen) Arbeiterbewegung<br />

zu Ende zu sein, für<br />

den auch Persönlich keiten wie Clotario<br />

Blest 1 stehen.<br />

Welche und wie viele politische Kräfte<br />

bei seiner Beisetzung in Santiago sowie<br />

bei der Gedenkveranstaltung mit seiner<br />

Asche in der Bergbaustadt Lota im<br />

Süden von Chile vertreten waren, zeigt,<br />

dass er sein Leben lang seinem Engagement<br />

und einem anspruchsvollen marxistischen<br />

Denken treu geblieben ist. Bis<br />

zu seinem letzten Atemzug fühlte er sich<br />

stets denen „unten“ verbunden, den arbeitenden<br />

Menschen, den Unterdrückten,<br />

dem Volk, das sich gegen jegliche Form<br />

von Ausbeutung und Unterdrückung zur<br />

Wehr setzte. „Lucho“, wie wir ihn aus<br />

Sympathie heraus genannt haben, war<br />

ein Mensch, der aufgrund seines biographischen<br />

Werdegangs und seinem vielfachen<br />

Engagement – <strong>als</strong> Gewerkschafter,<br />

<strong>als</strong> aktiver Revolutionär, <strong>als</strong> produktiver<br />

marxistischer Historiker, aber auch <strong>als</strong><br />

liebenswürdige und farbige Persönlichkeit<br />

– mit Sicherheit außergewöhnlich<br />

gewesen ist.<br />

Er ist in Argentinien geboren, verband<br />

aber sein Schicksal recht bald mit<br />

dem des chilenischen Volks und mit dessen<br />

Kämpfen. Seine Entwicklung war<br />

eng mit der Geschichte der trotzkistischen<br />

Bewegung in Chile verbunden,<br />

für die auch Namen wie der von Manuel<br />

Hidalgo, Luis und Pablo López Cáce-<br />

1 [Clotario Blest (1899–1990) war<br />

von 1953 bis 1961 Vorsitzender des<br />

Gewerkschaftsdachverbands<br />

CUT,<br />

1965 gehörte er zusam men mit anderen<br />

führenden Gewerkschaftern zu den<br />

Mitbegründern des MIR, den er 1969 verließ.<br />

Luis Vitale hat ihm eines seiner ersten Bücher<br />

gewidmet: Los discursos de Clotario Blest<br />

y la revolución chilena, Santiago de Chile:<br />

Editorial POR, 1961, (Colección Recabarren).]<br />

res, Héctor Velásquez, Joaquín Guzmán<br />

oder Hum berto Valenzuela stehen. 2 Der<br />

zuletzt genannte, ein bedeutender Arbeiterführer<br />

und Mitbegründer des chilenischen<br />

Trotzkismus in den 1930er<br />

Jahren 3 , war es übrigens, der Luis Vitale<br />

1955 für die chilenische Revolutionäre<br />

Arbeiter partei (Partido Obrero Revolucionario,<br />

POR) gewann. 4 Als „Lu-<br />

2 Vgl. hierzu das Buch von Dolores Mujica:<br />

Retratos: Hombres y mujeres del trotskismo.<br />

La cara oculta de la clase trabajadora chilena,<br />

o. O.: Clase Contra Clase, o. J. [2009],<br />

(Biblioteca de Historias Obreras, Bd. 6),<br />

www.bibliotecaobrera.cl/wp-content/<br />

uploads/2009/02/retratos-web1.doc.<br />

[Es enthält eine Einleitung von Luis Vitale und<br />

einen Abschnitt über ihn.]<br />

3 Humberto Valenzuela Montero (1909–<br />

1977) war bereits mit 15 Jahren in der<br />

Gewerkschaftsbewegung aktiv und trat<br />

ebenfalls 1924 der kommunistischen Partei<br />

bei. 1930 war Mitbegründer der trotzkistischen<br />

Bewegung in Chile, 1955 bis 1964 übte er<br />

das Amt des Gener<strong>als</strong>ekretärs der POR aus.<br />

1972 schrieb Humberto Valenzuela eine<br />

Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung<br />

von deren Anfängen bis 1970; <strong>als</strong> Luis<br />

Vitale 1975/76 in Westdeutschland im Exil<br />

lebte, bekam er diese Arbeit kapitelweise<br />

geschickt; sie wurde in kleiner Auflage und<br />

sehr einfacher Ausstattung im damaligen<br />

Verlag der deutschen Sektion der IV.<br />

Internationale veröffentlicht (Humberto<br />

Valenzuela, Historia del movimiento obrero,<br />

mit einem Vorwort von Luis Vitale, o. O.<br />

[Frankfurt/M.]: ISP Verlag, o. J. [1976?])<br />

Der Text kann aus dem Internet herunter<br />

geladen werden: „Historia del Movimiento<br />

Obrero Chileno. (Humberto Valenzuela)“<br />

http://www.bibliotecaobrera.cl/?cat=6.<br />

4 Er war ab 1952 in der argentinischen POR<br />

politisch aktiv gewesen [bis er im Februar<br />

1955 nach Chile ging bzw. geschickt wurde].<br />

[<strong>Die</strong> argentinische POR unter Führung von<br />

Nahuel Moreno (eigentlich Hugo Miguel<br />

Bressano Capacete, 1924–1987), 1944 <strong>als</strong><br />

„Grupo Obrero Marxista“ (GOM) entstanden,<br />

existierte ab 1948 unter dieser Bezeichnung,<br />

und stand in scharfer Rivalität zu der von J.<br />

Posadas (eigentlich Homero Rómulo Cristalli<br />

Frasnelli, 1912–1981) geführten „Grupo<br />

Cuarta Internacional“ (GCI), die 1953 auf dem<br />

3. Weltkongress <strong>als</strong> argentinische Sektion der<br />

IV. Internationale anerkannt wurde; vgl. hierzu<br />

L. Vitale, De Martí a Chiapas. Balance de un<br />

cho“ mir 2002 auf Fragen zu seinem politischen<br />

Leben antwortete, erinnerte er<br />

sich: „Ich war nicht nur <strong>als</strong> Mitglied der<br />

Sektion der IV. Internationale in Argentinien<br />

und in Chile aktiv, sondern auch<br />

<strong>als</strong> Gewerkschaftsführer. Ich bin in Argentinien<br />

geboren, und <strong>als</strong> ich nach Chile<br />

kam, gründete ich mit anderen die<br />

erste Gewerkschaft der Laboratoriumsbeschäftigten,<br />

und so bin ich in die Leitung<br />

der Föderation Chemie und Pharmazie<br />

gekommen; 1958 bin ich an der<br />

Seite von Clotario Blest auf die Ebene<br />

der CUT 5 gekommen. Ich habe von 1958<br />

bis 1969 der nationalen Leitung angehört.<br />

Das machte es möglich, dass ich die<br />

chilenische Gewerk schaftsbewegung im<br />

<strong>ganze</strong>n Land kennenlernte. Sie kennen<br />

zu lernen und sich zu verlieben, das hat<br />

auch bedeutet, dass ich den Rest meines<br />

Lebens in Chile verbringen würde. Dam<strong>als</strong><br />

hat in Chile die POR, die Revolutionäre<br />

Arbeiterpartei, existiert, eine Sektisiglo,<br />

Santiago de Chile: Editorial Síntesis;<br />

CELA, 1995, S. 123/124; Robert J. Alexander,<br />

International Trotskyism, 1929-1985. A<br />

Documented Analysis, Durham u. London:<br />

Duke University Press, 1991, S. 41.]<br />

5 [<strong>Die</strong> „Central Única de Trabajadores“ (CUT,<br />

Einheitszentrale der Arbeitenden), in deren<br />

Vorstand auf dem Gründungskongress<br />

Mitglieder der Sozialistischen Partei,<br />

der Kommunistischen Partei, von<br />

dissidenten sozialistischen Strömungen,<br />

Anarchosyndikalis ten, Unabhängige und andere<br />

gewählt wurden, organisierte im Mai 1954,<br />

September 1955 und Januar Gener<strong>als</strong>treiks.<br />

„Im Februar 1953 (…) gelang durch Druck<br />

der Basis der erneute Zusammenschluß der<br />

gespaltenen und in verschiedene lokale Sektionen<br />

zersplitterten Gewerkschaften zur<br />

(…) CUT. Sie bezeichnete sich auf ihrem 1.<br />

Kongreß <strong>als</strong> ein autonomes Organ des Klassenkampfes,<br />

sprach sich für den Aufbau einer<br />

sozialistischen Gesellschaft in Chile aus und<br />

unterstrich die Solidarität mit dem Proletariat<br />

der anderen Länder Lateinamerikas. Der<br />

Zusammenschluß führte binnen kurzer Zeit zu<br />

einer gewaltigen Stärkung des Kampfpotenti<strong>als</strong><br />

der Arbeiterklasse.“ (Arno Münster, Chile<br />

– friedlicher Weg? Historische Bedingungen,<br />

„Revolution in der Legalität“, Nieder lage,<br />

Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1972, S. 60.)]<br />

40 INPREKORR 468/469


NACHRUF<br />

on der IV. Internationale. Sie war, wenn<br />

ich mich richtig erinnere, die zweitgrößte<br />

Sektion, die der Trotzkismus in Lateinamerika<br />

hatte.“ 6 1955 gehörte er zu denen,<br />

die sich gegen die Strategie des vollständigen<br />

Entris mus in der chilenischen sozialistischen<br />

Partei stellten, er folgte <strong>als</strong>o<br />

der Minderheit unter Führung von Humberto<br />

Valen zuela und wurde zusammen<br />

mit ihm zu einem der führenden Mitglieder<br />

der POR. 7 Nach der „Wiedervereinigung“<br />

der IV. Internationale 1963 trafen<br />

sich Luis Vitales politische Aktivitäten<br />

und Standpunkte im Wesentlichen mit<br />

denen der internationalen Strömung, für<br />

die Ernest Mandel steht. 8<br />

Er war ein aufmerksamer Beobachter<br />

der Auf- und Umbrüche in Lateinamerika<br />

und wurde zu einem leidenschaftlicher<br />

Verteidiger der kubanischen Revolution.<br />

In der neuen Periode, die dam<strong>als</strong><br />

einsetzte, beteiligte sich die POR<br />

zu sammen mit anderen Organisationen<br />

1965 an der Gründung der Bewegung der<br />

Revolutionären Linken, des MIR (Movimiento<br />

de Izquierda Revolucionario);<br />

Lucho verfasste ihre Grundsatzerklärung.<br />

Während einige Mitglieder in dieser<br />

Fusion/Neugründung eine „Liquidation“<br />

der POR sahen, hat Vitale sich immer<br />

zu der Gründung des MIR bekannt,<br />

der während des vorrevolutionären Prozesses<br />

der „Unidad Popular“ (Volkseinheit)<br />

in den Jahren 1970 bis 1973 eine bedeutende<br />

Rolle spielen sollte: „Von un-<br />

6 Franck Gaudichaud, „Contribution à<br />

l’histoire du mouvement révolutionnaire<br />

chilien: Conversation avec Luis Vitale“,<br />

in: Dissiden ces, Nancy, Nr. 14/15, Januar<br />

2004 (Teil des Dossiers „Autour du<br />

mouvement révolutionnaire chilien“).<br />

http://www.dissidences.net<br />

7 [Luis Vitale schrieb: „Ende diesen Jahres<br />

[1954] beschloss die Mehrheit der POR, in<br />

die Sozialistische Partei einzutreten. Humberto<br />

wandte sich dagegen und beschloss,<br />

zusammen mit einer Handvoll von Arbeitern,<br />

das Banner der POR beizubehalten.“ (Vor wort<br />

zu: H. Valenzuela, Historia del movimiento<br />

obrero, a.a.O., S. 3.) Siehe auch L. Vitale, De<br />

Martí a Chiapas, a.a.O., S. 126.]<br />

8 [Bei der Spaltung der IV. Internationale 1953<br />

in die internationale Fraktion, die von einem<br />

Internationalen Sekretariat (IS) geleitet<br />

wurde (bekannteste Mitglieder: Michel Pablo<br />

[M. Raptis], Pierre Frank, Livio Maitan,<br />

Ernest Mandel), und das Internationale Komitee<br />

(IK) stellten sich die argentinische,<br />

die chilenische und die peruanische POR auf<br />

die Seite des IK, vor allem gegen J. Posadas,<br />

den Repräsentanten des IS in Lateinamerika.<br />

Vgl. hierzu L. Vitale, De Martí a Chiapas,<br />

a.a.O., S. 119; Livio Maitan, Per una storia<br />

della IV internazionale. La testimonianza di<br />

un comunista controcorrente, Roma: Edizioni<br />

Alegre, 2006, S. 272, 169, 170; R. J. Alexander,<br />

International Trotskyism, a.a.O., S. 198.]<br />

Luis Vitale (1927–2010)<br />

serem Standpunkt aus handelte es sich<br />

nicht um eine liquidatorische Operation,<br />

sondern vielmehr in Anbetracht der Bedeutung<br />

der kubanischen Revolution auf<br />

lateinamerikanischer Ebene um den Versuch<br />

einer politischen Praxis, die ein Vorankommen<br />

ermöglichen sollte.“ 9 Vier<br />

Jahre später verließ die alte Garde von<br />

Arbeitern und Trotzkisten (darunter Vitale)<br />

den MIR, sie wurde von einer neuen<br />

Generation (darunter Miguel Enrí quez),<br />

die zu einem Boykott von Allende und<br />

der Präsidentschaftswahl aufrief, hinausgedrängt.<br />

10 <strong>Die</strong> Mitglieder der IV. Inter-<br />

9 F. Gaudichaud, „Contribution …“.<br />

10 [Zur weiteren Entwicklung des MIR siehe:<br />

Miguel Enríquez y el proyecto revolucionario<br />

en Chile. Discursos y documentos del<br />

Movimiento de Izquierda Revolucionario,<br />

MIR, hrsg. von Pedro Naranjo, Mauricio<br />

Ahumada, Mario Garcés, Julio Pinto,<br />

Santiago de Chile: Ediciones LOM, Centro<br />

de Estudios Miguel Enríquez, 2004; H.<br />

Valenzuela, Historia del movimiento<br />

obrero, a.a.O., S. 131–144. – Siehe auch:<br />

http://es.wikipedia.org/wiki/Movimiento_<br />

de_Izquierda_Revolucionaria_(Chile).<br />

Luis Vitale diskutiert die Entwicklung von dem<br />

1961 einsetzenden Prozess, der zur Gründung<br />

des MIR im August 1965 führte, bis zur<br />

Spaltung in drei Fraktionen im Jahr 1988, die<br />

<strong>als</strong> Organisationen rasch verschwinden sollten,<br />

in dem Abschnitt „Estudio de un caso: el MIR<br />

chileno“ seines Buchs De Martí a Chiapas.<br />

Balance de un siglo, a.a.O., S. 200–206.<br />

Auf Deutsch liegen unter anderem vor: A.<br />

Münster, Chile – friedlicher Weg? a.a.O.,<br />

nationale bildeten dann die Frente Revolucionario,<br />

aus der Ende 1972 die Partido<br />

Socialista Revolucionaria (PSR) entstand.<br />

<strong>Die</strong>se Organisation versuchte<br />

– mit ihren sehr bescheidenen Kräften<br />

– während der Regierung Allende<br />

die Kämpfe der „cordones industriales“<br />

(Delegiertenkomitees von mehreren Fabriken<br />

in einem Stadtteil oder Ort) zu<br />

radikalisieren. 11<br />

S. 172–184 (Kapitel „VI. <strong>Die</strong> revolutionäre<br />

Strategie des MIR); Gaby Weber: <strong>Die</strong> Guerilla<br />

zieht Bilanz. Lateinamerikanische Guerilla-<br />

Führer sprechen über Fehler, Strategien und<br />

Konzeptionen – Gespräche, aufgezeichnet in<br />

Argentinien, Bolivien, Chile und Uruguay,<br />

Gießen: Focus Verlag, 1989, S. 186–262<br />

(Interviews mit Andrés Pascal Allende, Rafael<br />

Marotto, Martín, Carmen Rojas, Enrique).]<br />

11 [Ein „cordón industrial“ (wörtlich:<br />

Industriegürtel) war eine Delegiertenstruktur<br />

von Fabriken auf der Ebene von Stadtteilen oder<br />

ähnlich, die unabhängig von den Apparaten<br />

der CUT oder der Parteien der Unidad Popular<br />

waren; in Santiago de Chile gab es zur Zeit des<br />

Putschs im September 1973 acht „Cordones<br />

Industriales“. Sie entstanden im Juni 1972<br />

und waren – zusammen mit „Coman dos<br />

Comunales“ (sowie „Consejos Campesinos“)<br />

– Ansätze zu einer Rätebewegung oder<br />

potentielle Organe einer Doppelmacht<br />

oder eines „poder popular“ (Volksmacht).<br />

Vgl. hierzu unter anderem die umfangreiche<br />

Arbeit, mit der Franck Gaudichaud promoviert<br />

hat: Poder popular y Cordones industri ales.<br />

Testimonios sobre el movimiento popular<br />

urbano chileno 1970-1973, mit einem Vorwort<br />

von Michael Löwy, Santiago de Chile: LOM<br />

INPREKORR 468/469 41


NACHRUF<br />

Der Putsch vom September 1973 bedeutete<br />

für „Lucho“ wie für Hunderttausende<br />

Folter, Konzentrationslager (von<br />

denen er in nicht weniger <strong>als</strong> neun geschleppt<br />

wurde), dann ab 1975 Exil. 12 Er<br />

war weiter politisch aktiv, zuerst in Europa,<br />

dann in Venezuela (El Topo Obrero,<br />

1980 bis 1985); nachdem er 1989 nach<br />

Chile zurückgekehrt war, suchte er zu einer<br />

neuen revolutionären Bewegung beizutragen.<br />

13 Der Einschnitt von 1973 (ein<br />

persönlicher wie kollektiver Ein schnitt)<br />

bezeichnete auch das Ende seines Wegs<br />

<strong>als</strong> politische Führungsperson, nicht jedoch<br />

das Ende seiner Tätigkeit <strong>als</strong> eines<br />

engagierten Intellektuellen.<br />

Aufgrund seiner theoretischen Arbeit<br />

und <strong>als</strong> Historiker hatte Vitale eine beträchtliche<br />

Wirkung, und zwar auf internationaler<br />

Ebene. Nachdem er Gewerkschafter<br />

war, ist er 1968 Universitätsdozent<br />

geworden, <strong>als</strong> Ergebnis einer Forschungsarbeit,<br />

die wegen ihrer Ernsthaftigkeit<br />

und Originalität Anerkennung<br />

fand. In den 1960er Jahren begann er damit,<br />

sein großes Werk zu verfassen: eine<br />

marxistische Interpretation der Geediciones,<br />

2004; sowie Miguel Silva, Los<br />

Cordones Industriales y el socialismo desde<br />

abajo, Santiago de Chile: im Selbstverlag,<br />

1997; Franck Gaudichaud, La Central Única de<br />

Trabajadores, las luchas obreras y los Cordones<br />

Industriales en el periodo de la Unidad Popular<br />

en Chile (1970-1973). Análisis histórico crítico<br />

y Perspectiva (http://www.bibliotecaobrera.<br />

cl/wp-content/uploads/2008/11/cut.pdf).<br />

Siehe auch: http://en.wikipedia.org/wiki/<br />

Cordón_Industrial.]<br />

12 Zu der Repression, die er zu erleiden hatte, und zu<br />

der gegen sein Volk siehe: F Gaudichaud, „Luís<br />

Vitale: Memoria de la tortura“, Rebelión, 2004,<br />

www.rebelion.org/noticia_pdf.php?id=8269.<br />

[Vgl. auch die Broschüre, die nicht lange nach<br />

seiner Ankunft in Deutschland (Ende November<br />

1974) verfasst wurde in der Inter views, Berichte,<br />

Informationen für die Solidaritätsbewegung und<br />

in der Gefangenschaft geschriebene Notizen<br />

zusammengestellt sind: Luis Vitale, La represión<br />

militar en Chile. Vida, muerte y discusion<br />

politica en los campos de concentracion,<br />

Frankfurt/M.: Edicio nes Rojas, 1975.<br />

Sie enthält unter anderem die spanischsprachige<br />

Version eines Interviews, das unter dem<br />

Titel „Luis Vitale nimmt Stellung“ in was<br />

tun, der damaligen Zeitung der deutschen<br />

Sektion der IV. Internationale, der Gruppe<br />

Internationale Marxisten (GIM), erschienen<br />

ist (7. Jg., Nr. 66, 16. Dezember 1974, S. 8/9).<br />

Luis Vitale war vom 12. September 1973 bis 28.<br />

November 1974 in Chile in neun Gefängnissen<br />

und Konzentrationslagern und lebte danach etwa<br />

16 Jahre lang im Exil – in Deutschland, dem<br />

Spanischen Staat, Venezuela und Argentinien.]<br />

13 [Luis Vitale selber hat seinen politischen<br />

Werdegang von 1948 bis 1995 auf gedrängtem<br />

Raum in dem Vorwort zu dem Buch dargestellt,<br />

in dem er eine Bilanz des 20 Jahrhunderts aus<br />

lateinamerikanischer Sicht zieht: De Martí a<br />

Chiapas. Balance de un siglo, a.a.O., S. 7/8.]<br />

schichte Chiles. 14 Er setzte sich <strong>als</strong> einer<br />

der in Chile und in Lateinamerika<br />

meistgelesenen marxistischen Historiker<br />

durch, der eine materialistische Lektüre<br />

der Ge schichte des Kontinents anbot, 15<br />

wobei der Akzent auf den Klassenkämpfen,<br />

der Rolle der Arbeiterbewegung,<br />

dem Imperia lismus und dem Ort von<br />

Lateinamerika in einer ungleichen und<br />

kombinierten Entwicklung des internationalen<br />

Kapitalismus liegt. Parallel hierzu<br />

führte er innerhalb dieser geschichtswissenschaftlichen<br />

Strömung scharfe<br />

Debatten mit Forschern und Ideologen,<br />

die mit dem Stalinismus und den kommunistischen<br />

Parteien verbunden waren.<br />

Er wider legte ihre Theorien der „Revolution<br />

in Etappen“ oder ihre Analyse<br />

des lateinamerikanischen Feudalismus.<br />

Stets lag es ihm am Herzen, seine zahlreichen<br />

Schriften – 67 Bücher und über<br />

200 Artikel 16 – mit einer ausdrücklich<br />

antikapitalisti schen Reflexion auf politischer<br />

und strategischer Ebene zu verknüpfen.<br />

Er reagierte auf das, was sich in der<br />

Gesellschaft tat, und er blieb bis ins hohe<br />

Alter fröhlich und gut gelaunt. Er liebte<br />

Tango, guten Wein und lange Abende,<br />

an denen die <strong>ganze</strong> Welt durchgegangen<br />

wurde; in seiner bescheidenen Wohnung<br />

empfing er Studierende, politische AktivistInnen,<br />

Nachbarn, stets wusste er einige<br />

gute Geschichten zu er zählen, und<br />

er hatte viel Humor. Er bekämpfte Arbeitertümelei<br />

und Dogmatismus jeder<br />

Art, und – zum Teil Jahrzehnte, bevor<br />

diese Themen für alle Welt Pflicht wurden<br />

– weitete er seine Forschungen auf<br />

die Geschichte der Frauen und des Feminismus<br />

17 , auf die Problematik der indíge-<br />

14 [Interpretación marxista de la historia<br />

de Chile, 5 Bde., 1967–1980.]<br />

Neue <strong>Ausgabe</strong> in sieben Bänden bei Ediciones<br />

LOM (Santiago 2000).<br />

15 Siehe vor allem: Historia general de América<br />

latina, 9 Bde., Caracas, 1984; De Martí a<br />

Chiapas. Balance de un siglo, 1995; Historia<br />

social comparada de los pueblos de América<br />

Latina, 3 Bde., Punta Arenas: Comercial Atelí,<br />

1999.<br />

16 Einige Schriften im Buchformat und kürzere<br />

Texte von Luis Vitale sind im Netz zugänglich,<br />

siehe: http://mazinger.sisib.uchile.cl/<br />

repositorio/lb/filosofia_y_humanidades/vitale/<br />

[sowie http://www.bibliotecaobrera.cl/?cat=6;<br />

http://www.archivochile.com/Ideas_Autores/<br />

html/vitale_l.html].<br />

17 [Aportes para una historia y sociología de la<br />

mujer latinoamericana, Caracas: Universidad<br />

Central de Venezuela, 1978; Historia y<br />

sociología de la mujer latinoamericana,<br />

Barcelona: Editorial Fontamara, 1981;] La<br />

mitad invisible de la historia latinoamericana.<br />

El protagonismo social de la mujer, Buenos<br />

nas oder die Volksmusik aus und befasste<br />

sich mit der ökologischen Frage 18 oder<br />

der Geschichte des Anarchismus 19 . Kurz<br />

vor seinem Tod schrieb er: „Mein Engagement<br />

an der Seite der Völker Unseres<br />

Amerikas kommt in meinen Veröffentlichungen<br />

zum Ausdruck. (…) Ich bin gegenwärtig<br />

ein libertärer Marxist, der zum<br />

Kampf der sozialen Bewegungen für eine<br />

Gesellschaft beiträgt, die alternativ<br />

zum ,neoliberalen‘ Ka pitalismus steht,<br />

dem Kapitalismus, der viel eher konservativ<br />

<strong>als</strong> liberal ist.“<br />

Aus dieser großen geistigen Offenheit<br />

im <strong>Die</strong>nst eines lebendigen, kritischen<br />

Marxismus und seiner vielgestaltigen<br />

Zusammenarbeit mit zahlreichen<br />

Kollektiven erklärt sich, von welch unterschiedlichen<br />

Zusammenhängen ihm<br />

Nachrufe gewidmet worden sind – von<br />

libertären, trotzkistischen oder antikapitalistischen<br />

Organisationen, Stadtteilkomitees,<br />

Gewerkschaften, Studentengruppen<br />

oder Verbänden von indigenen<br />

Mapuches. Alle gemeinsam riefen:<br />

„¡Lucho Vitale presente!“<br />

Franck Gaudichaud ist „Maître de conférences“<br />

(außerordentlicher Professor) an der Universität<br />

Grenoble 3, Mitglied der NPA und ihrer Arbeitsgruppe<br />

Lateinamerika; er gehört den Redaktionen<br />

der Webseite www.rebelion.org und<br />

der Zeitschriften ContreTemps und Dissidences<br />

an. Er hat einen umfangreichen Sammelband<br />

über die unterschiedlichen Varianten der Linken,<br />

die sozialen Bewe gungen und den Neoliberalismus<br />

in Lateinamerika herausgegeben (Le volcan<br />

latino-américain. Gauches, mouvements sociaux<br />

et néolibéralisme, Paris: Les éditions Textuel,<br />

2008).<br />

Aus dem Französischen übersetzt und<br />

bearbeitet von Wilfried Dubois.<br />

Aires: Sudamericana / Planeta, 1987.<br />

18 [Hacia una historia del ambiente en América<br />

Latina. De las culturas aborígenes a la crisis<br />

ecológica actual, México, D. F.: Nueva<br />

Sociedad / Editorial Nueva Imagen, 1983;<br />

dt.: Umwelt in Lateinamerika. <strong>Die</strong> Geschichte<br />

einer Zerstörung. Von den Kulturen der<br />

Eingeborenen zur ökologischen Krise der<br />

Gegenwart, {aus dem Spanischen übersetzt<br />

von Alexander Schertz}, Frankfurt/M.: ISP-<br />

Verlag, 1990.]<br />

19 [Contribución a la historia del anarquismo<br />

en América latina, Santiago: Ed. Instituto<br />

de Investigación de Movimientos Sociales<br />

„Pedro Vuskovic“, 1998; sowie Oscar Ortiz,<br />

Crónica anarquista de la subversión olvidada<br />

/ Luis Vitale, Contribución a una histo ria del<br />

anarquismo en América Latina, o. O. [Chile]:<br />

Eds. Espíritu Libertario, 2002.]<br />

42 INPREKORR 468/469


GESCHICHTE<br />

<strong>Die</strong> grüne Fahne Mohammeds und<br />

die Ausbreitung des Welthandels<br />

Jean Batou<br />

Mohammed erblickt etwa um 570 nach<br />

Christi Geburt in Mekka das Licht der<br />

Welt. Das Zentrum der arabischen<br />

Halbinsel erfährt in dieser Zeit durch<br />

Karawanenströme, die Waren und Informationen<br />

von Palästina im Norden<br />

und Yemen im Süden, von Äthiopien<br />

im Westen bis zum Persischen Golf im<br />

Osten transportieren, eine rasche Entwicklung.<br />

<strong>Die</strong> Geburtsstunde des Islams<br />

kann ohne diesen Hintergrund<br />

nicht erfasst werden.<br />

<strong>Die</strong> beiden Großreiche, das römisch-byzantinische,<br />

das noch immer<br />

den Großteil des Mittelmeerraums<br />

kontrolliert, und das Perserreich<br />

der Sassaniden, sowie die Zivilisation<br />

Äthiopiens (Königreich von<br />

Aksum) und das „glückliche Arabien“<br />

(Himjar oder Jemen) bilden mächtige<br />

Anziehungspole in den vier Himmelsrichtungen<br />

dieser Weltregion. Byzanz<br />

ist in dieser Zeit mit dem christlichen<br />

Äthiopien verbündet, während<br />

das Sassanidenreich sich Südarabien<br />

unterwerfen konnte, das damit seinen<br />

Einfluss über den Rest der Halbinsel<br />

teilweise einbüßt. Zwischen 540 und<br />

629 schwächen ständige Kriege zwischen<br />

den Byzantinern und Persern deren<br />

Einfluss über die umkämpften Gebiete<br />

des Fruchtbaren Halbmonds 1 , in<br />

dem sich immer mehr MigrantInnen<br />

arabischen Ursprungs niederlassen.<br />

<strong>Die</strong> teilweise sesshaft gewordenen<br />

Beduinenstämme Zentralarabiens<br />

gehen voll in ihrer Vermittlerrolle auf<br />

und entwickeln ein Netz an Märkten<br />

mit Mekka im Zentrum. Sie stehen mit<br />

zahlreichen christlichen Abtrünnigen<br />

des Fruchtbaren Halbmonds (Mono-<br />

1 Der „Fruchtbare Halbmond“ ist eine Region<br />

im Nahen Osten, die das Gebiet der heutigen<br />

Staaten Israel/Palästina, Libanon, Zypern,<br />

Kuweit sowie Teile von Jordanien, Syrien,<br />

Irak, Iran, Ägypten (darüber scheint kein<br />

Konsens zu bestehen) und den Südosten der<br />

Türkei umfasst. Der Begriff „Fruchtbarer<br />

Halbmond“ wurde vom Archäologen James<br />

Henry Breasted von der Universität Chicago<br />

geprägt und spielt auf den halbmondförmigen<br />

Bogen an, den die genannten Gebieten bilden.<br />

physiten, Nestorianern etc.), aber auch<br />

Äthiopiens und des Jemen in Kontakt,<br />

die sich über die doppelte göttlichmenschliche<br />

Wesenheit Christi streiten,<br />

aber auch mit den Zoroastriern<br />

und Juden Persiens. 2<br />

DIE ARABISCHE HALBINSEL<br />

ZUR ZEIT MOHAMMEDS<br />

„Der Fruchtbare Halbmond und die<br />

benachbarten Regionen bieten mehr<br />

Kontaktpunkte zu Fernhandelsrouten<br />

<strong>als</strong> jede andere vergleichbare Region“<br />

Eurasiens. 3 <strong>Die</strong> relative Trockenheit<br />

außerhalb der großen Überschwemmungsgebiete<br />

in den Ebenen<br />

fördert die halbnomadischen Züchter<br />

und die Kaufleute, die gemeinsam ein<br />

Gegengewicht zur aufsteigenden Bodenaristokratie<br />

bilden. <strong>Die</strong>se soziale<br />

Zusammensetzung lässt die monotheistischen<br />

Religionen – Zoroastrismus,<br />

Judentum und Christentum – aufblühen,<br />

die den Bedürfnissen der Kaufleute<br />

entgegenkommen, denen vor allem<br />

an der Regulierung der zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen liegt. Dem<br />

Individuum wird unterdessen die Verantwortung<br />

für sein einmaliges Leben<br />

(statt mehrfacher Reinkarnationen) vor<br />

einem einzigen Gott und einer einzigen<br />

Gemeinschaft mit einheitlicher Rechtsprechung<br />

und gleichberechtigtem Anspruch<br />

zugeschrieben.<br />

An den Rändern der großen Agrarländer<br />

kontrollieren Viehzüchter- und<br />

Händlergesellschaften, in denen auch<br />

2 Patricia Crone behauptet, der Islam sei eher im<br />

Norden der arabischen Halbinsel und nicht in<br />

Zentralarabien entstanden, wo der Aufschwung<br />

des Handels, aber auch die Verbreitung des<br />

Judentums und des Christentums im ersten<br />

Drittel des 7. Jahrhunderts noch sehr begrenzt<br />

waren (Meccan Trade and the Rise of Islam,<br />

Princeton U.P., 1987). <strong>Die</strong> Fundiertheit dieser<br />

provokanten These wurden jedoch durch<br />

jüngste arachäologische Arbeiten erschüttert.<br />

3 <strong>Die</strong> Zitate von M. S. Hodgson stammen aus<br />

„The Venture of Islam. Conscience and History<br />

in a World Civilization“, Bd. 1: The Classical<br />

Age of Islam, Chicago 1977.<br />

Plünderungen an der Tagesordnung<br />

sind, den Tauschhandel zwischen dem<br />

Mittelmeer und den südlichen Meeren.<br />

Verglichen mit den bedeutenden landwirtschaftlichen<br />

Zivilisationen sind sie<br />

zweifellos Zwerge, doch sie sitzen auf<br />

den Schultern dieser Riesen und sehen<br />

manchmal weiter <strong>als</strong> diese. <strong>Die</strong> Domestizierung<br />

des Kamels sichert ihnen<br />

gleichzeitig Milch, Karawanen<br />

(aus dem Sanskrit Karhaba, was Kamel<br />

bedeutet) und – nebem dem Pferd<br />

– einen entscheidenden militärischen<br />

Vorteil. <strong>Die</strong>se Stämme und ihre Anverwandten<br />

in den Oasen genießen<br />

das höchste Ansehen und nennen sich<br />

selbst ‚Arab’. Sie leben in einer wenig<br />

hierarchischen, wenig polarisierten<br />

und damit solidarischen Gesellschaftsordnung.<br />

<strong>Die</strong> Einzelnen werden<br />

<strong>als</strong> verantwortlich für ihre Entscheidungen<br />

angesehen, wodurch sich Gewalt<br />

innerhalb der Gruppe angesichts<br />

der Vergeltung, die sie nach sich zieht,<br />

in Grenzen hält.<br />

„In Mohammeds Kindheit führt<br />

der Großteil des Handels zwischen<br />

dem Mittelmeerraum und dem indischen<br />

Ozean über Landwege, die von<br />

den Arabern kontrolliert werden“,<br />

schreibt Hodgson. In spiritueller Hinsicht<br />

breiten sich entlang der Karawanenrouten<br />

biblische Ideen aller Glaubensrichtungen<br />

aus, während die Perser<br />

<strong>als</strong> Schutzmacht der Juden einen<br />

Sieg nach dem anderen über Byzanz<br />

erringen. „Nun wandte man sich den<br />

universalistischen Religionen zu, den<br />

Religionen des Individuums, jenen,<br />

die nicht mehr den ethnischen Verband<br />

betrafen, sondern darauf abzielten, das<br />

Heil einer jeden menschlichen Person<br />

in ihrer unvergleichlichen Einmaligkeit<br />

zu erlangen.“ Sowohl dem Judentum,<br />

das sich in manchen Oasen ansiedelt,<br />

<strong>als</strong> auch dem Christentum, dessen<br />

gläubige Eremiten die Fantasien der<br />

Zeitgenossen ansprechen, fehlt es jedoch<br />

an lokaler Verankerung.<br />

Sollte der alte Allah, die verbin-<br />

INPREKORR 468/469 43


GESCHICHTE<br />

dende Gottheit der Beduinen, um die<br />

es bislang keinen besonderen Kultus<br />

gibt, in der Lage sein, die zahlreichen<br />

Stammesidole zu verdrängen und <strong>als</strong><br />

authentischer Gott des Buches „wiedergeboren“<br />

zu werden? Rodinson<br />

geht davon aus, dass dies dem Zeitgeist<br />

entsprach. „Das große Bedürfnis<br />

der Epoche bestand in einem arabischen<br />

Staate, der von einer arabischen<br />

Ideologie geleitet und den neuen Verhältnissen<br />

angepasst war, der jedoch<br />

dem Milieu der Beduinen, denen er ihren<br />

Platz einräumen musste, noch nahe<br />

genug stand, einem Staate, der eine<br />

mit den großen Reichen gleichrangige<br />

und gleichermaßen geachtete Macht<br />

bildete. <strong>Die</strong> Wege waren für den genialen<br />

Mann geebnet, der es besser <strong>als</strong> irgendein<br />

anderer verstand, diesem Befürnis<br />

zu entsprechen.“ (S. 45) <strong>Die</strong>se<br />

Aufgabe fiel Mekka zu, das die Nord-<br />

Süd-Verbindung des Hedschas 4 kontrollierte,<br />

des wichtigsten Handelsknotens<br />

West- und Zentralarabiens auf<br />

halbem Weg zwischen Syrien, Persien<br />

und dem Jemen. Übrigens stand die<br />

Kaaba, das bereits unter dem Schutz<br />

Allahs stehende Heiligtum, <strong>als</strong> Kultstätte<br />

zahlreichen anderen heidnischen<br />

Gottheiten der <strong>ganze</strong>n Region offen<br />

und zog sogar christliche Pilger an.<br />

DIE ANFÄNGE EINES PROPHE-<br />

TEN<br />

Anfang des 7. Jahrhunderts profitierte<br />

Arabien von der politischen Schwächung<br />

seiner Nachbarn vor dem Hintergrund<br />

des Aufschwungs des Handels<br />

auf seinem Gebiet. Kulturell drückte<br />

sich diese Vitalität durch das Aufblühen<br />

der vorislamischen Poesie aus, die<br />

zur Vereinheitlichung der Sprache auf<br />

der Grundlage der verschiedenen Dialekte<br />

beitrug. <strong>Die</strong>se rhythmischen,<br />

mündlich nach einer geregelten Metrik<br />

vorgetragenen Oden geben eine<br />

starken Eindruck von den Lebensbe-<br />

4 Maxime Rodinson, Mohammed. C. J. Bucher-<br />

Verlag, Luzern u. Frankfurt/M. 1975. <strong>Die</strong><br />

anderen Zitate von Rodinson sind ebenfalls<br />

der 1994 veröffentlichten überarbeiteten und<br />

ergänzten Fassung dieses hervorragenden<br />

Überblickswerks entnommen, das 1961<br />

erstm<strong>als</strong> erschien (Paris, Seuil). Vom selben<br />

Autor: Islam und Kapitalismus, Frankfurt<br />

1986 (frz. Paris 1966); Marxisme and the<br />

muslim world, New York 1981 (Paris 1972) ;<br />

<strong>Die</strong> Araber, Frankfurt/M. 1991 (Paris 1979);<br />

<strong>Die</strong> Faszination des Islam, München 1985<br />

(Paris 1980); L’Islam : politique et croyances,<br />

Fayard, Paris 1993.<br />

dingungen, den Idealen und Gefühlen<br />

der Araber dieser Zeit. 5 <strong>Die</strong> Geschichte<br />

von Leila und Madschnun 6 ist in der<br />

zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts entstanden<br />

und erzählt von der unmöglichen<br />

Liebe, die in soziale Transgression<br />

in Form von Verrücktheit, aber auch<br />

von Spiritualität führen kann:<br />

„Abends erhellte sein Gesicht die<br />

Finsternis wie die Lampe eines in Abgeschiedenheit<br />

lebenden Mönchs.“<br />

<strong>Die</strong> schöpferischen Dichter ebenso<br />

wie die christlichen Eremiten beeinflussen,<br />

wie wir noch sehen werden,<br />

den Werdegang Mohammeds (eigentlich<br />

Muhammad, Mehmet für die Türken,<br />

Mamadou für die Afrikaner). Er<br />

wird in eine verarmte Sippe des mächtigen<br />

Stammes der Kuraisch geboren,<br />

der den Tempel von Mekka kontrolliert<br />

und von dem es heißt, er beherrsche<br />

die wichtigsten Handelsrouten<br />

des Hedschas. Nach dem frühen Tod<br />

seiner Eltern wird Mohammed von seinem<br />

Großvater und später von seinem<br />

Onkel Abu Talib aufgezogen, einem<br />

wohlhabenden Geschäftsmann. Im Alter<br />

von 25 Jahren heiratet er eine um<br />

fünfzehn Jahre ältere Witwe, mit der er<br />

vier Töchter hat.<br />

Das Leben Mohammeds ist historisch<br />

besser dokumentiert <strong>als</strong> das<br />

von Jesus. 7 Er wird <strong>als</strong> Mann mittlerer<br />

Körpergröße mit breiten Schultern<br />

und robustem Knochenbau,<br />

großem Kopf, langem, schmalem Gesicht<br />

und schwarzen Augen beschrieben.<br />

Er ist ein besonnener, ausgeglichener<br />

Mensch, der sowohl langwierige<br />

Verhandlungen führen <strong>als</strong> auch<br />

schnell zur Tat schreiten kann. Er wird<br />

rasch ein erfolgreicher Kaufmann, was<br />

auch Eingang in seine Sprache findet.<br />

So wird im Koran beispielsweise<br />

das jüngste Gericht <strong>als</strong> „Abrechnung“<br />

(21, 1) bezeichnet. <strong>Die</strong> materiellen Erfolge<br />

scheinen ihm aber keine ausreichende<br />

Genugtuung zu bieten. Seine<br />

Unfähigkeit, seiner Frau einen männlichen<br />

Nachkommen zu geben, setzt<br />

ihm zu. Sein freiwilliger Verzicht auf<br />

jegliche außereheliche Beziehung in<br />

einem Umfeld, in dem junge Männer<br />

eine sehr freizügige Sexualität leben,<br />

5 Nordwesten der arabischen Halbinsel mit den<br />

Städten Mekka und Medina.<br />

6 Albert Hourani, A History of the Arab Peoples,<br />

Cambridge (Mass.), Harvard U.P. 1991, S. 12–<br />

14.<br />

7 Nizami: <strong>Die</strong> Geschichte der Liebe von Leila<br />

und Madschnun, Zürich, Unionsverlag 2001.<br />

frustriert ihn zweifellos, vor allem aber<br />

leidet er darunter, dass seine außergewöhnlichen<br />

intellektuellen und politischen<br />

Fähigkeiten nicht zur Geltung<br />

kommen.<br />

Den Spuren seiner arabischen monotheistischen<br />

Vorfahren (Hanif) wie<br />

auch der jüdischen und christlichen<br />

Mystiker folgend verbringt Mohammed<br />

lange Stunden meditierend in einer<br />

Höhle auf dem Berg Hira in der<br />

Umgebung von Mekka. Hier empfängt<br />

er eines Nachts „die wahre Schau, und<br />

sie kam wie der Anbruch des Morgengrauens“,<br />

wie er später seiner zweiten<br />

Ehefrau Aïsha verrät. Zuerst hörte<br />

er eine Stimme, die ihm sagt: „Du<br />

bist der Abgesandte Gottes! (…) Nach<br />

den Empfindungen einer übernatürlichen<br />

Gegenwart, den verschwommenen<br />

Visionen und dem Vernehmen einfacher<br />

Sätze kamen die langen Folgen<br />

wohlgeordneter Worte, die einen klaren<br />

Sinn offenbarten, einer Botschaft.<br />

Schließlich befahl ihm das Mächtige<br />

Wesen, zu rezitieren: ‚Im Namen Allahs<br />

…‘ Er hatte den ersten Satz des<br />

zukünftigen Korans ausgesprochen.“<br />

(S. 75) „All dies ereignete sich im Hirn<br />

eines einzigen Menschen“, kommentiert<br />

Rodinson, „doch darin spiegelten,<br />

darin bewegten sich die Probleme eines<br />

<strong>ganze</strong>n Universums, und die historischen<br />

Umstände waren dergestalt,<br />

dass die Ergebnisse all dieser geistigen<br />

Unrast in der Lage waren, ganz<br />

Arabien und darüber hinaus die <strong>ganze</strong><br />

Welt aufzurütteln.“<br />

DIE SOZIALE SPRACHE DES<br />

FRÜHEN ISLAM<br />

Jeder monotheistische Glauben tendiert<br />

zum Prinzip der Gleichheit aller<br />

und deren Gehorsam gegenüber<br />

dem Willen Gottes, aber auch ihres<br />

Heils und ihrer Verdammnis am Ende<br />

aller Zeiten, ungeachtet des Reichtums.<br />

<strong>Die</strong>s gilt umso mehr für den Islam,<br />

der die christliche Lehre von der<br />

Dreifaltigkeit im Namen der absoluten<br />

Einmaligkeit Allahs ablehnt. Der Koran<br />

schildert den Gläubigen daher sehr<br />

eindrücklich die Qualen der Hölle und<br />

die Freuden des Paradieses. „In diesen<br />

Synthesen erhielt das Individuum<br />

einen besonderen und herausragenden<br />

Wert. Es war der Gegenstand der<br />

Sorge des Höchsten Wesens, das es erschaffen<br />

hatte und das ohne Ansehen<br />

der Verwandtschaft, der Familie, des<br />

44 INPREKORR 468/469


GESCHICHTE<br />

Stammes über es richten würde“, wie<br />

Rodinson betont.<br />

Ab den letzten Jahrzehnten des 6.<br />

Jahrhunderts bedrohte der Aufstieg der<br />

Kaufleute aus Mekka „des Stammeszusammenhalt<br />

und untergrub auf jeden<br />

Fall das bei den Beduinen gelebte Ideal<br />

des großzügigen Menschen, für den<br />

Reichtum ein willkommener, aber relativ<br />

vergänglicher Unterschied war“,<br />

schreibt Hodgson. So wenden sich vor<br />

allem Freigeister, die die Herrschaft<br />

der führenden Gesellschaftsschichten<br />

in Mekka ablehnen, <strong>als</strong> erstes Mohammed<br />

zu, darunter junge Menschen aus<br />

gutem Haus, die sich gegen die ältere<br />

Generation auflehnen, aber auch Abkömmlinge<br />

weniger einflussreicher<br />

Clans, Leute von außerhalb Mekkas,<br />

die nicht der Sippe angehören, Sklaven<br />

und freigelassene Sklaven. Der<br />

Prophet ergreift übrigens Partei für die<br />

Armen und Waisen und ermahnt die<br />

reichen Koraischiten, deren Arroganz<br />

er verachtet:<br />

„Nein, ihr seid nicht freigebig gegen<br />

die Waisen und treibt einander<br />

nicht an, den Armen zu speisen! Und<br />

verzehrt das Erbe (anderer) ganz und<br />

gar! Und ihr liebt den Reichtum mit<br />

übermäßiger Liebe.“ (Koran, 89, 17–<br />

20)<br />

Gemäß den Grundsätzen der Offenbarungsreligionen<br />

werden die Gebote<br />

des Allerhöchsten den Menschen<br />

über einen Propheten vermittelt,<br />

der aufgrund seiner Stellung legitime<br />

Ambitionen auf die oberste spirituelle<br />

Macht hegt: „Wie sollte sich ein<br />

Mensch, zu dem Gott direkt gesprochen<br />

hat, den Entscheidungen irgendeines<br />

Senats unterwerfen?“, schreibt<br />

Rodinson. „Wie sollten die Vorschriften<br />

des Allerhöchsten von der Aristokratie<br />

Mekkas erörtert werden?“ Entwickelt<br />

Mohammed zudem nicht „eine<br />

kritische Haltung [Rodinson nennt<br />

sie sogar ‹implizit revolutionär›] gegenüber<br />

den Reichen und Mächtigen,<br />

<strong>als</strong>o den Konformisten“?<br />

Folglich erfahren die rund vierzig<br />

Anhänger Mohammeds und insbesondere<br />

die verletztlichsten unter ihnen<br />

Repression: So wird der schwarze<br />

Sklave Bilâl von seinen Herren während<br />

der heißesten Tageszeit stundenlang<br />

mit einem Felsen auf der Brust<br />

der Sonne ausgesetzt. In dieser belastenden<br />

Atmosphäre schließen sich<br />

dennoch weitere Schüler dem Propheten<br />

an, wie ‹Omar ibn al-Khattab, der<br />

Arabische Händler<br />

später <strong>als</strong> zweiter Kalif sein Nachfolger<br />

wird. Manche wandern nach Abessinien<br />

aus, die meisten genießen<br />

aber weiterhin die Unterstützung ihres<br />

Clans. So wird Mohammed von den<br />

Banu Hashim und insbesondere von<br />

seinem sehr einflussreichen Abu Talib<br />

in Schutz genommen. <strong>Die</strong>ses prekäre<br />

Gleichgewicht bricht mit dem Tod<br />

des Letzteren im Jahr 619 sowie jenem<br />

von Mohammeds erster Frau Chadidscha<br />

zusammen.<br />

Im Jahr 622, <strong>als</strong> sich das ausgehungerte,<br />

von Persern und Awaren belagerte<br />

Byzanz in einer apokalyptischen<br />

Stimmung befindet, bricht die kleine<br />

Gruppe von Gläubigen in das rund 350<br />

Kilometer nordwestlich gelegene Medina<br />

auf: Es ist die Hidschra (Auswanderung),<br />

die den Beginn des muslimischen<br />

Kalenders markiert. <strong>Die</strong> neue,<br />

von der Stimme Gottes inspirierte Gesellschaftsordnung<br />

unter Führung Mohammeds<br />

setzt sich hier weiter für die<br />

Interessen der Waisen, der Bettler und<br />

Reisenden ein. Sie empfiehlt, die Sklaven<br />

gut zu behandeln und wenn möglich<br />

freizulassen; Gläubigen ist es sogar<br />

verboten, Sklaven zu halten. 632,<br />

<strong>als</strong> der Prophet höchstpersönlich einige<br />

Monate vor seinem Tod die erste<br />

Pilgerreise nach Mekka (Hadsch) anführt,<br />

spricht er sich mit Nachdruck für<br />

die Gleichheit aller, ob reich oder arm,<br />

Araber oder nicht, vor Gott aus, was<br />

für die weitgehende Ablehnung des<br />

Rassismus im Islam prägend wird.<br />

UNTER DEM GRÜNEN BANNER<br />

DES HANDELS<br />

Hodgson betont, das die Gemeinschaft<br />

der Gläubigen – die die Offenbarung<br />

akzeptieren – sich unterdessen<br />

im Kreis der Umma (von Umm, Mutter)<br />

durch Bande verbunden haben, die<br />

die Stammesgrenzen überschreiten. In<br />

Medina bemüht sich Mohammed darum,<br />

dieser Gemeinschaft ihre eigenen<br />

Regeln zu geben und sie insbesondere<br />

durch Steuern mit finanziellen Mitteln<br />

auszustatten, womit er die Grundlagen<br />

für eine neue Gesellschaftsordnung<br />

legt.<br />

Er vermittelt in Konflikten zwischen<br />

heidnischen Sippen und genießt<br />

anfangs ein gewisses Wohlwollen der<br />

mächtigen jüdischen Stämme, von denen<br />

er einzelne Rituale übernimmt,<br />

wie das nach Jerusalem gerichtete Mittagsgebet<br />

und das Kippur-Fasten. Allah<br />

erlaubt zudem, von der Nahrung<br />

der Anhänger der Buchreligionen zu<br />

essen und ihre Frauen zu heiraten. In<br />

dieser Zeit baut Mohammed seinen<br />

politischen Einfluss aus und sichert<br />

INPREKORR 468/469 45


GESCHICHTE<br />

die Unabhängigkeit seiner Anhänger<br />

durch eine Reihe von „Überfällen“ auf<br />

Karawanen aus Mekka (Privatkriege<br />

waren dam<strong>als</strong> eine durchaus zulässige<br />

Gepflogenheit).<br />

<strong>Die</strong> GegnerInnen der Beduinen-<br />

Stämme sind wenig zahlreich und<br />

schließen sich mit der Zeit an oder<br />

werden ausgelöscht. Das gilt für die<br />

Dichterin Asma bint Marwan, die im<br />

Schlaf ermordet wird. Denn hatte sie<br />

nicht erklärt: „Ihr Gefickten der Malik<br />

und der Nabit [Medineser Sippen<br />

und Stämme] (…). Ihr gehorcht einem<br />

Ausländer (…). Gibt es denn keinen<br />

Mann von Ehre (…), der (…) den<br />

Hoffnungen der Gimpelträger ein Ende<br />

setzt?“ 8<br />

8 Das Leben Mohammeds wird in den<br />

Überlieferungen (Hadith) geschildert, deren<br />

älteste vermutlich mindestens 120 Jahre<br />

nach den Ereignissen entstanden ist. Sie<br />

wurden durch die großen muslimischen<br />

Rechtsgelehrten für rechtsgültig erklärt. <strong>Die</strong>se<br />

bestätigten ihre Glaubwürdigkeit, indem<br />

<strong>Die</strong> politischen Ansprüche und der<br />

ideologische Zusammenhalt der Juden<br />

sind dagegen bedrohlicher. Sie begegnen<br />

den religiösen Ideen Mohammeds<br />

mit Arroganz, während dieser sie<br />

mit dem Verweis auf die uralten Wurzeln<br />

des Islam herausfordert: Sind die<br />

Araber nicht Nachfahren von Ismâ‘il,<br />

dem Sohn Abrahams (Ibrâhîm), dem<br />

ursprünglichen Gründer der Buchreligionen?<br />

Ebenso bricht er mit ihnen<br />

durch die Einführung des Fastens während<br />

des Ramadan und die Ablehnung<br />

gewisser Nahrungsvorschriften (während<br />

er den mit heidnischen Kulten assoziierten<br />

Wein verpönt) und indem er<br />

von den Gläubigen fordert, nach Mekka<br />

gerichtet zu beten. Schließlich setzt<br />

sie die Belegkette untersuchten, auf denen<br />

sie beruhen, die machmal nicht frei ist von<br />

Widersprüchen, weshalb sie hinzufügen: „Und<br />

Allah ist der Allweise.“ Mehr dazu, siehe Ibn<br />

Warraq (Hg.): The Quest for the Historical<br />

Mohammed, Amherst, New York 2000.<br />

er sich mittels einer Reihe von Vertreibungen,<br />

Enteignungen und Massakern<br />

gegen sie durch, darunter jenes an den<br />

Banu Kuraischa im Jahr 627, bei dem<br />

mehrere Hundert Menschen getötet<br />

werden. Er distanziert sich auch von<br />

den ChristInnen, indem er Jesus zwar<br />

<strong>als</strong> Propheten, der auch Wunder wirken<br />

konnte, anerkennt, aber eben dennoch<br />

nur <strong>als</strong> Menschen.<br />

Als Herrscherin über Medina und<br />

die stark frequentierten Handelswege<br />

im Norden des Hedschas, aus denen<br />

sie ihre wachsenden Ressourcen bezieht,<br />

stellt die Partei Mohammeds die<br />

reichen Kaufleute Mekkas, die ihn mit<br />

Waffen nicht besiegen können, vor ein<br />

unlösbares Problem. Denn der junge,<br />

im Entstehen begriffene Staat, der seinen<br />

starken Zusammenhalt der muslimischen<br />

Religion verdankt, wird von<br />

einem außergewöhnlichen Mann geleitet,<br />

der langfristige Ziele mit einem<br />

Sinn für das momentan Machba-<br />

Handel und Religion im Zeichen<br />

des individuellen Heils<br />

„Solange der Mensch sozusagen organisch<br />

mit seiner Sippe, seinem Stamm,<br />

seinem Dorf, seiner Stadt verbunden ist,<br />

solange er in einer streng hierarchischen<br />

Gesellschaft nur ein austauschbares, an<br />

den ihm vom Schicksal für eine gleichbleibende<br />

Aufgabe zugewiesenen Platz<br />

gebundenes Element ist, wird ihm eine<br />

Vorstellung von jenseitigem Leben aufgezwungen,<br />

die dem diesseitigen ähnlich<br />

oder gleich ist. Auch bestimmen<br />

weiterhin die sozialen Einheiten dieser<br />

Welt die bleichen Schatten, die ein<br />

herabgesetztes Leben führen. In diesen<br />

Gefilden jenseits der Todesschwelle<br />

werden die Schatten der Bediensteten<br />

weiter die Gespenster der Herren pflegen,<br />

die Fantome der Bauern werden<br />

das Land für sie beackern und die Handwerker<br />

im Reich des Todes für ihre Bequemlichkeit<br />

sorgen. Verdienst und Verschulden<br />

auf dieser Erde ändern daran<br />

nicht viel (…)<br />

Doch <strong>als</strong> die Zeiten des intensiven<br />

internationalen Handels kamen, die die<br />

Völker, die Menschen und die Ideen<br />

durcheinanderrührten, <strong>als</strong> sich Gesellschaften<br />

etablierten, wo das Geld zum<br />

Maß aller Dinge wurde, wo die monetäre<br />

Wirtschaft die Grenzen der ethnischen<br />

Gruppen aufbrach, wo es jeder<br />

inidivudell zu Reichtum bringen konnte,<br />

wo der Wert des Einzelnen in dieser<br />

Welt vom Platz abhing, den er sich darin<br />

durch seinen eigenen Kampf errang, begann<br />

man für jeden ein Schicksal zu erhoffen,<br />

das ihm selbst angemessen wäre.<br />

Von da an erhoben sich Propheten,<br />

die individuell (…) [den Reichen] eine<br />

Bestrafung zuerst in dieser und später<br />

in der anderen Welt versprachen. Von<br />

da an entstanden Gesellschaften, Gemeinschaften,<br />

die ihre Mitglieder lehrten,<br />

wie man im Jenseits einen anderen<br />

Zustand erreichen, sich individuell retten<br />

könne.“<br />

(Maxime Rodinson, Mohammed 1975)<br />

Wann und wie wurde der Koran<br />

verfasst?<br />

Heutige WissenschaftlerInnen sind sich<br />

ausgesprochen uneinig über die konkreten<br />

Entstehungsbedingungen und<br />

die wahrscheinliche Zeit der definitiven<br />

Niederschrift des Korans. Wurde er im<br />

Wesentlichen zu Lebzeiten Mohammeds<br />

verfasst, kurz nach seinem Tod<br />

oder vielleicht 200 Jahre später, lange<br />

nach der arabischen Eroberung?<br />

Maxime Rodinson meint: „<strong>Die</strong><br />

Wortgruppen, die Mohammed <strong>als</strong> von<br />

Allah eingegeben rezitierte, bildeten sogenannte<br />

‹Rezitationen›, auf Arabisch<br />

Koran. Sie wurden zu Mohammeds<br />

Lebzeiten auf verstreuten Dokumenten,<br />

Lederstücken, Kamelknochenplatten,<br />

Tonscherben, Palmstängeln etc. notiert.<br />

Ebenfalls zu seinen Lebzeiten begann<br />

man damit, diese Fragmente zu Gruppen<br />

zusammenzufassen und daraus Suren<br />

oder Kapitel zu machen. (…) Es entstand<br />

ein Buch (Kitab) wie jenes der Juden<br />

und der Christen. (…) <strong>Die</strong> gesamten<br />

Offenbarungen flossen damit in die<br />

Form von Einheiten, in denen sich eine<br />

gewisse Ordnung, ein gewisser Plan<br />

erkennen ließ (…). <strong>Die</strong>se Arbeit erfolgte<br />

gewiss zumindest unter Mohammeds<br />

Aufsicht, sofern er daran nicht selbst<br />

mitarbeitete. „ (Mohammed 1975)<br />

John Wansbrough sieht in der Neuerfassung<br />

des Koran einen langen Prozess,<br />

geprägt von zahlreichen Konfrontationen<br />

mit dem Judentum und dem Christentum,<br />

dessen definitive Version auf<br />

die Zeit nach 800 datiert (Quranic Studies,<br />

Oxford, 1977; The Sectarian Milieu:<br />

Content and Composition of Islamic<br />

Salvation History, Oxford, 1978.). Patricia<br />

Crone (1987) ging übrigens so weit,<br />

infrage zu stellen, dass Mohammed und<br />

die Ursprünge des Islam in Mekka anzusiedeln<br />

seien (vgl. Fußnote 1).<br />

Weitere Informationen, vgl.: Encyclopédie de<br />

l’Islam, 2. Aufl. 12 Bde., Leiden, Brill, 1960–<br />

2005.<br />

Ein Islam der Armen?<br />

„Der Koran (…) überlieferte den Generationen<br />

die Botschaft eines unterdrück-<br />

46 INPREKORR 468/469


GESCHICHTE<br />

re zu verbinden weiß. Zudem holt er<br />

sich umsichtigen Rat, namentlich bei<br />

seinen beiden Schwiegervätern und<br />

Nachfolgern, Abu Bekr und Omar, denen<br />

zum Teil sein Cousin Ali, der mit<br />

seiner Tochter Fâtima verheiratet ist,<br />

widerspricht.<br />

628 kündigt Mohammed an, dass<br />

er sich zur spirituellen Eroberung<br />

Mekkas aufmachen möchte und setzt<br />

sich an die Spitze eines friedlichen<br />

Marsches. Das Unternehmen ist trotz<br />

der demütigenden Bedingungen, die er<br />

akzeptieren muss, von Erfolg gekrönt.<br />

Ab 629 werden die Muslime <strong>als</strong> Pilger<br />

in der Stadt geduldet. 630 bereitet Mohammed<br />

jedoch einen großen militärischen<br />

Feldzug vor, um die letzten GegenerInnen<br />

einzuschüchtern. <strong>Die</strong> uneinige<br />

Aristokratie Mekkas weicht der<br />

Kraftprobe aus und unterwirft sich, um<br />

in der Folge zu konvertieren. Medina<br />

wird damit zur Hauptstadt des vereinten<br />

Arabiens rund um seinen Propheten,<br />

mit den großen kuraischitischen<br />

Familien an der Spitze. Auf dem Höhepunkt<br />

seiner Macht stirbt der Gesandte<br />

Gottes am 6. Juni 632.<br />

Gleichzeitig kann sich das ausgeblutete<br />

Byzanz wieder gegenüber dem<br />

endlich geschlagenen Persien durchsetzen.<br />

<strong>Die</strong> Armeen der ersten Kalifen<br />

(Erben des Propheten), die die islamisierten<br />

Araber nicht mehr erpressen<br />

können, ergreifen die Gelegenheit,<br />

um sich auf die Eroberung der Welt zu<br />

machen, die sie kennen. Wie Rodinson<br />

festhält, rücken sie blitzartig vor.<br />

„Ein Jahrhundert nach dem Datum, <strong>als</strong><br />

der unbekannte Kameltreiber Mohammed<br />

damit begonnen hatte, ein paar arme<br />

Bewohner Mekkas in seinem Haus<br />

um sich zu scharen, herrschten seine<br />

Nachfolger von der Loire bis über den<br />

Indus hinaus, von Poitiers bis Samarkand.“<br />

Und der Philosoph Ernst Bloch<br />

schreibt: „<strong>Die</strong> grüne Fahne wehte bald<br />

über einem Handels-, Kriegs- und<br />

Glaubenssturm ganz homogen“, die<br />

den Mittleren Osten und den Mittelmeerraum<br />

erschütterten. Der Islam –<br />

die Ideologie der damaligen Moderne<br />

– „beherrschte das Handels-Empire,<br />

das zwischen dem Untergang Westroms<br />

und dem Aufstieg Venedigs, fast<br />

Englands liegt“. 9<br />

Jean Batou, Historiker, ist Mitglied der Leitung<br />

von Solidarités (Antikapialisitische, feministische,<br />

ökologische Bewegung für den<br />

Sozialismus des 21. Jahrhunderts) in der<br />

Schweiz und Herausgeber der zweiwöchentlich<br />

erscheinenden Zeitschrift solidaritéS. Der<br />

vorliegende Artikel ist in der Beilage „Cahiers<br />

émancipationS“ der Zeitschrift „solidaritéS“<br />

Nr. 160 vom 17. Dezember 2009.<br />

Aus dem Französischen: Tigrib<br />

9 Aus dem Persischen von Ibn Hisham, zitiert<br />

nach Rodinson)<br />

ten Mannes, der sich eines Tages gegen<br />

die Ungerechtigkeit und Unterdrückung<br />

empört hatte. Er führte in seinem chaotischen<br />

Text Schmähungen und Herausforderungen<br />

an die Mächtigen mit<br />

sich und Aufrufe zur Billigkeit und zur<br />

Gleichheit der Menschen. Eines Tages<br />

fanden sich Leute, um sich dieser Worte<br />

zu bemächtigen und sich Waffen daraus<br />

zu schmieden. (…)<br />

„<strong>Die</strong> (…) Araber eingeborener Abstammung<br />

hatten Menschen <strong>als</strong> ihresgleichen<br />

anerkennen müssen, die sie<br />

einmal unterworfen hatten und die sich<br />

jetzt völlig mit ihnen identifizierten.<br />

<strong>Die</strong> revolutionäre Bewegung, die diese<br />

Gleichheit durchsetzte, siegte im Namen<br />

eben dieser Werte, die ihr zum Sieg<br />

verholfen hatten. (…) Im Lauf der Jahrhunderte<br />

sollte noch gar manche andere<br />

Bewegung, die dem Islam Umwälzungen<br />

brachte, dasselbe tun. (…) Irgendwo<br />

an der Quelle dieser geglückten<br />

oder mißglückten Gärungen, dieser<br />

mehr oder weniger gerechtfertigten,<br />

mehr oder weniger unangemessenen<br />

Auffassungen befand sich ein Mann, der<br />

ein unbekannter Kameltreiber aus einer<br />

bescheidenen Famlie der Koraisch war.<br />

(…)<br />

Aber die Ideen besitzen ihr eigenes<br />

Leben, und dieses Leben ist revolutionär.<br />

Sobald sie einmal im Gedächtnis<br />

der Menschen verankert sind, auf den<br />

Papyrus geschrieben, das Pergament<br />

oder sogar – wie im Fall des Korans –<br />

auf den Schulterblättern von Kamelen,<br />

setzen sie ihr Wirken fort, und zwar zum<br />

großen Ärgernis der Staatsmänner und<br />

der Männer der Kirche, die sie benutzt<br />

und in Dämme gefasst, die eine Kasuistik<br />

ausgearbeitet haben, um ihre für die<br />

ungestörte Ordnung einer wohlgeregelten<br />

Gesellschaft gefürchteten Auswirkungen<br />

auszumerzen.“<br />

(Maxime Rodinson, Mohammed 1975)<br />

Der Koran und die Frauen<br />

„<strong>Die</strong> Männer stehen den Frauen in Verantwortung<br />

vor“ und haben das Recht,<br />

sie zu ermahnen und auch zu schlagen<br />

(Koran 4, 34). <strong>Die</strong> Polygynie ist beschränkt<br />

auf vier Frauen (außer für den<br />

Propheten), sofern der Ehemann in der<br />

Lage ist, sie gleichberechtigt zu behandeln.<br />

Sie gilt selbstverständlich nur für<br />

eine Minderheit von ausreichend wohlhabenden<br />

Gläubigen.<br />

<strong>Die</strong> Frauen nehmen in der Frühzeit<br />

des Islams eine aktive Rolle ein. Sie<br />

hinterfragen, beraten und kämpfen. Aïsha,<br />

eine der Frauen Mohammeds, erklärt<br />

sich verwundert darüber, dass Allah<br />

nur zu den Männern spricht, worauf<br />

die Offenbarungen so geändert werden,<br />

dass sie sich fortan an beide Geschlechter<br />

wenden. Generell erhalten die Frauen<br />

aber nur das halbe Erbe, weil sie keine<br />

materielle Verantwortung gegenüber<br />

ihrer Familie tragen (Koran 4, 11).<br />

Den Frauen wird ein zehnmal stärkeres<br />

sexuelles Begehren zugeschrieben<br />

<strong>als</strong> den Männern. <strong>Die</strong>ses wird nicht<br />

missbilligt – im Himmel soll jeder Orgasmus<br />

mindestens 24 Jahre dauern –,<br />

muss aber strikt im Rahmen der patriarchalen<br />

Heirat erfolgen. <strong>Die</strong> Beschneidung<br />

kommt im Koran nicht vor.<br />

Was das Tragen des Kopftuchs betrifft,<br />

empfiehlt ein Koranvers den Frauen,<br />

den Schal um ihre Kleidungsausschnitte<br />

zu schlagen (24, 31); ein anderer<br />

fordert sie auf, ihre Übergewänder<br />

reichlich über sich zu ziehen (33, 59).<br />

Ebenso ist vorgeschrieben, sich hinter<br />

einem Vorhang an die Frauen des Propheten<br />

zu richten (33, 53). <strong>Die</strong> Tradition<br />

sieht vor, dass der Körper der Frauen<br />

verborgen bleibt, mit Ausnahme des Gesichts<br />

und der Hände (dabei handelt es<br />

sich allerdings um einen Hadith, dessen<br />

Überlieferungskette schlecht belegt ist).<br />

Ehebruch muss von vier übereinstimmenden<br />

Zeugen belegt werden, um<br />

bestraft zu werden (4, 15). <strong>Die</strong> Steinigung<br />

ist im Koran nicht erwähnt, kommt<br />

aber im Alten Testament vor (Deuteronomium,<br />

22, 23–24). Manche Hadîthen<br />

nehmen darauf Bezug, doch ihre Glaubwürdigkeit<br />

ist umstritten.<br />

Quelle der Koranzitate: http://qibla.appspot.<br />

com/<br />

INPREKORR 468/469 47


REGISTER 2010<br />

Register nach Ländern<br />

Monat<br />

Titel AutorIn Heft Seite<br />

Afghanistan<br />

Obamas Eskalation der Kriege<br />

und die Misere Zentralasiens<br />

Afrika<br />

Afrika nach fünfzig Jahren „Unabhängigkeit“<br />

Brasilien<br />

Wahlen in Brasilien<br />

Conclat: Ein offensichtlicher<br />

Rückschritt<br />

Chile<br />

Neoliberale Schockstrategie und<br />

Rückkehr der Chicago-Boys<br />

China<br />

Nationalistische Antwort auf die<br />

Herausforderung der Globalisierung<br />

Arbeiterfrühling im Herzen der<br />

„Werkstatt der Welt“<br />

Andreas Kloke 462 38 5<br />

Jean Nanga 466 39 9<br />

Plínio de Arruda 466 16 9<br />

Sampaio<br />

Ernesto Herrera 466 19 9<br />

Franck Gaudichaud<br />

466 34 9<br />

Au Loong-Yu 458 37 1<br />

Danielle Sabaï 468 37 11<br />

Europa<br />

In Europa tut sich was Esther Vivas 462 47 5<br />

Austerität für ganz Europa Martine Orange 464 17 7<br />

Erklärung zur Krise in Europa 464 56 7<br />

Das Kapital geht zum Angriff über Jan Malewski 466 3 9<br />

Frankreich<br />

<strong>Die</strong> Situation in Frankreich nach<br />

den Regionalwahlen vom März<br />

2010<br />

<strong>Die</strong> Bewegung ist noch lange nicht<br />

zu Ende<br />

Griechenland<br />

<strong>Die</strong> Werktätigen gegen das sog.<br />

Stabilitätsprogramm<br />

Sandra Demarcq 462 3 5<br />

Sandra Demarcq 468 3 11<br />

Tassos Anastassiadis,<br />

Andreas<br />

Sartzekis<br />

462 5 5<br />

Pascal Franchet 464 4 7<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung der griechischen<br />

Krise<br />

Griechenland im Schraubstock der Nikos Tamvaklis 464 8 7<br />

Rezession und der Zinswucherei<br />

<strong>Die</strong> griechische Schuldenkrise Charles-André 464 13 7<br />

Udry<br />

Wie heiß wird der Herbst?“ Tassos Anastassiadis,<br />

468 17 11<br />

Andreas<br />

Sartzekis<br />

Großbritannien<br />

Widerstand gegen die Regierung<br />

der Reichen für die Reichen<br />

Socialist Resistance<br />

464 19 7<br />

Haiti<br />

Solidaritätsappell Batay Ouvriye 460 56 3<br />

International<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage François Sabado 458 5 1<br />

<strong>Die</strong> Weltlage steht unter dem<br />

Zeichen der Krise<br />

Laurent Carasso 462 12 5<br />

Iran<br />

Wohin treibt die islamische Republik?<br />

Internationale Solidarität mit den<br />

Völkern Irans<br />

Houshang Sepehr 458 23 1<br />

Resolution des 16.<br />

Weltkongresses<br />

der IV. Internationale<br />

462 35 5<br />

Israel<br />

Ja zu Boykott, Desinvestition und<br />

Sanktionen (BDS) gegen Israel.<br />

Eine Antwort auf Uri Avnery<br />

Zur israelischen Offensive gegen<br />

Gaza und zur Solidarität mit dem<br />

Kampf des palästinensischen<br />

Volks<br />

Nach dem Angriff auf die Gaza-<br />

Flottille dürfen die Verbrechen<br />

Israels nicht länger straflos<br />

hingenommen werden<br />

Michael Warschawski<br />

Resolution des 16.<br />

Weltkongresses<br />

der IV. Internationale<br />

Büro der IV. Internationale<br />

458 21 1<br />

462 33 5<br />

464 3 7<br />

Italien<br />

Der Aufstand der Arbeitsimmigranten<br />

Charles-André 460 3 3<br />

in Rosarno<br />

Udry<br />

Das System Berlusconi in der Krise<br />

Salvatore Cannavó 468 5 11<br />

und die Linke orientierungslos<br />

Von der PCI zur Demokratischen<br />

Partei<br />

Lidia Cirillo 468 7 11<br />

Kasachstan<br />

Vorbildlicher Streik der Ölarbeiter Jan Malewski 464 38 7<br />

Kirgisistan<br />

Der Volksaufstand eröffnet eine<br />

neue geschichtliche Periode<br />

Jan Malewski 464 33 7<br />

Osteuropa<br />

Osteuropa in der Systemkrise Catherine Samary 468 20 11<br />

Pakistan<br />

Pakistans Frauen leiden am meisten<br />

Bushra Khaliq 458 34 1<br />

unter dem Klimawandel<br />

Obamas Eskalation der Kriege Andreas Kloke 462 38 5<br />

und die Misere Zentralasiens<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung der Arbeiterpartei Farooq Tariq 464 40 7<br />

Pakistans (LPP)<br />

Ein historisch gescheiterter Staat Pierre Rousset 464 45 7<br />

Spendet für die Flutopfer in<br />

Pakistan<br />

466 52 9<br />

Palästina<br />

Ja zu Boykott, Desinvestition und<br />

Sanktionen (BDS) gegen Israel.<br />

Eine Antwort auf Uri Avnery<br />

Zur israelischen Offensive gegen<br />

Gaza und zur Solidarität mit dem<br />

Kampf des palästinensischen<br />

Volks<br />

Nach dem Angriff auf die Gaza-<br />

Flottille dürfen die Verbrechen<br />

Israels nicht länger straflos<br />

hingenommen werden<br />

Michael Warschawski<br />

Resolution des 16.<br />

Weltkongresses<br />

der IV. Internationale<br />

Büro der IV. Internationale<br />

458 21 1<br />

462 33 5<br />

464 3 7<br />

Portugal<br />

<strong>Die</strong> Linke angesichts der Krise Bruno Maia 466 13 9<br />

Russland<br />

„Tag des Zorns“ Carine Clément 462 36 5<br />

Spanien<br />

Der Beginn einer neuen Etappe Lluís Rabell 468 11 11<br />

Der Streik vom 29. September: <strong>Die</strong> Miguel Romero 468 15 11<br />

soziale Frage kehrt zurück<br />

Sri Lanka<br />

Wahlfälschung bei den Präsidentschaftswahlen<br />

Zur Lage in Sri Lanka Resolution des 16.<br />

Weltkongresses<br />

der IV. Internationale<br />

462 42 5<br />

462 43 5<br />

48 INPREKORR 468/469


REGISTER 2010<br />

Thailand<br />

Weder Kriegsrecht noch Ausnahmezustand<br />

noch Staatsstreich!<br />

Für Demokratie und soziale<br />

Gerechtigkeit!<br />

<strong>Die</strong> alten Eliten können Wahlen<br />

nicht mehr gewinnen<br />

462 34 5<br />

Danielle Sabaï 464 46 7<br />

Türkei<br />

Solidarität mit Doan Tarkan 464 32 7<br />

Im Labyrinth der bürgerlichen<br />

Politik<br />

Ümit Çırak 468 31 11<br />

Uruguay<br />

Der entfesselte Barbar Ernesto Herrera 462 44 5<br />

Register nach Themen (Auswahl)<br />

Titel AutorIn<br />

Monat<br />

Heft Seite<br />

Buchbesprechung<br />

Klaus Engert: Ökosozialismus –<br />

das geht!<br />

Michael Löwy 464 30 7<br />

Debatte<br />

Ihre Krise und unser Widerstand Wolfgang Alles 464 25 7<br />

Frauen<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die Zivilisationskrise<br />

IIRE-Frauen-Seminar<br />

458 14 1<br />

Geschichte<br />

<strong>Die</strong> grüne Fahne Mohammeds und Jean Batou 468 43 11<br />

die Ausbreitung des Welthandels<br />

Gesundheit<br />

Asbest – die tödliche „Wunderfaser“<br />

– Millionenfacher Mord aus<br />

Profitgründen<br />

Nachruf<br />

André Fichaut (1928–2009)<br />

Bis zum letzten Atemzug ein<br />

revolutionärer Kämpfer: Daniel<br />

Bensaïd (1946–2010)<br />

Hugo González Moscoso<br />

(1922–2010)<br />

Luis Vitale (1927–2010) – Ein<br />

revolutionärer Historiker aus<br />

Lateinamerika<br />

Heinrich Neuhaus 462 28 5<br />

Jean-Michel 458 50 1<br />

Krivine<br />

Gilbert Achcar 460 48 3<br />

Michael Löwy 464 53 7<br />

Franck Gaudichaud<br />

468 40 11<br />

Wilebaldo Solano (1917–2010) Jaime Pastor 468 28 11<br />

Ökologie<br />

COP 15: Scheitern des Gipfels,<br />

Sieg der Basis<br />

Systemveränderung – statt Klimawandel!<br />

Daniel Tanuro 458 3 1<br />

Erklärung der TeilnehmerInnen<br />

des<br />

Klimaforum09 in<br />

Kopenhagen<br />

458 52 1<br />

Lars Henriksson 460 4 3<br />

Gestaltet die kränkelnde Autoindustrie<br />

um!<br />

Klimamobilisierung und antikapitalistische<br />

Daniel Tanuro 462 19 5<br />

Strategie<br />

Antikapitalismus und Klimagerechtigkeit<br />

Esther Vivas 462 31 5<br />

Cochabamba: Einige kritische Bemerkungen<br />

Sandra Invernizzi, 464 22 7<br />

zur Schlusserklärung Daniel Tanuro<br />

Klaus Engert: Ökosozialismus – Michael Löwy 464 30 7<br />

das geht!<br />

Umweltzerstörung und Gesellschaftsform<br />

Bernhard Brosius 466 21 9<br />

– oder: Brauchen wir<br />

einen Ökosozialismus?<br />

Ökonomie<br />

EU: <strong>Die</strong> weltweite Krise und die Özlem Onaran 460 7 3<br />

Wirtschaftspolitik: Kann die<br />

Politik den Kapitalismus vor sich<br />

selbst retten?<br />

Der freie Fall ist vorbei, aber die Joel Geier 460 19 3<br />

Krise geht weiter<br />

<strong>Die</strong> Asienkrise: Krise eines exportgestützten<br />

Jean Sanuk 460 23 3<br />

Wachstums oder der<br />

Verdrängung von Arbeit?<br />

<strong>Die</strong> Auswirkungen Krise auf Lateinamerika<br />

Claudio Katz 460 33 3<br />

Nicht aller Marxismus ist Dogmatismus<br />

Chris Harman 460 39 3<br />

– eine Erwiderung an<br />

Michel Husson<br />

Lange Wellen – die letzte? Thadeus Pato 460 46 3<br />

Privatisierung der Post – die Beschäftigten<br />

Lot van Baaren, 462 50 5<br />

zahlen die Zeche Paul Benschop<br />

<strong>Die</strong> Automobilindustrie im Umbrucsillier<br />

Jean-Claude Ves-<br />

466 7 9<br />

Cancún – <strong>Die</strong> Via Campesina ruft<br />

die sozialen Bewegungen und<br />

alle Leute auf, überall auf der<br />

Welt zu mobilisieren! Organisisert<br />

Tausende Cancúns<br />

468 52 11<br />

Theorie<br />

<strong>Die</strong> Krise jenseits der Krise Daniel Bensaïd 460 49 3<br />

Benjamins Thesen – Zu Band 19<br />

der Kritischen Gesamtausgabe<br />

Helmut Dahmer 468 25 11<br />

Vierte Internationale<br />

<strong>Die</strong> Internationale – wieder eine<br />

Perspektive<br />

Resolution zu Angriffen auf Transgendered/Intersexed<br />

Auf nach Perugia! Bericht vom<br />

Amsterdamer Vorbereitungstreffen<br />

zum Sommercamp 2010<br />

<strong>Die</strong> IV. Internationale: Einige<br />

Anmerkungen zu einer ganz<br />

besonderen Geschichte<br />

die Internationale<br />

Salvatore Cannavò 462 9 5<br />

Resolution des 16.<br />

Weltkongresses<br />

der IV. Internationale<br />

462 43 5<br />

Philipp Xanthos 462 52 5<br />

Wolfgang Alles 462 23 5<br />

Titel AutorIn<br />

Monat<br />

Heft Seite<br />

<strong>Die</strong> IV. Internationale: Einige Wolfgang Alles 462 23 5<br />

Anmerkungen zu einer ganz<br />

besonderen Geschichte<br />

Asbest – die tödliche „Wunderfaser“<br />

Heinrich Neuhaus 462 28 5<br />

– Millionenfacher Mord aus<br />

Profitgründen<br />

Ihre Krise und unser Widerstand Wolfgang Alles 464 25 7<br />

Klaus Engert: Ökosozialismus – Michael Löwy 464 30 7<br />

das geht!<br />

Solidarität mit Doan Tarkan 464 32 7<br />

Umweltzerstörung und Gesellschaftsform<br />

Bernhard Brosius 466 21 9<br />

– oder: Brauchen wir<br />

einen Ökosozialismus?<br />

Benjamins Thesen – Zu Band 19 Helmut Dahmer 468 25 11<br />

der Kritischen Gesamtausgabe<br />

Wilebaldo Solano (1917–2010) Jaime Pastor 468 28 11<br />

INPREKORR 468/469 49


ÖKOLOGIE<br />

Fortsetzung von Seite 52<br />

und ohne <strong>als</strong> Ausrede dazu zu dienen,<br />

dass die anderen Länder und Vereinigungen<br />

weiterhin verschmutzen und<br />

Baummonokulturen anpflanzen. <strong>Die</strong><br />

Land- und kulturellen Rechte der indigenen<br />

Völker und der Bauern müssen<br />

in jeglichem Klimaabkommen<br />

explizit zuerkannt werden.<br />

Das Geoengineering ablehnen:<br />

<strong>Die</strong> großformatigen Vorschläge, das<br />

Klima gezielt zu beeinflussen, wie<br />

Biokohle (biochar), genetisch modifizierte<br />

Pflanzen, um die Reflektivität<br />

und die Resistenz gegenüber<br />

Trockenheit, Hitze und Salz zu erhöhen,<br />

Düngung des Meeres oder<br />

die massive Erzeugung von Wolken<br />

schaffen nur neue unbeherrschbare<br />

Probleme, sie stellen keine Lösungen<br />

dar. Das Geoengineering ist nur ein<br />

weiteres Beispiel, wie die transnationalen<br />

Konzerne dazu bereit sind,<br />

mit der Zukunft des Planeten und der<br />

Menschheit zu spielen, um neue Einnahmequellen<br />

zu schaffen.<br />

Alle Modelle des Kohlenstoffhandels<br />

und die Mechanismen zur<br />

Neu bei ISP<br />

Eric Toussaint<br />

Neuer ISP Verlag GmbH<br />

Belfortstr. 7, D -76133 Karlsruhe<br />

Tel.: (0721) 3 11 83<br />

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<strong>Die</strong> Bank des Südens<br />

und die<br />

Weltwirtschafts krise<br />

Bolivien, Ecuador, Venezuela und<br />

die Alternativen zum neoliberalen<br />

Kapitalismus<br />

208 Seiten, 19,80 Euro<br />

ISBN 978-3-89 900-132-7<br />

sauberen Entwicklung (MDL –<br />

mecanismos de desarrollo limpio)<br />

ablehnen: Der Kohlenstoffhandel<br />

hat sich <strong>als</strong> extrem lukrativ erwiesen<br />

im Sinne von Gewinngenerierung für<br />

Anleger, dabei aber rundum versagt<br />

hinsichtlich der Reduktion der Treibhausgase.<br />

Im Kohlenstoffhandel fällt<br />

der Kohlenstoffpreis rapide, was die<br />

Verschmutzung sogar noch verstärkt.<br />

<strong>Die</strong> Kohlenstoffemissionen müssen<br />

an der Quelle/Wurzel weniger werden<br />

anstatt dass man erlaubt, dass<br />

man dafür zahlt, das Recht zu verschmutzen<br />

zu behalten.<br />

Ablehnung jeglicher Teilnahme<br />

der Weltbank an der Verwaltung der<br />

Fonds und Politiken, die mit dem Klimawandel<br />

zu tun haben.<br />

Wir brauchen Abermillionen<br />

von bäuerlichen Gemeinden und<br />

indigenen Territorien, um die<br />

Menschheit zu ernähren und den<br />

Planeten abzukühlen.<br />

Wissenschaftliche Untersuchungen<br />

zeigen, dass wir bäuerlichen und<br />

indigenen Völker die globalen Emissionen<br />

um 75% reduzieren können<br />

durch Erhöhen der Biodiversität, Zurückgewinnung<br />

der organischen Substanz<br />

im Boden, Ersetzen der industriellen<br />

Erzeugung von Fleisch<br />

durch eine diversifizierte Produktion<br />

in kleinem Rahmen, Ausweiten der<br />

lokalen Märkte, Beendigung der Abholzung<br />

und Durchführen einer integrierten<br />

Waldbewirtschaftung.<br />

<strong>Die</strong> bäuerliche Landwirtschaft<br />

trägt nicht nur positiv zum Kohlenstoffgleichgewicht<br />

des Planeten bei,<br />

sondern schafft auch 2,8 Millionen<br />

Arbeitsplätze für Männer und Frauen<br />

in der <strong>ganze</strong>n Welt, und es ist die beste<br />

Art des Kampfes gegen den Hunger,<br />

die Unterernährung und die aktuelle<br />

Lebensmittelkrise.<br />

Das volle Recht auf den Boden<br />

und die Rückgewinnung von Land,<br />

die Ernährungssouveränität, der Zugang<br />

zu Wasser <strong>als</strong> sozialem Gut und<br />

Menschenrecht, das Recht, Samen<br />

frei zu gebrauchen, vermehren und<br />

tauschen, die Dezentralisierung und<br />

Stärkung der lokalen Märkte sind unabdingbare<br />

Voraussetzungen, damit<br />

wir bäuerlichen und indigenen Völker<br />

weiterhin die Welt ernähren und den<br />

Planeten abkühlen.<br />

Organisiert Tausende von Cancúns!<br />

Zusammen mit verschiedenen Organisationen<br />

werden wir in Cancún,<br />

zeitgleich mit dem COP 16, das Alternative<br />

Globale Forum „Für das<br />

Leben, die Umwelt- und soziale<br />

Gerechtigkeit“ durchführen, das die<br />

Kraft und den Widerstand der bäuerlichen<br />

Völker der Welt vereinigen<br />

wird, die den Planeten bereits jetzt<br />

abkühlen.<br />

Wir appellieren an die sozialen<br />

Bewegungen, die gesellschaftlichen<br />

Organisationen und an die Völker der<br />

<strong>ganze</strong>n Welt, am 7. Dezember 2010<br />

Tausende von Protesten und Aktionen<br />

gegen die f<strong>als</strong>chen Lösungen<br />

und die Lösungen der Märkte zu<br />

organisieren. Wir erklären die dauerhafte<br />

Mobilisierung, bis wir die Weltklimaverhandlungen<br />

in Cancún im<br />

Dezember 2010 zum Platzen bringen.<br />

Bauern und Bäuerinnen, kühlen<br />

wir den Planeten ab!<br />

Globalisieren wir den Kampf!<br />

Globalisieren wir die Hoffnung!<br />

50 INPREKORR 468/469


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Klaus Engert<br />

Ökosozialismus –<br />

das geht<br />

isp-pocket 68<br />

142 S., € 12,80<br />

2010,<br />

ISBN 978-3-89900-068-9<br />

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☐ Jahresabo (6 Doppelhefte) € 20<br />

☐ Solidarabo (ab € 30) € ....<br />

☐ Sozialabo € 12<br />

☐ Probeabo (3 Doppelhefte) € 10<br />

☐ Auslandsabo € 40<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Hausnummer<br />

PLZ, Ort<br />

Datum, Unterschrift<br />

Spätestens seit dem Bericht des Club of Rome Ende der sechziger<br />

Jahre und den Klimavoraussagen von James Hansen Ende der<br />

siebziger Jahre hätte jeder, der das wollte, wissen können, dass ein<br />

grundlegender Wandel in der Umweltpolitik notwendig ist. Geschehen<br />

ist so gut wie nichts. Aber das ist kein Zufall. Für eine kapitalistische<br />

Industriegesellschaft ist Nachhaltigkeit Gift. Das Konkurrenzprinzip,<br />

auf dem diese Gesellschaftsform beruht, hat die zwangsläufige<br />

Konsequenz, dass der belohnt wird, der auf die ökologischen Folgen<br />

seiner Produktion die wenigste Rücksicht nimmt. Zudem beruht die<br />

kapitalistische Produktionsweise auf immer währendem Wachstum.<br />

Und was diese Welt am wenigsten vertragen kann, ist (noch) mehr<br />

quantitatives Wachstum. <strong>Die</strong> hilflosen Versuche der Herrschenden,<br />

den Kapitalismus aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Umweltzerstörung<br />

im Allgemeinen und den Klimawandel im Besonderen aufhalten<br />

zu wollen, sind der Versuch der Quadratur des Kreises: Beides<br />

zusammen ist nicht zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Länder des sogenannten „Re<strong>als</strong>ozialismus“ können ebenfalls<br />

kein Vorbild sein. <strong>Die</strong> Umweltzerstörung dort stand der der kapitalistischen<br />

Welt in nichts nach.<br />

Wir brauchen <strong>als</strong>o eine Alternative. Wir nennen diese Alternative<br />

Ökosozialismus. Natürlich ist es nicht möglich, einen detaillierten,<br />

ausgearbeiteten Plan für eine Zukunftsgesellschaft zu entwerfen.<br />

Eine solche Gesellschaft wird sich in einem längeren Prozess herausbilden<br />

und für manche der späteren Lösungen dürfte unsere heutige<br />

Phantasie nicht ausreichen. Aber es ist möglich, die Grundzüge<br />

darzustellen, nach denen ein Gemeinwesen funktionieren muss, das<br />

gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen erfüllt, die natürlichen<br />

Lebensgrundlagen schützt und gleiche Lebens- und überlebensvoraussetzungen<br />

für die Menschheit schafft.<br />

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ein Jahr, wenn es nicht vier Wochen<br />

vor Ablauf schriftlich gekündigt wird.<br />

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25761 Büsum<br />

oder per E-Mail an:<br />

vertrieb@inprekorr.de<br />

INPREKORR 468/469 51


Cancún – <strong>Die</strong> Via Campesina ruft die sozialen<br />

Bewegungen und alle Leute auf, überall auf<br />

der Welt zu mobilisieren<br />

Organisiert Tausende von Cancúns!<br />

<strong>Die</strong> sozialen Bewegungen der <strong>ganze</strong>n Welt mobilisieren<br />

zur 16. Vertragsstaatenkonferenz (VSK; Conferencia<br />

de las Partes COP) der Rahmenkonvention der Vereinten<br />

Nationen zum Klimawandel (CMNUCC, Convención<br />

Marco de Naciones Unidas para el Cambio Climático),<br />

die vom 29. November bis zum 10. Dezember in<br />

Cancún stattfinden wird<br />

<strong>Die</strong> COP 15 in Kopenhagen zeigte das Unvermögen<br />

des Großteils der Regierungen, die realen Ursachen des<br />

Klimachaos anzugehen, und speziell den Druck der USA,<br />

in antidemokratischer Weise das sogenannte „Abkommen<br />

von Kopenhagen“ abzusegnen, mit dem Ziel, die wenig<br />

verbindlichen Vereinbarungen der Vereinten Nationen von<br />

Kyoto zu verlassen und nur noch auf freiwillige Mechanismen<br />

auf Basis des freien Marktes zu setzen.<br />

<strong>Die</strong> Klimaverhandlungen haben sich in einen großen<br />

Markt verwandelt. <strong>Die</strong> Industrienationen, in der Vergangenheit<br />

verantwortlich für den Großteil der Emissionen<br />

an Treibhausgasen, erfinden alle möglichen Tricks,<br />

um ihre Emissionen nicht zu reduzieren. Zum Beispiel erlaubt<br />

der „Mechanismus für eine saubere Entwicklung“<br />

(MDL - Mecanismo para el Desarrollo Limpio) des Protokolls<br />

von Kyoto den Ländern, weiterhin zu verschmutzen<br />

und wie gewohnt zu konsumieren. Im Gegenzug müssen<br />

sie nur minimale Zahlungen leisten, damit angeblich<br />

die Länder des Südens ihre Emissionen reduzieren. Das,<br />

was tatsächlich passiert, ist, dass die Firmen doppelt verdienen:<br />

am Verschmutzen und am Verkaufen von f<strong>als</strong>chen<br />

Lösungen.<br />

Monsanto versucht uns davon zu überzeugen, dass sein<br />

Roundup Ready Soja geeignet ist <strong>als</strong> Kohlenstoffkredit,<br />

weil es dazu beitragen würde, die Treibhausgase, die den<br />

Planeten aufheizen, zu reduzieren aufgrund der Anreicherung<br />

von organischer Materie im Boden. <strong>Die</strong> Gemeinden,<br />

die in der Nähe von Sojamonokulturen leben, sind ein lebendes<br />

Beispiel für die tödlichen und zerstörerischen Auswirkungen<br />

dieser Monokulturen. <strong>Die</strong> gleichen f<strong>als</strong>chen<br />

Argumente werden benutzt, um Kohlenstoffkredite zu verkaufen<br />

für Waldmonokulturen, den Anbau von Agrotreibstoffen<br />

oder die industrielle Tierproduktion.<br />

Viele Regierungen der Länder des Südens, angelockt<br />

von den möglichen Einnahmen, setzen auf diese f<strong>als</strong>chen<br />

Lösungen und weigern sich, die Maßnahmen umzusetzen,<br />

die dem Klimawandel effektiv entgegenwirken, wie<br />

zum Beispiel Hilfen für die nachhaltige bäuerliche Landwirtschaft,<br />

Ausrichten der Produktion auf die internen<br />

Märkte oder Entwickeln effektiver Energiesparrichtlinien<br />

für die Industrie, usw.<br />

Wir fordern die Umsetzung der Tausenden von<br />

Lösungen der Völker angesichts der Klimakrise<br />

Es ist jetzt an der Zeit, dass die Rahmenkonvention<br />

der Vereinten Nationen zum Klimawandel (CMNUCC)<br />

auf entschlossene Politiken setzt, um zur Lösung des Klimachaos<br />

beizutragen. <strong>Die</strong> Länder müssen sich klar und<br />

bindend verpflichten, die Emissionen radikal zu reduzieren<br />

und die Art, wie sie produzieren und konsumieren,<br />

vollständig zu ändern.<br />

Der Klimawandel verschärft auch die Krise der<br />

Migration. Dürren, Stürme mit schrecklichen Überschwemmungen,<br />

Wasserverschmutzung und Verschlechterung<br />

des Bodens ebenso wie andere destruktive Einflüsse<br />

des neoliberalen Umweltdesasters führen zur Vertreibung<br />

von Tausenden von Menschen, vor allem Frauen<br />

und ruinierte Bauern, von ihren ländlichen Gemeinden in<br />

die Städte und Richtung Norden, in verzweifelter Suche<br />

nach einer Überlebensmöglichkeit für sich und ihre Familien.<br />

Es wird geschätzt, dass 50 Millionen Leute durch<br />

die Klimaveränderungen gezwungen wurden zu migrieren.<br />

<strong>Die</strong>se „Klimavertriebenen“ verstärken die Reihen<br />

der laut der Internationalen Organisation für Migration<br />

(IOM) mehr <strong>als</strong> 200 Millionen Menschen, die heute<br />

die schlimmste Krise der Migration darstellen, der die<br />

Menschheit jem<strong>als</strong> gegenüberstand.<br />

<strong>Die</strong> Lösungen existieren. Mehr <strong>als</strong> 35 000 Personen<br />

versammelten sich im April in Cochabamba, Bolivien,<br />

zur Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und<br />

die Rechte der Mutter Erde, um neue Visionen und Vorschläge<br />

zur Rettung des Planeten zu verbreiten. Das sind<br />

die Tausende von Lösungen, die die Völker hervorbringen,<br />

die sich der Klimakrise wirkungsvoll entgegenstellen.<br />

Wir fordern von der Rahmenkonvention der Vereinten<br />

Nationen zum Klimawandel, dass sie die Forderungen<br />

des „Abkommens der Völker von Cochabamba“ übernimmt<br />

und dass sie alle f<strong>als</strong>chen Lösungen ablehnt, die<br />

ausgeheckt werden. Dazu zählen:<br />

<strong>Die</strong> Rechte des Bodens und des Waldes verteidigen:<br />

Wir lehnen die Initiative REDD + (reducción de las emisiones<br />

por deforestación y degradación; Reduktion der<br />

Emissionen aufgrund von Abholzung und Degradation)<br />

ab. Der Schutz der Wälder und die Wiederaufforstung der<br />

degradierten Wälder ist eine Verpflichtung aller Regierungen,<br />

die umgesetzt werden muss, ohne die Autonomie,<br />

die Rechte oder die Kontrolle der indigenen Völker und<br />

Bauern über den Boden und das Land einzuschränken,<br />

Fortsetzung Seite 50<br />

52 INPREKORR 468/469

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