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Die ganze Ausgabe als PDF (1293 K) - Inprekorr

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inprekorr<br />

Internationale Pressekorrespondenz<br />

Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF<br />

März/April<br />

2/2013<br />

Foto: Altruisto, flickr.com<br />

Brennpunkt Afrika


<strong>Ausgabe</strong> 2/2013<br />

Letzte Seite<br />

•<br />

Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet<br />

Pierre Rousset......................................................60<br />

Dänemark<br />

Ein schwerer<br />

Fehler der<br />

Enhedslisten<br />

<strong>Die</strong> SAP – dänische<br />

Sektion der<br />

4<br />

4. Internationale und<br />

Mitglied der Enhedslisten<br />

– übt scharfe Kritik<br />

an deren Zustimmung<br />

zum Haushaltskompromiss<br />

der Mitte-Links-<br />

Regierung.<br />

Von Michael Voss<br />

Katalonien<br />

Katalonien vor<br />

und nach den<br />

Wahlen<br />

<strong>Die</strong> Frage der Unabhängigkeit<br />

vom<br />

7<br />

Spanischen Staat und die<br />

Lösung der ökonomischen<br />

und sozialen Probleme<br />

des Landes gehören<br />

zusammen. Daran haben<br />

die Wahlen von 2012<br />

nichts geändert.<br />

Von Andreu Coll<br />

Griechenland<br />

ANTIKAPITA-<br />

LISTISCH AUS<br />

DER KRISE<br />

<strong>Die</strong> parlamentarische<br />

Orientierung<br />

16<br />

von SYRIZA schafft<br />

Illusionen und lenkt vom<br />

Kampf auf der Straße<br />

ab. <strong>Die</strong> Bildung einer<br />

starken Einheitsfront<br />

ist die hier vertretene<br />

Gegenposition.<br />

Von Andreas Kloke<br />

Tunesien<br />

Regierung<br />

unter Druck<br />

<strong>Die</strong> sozialen Probleme<br />

in Tunesien<br />

21<br />

wurden nicht geringer.<br />

Steht eine erneute<br />

Machtprobe bevor und<br />

wer sind die Akteure?<br />

Interview mit einem<br />

führenden Genossen der<br />

tunesischen Linken,<br />

Jalel Ben Brik Zoghlami.<br />

Tunesien<br />

NeuFormierung<br />

der Linken<br />

Umbruch in<br />

26<br />

der politischen<br />

Landschaft Tunesiens.<br />

Das Land ist zunehmend<br />

polarisiert. Aber die Permanenz<br />

der Revolution<br />

hat mit der Front des 14.<br />

Januar eine neue Chance<br />

bekommen.<br />

Von Dominique Lerouge


Inhalt<br />

Mali<br />

intervention<br />

in Mali<br />

Frankreichs<br />

40<br />

uneigennütziges<br />

Eintreten für die<br />

Verteidigung gegen<br />

den Islamismus ist pure<br />

Heuchelei. <strong>Die</strong> Kumpanei<br />

mit postkolonialen<br />

Diktaturen hat eine<br />

lange Tradition.<br />

Von Paul Martial<br />

<strong>Die</strong> Internationale<br />

Friss und Stirb!<br />

Genmanipulierte<br />

50<br />

Organismen – Widerstand<br />

ist berechtigt.<br />

Ökokommission der NPA<br />

Motor der<br />

„europäischen<br />

Einigung“?<br />

Zum Fünfzigsten<br />

Jahrestag des<br />

55<br />

„Élysée-Vertrages“.<br />

Von Jakob Schäfer<br />

Südafrika<br />

Klassenkampf<br />

– Lohn der<br />

Ausbeutung<br />

<strong>Die</strong> Apartheid <strong>als</strong><br />

45<br />

System ist überwunden,<br />

Ausbeutung<br />

und Misshandlungen<br />

gehen vielerorts weiter.<br />

Doch nicht ungehindert.<br />

Landarbeiter Innen in<br />

Western Cape kämpfen<br />

dagegen.<br />

Von Mercia Andrews<br />

Mauritius<br />

Über die<br />

Schönfärberei<br />

des Neoliberalismus<br />

Interview mit<br />

30<br />

vielen Themen,<br />

die zeigen, dass das Land<br />

für die ArbeiterInnenbewegung<br />

interessanter<br />

ist <strong>als</strong> für die schönfärbende<br />

Bourgeoisie<br />

und ihre neoliberalen<br />

Träumereien.<br />

Von Ashok Subron<br />

Indonesien<br />

Bosse schlagen<br />

zurück<br />

Der Aufschwung<br />

37<br />

der erfreulicherweise<br />

erfolgreichen<br />

Kämpfe der indonesischen<br />

ArbeiterInnenklasse<br />

vor allem in<br />

Bekasi beunruhigt und<br />

verunsichert das Unternehmertum<br />

sehr.<br />

Von Zely Ariane


Dänemark<br />

Ein schwerer Fehler<br />

der Enhedslisten<br />

Am 11. November gaben die dänische Regierung<br />

und die Enhedslisten – auf getrennten<br />

Pressekonferenzen – bekannt, dass sie sich auf<br />

den Staatshaushalt für 2013 geeinigt hatten. Auf<br />

einer Nationalen Konferenz zwei Wochen später<br />

charakterisierte die SAP, die dänische Sektion<br />

der Vierten Internationale, dies <strong>als</strong> schweren<br />

Fehler der Enhedslisten. 1<br />

Michael Voss<br />

•<br />

<strong>Die</strong>s war der zweite Haushalt, seit die Mitte-Links-<br />

Regierung im September 2011 an die Macht gekommen<br />

war. Auch der erste Haushalt war von der Enhedslisten<br />

unterstützt worden. Während die Entscheidung im ersten<br />

Jahr kaum eine Debatte auslöste, entwickelte sich in diesem<br />

Jahr eine beträchtliche Opposition in der Partei. In<br />

beiden Fällen bestätigte, wie von den Statuten gefordert,<br />

der Parteivorstand die Entscheidung, in diesem Jahr allerdings<br />

nur mit 15 zu 9 Stimmen. <strong>Die</strong> kritischen Mitglieder<br />

der Partei brachten zwei Hauptargumente vor.<br />

Ein Argument bezieht sich auf die Frage des Arbeitslosengelds.<br />

<strong>Die</strong> frühere Regierung hatte das Gesetz zum<br />

Arbeitslosengeld geändert, so dass der Zeitraum, in dem<br />

man Zahlungen aus dem gewerkschaftlich verwalteten<br />

Arbeitslosigkeitsfonds beziehen kann, begrenzt werden<br />

sollte.<br />

<strong>Die</strong>se Änderung sollte im Januar 2013 wirksam<br />

werden und sie hat viel Wut und Proteste ausgelöst, vor<br />

allem bei den Gewerkschaften und den Mitgliedern und<br />

Wählern der beiden Arbeiterparteien, Sozialdemokratie<br />

(S) und Sozialistische Volkspartei (SF) 2 .<br />

Monatelang war der Vorschlag, entweder neue Jobs<br />

für die Arbeitslosen zu schaffen oder die Dauer der<br />

Zahlungen zu verlängern, die wichtigste Forderung der<br />

Enhedslisten für den Staatshaushalt. Zeitweise wurde<br />

dies sogar <strong>als</strong> nicht-verhandelbare Forderung bezeichnet.<br />

Aber am Ende akzeptierte die Enhedslisten weit weniger.<br />

<strong>Die</strong> Gegner innerhalb der Partei vertraten die Ansicht,<br />

dass die Partei durch Akzeptieren dieses Kompromisses<br />

weit unter der Minimallösung die Proteste unterminiere<br />

und die Möglichkeiten zum Aufbau einer Bewegung<br />

schwäche.<br />

Das zweite wichtige Argument gegen das Stimmverhalten<br />

der Enhedslisten ist, dass der Haushalt nicht<br />

die Bedingungen erfüllt, die im Mai 2010, noch vor den<br />

Wahlen und der neuen Mitte-Links-Regierung, von<br />

einer Jahreskonferenz der Enhedslisten festgelegt worden<br />

waren. Als Teil eines Textes über die Enhedslisten und<br />

den erwarteten Regierungswechsel führte die Resolution<br />

aus:<br />

„Enhedslisten ermutigt eine neue Regierung, einen<br />

Bruch vorzunehmen, der die Politik der bisherigen<br />

Regierung durch eine Politik ersetzt, die auf soziale<br />

Gleichheit, Solidarität und Nachhaltigkeit basiert. Ein<br />

Haushalt, der einen solchen Bruch ausdrückt, wird auch<br />

unsere Stimmen erhalten. Aber wir werden unter keinen<br />

Umständen für einen Haushalt stimmen, der:<br />

• Verschlechterungen beinhaltet<br />

• keine wesentlichen Verbesserungen beinhaltet<br />

• die Zusammenfassung von einem Jahr gemeinsam mit<br />

den Rechtsparteien beschlossener Sparpolitik ist.”<br />

Gegner einer Unterstützung des Haushalts argumentierten,<br />

dass der Haushalt Verschlechterungen für arbeitende<br />

und arme Menschen beinhalte. Wichtiger ist aber<br />

die Tatsache, dass der Staatshaushalt die Ergebnisse von<br />

einem Jahr Sparpolitik zusammenfasst. Seit dem ersten<br />

Staatshaushalt dieser Regierung wurden größere Reformen<br />

ohne die Stimmen der Enhedslisten beschlossen<br />

und stattdessen von den Liberalen und der Konservativen<br />

Partei unterstützt.<br />

<strong>Die</strong>se Reformen basierten deutlich auf einem neoliberalen<br />

Ansatz mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />

und der Einkommensspanne zwischen arbeitslosen<br />

und Menschen mit Job. In diesen Rahmen passt,<br />

dass Kapital und Bezieher höherer Einkommen nichts zur<br />

Rechnung beitragen mussten.<br />

4 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Dänemark<br />

Eine davon ist eine Steuerreform, die die Steuern auf<br />

höhere Einkommen senkte. <strong>Die</strong> andere ist eine Reform<br />

der Sozialversicherung, die es benachteiligten Menschen<br />

noch schwieriger macht, einen staatlich finanzierten Job<br />

zu bekommen.<br />

Hinzu kommt, dass es im Haushaltsplan keinen Raum<br />

für expansive Politik gab, die vielleicht die soziale Sicherheit<br />

hätte verbessern und Arbeitsplätze im öffentlichen<br />

Sektor schaffen können - und kein einziges Element, das<br />

die Reichen hätte zahlen lassen.<br />

Bei den Verhandlungen über den Haushalt gelang<br />

es der Enhedslisten, einige Verbesserungen für benachteiligte<br />

Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen<br />

Problemen zu erreichen, aber nichts, was die allgemeine<br />

Richtung verändert hätte. Einige zusätzliche Mittel für<br />

grüne Politik und eine Reihe von kleineren Verbesserungen<br />

in anderen Bereichen wurden in den Haushalt<br />

aufgenommen - <strong>als</strong> Ergebnis von Enhedslisten-Anträgen.<br />

Aber <strong>als</strong> der Parteivorstand der Enhedslisten das Budget<br />

ohne eine wirkliche Lösung für die Arbeitslosen akzeptierte,<br />

war die letzte Chance verloren, ernsthaft zu<br />

behaupten, der Haushalt würde wesentliche Verbesserungen<br />

enthalten.<br />

Kleineres Übel?<br />

<strong>Die</strong> Fraktion und die Mehrheit des Parteivorstands geben<br />

zur Begründung an, sie seien taktisch überrascht worden,<br />

<strong>als</strong> die Liberale Partei in die Verhandlungen über den<br />

Haushalt eintrat - nachdem die Partei lange Zeit erklärt<br />

hatte, dass sie nicht helfen würde, der Regierung eine<br />

parlamentarische Mehrheit für ihren Haushalt zu verschaffen.<br />

<strong>Die</strong>s ließ die Führung und die Abgeordneten befürchten,<br />

dass die Regierung sich mit der liberalen Partei über<br />

den Haushalt einigen würde. <strong>Die</strong> Führung fürchtete,<br />

dass die Wählerschaft die Enhedslisten kritisieren würde,<br />

weil (I) es aussehen würde, <strong>als</strong> ob ihre nicht verhandelbare<br />

Forderung die Regierung in die Arme der Liberalen<br />

Haushaltskompromiss: Ein schwerer Fehler<br />

Dass die Vorstandsmehrheit nicht dem Beschluss der<br />

Jahreskonferenz folgte, ist sowohl ein politisches wie<br />

auch ein demokratisches Problem.<br />

Es ist ein politisches Problem, weil es gute politische Gründe<br />

dafür gab, dass die Jahreskonferenz 2010 Richtlinien für die Mitwirkung<br />

der Enhedslisten am Haushalt beschloss.<br />

Zum einen ist es entscheidend für die Glaubwürdigkeit einer<br />

sozialistischen Partei und ihre Fähigkeit, den Zusammenhalt für<br />

Verbesserungen und für eine bessere Welt zu stärken, dass wir<br />

nicht an faulen Kompromissen mitwirken, wo Teile der Arbeiterklasse<br />

und Menschen mit Sozialleistungen dafür mit Verschlechterungen<br />

bezahlen, dass andere´ Verbesserungen erhalten.<br />

Daher beschloss die Jahreskonferenz, dass ein Haushalt ein<br />

wirklicher Bruch mit der neoliberalen Politik, wie sie die bisherige<br />

Rechtsregierung betrieben hatte, sein müsse.<br />

Mit dieser Forderung hatte die Partei eine Möglichkeit, sofort<br />

Druck von außen auf die Verhandlungen aufzubauen und<br />

zu zeigen, dass es eine politische Alternative gibt. Aber das war<br />

nicht die Linie, der zu folgen sich die Mehrheit des Vorstands<br />

entschied.<br />

Darüber hinaus ist der Beschluss der Vorstandsmehrheit ein<br />

demokratisches Problem. Wenn die Vorstandsmehrheit einen<br />

zentralen Beschluss der Jahreskonferenz ignoriert, dann untergräbt<br />

sie die demokratische Debatte und Entscheidungsfindung<br />

in der Partei. Warum sollen sich die Mitglieder noch bei Debatten<br />

und Entscheidungen der Partei engagieren, wenn die Mehrheit<br />

des Vorstands das Signal sendet: „Ihr könnt beschließen, was ihr<br />

wollt. Und wenn es soweit ist, beschließen wir sowieso, wozu wir<br />

Lust haben.“<br />

<strong>Die</strong> Spuren zu diesem politischen und demokratischen Verrat<br />

sind schon lange gelegt worden. Vorstandsmehrheit und Folketingsfraktion<br />

führten niem<strong>als</strong> eine offensive Kampagne für den<br />

Haushalt, den wir brauchen, eine Kampagne für die politische<br />

Alternative der Enhedslisten, die mit den selbst auferlegten Grenzen<br />

und dem Gesellschafts- und Politikverständnis der Regierung<br />

bricht.<br />

<strong>Die</strong> Vorstandsmehrheit steckte mehr Ressourcen in die Organisation<br />

von Wählergesprächen <strong>als</strong> in Kampagnen zur Schaffung<br />

von Druck aus der Bevölkerung für die Forderungen nach Arbeit,<br />

Ausbildung und Recht auf Arbeitslosengeld. Damit brachten sich<br />

Vorstandsmehrheit und Folketingsfraktion in eine Situation, wo<br />

es am Tage der Abstimmung über den Haushaltskompromiss<br />

schwerer war, mit der Regierung zu brechen, <strong>als</strong> es hätte sein<br />

müssen.<br />

Angenommen von der Nationalen Konferenz der SAP<br />

am 17./18. November 2012<br />

Quelle: Socialistisk Information (http://sap-fi.dk/side.php?id=1032)<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 5


Dänemark<br />

Partei gezwungen hätte, und (II) die Partei das Angebot<br />

der Regierung für eine sehr partielle Lösung für einige<br />

der Arbeitslosen zu Fall gebracht hätte. Einige Teile der<br />

Mehrheit argumentieren sogar, dass die Enheds listen für<br />

den Haushalt hätte stimmen müssen, um ein Budget mit<br />

der Liberalen Partei zu verhindern, das noch schlimmer<br />

gewesen wäre, <strong>als</strong>o das klassische „kleinere Übel“-Argument.<br />

<strong>Die</strong> SAP, die dänische Sektion der Vierten Internationale,<br />

war Teil der Enhedslisten seit ihrer Gründung im<br />

Jahr 1989. Mitglieder der SAP bauen aktiv die Enhedslisten<br />

und ihre Jugendorganisation SUF auf. Eine Nationale<br />

Konferenz der SAP war ohnehin bereits für das<br />

Wochenende zwei Wochen nach der Einigung über den<br />

Staatshaushalt geplant. <strong>Die</strong> Tagesordnung wurde schnell<br />

geändert, um Raum für Diskussionen und Entscheidungen<br />

für eine Erklärung zum Haushalt zu schaffen.<br />

Der Titel der Erklärung lautet: „Der Haushaltskompromiss:<br />

Ein schwerer Fehler“. Sie kommt zu dem<br />

Schluss, dass die Voraussetzungen für die Unterstützung<br />

eines Haushalts nicht erfüllt waren. <strong>Die</strong> Erklärung<br />

betont auch, dass der Verzicht auf die Forderung nach<br />

Arbeitsplatzsicherheit ein schwerer taktischer Fehler<br />

war - der umso schwerer wiegt, <strong>als</strong> die Partei gerade<br />

eine Kampagne zu Arbeitslosengeld und Arbeitsplätzen<br />

durchführt.<br />

<strong>Die</strong> Erklärung fordert alle Teile der Enhedslisten auf,<br />

ihr Engagement für die Kampagne zu verstärken - insbesondere<br />

zu versuchen, örtliche Einheiten der Gewerkschaften<br />

für diese Forderungen zu mobilisieren, um<br />

Druck auf die Regierung auszuüben.<br />

Außerdem ruft die SAP jede Ortsgruppe der Enhedslisten<br />

auf, die Entscheidung zu diskutieren und kritische<br />

Stellungnahmen zum Verhalten der Führung zu beschließen.<br />

SAP verspricht, dafür zu arbeiten, dass die nächste<br />

Jahreskonferenz der Enhedslisten im Mai 2013 eine<br />

negative Bilanz der Entscheidung zum Staatshaushalt<br />

beschließt und die ursprünglichen Prinzipien bekräftigt,<br />

die in diesem Jahr vernachlässigt wurden. Schließlich<br />

ruft die SAP die Delegierten auf, nur für die Gegner der<br />

Zustimmung zum Staatshaushalt zu stimmen, wenn die<br />

Jahreskonferenz einen neuen Parteivorstand wählt.<br />

1995 bis 2006 arbeitete er <strong>als</strong> Journalist und Pressesprecher<br />

für die Parlamentsfraktion der Enhedslisten.<br />

•Übersetzung:<br />

Björn Mertens<br />

1 Siehe die Konferenzresolution „Haushalt 2013: Ein schwerer<br />

Fehler der Enhedslisten”, hier in stark gekürzter Fassung im<br />

Kasten zu lesen.<br />

2 Sozialdemokratie und SF bildeten die neue Regierung<br />

zusammen mit einer linksliberalen Partei; mehr dazu: „A<br />

new period for the Red Green Alliance - After the Danish<br />

elections” und „Use the election victory to put pressure on the<br />

government and build up the Red-Green Alliance”.<br />

Michael Voss ist Mitglied der<br />

En heds listen und der Führung der SAP (Sozialistische<br />

Arbeiterpartei, dänische Sektion der 4. Internationale). Als<br />

Vertreter der SAP hat er an den Verhandlungen teilgenommen,<br />

die zur Gründung der Enhedslisten führten. Von<br />

6 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Katalonien<br />

Katalonien<br />

vor und nach den<br />

Wahlen<br />

<strong>Die</strong> Abhängigkeit vom Spanischen Staat und die ökonomischen Probleme in<br />

Katalonien lassen sich nur schwer getrennt voneinander betrachten. Und doch<br />

sind sie nicht einfach zwei Seiten ein und derselben Medaille.<br />

Andreu Coll<br />

•<br />

<strong>Die</strong> Demonstration vom 11. September 2012<br />

war zweifellos eine der größten der jüngeren katalanischen<br />

Geschichte. <strong>Die</strong>se Massendemo ist die konsequente Antwort<br />

auf die seit Längerem sich zuspitzende Entwicklung<br />

im Land. Sie zeigt, dass ein klarer Wunsch nach Unabhängigkeit<br />

besteht und dass dieser Wunsch in allen sozialen<br />

Klassen vorhanden ist. Anhand der Ereignisse im Vorfeld<br />

der Wahlen kann versucht werden, die Widersprüche der<br />

politischen Situation Kataloniens zu verstehen, die zur<br />

Erklärung von Generalitatspräsident Artur Mas im katalanischen<br />

Parlament und zu den vorgezogenen Wahlen vom<br />

25. November geführt hatten.<br />

2005 versuchte der erste Tripartito 1 die katalanische<br />

Verfassung 2 zu reformieren. Der Versuch scheiterte, weil<br />

die Cortes Generales (Senat und Abgeordnetenhaus des<br />

Spanischen Staates) den Verfassungstext auf Antrag der<br />

PSOE 3 beschnitten haben, obwohl Zapatero im Vorfeld<br />

feierlich versprochen hatte, eine Verfassungsreform zu unterstützen,<br />

die vom katalanischen Parlament verabschiedet<br />

werde. Als das Verfassungsgericht auf Antrag des Partido<br />

Popular (PP) auch noch große Teile des Textes für verfassungswidrig<br />

erklärte, wurde er noch einmal beschnitten.<br />

<strong>Die</strong>s ist der Grund für die wachsende Unzufriedenheit<br />

großer Teile der Bevölkerung. Es wurde <strong>als</strong> Angriff auf<br />

den demokratischen Willen der katalanischen Gesellschaft<br />

verstanden. <strong>Die</strong>se Meinung wurde von Schichten vertreten,<br />

die weit über die traditionelle soziale und Wählerbasis<br />

nationalistischer Parteien wie der Convergència i<br />

Uniò (CiU) 4 oder der Esquerra Republicana de Catalunya<br />

(ERC) 5 hinausgehen.<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 7


Katalonien<br />

Während der Debatte in den beiden nationalen Parlamentskammern<br />

zur katalanischen Verfassung, wurde eine<br />

„Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“ gegründet,<br />

die die Kürzungen am vom katalanischen Parlament verabschiedeten<br />

Text ablehnt und riesige Demos organisierte.<br />

Als der verstümmelte Text zur Volksabstimmung kam,<br />

verwandelte sich diese Kampagne in ein Nein zum „Estatut<br />

de la vergonya“ („Verfassung der Schande“ – wegen<br />

des schändlichen Bündnisses von Artur Mas und Zapatero<br />

in der Moncloa 6 ). <strong>Die</strong>se Kampagne vermochte die ERC<br />

derart unter Druck zu setzen, dass sie die gleiche Abstimmungsparole<br />

herausgeben und damit mit der Regierung<br />

brechen musste, an der sie beteiligt war. Einige Tage später<br />

wurde sie aus der Regierung ausgeschlossen.<br />

Mit der Neuauflage der Dreiparteienregierung kam es<br />

in der Esquerra Republicana (ERC) zu ersten Brüchen.<br />

Es begann sich eine rechte, unabhängigkeitsfreundliche<br />

Opposition herauszubilden, die in der Bündnispolitik<br />

für eine Wende um 180° eintrat. In der zweiten Legislaturperiode<br />

der Dreiparteienregierung (die sogenannte<br />

„Govern d’Entesa“, die Entesa-Regierung 7 ) kam es zu<br />

einem Rechtsrutsch in Sozial- und Umweltfragen (das<br />

Bildungsgesetz Kataloniens, das die Privatisierung der<br />

öffentlichen Schule möglich macht und die Zustimmung<br />

zur vierten Autobahnumfahrung um Barcelona sind Beispiele<br />

dafür), zu Verhandlungen über ein neues Finanzierungsmodell,<br />

zum Chaos in der Infrastruktur und zu einer<br />

Psychose kurz vor dem immer wieder verschobenen Urteil<br />

des Verfassungsgerichts zum verstümmelten, aber in der<br />

Volksabstimmung angenommenen Estatut (bei nur 20 %<br />

Nein-Stimmen, was außergewöhnlich war, vergleicht man<br />

das Ergebnis mit dem Núria-Statut von 1932 oder dem<br />

Sau-Statut von 1979).<br />

<strong>Die</strong> Ausdünnung des Fahrplanes der AVE-Bahn nach<br />

Barcelona 8 und die chronischen Störfälle und Verspätungen<br />

bei der S-Bahn der RENFE 9 offenbarten, wie<br />

Katalonien bei den staatlichen Investitionen in die öffentliche<br />

Infrastruktur und <strong>Die</strong>nstleistungen diskriminiert<br />

war. <strong>Die</strong>se Situation erleichterte es der CiU, ihre soziale<br />

Basis erneut zu mobilisieren, und führte dazu, dass sich<br />

das Kräfteverhältnis in der „Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“<br />

veränderte. Anstatt zu einer breiten<br />

Mobilisierung (von Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees<br />

und sozialen Bewegungen) zur Verteidigung der<br />

öffentlichen <strong>Die</strong>nste (gegen die Privatisierung und gegen<br />

Investitionskürzungen bei ADIF-RENFE 10 ) ist es zum<br />

Bruch in der Bewegung gekommen. <strong>Die</strong>se ist von demokratischen<br />

Forderungen (eines fragilen Gleichgewichts<br />

zwischen links-nationalistischen Kräften und politischen<br />

Organisationen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen)<br />

zu einer Kampagne im Stil „Madrid raubt uns aus“<br />

mutiert. <strong>Die</strong> Gewerkschaftsführungen und ein Großteil<br />

des sozialen Netzwerkes waren leider bereit, sich der<br />

zweiten Dreiparteienregierung unterzuordnen. Zudem<br />

wurde die Regierung Zapatero trotz allem <strong>als</strong> „Freund“<br />

anerkannt. <strong>Die</strong>s öffnete dem konservativen Nationalismus<br />

und einer Offensive gegen die „Zivilgesellschaft“ (private<br />

und teure Business Schools, Ausbildungsstätten in den<br />

Betrieben und Handelskammern) und der Unterstellung<br />

der bedeutendsten Infrastruktureinrichtungen unter die<br />

Generalitat (Regionalregierung [A.d.Red.]) Tür und Tor<br />

(RENFE, Flughafen von Barcelona usw.), um sie später<br />

privatisieren zu können. Es wurden große öffentliche Veranstaltungen<br />

durchgeführt, an denen diese Verlagerungen<br />

gefordert und von der Regierung das Aushandeln eines<br />

guten Finanzierungsabkommens verlangt wurde. Mitten<br />

in der Krise der Agglomeration von Barcelona (Probleme<br />

im öffentlichen Verkehr, insbesondere der RENFE) wurde<br />

eine Demo organisiert, bei der sich klar zeigte, dass sich die<br />

soziale Zusammensetzung der Bewegung verändert hatte<br />

und dass es bei den Forderungen eine populistische Wende<br />

gegeben hatte. <strong>Die</strong>se Mobilisierung vermochten die CiU<br />

und in geringerem Maß der nationalistischste Sektor, der<br />

den Bruch mit der Entesa-Regierung der ERC anstrebte,<br />

für sich zu nutzen. <strong>Die</strong> Frustration der Mittelschichten wegen<br />

der Krise sowie die Tatsache, dass die Arbeiter Innen-<br />

Bewegung kein so undiskutabler sozialer Bezugspunkt<br />

mehr ist wie in der Vergangenheit, sind mit Sicherheit<br />

die Erklärung dafür, weshalb diese Sektoren ihre soziale<br />

Unzufriedenheit in Form von typisch bürgerlich-sozialen<br />

Vorurteilen und simplifizierenden und unüberlegten Reden<br />

äußern. In dieser Zeit der Mobilisierung kam es innerhalb<br />

der „Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“ zur<br />

Machtübernahme durch den mächtigsten Sektor, der für<br />

die Unabhängigkeit Kataloniens eintritt, und zum Beitritt<br />

der sozialen Basis der CiU zu dieser Plattform. <strong>Die</strong>s war<br />

der Beginn dessen, was wir die „Unabhängigkeitsbewegung<br />

in Steuerfragen“ mit einer gewissen populistischen<br />

Färbung nennen könnten.<br />

Volksbefragungen der Unabhängigkeitsbefürworter<br />

<strong>Die</strong> Candidatures d’Unitat Popular (CUP, Kandidaturen<br />

der Volkseinheit) 11 umfassen die meisten politischen, sozialen<br />

und kulturellen Kräfte, die sich <strong>als</strong> linke Bewegung<br />

für die Unabhängigkeit verstehen und die in den letzten<br />

Jahren bei Wahlen sowohl in Dörfern wie in einigen<br />

8 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Katalonien<br />

Katalonien<br />

Einwohnerzahl<br />

Fläche<br />

Wirtschaft<br />

Staatsschuldenkrise<br />

7,5 Mio.<br />

etwas kleiner <strong>als</strong> NRW<br />

katalonien ist hoch industrialisiert. Das<br />

BIP betrug 2009 193,5 Mrd. €<br />

<strong>Die</strong> Krise hat das Bestreben nach<br />

finanzieller Autonomie befeuert, weil<br />

8 % des katalanischen BIP <strong>als</strong><br />

nettotransfer an den Zentr<strong>als</strong>taat gehen.<br />

Autonomie katalonien (Catalunya) verfügt seit 1978<br />

Nordkatalonien<br />

Barcelona<br />

über verwaltungsrechtliche und<br />

kulturelle Autonomie. Seitdem gewinnt<br />

vor allem das Katalanische <strong>als</strong> erste<br />

muttersprache wieder an Bedeutung<br />

(heute ca. 32 % der Bevölkerung; mehr<br />

<strong>als</strong> die Hälfte ist zweisprachig.)<br />

In dem französsichen Département<br />

Pyrénées-Orientales sprechen ca. 10 %<br />

das Katalanische <strong>als</strong> Muttersprache, aber<br />

über die Hälfte sieht sich <strong>als</strong> zwei<br />

sprachig. <strong>Die</strong> Autonomiebestrebungen<br />

sind hier eher schwach.<br />

Städten stark zulegen konnten. <strong>Die</strong>se CUP lancierten im<br />

September 2009 in ganz Katalonien eine Wahlkampagne<br />

für die Unabhängigkeit. Ihre Feuerprobe bestanden sie am<br />

29. September 2009 in Arenys de Munt und es zeigte sich<br />

bald, dass folgende Gruppierungen die Bewegung für sich<br />

einnehmen wollten: Reagrupament de Carretero (zuerst<br />

Tendenz und später rechte Abspaltung der ERC), die ERC<br />

selbst (die wegen des Urteils des Verfassungsgerichts und<br />

wegen der Sackgasse, in der die Debatte um die Verfassung<br />

steckte, eine politische Krise befürchtete) und die erstarkende<br />

CiU. <strong>Die</strong>se Volksbefragungen, die <strong>als</strong> Bewegung<br />

für das Selbstbestimmungsrecht verkauft wurden, waren<br />

in Wirklichkeit eine Agitationskampagne für die Unabhängigkeit.<br />

Obwohl dabei eine Dynamik des demokratischen<br />

Bruchs mit den Grenzen der Verfassung von 1978<br />

entstand, wurde im Laufe dieser Kampagne de facto eine<br />

patriotische und klassenübergreifende Front geschmiedet,<br />

die sich mit Höhen und Tiefen und mit Widersprüchen<br />

bis heute halten konnte. Nicht zufällig wird die Ortschaft,<br />

wo die Volksbefragung begann – Arenys de Munt – heute<br />

von einer Koalition aus CUP, ERC und CiU regiert. Zum<br />

Glück hat der Großteil der CUP inzwischen gemerkt, dass<br />

er gegenüber der neuen, klassenübergreifenden Bewegung<br />

für die Unabhängigkeit in Steuerfragen ein unabhängiges<br />

politisches Projekt beibehalten muss. Er hat große Kampagnen<br />

gegen Kürzungen und gegen die Korruption im<br />

Gesundheitswesen organisiert. Der schwache strategische<br />

Zusammenhalt der Koalition zeigt, dass ihre Bündnispolitik<br />

je nach den lokal vorherrschenden Konstellationen<br />

schnell kippen kann. <strong>Die</strong>s war zum Beispiel der Fall, <strong>als</strong><br />

ihre Gemeindegruppen den Sturz „pluralistischer linker“<br />

Regierungen anstrebten zugunsten der Rückkehr des<br />

konservativen und/oder zentristischen Nationalismus<br />

(CiU, ERC) an die Macht, wie dies in großen Städten wie<br />

Manresa oder Vilafranca del Penedès der Fall war.<br />

Doch wie bereits erwähnt, ist es wegen der je nach<br />

Ort unterschiedlichen Zusammensetzung der CUP auch<br />

vorgekommen, dass sie gegenüber der antikapitalistischen<br />

Linken offen waren, wenn die offen marxistischen oder<br />

marxistisch-leninistischen Strömungen in der Überzahl<br />

waren.<br />

Als es schließlich zu einem neuen Finanzabkommen 12<br />

zwischen der Regierung der Entesa und der Regierung<br />

Zapatero kam, wurde klar, dass es um die Steuererhebung<br />

in Katalonien selbst ging. Das Steueraufkommen befand<br />

sich <strong>als</strong> Folge der wirtschaftlichen Konzentration bereits<br />

im freien Fall. <strong>Die</strong>se wiederum war eine Folge der Krise.<br />

Zum Entsetzen aller, die für eine Politik der Umverteilung<br />

einstehen, hat die Regierung Montilla auf Antrag<br />

des ultraliberalen Wirtschaftsberaters Castells nur wenige<br />

Wochen nach dem Finanzabkommen einer teilweisen<br />

Abschaffung der Erbschaftssteuer zugestimmt. Damit<br />

reduzierten sich die Steuereinnahmen um 70 bis 80 %. <strong>Die</strong><br />

Steuer wurde lediglich für Vermögen von über 600 000 €<br />

beibehalten. <strong>Die</strong> Abschaffung der Erbschaftssteuer ist ein<br />

Hauptgrund für die Steuerkrise, die dafür herhalten musste,<br />

später die brutalen Kürzungen zu begründen.<br />

Bei den Demonstrationen vom 10. Juli 2010 zeigte die<br />

Reaktion der Bevölkerung auf das Urteil der Verfassungsschutzgerichts,<br />

das jede Legitimität verloren hatte, dass die<br />

Bewegung für die Unabhängigkeit am Erstarken war. Nur<br />

die CiU konnte von dieser Situation profitieren. Sie hat<br />

es verstanden, die Karten gut auszuspielen und die zweite<br />

Dreiparteienregierung zu schwächen. Anderseits hat sie<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 9


Katalonien<br />

es auch verstanden, die Unabhängigkeitswelle mit ihrem<br />

Vorschlag eines Fiskalpaktes 13 vorübergehend einzudämmen.<br />

Nationalistische Rechte kehrt an die Macht zurück<br />

<strong>Die</strong> Wahlen vom 28. November 2010 brachten zweifellos<br />

einen in der katalanischen Gesellschaft noch nie dagewesenen<br />

Rechtsrutsch. <strong>Die</strong> ERC sank förmlich ab (ein echtes<br />

Debakel), ebenso der PSC und die CiU und die PP konnten<br />

sehr große Stimmengewinne erzielen. Zum ersten Mal<br />

verzeichnete der ultrarechte Populismus der Plataforma per<br />

Catalunya in vielen traditionell konservativen Ortschaften,<br />

vor allem aber auch in typischen Arbeiterquartieren einen<br />

alarmierenden Stimmenzuwachs. Bei der Auszählung der<br />

Stimmen sah es zuerst fast so aus, <strong>als</strong> ob die Plataforma<br />

per Catalunya einen Parlamentssitz erringen würde. Auch<br />

Ciutadans, eine Neolerroux-Partei 14 , die die Verteidigung<br />

der Verfassung aus dem Jahre 1978 und die Einheit des<br />

Spanischen Staates zu ihren einzigen Programmpunkten<br />

macht, konnte sich bei diesen Wahlen konsolidieren. Alle<br />

diese Phänomene zeigen, wie sehr sich die Arbeitswelt politisch<br />

aufgesplittert hat und wie stark sich die organisierte<br />

Arbeiterbewegung und die nationale Emanzipationsbewegung<br />

auseinanderentwickelt haben. <strong>Die</strong> Tatsache, dass die<br />

Iniciativa per Catalunya verds –Esquerra Unida i Alternativa<br />

(ICV-EUiA) 15 nicht viele Stimmen verlor, entpuppte<br />

sich <strong>als</strong> Pyrrhussieg, da sie links mehr Stimmen verlor <strong>als</strong><br />

sie rechts von Wähler Innen dazugewann, die vom PSC<br />

enttäuscht waren.<br />

Artur Mas kam mit Inhalten an die Generalitat-Regierung,<br />

die jenen von Rajoy 16 ähnlich sind: Gegen die<br />

„Geldverschwendung“ durch die linken Kräfte, für eine<br />

Regierung „der Besten“, um das Land in einer Krisensituation<br />

wieder aufzurichten und für die Wiederherstellung<br />

„des Ansehens Kataloniens und seiner Institutionen“ nach<br />

den Lächerlichkeiten der Dreiparteienregierung. Der<br />

Pragmatismus der CiU war schon beeindruckend. Während<br />

der Ausarbeitung ihres Plans zur Durchsetzung des<br />

Fiskalpaktes machte sie keinen Hehl daraus, dass sie auf<br />

allen notwendigen Punkten zu einer Einigung mit der<br />

PP bereit war (die beim Verfassungsgericht Rekurs gegen<br />

das Estatut erhoben und sich gegen das Zweisprachensystem<br />

17 engagiert hatte und deren Gemeindepräsidien (wie<br />

z. B. Badalona) eine offen rassistische und populistische<br />

Wende vollzogen hatten, um Kürzungen und Sparbudgets<br />

durchzusetzen. Das Dramatischste in dieser Legislaturperiode<br />

war, dass die einzige Partei, die schüchtern Widerstand<br />

leistete, die Iniciativa per Catalunya verds-Esquerra<br />

Unida i Alternativa (ICV-EUiA) 18 war. Schüchtern, weil<br />

die CiU abgesehen von der Zerschlagung des öffentlichen<br />

Gesundheitswesens, was ein qualitativer Schritt war, im<br />

Grunde genommen nichts anderes getan hat, <strong>als</strong> dass sie<br />

die Politik der vorherigen Regierung weitergeführt und<br />

verstärkt hat. Der CiU ist es zudem gelungen, die PSC, die<br />

in einer Führungs- und Richtungskrise steckte, zu lähmen<br />

und die ERC mit dem Fiskalpakt an sich zu binden. Es war<br />

eine Legislaturperiode zum Verzweifeln, in der es zu den<br />

härtesten Angriffen auf den Sozi<strong>als</strong>taat seit dem Zweiten<br />

Weltkrieg kam, ohne dass es in der Regierungspartei<br />

auch nur zur geringsten Erosion kam und ohne dass es<br />

der außerparlamentarischen Opposition gelungen wäre,<br />

die sozialen Bewegungen gegen die Kürzungen und die<br />

Gewerkschaften in einem starken sozialen und politischen<br />

Bündnis gegen die Abbaupolitik zusammenzuführen. Es<br />

war schlicht pathetisch zu sehen, wie die PP einerseits und<br />

die PSC und der ERC andererseits der CiU hofierten, um<br />

sich den Anschein verantwortungsbewusster Regierungsparteien<br />

zu geben, die angesichts der Wirtschafts- und<br />

Staatskrise zu einem breiten „Konsens“ bereit sind.<br />

<strong>Die</strong> CiU hat der Bevölkerung zudem immer wieder<br />

eingeimpft, die Kürzungen seien nicht gewollt, sondern<br />

die einzig mögliche Antwort auf den drohenden finanziellen<br />

Kollaps, der von einem ungerechten Finanzsystem<br />

aufgezwungen wird, das Katalonien auszuplündern droht.<br />

In höchstem Grad zynisch und heuchlerisch war es dann,<br />

<strong>als</strong> Mas-Collell die restliche Erbschaftssteuer auch noch<br />

abschaffte (die Steuer auf Vermögen von über 600 000 €!),<br />

aber gleichzeitig gesagt wurde, das vorhandene Geld reiche<br />

nicht einmal bis zum Monatsende, in einem Moment,<br />

wo die Regierung Kataloniens Krankenhausabteilungen<br />

schloss und die Löhne der Generalitat-Beamten kürzte.<br />

Wir wissen ja, Madrid raubt uns aus … Doch vielleicht<br />

raubt uns nicht nur Madrid aus: Artur Mas setzte dem<br />

Gesundheitsminister den Vorsitzenden aller Privatkrankenhäuser<br />

vor die Nase, um das öffentliche Gesundheitswesen<br />

abzubauen, um so seinem Bereich mehr Spielraum<br />

für Geschäfte zu verschaffen. <strong>Die</strong>ser Bereich wurde bereits<br />

bisher mit riesigen öffentlichen Transferzahlungen mit<br />

zweifelhaften gesetzlichen Grundlagen vollgepumpt (Enthüllungen<br />

der Genoss Innen der Zeitschrift Cafè amb Llet).<br />

Nichts vermag die Erklärungen von Artur Mas an<br />

Zynismus zu übertreffen, wenn er wegen „unausweichlicher<br />

Anpassungen“ beim Wohlfahrtsstaat Krokodilstränen<br />

vergießt (natürlich immer, wie könnte es anders sein, um<br />

diesen Wohlfahrtsstaat zu erhalten) oder wenn er seinen<br />

„Schmerz“ darüber zum Ausdruck bringt, dass man ihm<br />

10 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Katalonien<br />

vorwirft, öffentliche <strong>Die</strong>nste abzubauen, die doch „das<br />

Werk seiner Partei seien“. Dabei verschweigt er das Kräfteverhältnis<br />

in Katalonien am Ende der Franco-Diktatur<br />

und die relative Stärke der organisierten Arbeiter Innen-<br />

Bewegung jener Zeit.<br />

Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die gegenwärtige<br />

Krise für die CiU, die PP und alle anderen bürgerlichen<br />

Parteien in der EU ein fantastischer Vorwand ist,<br />

um weiter an der Schraube der neoliberalen Offensive vom<br />

Ende der 70er Jahre zu drehen, um so die sozialen und<br />

demokratischen Errungenschaften aus der Zeit nach der<br />

Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg wieder<br />

rückgängig zu machen. <strong>Die</strong> ideologische Hegemonie des<br />

Bürgertums (die meiner Ansicht nach ihre Kraft vor allem<br />

aus der politischen Schwäche ihrer Klassenfeinde schöpft),<br />

zeigt sich vor allem darin, dass es ihm gelungen ist, die<br />

Steuerfrage aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten,<br />

wenn sie nicht gerade – wie im Fall Kataloniens –<br />

gegenüber anderen bürgerlichen Fraktionen <strong>als</strong> Beschimpfung<br />

genutzt wird.<br />

Das Urteil des Obersten Gerichts zur Zweisprachigkeit<br />

hat ebenfalls geholfen, die Kämpfe gegen die Kürzungen<br />

im Bildungswesen zurückzudrängen zugunsten der<br />

gemeinsamen Front zur Verteidigung eines Sprachenmodells,<br />

das ein Staatsapparat wie wild in einer rückwärtsgewandten<br />

Entgleisung verfolgt, der in den Augen der<br />

katalanischen Gesellschaft klar in die Offensive gegangen<br />

ist. <strong>Die</strong>s ist vor allem deshalb dramatisch, weil damit eine<br />

Synergie zwischen den damaligen Kämpfen gegen die<br />

Kürzungen im Bildungsbereich in der Stadt Madrid und<br />

dem Protest gegen die ersten Kürzungen der CiU in Katalonien<br />

verhindert wurde. Damit wurde der Aufbau einer<br />

größeren Bewegung im <strong>ganze</strong>n Spanischen Staat gegen die<br />

Angriffe der PP in der Bildung und im Gesundheitswesen<br />

extrem erschwert.<br />

Hinzu kommt der Versuchsballon der PP für eine stärkere<br />

Zentralisierung des Staates (weil zu wenig Geld für<br />

die Regionen zur Verfügung stehe) und für das Spanischtum,<br />

von dem die von der Zentralregierung auf den Weg<br />

gebrachte Bildungsreform getränkt ist. <strong>Die</strong>s zeigt, weshalb<br />

die PP in Katalonien darauf hingearbeitet hat, dass hier<br />

eine wachsende Mehrheit für die Unabhängigkeit entsteht.<br />

Eine gerechtere Verteilung der Steuerflucht …<br />

Hier kommen wir nun zu einem grundlegenden Thema,<br />

zu einem Knotenpunkt, an dem viele Eckwerte der politischen<br />

Lage in Katalonien, Spanien und weltweit aufeinandertreffen.<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtige Krise der kapitalistischen<br />

<strong>Die</strong> CiU hat der<br />

Bevölkerung immer<br />

wieder eingeimpft, die<br />

Kürzungen seien die einzig<br />

mögliche Antwort auf den<br />

finanziellen Kollaps“<br />

Globalisierung straft bestimmte Sichtweisen eben dieser<br />

Globalisierung Lügen, die besagen, es handle sich dabei<br />

um einen Homogenisierungsprozess, in welchem sich nationale,<br />

staatliche und imperiale Konflikte auflösten und in<br />

dem das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit auf<br />

nationaler Ebene an Bedeutung verliere, weil die politische<br />

Macht unter dem zunehmenden Gewicht eines formlosen<br />

und universellen Kapitalismus angeblich ebenfalls an<br />

Bedeutung verliere. Sicher ist indes, dass das globalisierte<br />

Kapital und transnationale Zusammenschlüsse das zunehmend<br />

hierarchisierte Staatensystem und die interimperialistischen<br />

Spannungen mehr und mehr ersetzen, die sich<br />

<strong>als</strong> Folge veränderter geopolitischer und geoökonomischer<br />

Kräfteverhältnisse zwischen den alten herrschenden<br />

Mächten und den neuen aufstrebenden Mächten ständig<br />

erneuern. Was da auf internationaler Ebene geschieht,<br />

geschieht auch in der EU und im Spanischen Staat. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />

Krise führt zu einer Verschärfung sämtlicher<br />

Widersprüche. Ja mehr noch: Der Ausbruch des Schuldenbumerangs<br />

in der EU hat die neokoloniale Logik, mit<br />

welcher die Dritte Welt über drei Jahrzehnte ausgebeutet<br />

wurde, mitten in die EU verlagert. <strong>Die</strong>se Finanzmacht,<br />

noch verstärkt durch das neoliberale Konstrukt des Euro,<br />

den Stabilitätsplan und die Europäische Zentralbank, führt<br />

zu einer immer hierarchischeren politischen Macht. <strong>Die</strong>ses<br />

Herrschaftsverhältnis zwischen den entwickelteren und<br />

den weniger entwickelten Ländern der Europäischen Union<br />

zeigt sich immer deutlicher in den Memoranden, unter<br />

denen die Länder unter der Fuchtel der Troika zu leiden<br />

haben. <strong>Die</strong>se Anpassungsprogramme sind unumgänglich,<br />

soll der Absturz des europäischen Finanzsektors verhindert<br />

werden. Ideologisch werden sie von einer Schuldzuweisung<br />

an die Opfer begleitet. <strong>Die</strong>se Politik, die sich in den<br />

Worten „die Armen zahlen für die Krise“ zusammenfassen<br />

lässt (das Gegenteil dessen, was die antikapitalistische Linke<br />

vertritt), verlagert sich ebenfalls mitten in die Nation<strong>als</strong>taaten<br />

der EU. Sie hat in jenen Ländern schwerwiegen-<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 11


Katalonien<br />

dere Folgen, in denen die nationale Frage noch ungelöst<br />

ist. In diesem Sinn geht die Abbaupolitik, mit der sich die<br />

PP- und CiU-Regierungen und die übrigen konservativen<br />

Kräfte in der EU so sehr identifizieren, davon aus, dass die<br />

massive Verschuldung, in welche die Staaten wegen der<br />

Krise geraten sind – nach Jahrzehnten der Steuersenkungen<br />

für das Kapital und wegen der Rettung großer, ins<br />

Schlingern geratener Finanzgruppen –, abgebaut werden<br />

muss, indem die Staatseinnahmen reduziert und nicht<br />

erhöht und die bereits kargen Sozialleistungen und das<br />

öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen zerschlagen<br />

werden müssen. Einer der großen Widersprüche des Spanischen<br />

Staates besteht gerade darin, dass die Autonomie<br />

in der Krise ist, u. a. weil die autonomen Regionen das<br />

öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen verwalten,<br />

ihnen aber die konsolidierte Finanzierung fehlt, um diese<br />

Leistungen zu garantieren.<br />

Wie auch Vicenç Navarro 19 darauf hinweist, besteht<br />

eine der historischen Eigenschaften der EU-Mitgliedsländer,<br />

die gerettet wurden (oder gerade gerettet werden wie<br />

der Spanische Staat), darin, dass sich deren Bourgeoisien<br />

historisch mit autoritären und/oder faschistischen Regimes<br />

entwickelt haben. Im Vergleich zu den entwickelteren<br />

Ländern sind sie sehr niedrige Steuern gewohnt. Daraus<br />

sind große soziale Unterschiede entstanden, die die organisierte<br />

Arbeiter Innenbewegung geschwächt haben, und<br />

oligarchische Demokratien von sehr schlechter Qualität,<br />

die von der Finanz- und Medienmacht beherrscht werden.<br />

Trotz ihrer Besonderheiten entgeht selbstverständlich auch<br />

die katalanische Bourgeoisie dieser Charakterisierung<br />

nicht.<br />

Was bedeutet der Fiskalpakt der CiU in diesem Kontext<br />

des sozialen Rückschritts und der Hierarchisierung<br />

der Staaten, Regionen und Nationalitäten desselben Staates?<br />

(Auch die Ungleichheiten Norden-Süden sind in Italien<br />

oder im Spanischen Staat mit der Krise gewachsen. Das<br />

zeigt sich sehr deutlich an den Erwerbslosenzahlen.) Geht<br />

es ihr wirklich um eine Politik zur Erhöhung der Einnahmen<br />

der Generalitat, um so das soziale Modell Kataloniens<br />

zu bewahren? Was ist daran gerecht und solidarisch und<br />

was ist neoliberal und regressiv?<br />

Meiner Meinung nach sollte die antikapitalistische<br />

Linke in Steuerfragen von drei Prinzipien ausgehen:<br />

• Zur Wahrung des sozialen Zusammenhalts und zur<br />

Umverteilung des Reichtums muss mehr bezahlen, wer<br />

mehr hat. <strong>Die</strong>s gilt für Personen wie für die Territorien.<br />

• Es braucht Umverteilungsmechanismen zwischen den<br />

entwickelteren und den weniger entwickelten Territorien.<br />

• Wer mehr bezahlt und wer weniger bezahlt: Alle kommen<br />

grosso modo in den Genuss der gleichen <strong>Die</strong>nstleistungen.<br />

<strong>Die</strong>se werden damit zu universellen Rechten.<br />

Deshalb ist die Aussage korrekt, wonach Katalonien im<br />

Verhältnis zur Einwohnerzahl bei der staatlichen Zuteilung<br />

finanzieller Mittel und Investitionen benachteiligt<br />

wird. <strong>Die</strong>se Diskriminierung ist eine Revanche des Staatsapparates<br />

für den katalanischen Nationalismus. (Dessen<br />

Konsolidierung ist wiederum eine der historischen Folgen<br />

des Scheiterns der bürgerlichen Revolution in Spanien, da<br />

die Industriebourgeoisien weniger Einfluss auf den Staatsapparat<br />

besaßen <strong>als</strong> die Großgrundbesitzer und Finanzoligarchen.)<br />

Mit diesem objektiven Unrecht wird bis in alle Ewigkeit<br />

legitimiert, dass der konservative Nationalismus die<br />

soziale Unzufriedenheit für seine eigene neoliberale Politik<br />

einspannt und „Madrid“ systematisch die Schuld an<br />

seinem Abbau des öffentlichen Bereichs zuschiebt. <strong>Die</strong>se<br />

zwei Umstände bilden die ewige Quelle für die politische<br />

Hegemonie des konservativen Nationalismus über die<br />

Mittelschichten und selbst über breite Teile der Lohnabhängigen.<br />

Es gelingt dem konservativen Nationalismus damit,<br />

den Klassenkampf bis zu einem gewissen Grad in einen<br />

nationalen Konflikt umzuwandeln. Obwohl er starke<br />

politische und historische Wurzeln hat und von legitimen,<br />

unerfüllten nationalen und demokratischen Aspirationen<br />

lebt, lenkt er den Kampf gegen das Elend auf eine andere<br />

Ebene um. Damit umschifft er völlig, dass eigentlich eine<br />

Umverteilung des Reichtums in Katalonien und im Spanischen<br />

Staat durchgesetzt werden sollte.<br />

<strong>Die</strong> Idee war, dass die Generalitat alle Steuern direkt in<br />

Katalonien einzieht und verwaltet und dass sie danach dem<br />

Spanischen Staat jenen Teil weitergibt, der den <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

entspricht, die Katalonien von ihm erhält.<br />

Zusätzlich würde ein vage definierter Betrag in einen<br />

Solidaritätsfonds einbezahlt. Meiner Ansicht nach war es<br />

nicht das Hauptanliegen des Artur Mas, die Einnahmen<br />

der Generalitat zu erhöhen, um den Wohlfahrtsstaat zu<br />

erhalten oder zu verbessern. Es sollte vielmehr die steuerliche<br />

Belastung der katalanischen Steuerzahler Innen<br />

(und vor allem der Unternehmen) nach Belieben gesenkt<br />

werden können. Damit sollte verhindert werden, dass<br />

die katalanische Wirtschaft <strong>als</strong> Folge des Steuerdumpings<br />

in anderen Gebieten des Spanischen Staates wie Euskadi<br />

oder der Stadt Madrid ihre relative Konkurrenzfähigkeit<br />

verliert. Mit anderen Worten: Es wird Steuersouveränität<br />

angestrebt, um die Steuerflucht gerechter zu verteilen. Ich<br />

denke, dass die katalanische Regierung darauf spekulierte,<br />

12 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Katalonien<br />

katalanische Bourgeoise mit der nationalen und der Steuerfrage<br />

die Arbeiter Innen-Bewegung lähmen und spalten<br />

und die Linke übertönen konnte. Damit konnte sie einen<br />

solchen Grad an Hegemonie erreichen, dass die brutalen<br />

Kürzungen der CiU deren soziale und Wählerbasis nicht<br />

zu schwächen vermochten. Der Regierung von Artur Mas<br />

ist dies <strong>als</strong> erster in Europa gelungen.<br />

Es hört sich schon seltsam an, dass in einer Zeit, in der<br />

der wahre Klassen- und imperialistische Charakter der<br />

EU in seiner Brutalität offen zu Tage tritt, die katalanische<br />

Unabhängigkeitsbewegung in der EU die Retterin sieht.“<br />

dass mit der Abschaffung des sogenannten „Steuerdiebstahls<br />

an Katalonien“ die Einnahmen in etwa beibehalten,<br />

doch die Steuerlast hingegen drastisch gesenkt werden<br />

könne.<br />

Was die mächtigsten EU-Länder in der EU nicht wollen<br />

– nämlich eine Steuerharmonisierung nach oben und<br />

europäische öffentliche <strong>Die</strong>nste mit einem Umverteilungsmechanismus,<br />

um so die ungleiche Entwicklung innerhalb<br />

der EU auszugleichen – soll mit Vorschlägen wie dem<br />

Fiskalpakt des Mas schrittweise auch im Spanischen Staat<br />

abgebaut werden.<br />

Was sagt die Linke?<br />

Wie bereits erwähnt hat die politische, gewerkschaftliche,<br />

ja sogar die akademische und intellektuelle Linke<br />

dem breit ausgewalzten Vorschlag der CiU-Regierung<br />

für einen Fiskalpakt passiv zugeschaut. <strong>Die</strong> PSC hat sich<br />

schließlich dem Vorschlag nach kleinen Änderungen<br />

angeschlossen. <strong>Die</strong> ERC hat sich ihm mit jämmerlicher<br />

und unterwürfiger Begeisterung angeschlossen. <strong>Die</strong> ICV<br />

bat wohlerzogen darum, dass der Fiskalpakt von einem<br />

Sozialpakt zur Verteidigung des Wohlfahrtsstaates begleitet<br />

wird. <strong>Die</strong> Mehrheitsgewerkschaften verlangten drei<br />

Viertel von all dem … Leider hat es auch die Bewegung<br />

gegen die Kürzungen nicht verstanden, die Steuerdiskussion<br />

dazu zu nutzen, die beabsichtigte Steuersenkung <strong>als</strong><br />

Ursache für das Defizit und <strong>als</strong> Vorwand für Kürzungen<br />

anzuprangern. <strong>Die</strong> institutionelle Angeberei und die<br />

heilige Union haben sich einmal mehr durchgesetzt und<br />

die sozialen Widersprüche und die eigentliche Plünderung<br />

während der Ausarbeitung des erwähnten Fiskalpaktes<br />

wurden ausgeblendet. Nicht einmal die kritische Linke<br />

war – nicht einmal wir waren – in der Lage zu tun, was<br />

hätte getan werden müssen: alternative Kräfte und Ideen<br />

aufzubauen und operative Vorschläge zu machen, um die<br />

größeren aber zersplitterten Widerstandskerne, die sich<br />

gegen die Sparpolitik wehren, auf die politische Szene<br />

zu verlagern. <strong>Die</strong> logische Folge von all dem ist, dass die<br />

Ausgehend von den Erfahrungen mit den souveränen<br />

Volksbefragungen hat ein breites Spektrum von Kollektiven,<br />

Gruppierungen und sozialen Netzen die sogenannte<br />

Assemblea Nacional Catalana (ANC) 20 gegründet und versucht,<br />

symbolisch an die Assemblea de Catalunya 19 aus der<br />

Zeit des Widerstandes gegen das Franco-Regime <strong>als</strong> einer<br />

alternativen verfassunggebenden Versammlung anzuknüpfen.<br />

Bis jetzt unterstützt die ANC-Bewegung den Aufruf,<br />

möglichst viele Vollversammlungen sollen sich zu unabhängigen<br />

und freien Gemeinden erklären. Sie hat einen<br />

Steuerstreik angeregt – der von einigen Unternehmern in<br />

Girona befolgt wird – und einen großen Marsch für die<br />

Unabhängigkeit durchgeführt, der in der Großdemo an<br />

der Diada Diada (11. September, katalanischer Nationalfeiertag<br />

[A. d. R.]) gipfelte.<br />

<strong>Die</strong>se Bewegung tritt offen für die Proklamation<br />

eines unabhängigen Staates innerhalb der EU auf. Damit<br />

entsteht eine klassenübergreifende Unabhängigkeitsbewegung,<br />

die vom Kleinbürgertum hegemonisiert wird,<br />

mit einer messianischen Vision der Unabhängigkeit <strong>als</strong><br />

Allheilmittel zur Lösung aller Probleme der katalanischen<br />

Gesellschaft. Um dieser Bewegung beitreten zu können,<br />

muss lediglich die angestrebte Unabhängigkeit unterstützt<br />

werden, ohne weitere politische und soziale Anliegen.<br />

Es hört sich schon seltsam an, dass in einer Zeit, in der<br />

der wahre Klassen- und imperialistische Charakter der EU<br />

in seiner <strong>ganze</strong>n Brutalität offen zu Tage tritt und in der<br />

formell unabhängige Staaten wie Griechenland, Portugal<br />

oder Irland (der letzte Staat Westeuropas, der seine<br />

Unabhängigkeit erlangt hat) de facto dem Protektorat der<br />

Troika unterstehen, die katalanische Unabhängigkeitsbe-<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 13


Katalonien<br />

wegung in der EU die Retterin sieht, mit deren Hilfe eine<br />

„zivilisierte Trennung“ vom Spanischen Staat möglich sein<br />

soll. Dabei wird vergeblich gehofft, dass Katalonien ohne<br />

die Steuerlast besser dastehen würde, die sie heute wegen<br />

ihrer Zugehörigkeit zum Spanischen Staat zu entrichten<br />

hat. Durao Barroso hat sich bereits beeilt zu erklären, dass<br />

eine eventuelle Unabhängigkeit Kataloniens die Uhren der<br />

Schuld nicht auf null stellen würde und ohne Zustimmung<br />

der EU nicht möglich sei.<br />

<strong>Die</strong> CiU wurde an der Diada-Demo überbordet – von<br />

der sie vorgab, sie diene ausschließlich der Unterstützung<br />

ihres Fiskalpaktes. <strong>Die</strong> ANC hat zur Mobilisierung für die<br />

Unabhängigkeit den Pluralismus des politischen Katalanentums<br />

hochleben lassen, dabei aber andere legitime<br />

politische Souveränitäts- und Demokratiebestrebungen<br />

verschwiegen oder an den Rand gedrängt. An dieser<br />

Demo zeigte sich aber auch, dass die großen institutionellen<br />

Parteien und ihre Manöver klar auf Ablehnung stoßen.<br />

Vorgezogene Wahlen und<br />

„Selbst bestimmungsübung“<br />

Wie gesagt ist es der CiU dank einer offensichtlich populistischen<br />

Dynamik und dank dem Zerfall der PSC gelungen,<br />

ihre ultrakapitalistische Politik elegant hinter sich zu<br />

lassen. <strong>Die</strong> PSC bezahlt den Preis für ihre Treue zur Verfassung<br />

und ihre Unterordnung unter die PSOE, einer der<br />

starken Säulen des spanischen Regimes. <strong>Die</strong> Polarisierung<br />

in der Frage des Referendums über die Selbstbestimmung<br />

wurde zur Hauptachse der katalanischen Politik. <strong>Die</strong>s<br />

machte jede Art von Koalition unmöglich, die eine Gefahr<br />

für die absolute Mehrheit der CiU hätte werden können.<br />

Nun kommt es darauf an, was in der Unabhängigkeitswelt<br />

geschieht: entweder kommt es zu einem der CiU<br />

unterstellten patriotischen Block oder es wird ein Bündnis<br />

mit der Klassenlinken angestrebt, um den konsequenten<br />

Kampf gegen die kapitalistische Offensive anzustoßen.<br />

In diesem Kontext sollte die antikapitalistische Linke für<br />

eine möglichst breite Einheit der Klassenlinken und der<br />

Linken, die die Unabhängigkeit anstrebt, eintreten, um<br />

die Sparpolitik zu bekämpfen und um mit dem Regime zu<br />

brechen. So kann eine Dynamik der „Regierung der nationalen<br />

Einheit“ verhindert werden, wie sie von der Solidaritat<br />

de la Independència 21 offen oder von der Assemblea<br />

Nacional Catalana indirekt postuliert wird. Sie wäre für<br />

das Klassenbewusstsein eine Katastrophe und die katalanische<br />

Arbeiter Innen-Bewegung ginge in Richtung einer<br />

Front, die für die Verfassung und für die Unabhängigkeit<br />

eintritt. Damit entstünden soziale Brüche (aufgrund der<br />

Herkunft und/oder Muttersprache der Bevölkerung), die<br />

von Reaktionären aller Couleur leicht manipuliert werden<br />

könnten.<br />

Zweifellos ist die in Katalonien entstandene politische<br />

Dynamik für den Spanischen Staat einen Destabilisierungsfaktor<br />

ersten Ranges. Deren Ausgang ist äußerst<br />

ungewiss. In diesem Kontext sollten die katalanische und<br />

spanische Linke die Konjunktur dazu nutzen, um neue republikanische<br />

und solidarische Szenarien zu entwickeln, in<br />

denen mit Respekt und in gegenseitigem Einvernehmen<br />

eine Zusammenarbeit angestrebt wird, die nicht von Ressentiments<br />

und Misstrauen geprägt sein darf, wie sie von<br />

den jeweiligen Leitungen jeweils gesät werden. <strong>Die</strong> Forderung<br />

nach Unabhängigkeit darf weder abgelehnt noch<br />

fetischisiert werden. Sie sollte nicht abgelehnt werden, weil<br />

ein Großteil der Bevölkerung mit den Finanztransaktionen<br />

des konservativen Nationalismus brechen will. Sie<br />

sollte auch nicht fetischisiert werden, weil sie in gewissem<br />

Sinn demagogisch ist, man denke bloß an die politische Situation<br />

in Südeuropa. <strong>Die</strong> entstandene politische Dynamik<br />

birgt auch populistische Gefahren, die den Wiederaufbau<br />

der sozialen Bewegung und die notwendige Neuzusammensetzung<br />

der Arbeiter Innen-Bewegung nicht nur in<br />

Katalonien sondern im <strong>ganze</strong>n Spanischen Staat behindern<br />

oder sogar im Keim ersticken könnten.<br />

Aus all diesen Gründen sollte die Diskussion über<br />

eine mögliche katalanische Syriza wieder aufgenommen<br />

werden. Eine solche Gruppierung hat aber nur dann einen<br />

Sinn, wenn folgende drei Ideen aufgenommen werden:<br />

• Ziel sollte es sein, die verschiedenen Widerstandskerne<br />

gegen die Kürzungen maximal zu stärken und zu organisieren.<br />

Jede Art von sozialliberaler Regierung oder die<br />

Begleitung einer solchen muss abgelehnt werden.<br />

• Man sollte sich darauf konzentrieren, das Regime von<br />

einer republikanischen Warte aus zum Verschwinden<br />

zu bringen. Dabei darf der Aufbau einer katalanischen<br />

Republik nicht der Unterstützung der republikanischen<br />

Bewegungen für eine andere Verfassung im übrigen<br />

Spanischen Staat entgegengesetzt werden, für die dieser<br />

Tage mit großer Energie und Kampf bereitschaft in Madrid<br />

mobilisiert wird.<br />

• <strong>Die</strong> Unabhängigkeit und der Pluralismus der sozialen<br />

und gewerkschaftlichen Bewegungen müssen peinlich<br />

genau respektiert werden.<br />

In der heutigen Situation wäre es das schlechtestmögliche<br />

Szenario, wenn die antikapitalistische Linke zum<br />

Anhängsel der antiliberalen Linken oder der die Unabhängigkeit<br />

anstrebenden Linken würde. Das würde sie daran<br />

14 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Katalonien<br />

hindern, soziale und nationale Forderungen aufzustellen.<br />

Damit würde ein Keil zwischen die soziale Basis der Lohnabhängigen<br />

in den großen Städten und die Bauern und die<br />

Landbevölkerung getrieben. Wenn kein großer sozialer,<br />

alternativer Block aufgebaut wird wie im Widerstand gegen<br />

die Franco-Diktatur, wird die katalanische Bourgeoisie<br />

trotz wiederkehrender Überbordungen weiterhin über<br />

ein weites Manövrierfeld verfügen, um die Kontrolle über<br />

die politische Situation zu behalten. 4. September 2012<br />

18 Vicenç Navarro, ehem. PSOE-Mitglied, lehrte <strong>als</strong> Professor<br />

in den USA, seit 10 J. Professor für Politikwissenschaften<br />

an der Universität Barcelona, gegenüber der neoliberalen<br />

Politik kritisch eingestellt, steht Attac nahe.<br />

19 Katalanische Nationalversammlung<br />

20 Katalanische Versammlung<br />

21 Solidarität der Unabhängigkeit<br />

Andreu Coll ist Mitglied der Revolta<br />

Global-Esquerra Anticapitalista, Sektion der Vierten Internationale<br />

im Spanischen Staat.<br />

•Übersetzung und Bearbeitung: Ursi Urech<br />

1 Erste Dreiparteienkonferenz. El Tripartito ist der Name der<br />

katalanischen Koalitionsregierung, der drei Parteien angehören:<br />

Partido Socialista de Catalunya (PSC), Esquerra Republicana<br />

de Catalunya (ERC) (Republikanische Linke Kataloniens)<br />

und Iniciativa per Catalunya verds (ICV) (Initiative für<br />

ein grünes Katalonien)<br />

2 Estatut de Catalunya<br />

3 Partido Socialista Obrero Español (Sozialdemokratische Partei<br />

Spaniens)<br />

4 Konvergenz und Einheit. Sie ist die stärkste Partei Kataloniens.<br />

5 Republikanische Linke Kataloniens<br />

6 Sitz der Zentralregierung in Madrid<br />

7 Gleiche Regierung und gleiche Zusammensetzung wie<br />

unter 1. Nur deren Namen wurde geändert.<br />

8 Spanischer Hochgeschwindigkeitszug, entspricht dem TGV<br />

in Frankreich<br />

9 nationale Eisenbahngesellschaft Spaniens<br />

10 Inzwischen ist die Privatisierung der RENFE in ADIF-<br />

RENFE beschlossene Sache. <strong>Die</strong> RENFE wurde wie folgt<br />

aufgeteilt: RENFE = Züge, ADIF = Infrastruktur<br />

11 Candidatures d’Unitat Popular (CUP) (Volksfront-Kandidaturen)<br />

Wahlbündnis aus Parteien der unabhängigen Linken,<br />

vergleichbar mit dem Sinn Fein Nordirlands<br />

12 wird mit der Zentralregierung immer wieder neu verhandelt.<br />

13 neues Finanzierungsmodell: Katalonien würde die Steuern<br />

erheben und einen Teil davon an den Zentr<strong>als</strong>taat weiterleiten.<br />

Im Baskenland funktioniert das heute schon so.<br />

14 Ciutadans, eine Partei, die sich auf Lerroux bezieht, ein<br />

Populist aus der 2. Republik, der gegen eine Autonomie Kataloniens<br />

war. Er entwickelte sich immer mehr nach rechts und<br />

schloss sich schließlich Franco an. Er ist bei den Landarbeitern<br />

auf großes politisches Echo gestoßen.<br />

15 Iniciativa per Catalunya verds (ICV (Initiative für ein<br />

grünes Katalonien) und Esquerra Unida i Alternativa (EUiA<br />

(Vereinigte und alternative Linke). Ist kämpferischer <strong>als</strong> ICV.<br />

Waren eine einzige Partei, die sich inzwischen gespalten hat.<br />

16 Jetziger spanischer Ministerpräsident (PP)<br />

17 Bei diesem Zweisprachensystem wird das Katalanische<br />

bevorzugt.<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 15


Griechenland<br />

ANTIKAPITALISTISCH<br />

AUS DER KRISE?<br />

Griechenland steht wegen der fortgesetzten, hemmungslosen Angriffe der<br />

EU- und IWF-Eliten, aber auch der einheimischen Bourgeoisie, auf<br />

die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu Recht weiter im<br />

Mittelpunkt des internationalen Interesses. Für die weltweite<br />

Linke stellt sich die Frage, ob Griechenland einen Ausweg aus der Krise<br />

im antikapitalistischen Sinn finden kann.<br />

Andreas Kloke<br />

•<br />

Wegen der im Mai und Juni 2012 von<br />

SYRIZA erzielten Wahlerfolge und seiner daraus resultierenden<br />

führenden Rolle innerhalb der griechischen Linken<br />

ist es verständlich, dass sich das Augenmerk der internationalen<br />

fortschrittlichen Öffentlichkeit gerade auf diese<br />

Partei bzw. Allianz konzentriert. SYRIZA hat vom 30.11.<br />

bis 2.12.2012 einen Parteikongress abgehalten, auf dem die<br />

Konturen der gegenwärtigen Parteilinie naturgemäß noch<br />

deutlicher hervorgetreten sind.<br />

DEA („Internationalistische Arbeiter-Linke“), eine<br />

Organisation, die aus einer Abspaltung von SEK, der<br />

griechischen Organisation der IST, hervorgegangen ist und<br />

seit seiner Gründung 2004 SYRIZA angehört, Kokkino<br />

(„Rot“), eine Abspaltung von DEA, und APO, eine<br />

kleinere Abspaltung von Kokkino, sowie KEDA, eine<br />

Gruppe, die von in den vergangenen Jahren aus der KPG<br />

Ausgeschlossenen geführt wird, sind Bestandteile von SY-<br />

RIZA. In der Vergangenheit deckten diese Organisationen<br />

letztlich alle Manöver der Führung (deren es viele gab) „von<br />

links“, d. h. mit linken Argumentationen und entsprechendem<br />

Vokabular. Zusammen mit der nicht unbedeutenden<br />

„Linken Strömung“ der SYN-Partei bilden sie nun die<br />

„Linke Plattform.“ <strong>Die</strong> Linke Strömung befürwortet den<br />

Ausstieg aus dem Euro und der EU, hat aber beträchtliche<br />

Illusionen in den „parlamentarischen Weg“ zum Sozialismus,<br />

natürlich ohne den Anspruch, die Institutionen des<br />

bürgerlichen Staates infrage zu stellen. <strong>Die</strong> neue Linke<br />

Plattform ist eine Art Errungenschaft für die kleineren<br />

halb-trotzkistischen Gruppen, bedeutet aber auch eine Anpassung<br />

an klar linksreformistische Ideen und Konzepte.<br />

Ein Autor von DEA hat kürzlich einen Bericht zum<br />

SYRIZA-Kongress in englischer Sprache vorgelegt 1 . <strong>Die</strong><br />

vier in diesem Bericht erwähnten essenziellen Punkte der<br />

Linken Plattform seien hier zitiert:<br />

• „SYRIZA muss weiterhin daraufhin orientiert bleiben,<br />

eine ‚Regierung der Linken’ mit Appellen an die<br />

16 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Griechenland<br />

Kommunistische Partei und ANTARSYA zur Zusammenarbeit<br />

zustande zu bringen.<br />

• SYRIZA sollte nur eine ‚Regierung der Linken’<br />

akzeptieren und jede Koalitionsregierung, die bürgerliche<br />

Parteien mit einschließt, ablehnen.<br />

• <strong>Die</strong> Regierungskoalition muss weiterhin auf der sofortigen<br />

Beendigung der Schuldenrückzahlungen bestehen<br />

und zugunsten des Euro sollten keinerlei Opfer gebracht<br />

werden.<br />

• SYRIZA muss für die Umkehrung der Sparpolitik<br />

einstehen, welche Mittel dafür auch immer notwendig sein<br />

mögen und die Bedürfnisse der Arbeiter Innen über die ‚realistischen’<br />

Vorschläge, den Bedürfnissen des Kapitalismus<br />

zu entsprechen, stellen.“<br />

Schwachpunkte der Linken Plattform<br />

Kaum zu übersehen ist, dass die „vier Punkte" der Linken<br />

Plattform programmatisch sehr schwach sind. <strong>Die</strong> Aussicht<br />

auf eine „Regierung der Linken“ bedeutet eine parlamentarische<br />

Orientierung im Rahmen des bestehenden<br />

Systems. Abgesehen davon ist bekannt, dass sich die KPG<br />

(KKE) absolut gegen eine Koalition mit SYRIZA ausspricht.<br />

Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass ANTAR-<br />

SYA selbst für den Fall, dass sie im Parlament vertreten ist,<br />

die im Wesentlichen „linkskapitalistische“, „ein wenig“<br />

(nicht zu sehr) keynesianische Orientierung der Tsipras-<br />

Führung unterstützt, die gerade die „fantastischen“ wirtschaftlichen,<br />

sozialen und politischen „Errungenschaften“<br />

der Mitte-Links-Regierungen da Silvas („Lulas“) und<br />

Kirchners in Brasilien und Argentinien entdeckt hat.<br />

Tsipras verspricht auch weiterhin die Abbezahlung<br />

der Schuldenlast. „Wir sind keine Batachtsides“ (Leute,<br />

die ihre Schulden nicht zurückbezahlen), wie er schon im<br />

September feierlich erklärte. Daher kann sich jedermann<br />

ausmalen, was für eine Art von Politik man in Griechenland<br />

im Falle einer von SYRIZA geführten Regierung<br />

haben wird. Sie wird nichts anderes bedeuten <strong>als</strong> den<br />

Versuch, den griechischen Kapitalismus, im Rahmen des<br />

Weltkapitalismus, versteht sich, „von links“ zu retten. Es<br />

ist unschwer vorherzusagen, dass dies zu einem kompletten<br />

Desaster für eine solche „Links-Regierung“ selbst und vor<br />

allem für die betroffenen Arbeiter Innen und den Großteil<br />

der Bevölkerung führen wird. Es ist völlig unverantwortlich,<br />

diese extrem rechte Linie der Tsipras-Führung nicht<br />

bereits jetzt auf das Schärfste zu kritisieren.<br />

Stattdessen räsoniert die Linke Plattform weiterhin herum<br />

und redet davon, SYRIZA solle sich nicht „nach rechts<br />

bewegen“, und „jede Wendung in Richtung einer eher<br />

Griechenland<br />

Einwohner:<br />

BIP pro Einwohner 2012:<br />

11.3 Mio.<br />

25 343 € (kaufkraftbereinigt);<br />

Erwerbslosenrate 2013: laut IWF 25,3 %<br />

zum Vergleich Deutschland: 38 696 €<br />

Wirtschaft: mehr <strong>als</strong> Dreiviertel der Wirtschafts -<br />

Radikale Linke:<br />

Athen<br />

leistung entstehen im <strong>Die</strong>nstleistungs-<br />

sektor: Tourismus, Handel, Finanz-<br />

dienstleistungen, Schifffahrt …<br />

Antarsya (Antikapitalistische Linke für<br />

den Umsturz) ist ein Bündnis von 10<br />

revolutionären Organisationen. Das<br />

kurzprogramm der Antarsya findet<br />

sich auf Deutsch unter: http://tinyurl.<br />

com/ccqh798<br />

OKDE-Spartakos (Organisation<br />

kommunistischer Internationalisten<br />

Griechenlands; www.okde.org) ist<br />

die griechische Sektion der<br />

IV. Internationale und Mitglied von<br />

Antarsya.<br />

gemäßigten oder sonstigen Verschiebung von SYRIZAs<br />

politischer Linie“ werde „auf heftigen internen Widerstand<br />

stoßen (!)“. Starke Worte, aber was besagen sie in einer<br />

Situation, wo sich der Kurs der SYRIZA-Führung schon<br />

in fast unglaublicher Weise nach rechts verschoben hat?<br />

Es handelt sich um nichts anderes <strong>als</strong> Schönfärberei und<br />

sollte charakterisiert werden <strong>als</strong> das, was es ist, nämlich ein<br />

untauglicher Versuch, den Rechtsschwenk der Führung<br />

zu vertuschen. Und natürlich bedeutet diese Haltung, die<br />

Hoffnungen und Erwartungen von Millionen von Menschen,<br />

die sich eine wirkliche Abwehr und einen Stopp der<br />

furchtbaren und unaufhörlichen Attacken von Regierung<br />

und Troika herbeisehnen, auf höchst zweifelhafte Weise zu<br />

hintergehen. Es sollte klar sein, dass sich diese notwendige<br />

Kritik nicht einfach auf eine „taktische Frage“ bezieht.<br />

Zu den „vier Punkten“ der Linken Plattform wäre zu<br />

bemerken, dass die ersten beiden Punkte, die „Regierung<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 17


Griechenland<br />

der Linken“ und die Weigerung, „bürgerliche Parteien“<br />

in eine solche Regierung aufzunehmen, fast identisch<br />

sind. <strong>Die</strong>se beiden Punkte schweigen sich jedoch über die<br />

schlichte Wahrheit, dass eine SYRIZA-geführte Regierung<br />

selbst eine „linksbürgerliche“ Regierung wäre (oder<br />

sein wird), aus. Der dritte Punkt besagt, dass „die Regierungskoalition<br />

weiterhin auf der sofortigen Beendigung<br />

der Schuldenrückzahlungen bestehen“ muss und „zugunsten<br />

des Euro keinerlei Opfer gebracht werden“ sollten.<br />

Jeder, der die Entwicklungen verfolgt, weiß, dass die<br />

Tsipras-Mehrheit keinerlei Absicht hat, die Abbezahlung<br />

der Schulden zu stornieren. (...)<br />

Der vierte Punkt, SYRIZA müsse „für die Umkehrung<br />

der Sparpolitik einstehen, welche Mittel dafür auch<br />

immer notwendig sein mögen und die Bedürfnisse der<br />

Arbeiter Innen über die ‚realistischen’ Vorschläge, den<br />

Bedürfnissen des Kapitalismus zu entsprechen, stellen“, ist<br />

reines Wunschdenken der Autor Innen. Er bedeutet eine<br />

Abdeckung der politischen Linie der SYRIZA-Mehrheit,<br />

die im Grunde in einer Verquickung von neoliberalen<br />

und keynesianischen Ideen und Konzepten besteht, von<br />

„links“. Tatsächlich sind die politische Substanz und der<br />

programmatische Gehalt der vier Punkte äußerst dünn.<br />

Hinzuzufügen wäre, dass die Organisationen und<br />

Gruppen, die angeblich links von der SYN-Partei angesiedelt<br />

sind, insbesondere die maoistische KOE („Kommunistische<br />

Organisation Griechenlands“), gleichzeitig<br />

die größte Organisation, die außer SYN an SYRIZA<br />

teilnimmt, sowie die links-eurokommunistische AKOA,<br />

die „Gruppe Rosa“ und andere die Tsipras-Führung unterstützen<br />

und sich geweigert haben, der Linken Plattform<br />

beizutreten. Fairerweise sollte man zugeben, dass ihr Verhalten<br />

<strong>als</strong> eine Kapitulation vor der SYN-Mehrheit ehrlicher<br />

war <strong>als</strong> das der Linken Plattform. Es handelt sich aber<br />

offensichtlich um einen Versuch, SYRIZA nach der in<br />

den Wahlmonaten im Frühjahr offenkundig gewordenen<br />

Rechtswende zu stabilisieren. Knapp 26 % der Stimmen<br />

für die Linke Plattform sehen wie ein zufriedenstellendes<br />

Ergebnis für eine Minderheit aus, bedeuten aber in Wirklichkeit,<br />

dass alle Versuche, SYRIZA zu „revolutionieren“<br />

oder auch nur ansatzweise nach links zu verschieben,<br />

gescheitert sind.<br />

Je mehr die SYRIZA-Führung der Meinung ist, dass<br />

sie auf die Übernahme der Regierungsverantwortung<br />

zusteuert (oder dies eventuell auch tatsächlich der Fall ist),<br />

desto entschlossener rückt sie nach rechts und lässt keinen<br />

Zweifel daran, dass sie den Eliten in der EU und weltweit<br />

ein zuverlässiger Partner und vor allem ein „Garant des<br />

Euro“ sein wird, koste es, was es wolle. Innenpolitisch<br />

drückt sich das so aus, dass auf eine verstärkte Zusammenarbeit<br />

mit der KPG oder ANTARSYA kein besonderer<br />

Wert mehr gelegt wird. Eine Regierungskoalition mit<br />

den gegenwärtigen Regierungsparteien oder möglichen<br />

Abspaltungen von DIMAR oder sogar PASOK wird<br />

keineswegs ausgeschlossen, sondern offenbar angestrebt.<br />

SYRIZA erhält damit zunehmend und immer offener ein<br />

Profil, das man in früheren Zeiten <strong>als</strong> „klassisch sozialdemokratisch“<br />

definiert hätte.<br />

<strong>Die</strong> Schlussfolgerung wäre, dass die Linke Plattform<br />

nicht etwa einen „zentristischen“ Einigungsversuch<br />

gegenüber einer reformistischen SYRIZA-Mehrheit,<br />

sondern ein „linkes“ Feigenblatt der offen pro-kapitalistischen<br />

politischen Konzepte der Tsipras-Führung darstellt.<br />

Dabei könnte eine Unterscheidung vorgenommen<br />

werden: <strong>Die</strong> Linke Strömung in der SYN-Partei, die zum<br />

Großteil aus der KPG stammt, war von Beginn an, d. h.<br />

seit 1991, der linke Flügel einer ehem<strong>als</strong> eurokommunistischen<br />

und jetzt im Grunde „links“-sozialdemokratischen<br />

Partei, und ist in diesem Sinn „ehrlich“ und ihrem Verständnis<br />

politischer Konzepte „treu“ geblieben.<br />

Der Fall der Organisationen mit revolutionärem<br />

Anspruch ist etwas anderes: <strong>Die</strong>se Gruppen werden mehr<br />

und mehr in die fraktionellen Auseinandersetzungen einer<br />

reformistischen Partei (oder Allianz) integriert, ohne in<br />

der Lage zu sein, die bürokratische Führung aus einer<br />

politisch und programmatisch fundierten Perspektive zu<br />

kritisieren. Wie auch immer, in der Tat kritisieren sie nicht<br />

sehr viel.<br />

<strong>Die</strong> wirkliche Alternative<br />

Es ist daher unmöglich, SYRIZA „auf revolutionärer<br />

Basis“ beizutreten und entsprechende politische Arbeit<br />

zu leisten, wie es von verschiedenen Organisationen dem<br />

eigenen Anspruch nach praktiziert worden ist oder weiter<br />

unternommen wird. Derartige Versuche in SYRIZA bedeuten<br />

im Wesentlichen nur, den notwendigen Kampf für<br />

eine wirklich antikapitalistisch-revolutionäre Alternative<br />

zum (linken) Reformismus in Griechenland aufzugeben.<br />

Das ist auch der Grund, warum OKDE-Spartakos (griech.<br />

Sektion der IV. Internationale) sich weiter dafür einsetzt,<br />

die antikapitalistische Allianz ANTARSYA durch die<br />

Methodik des Übergangsprogramms, das an den Erfordernissen<br />

unserer Zeit orientiert ist, auf eine revolutionärmarxistische<br />

Perspektive auszurichten. Vier Kernforderungen<br />

dieses Ansatzes sind:<br />

• Stopp und Annullierung aller Schuldenzahlungen,<br />

18 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Griechenland<br />

• die Verstaatlichung der Banken und Großunternehmen<br />

unter Arbeiter Innen-Kontrolle, was<br />

• unter den gegenwärtigen Bedingungen zwangsläufig<br />

den Austritt (oder das Ausscheiden) aus der Euro-Zone<br />

und der EU bedeutet (ob es uns nun gefällt oder nicht) und<br />

• die Durchführung eines Programms für öffentliche<br />

Arbeiten, das die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit<br />

und der zunehmenden Verelendung in Angriff nimmt.<br />

Natürlich macht dies alles nur in einer radikalen, internationalistischen<br />

Perspektive Sinn, <strong>als</strong> Beginn der sozialistischen<br />

Umwälzung in Europa.<br />

Dennoch ist natürlich nicht zu verkennen, dass Millionen<br />

von Menschen ihre Hoffnung in SYRIZA und<br />

die Aussicht setzen, eine „linke Regierung“ könne die<br />

Situation tatsächlich zu ihren Gunsten verändern. Sie tun<br />

das allerdings <strong>als</strong> „Wähler Innen“ und nicht so sehr <strong>als</strong><br />

Unterstützer Innen der Widerstandsbewegung. Auf den<br />

Straßen, in den Streiks und bei den Demonstrationen, in<br />

den aktiven antifaschistischen Komitees ist der Einfluss<br />

von SYRIZA sehr begrenzt und man kann ohne weiteres<br />

feststellen, dass die kämpferische Präsenz der KPG, von<br />

ANTARSYA und anderen antikapitalistischen Organisationen,<br />

bei den antifaschistischen Aktivitäten teilweise<br />

auch der Autonomen und Anarchist Innen, stärker ist <strong>als</strong><br />

die von SYRIZA.<br />

Instabilität der Situation<br />

2011 war das Jahr der aufsteigenden Widerstandsbewegung<br />

gegen die Memorandum-Politik, 2012 herrschten Hoffnungen<br />

auf einen „friedlichen Wandel“ durch Parlamentswahlen<br />

vor. Aber 2012 war auch das Jahr, das den Aufstieg<br />

der Nazihorde „Goldenes Morgenrot“ (GM) erlebte.<br />

Meinungsumfragen zufolge liegt sie derzeit bei rund 10 %.<br />

Deshalb bleibt die Situation weiterhin sehr instabil, die<br />

Politik der neuen Dreiparteienregierung wird zwangsläufig<br />

scheitern, aber die herrschende Klasse verfügt neben<br />

diesen Parteien über keine politischen Reserven mehr und<br />

setzt mehr und mehr auf autoritäre Repressionsmethoden<br />

eines Polizeistaates. <strong>Die</strong> Polizei deckt weitgehend offen die<br />

Aktivitäten von GM, immer mehr Menschen werden in<br />

Arbeitslosigkeit und Verzweiflung getrieben. Ein Ausweg<br />

oder echte Lösungen sind nicht in Sicht.<br />

Ein Aufschwung der Widerstandsbewegung und letztlich<br />

ein Aufstand vergleichbar mit dem „Argentinazo“ im<br />

Jahr 2001 sind die einzige Aussicht, die den Weg für eine<br />

wirklich antikapitalistische Lösung ebnen und die Machtfrage<br />

durch das Erscheinen von selbstorganisierten Komitees<br />

in den Unternehmen, in Krankenhäusern, Schulen<br />

und Universitäten, aber auch in den Städten und Kommunen<br />

stellen und so die verfaulte bürgerliche Demokratie<br />

und die repressiven Staatsorgane herausfordern könnte.<br />

<strong>Die</strong> Besetzung staatlicher Gebäude sowie von Fabriken<br />

und Büros, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten<br />

und ein unbefristeter Gener<strong>als</strong>treik gehören zum geeigneten<br />

Repertoire der Kampfmaßnahmen. Nur auf diesem<br />

Weg wird sich eine reale antikapitalistische und sozialistische<br />

Lösung der Krise vollziehen können. Gleichzeitig<br />

besteht die Gefahr, dass sich die Konterrevolution, in welcher<br />

Form auch immer, durchsetzt. Das instabile soziale<br />

und politische Gleichgewicht, das seit der Verhängung der<br />

Memoranden existiert, wird nicht ewig andauern können.<br />

Das taktische Instrument, das der antikapitalistischrevolutionären<br />

Linken zur Verfügung steht, um breitere<br />

Schichten von dieser Kampfperspektive zu überzeugen, ist<br />

die Einheitsfront. Es wird notwendig sein, gemeinsam mit<br />

SYRIZA und KPG und ihren Unterstützer Innen, wo immer<br />

es möglich ist, die kapitalistische, rassistische, zutiefst<br />

antidemokratische Memorandum-Politik abzuwehren.<br />

Ebenso entscheidend ist, dass neue Schichten von Arbeiter-<br />

Innen, Jugendlichen und Immigrant Innen aufwachen und<br />

bereit sind, sich aktiv an den Kämpfen zu beteiligen. Es<br />

gibt keinen anderen Ausweg, keine andere Rettung. Im<br />

Moment kann niemand sagen, wann und unter welchen<br />

Umständen dies geschehen wird. <strong>Die</strong> antikapitalistische<br />

und revolutionäre Linke hat keine andere Wahl, <strong>als</strong> ihre<br />

Kräfte auf diese Perspektive zu orientieren.<br />

Der antikapitalistischen Linken in Europa und der<br />

<strong>ganze</strong>n Welt würde es gut anstehen, SYRIZA gegenüber<br />

eine wirklich kritische Einstellung einzunehmen, da die<br />

Förderung von Illusionen nicht nur die notwendigen<br />

Kämpfe in Griechenland, sondern auch den Aufbau der<br />

antikapitalistisch-revolutionären Linken auf internationaler<br />

Ebene behindert.<br />

Andreas Kloke ist Leitungsmitglied<br />

der OKDE-Spartakos, der griechischen Sektion der IV.<br />

Internationale und regelmäßiger Korrespondent für deren<br />

internationale Organe.<br />

•Übersetzung: Name Vorname<br />

1 auf Englisch nachzulesen bei: http://socialistworker.<br />

org/2012/12/19/where-is-syriza-headed<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 19


Demo in Solidarität mit dem Aufstand in Tunesien in Austin, USA (Foto: Artem Nezvigin, flickr.com)


Tunesien<br />

Regierung<br />

unter<br />

Druck<br />

Mit dem Sturz der alten Diktatur in Tunesien wurden die sozialen<br />

Probleme nicht geringer. Steht eine erneute Machtprobe bevor und wer<br />

sind die Akteure? Dominique Lerouge führte zu diesen Fragen<br />

ein Interview mit Jalel Ben Brik Zoghlami<br />

Was hat sich zwei Jahre nach dem „arabischen<br />

Frühling“ getan?<br />

Jalel Ben Brik Zoghlami: Es ging in dem revolutionären<br />

Prozess um Würde, Freiheit und soziale Gerechtigkeit.<br />

Was sich grundlegend geändert hat, ist das Verhältnis der<br />

Bevölkerung und namentlich der abhängigen Klassen zu<br />

den Mächtigen und ihrer Politik. Das Volk hat die Diktaturen<br />

verjagt – in Tunesien und anderen arabischen Ländern.<br />

Was Tunesien von ihnen unterscheidet, ist zweierlei.<br />

Erstens die spezifische Geschichte mit einer starken und<br />

gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, einer Linken,<br />

die bei der Bevölkerung und den Arbeitern Einfluss<br />

und eine gewisse Tradition hat, und einer vergleichsweise<br />

emanzipierten Stellung der Frau. <strong>Die</strong> zweite Besonderheit<br />

rührt aus den Wahlen vom Oktober 2011. <strong>Die</strong>se haben<br />

einerseits zu der islamistisch dominierten Ennahda-<br />

Regierung geführt, andererseits zu einer Fortsetzung der<br />

Kämpfe und Mobilisierungen von unten, da die zentralen<br />

Forderungen der Revolution unberücksichtigt bleiben.<br />

<strong>Die</strong>se Gemengelage eröffnet eine neue Phase des revolutionären<br />

Prozesses, die durch die Reorganisierung der<br />

Basis-, Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegungen bestimmt<br />

wird. <strong>Die</strong>se stehen in totaler Konfrontation zu der fundamentalistischen,<br />

neoliberalen Regierung, die auf politische<br />

Hilfe seitens der USA, EU und Katars angewiesen ist.<br />

Wir befinden uns an einem Scheidepunkt, wo entweder<br />

der revolutionäre Prozess liquidiert wird oder – durchaus<br />

mögliche – Fortschritte in Richtung einer demokratischen<br />

und antiimperialistischen Regierung des Volkes errungen<br />

werden.<br />

Auch wenn gegenwärtig die Ennahda an der Regierung<br />

ist, heißt das nicht, dass sie die Arbeiterklasse, die<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 21


Tunesien<br />

arbeitslosen Jungakademiker Innen, Studierenden, Frauen,<br />

Bewohner Innen in vernachlässigten Regionen und<br />

Elendsvierteln, Künstler, Bauern, Mittelständler etc. unter<br />

Kontrolle hätte. Ganz im Gegenteil – hier gibt es einen<br />

starken Wiederaufschwung der Mobilisierungen in verschiedenen<br />

Bereichen.<br />

Was hat sich in Tunesien hinsichtlich<br />

demokratischer Freiheiten geändert?<br />

Wir haben das Recht auf freie Meinungsäußerung und<br />

Organisierung errungen. <strong>Die</strong>se Rechte wurden de facto<br />

durchgesetzt ohne vorhergehende rechtliche Verankerung.<br />

Unter der Vorgängerregierung ist das Land verschiedenen<br />

internationalen Konventionen beigetreten, die besonders<br />

die Frauen- und demokratischen Rechte betreffen.<br />

Wahllisten müssen bspw. paritätisch besetzt werden. <strong>Die</strong>se<br />

Forderung, die vorrangig von der Frauenbewegung, der<br />

UGTT und den linken Parteien getragen wurde, musste<br />

die Ennahda hinnehmen.<br />

<strong>Die</strong> Schlacht ist noch nicht geschlagen. Ennahda setzt<br />

alles daran, auf direktem Weg und über ihre Mehrheit in<br />

der Verfassungsgebenden Versammlung Justiz, Presse,<br />

Öffentlichkeit und die Verwaltungsstrukturen unter ihre<br />

Kuratel zu kriegen. <strong>Die</strong> Demokratiebewegung organisiert<br />

gemeinsam mit der UGTT und der aktiven Jugend die<br />

Gegenwehr, um mit aller Macht die Rechte und demokratischen<br />

Freiheiten zu verteidigen und auszuweiten. Gegen<br />

die Offensive der Regierung laufen umfassende Mobilisierungen<br />

seitens der sozialen Bewegung, der UGTT, der<br />

Journalist Innen (die am 17. Oktober erstm<strong>als</strong> gestreikt<br />

haben), der Verwaltungen etc.<br />

Was hat sich in sozialer Hinsicht geändert?<br />

<strong>Die</strong> auf den Sturz von Ben Ali folgenden Regierungen<br />

haben die gleiche neoliberale und mit dem internationalen<br />

Kapital abgestimmte Wirtschaftspolitik wie zuvor betrieben.<br />

Wir haben eine hohe Inflation und etwa 200 000<br />

Arbeitslose mehr <strong>als</strong> früher. In die Entwicklung der<br />

Binnenregionen wird weder seitens des Staates noch der<br />

Privatwirtschaft ernsthaft investiert, mit dem Ergebnis,<br />

dass die Armut wächst. Durch das neue Partnerschaftsabkommen<br />

mit der EU wird die neoliberale Politik noch<br />

verstärkt, die bestehenden Wirtschaftszweige zerstört und<br />

v. a. die Landwirtschaft ruiniert.<br />

Wie ist die Lage der Frauen?<br />

<strong>Die</strong> Frauen erleiden gegenwärtig eine Offensive seitens<br />

der Ennahda und ihrer salafistischen Verbündeten, die sie<br />

aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen. Manche<br />

Strömungen gehen sogar soweit, den Frauen Zwangsheiraten<br />

oktroyieren und die Polygamie einführen zu<br />

wollen. Obwohl das neue Abkommen mit der EU die<br />

Anerkennung internationaler Konventionen beinhaltet,<br />

sind die Frauenrechte, die in der Frauenrechtskonvention<br />

CEDAW festgelegt sind, davon ausgenommen – übrigens<br />

mit stillschweigenden Billigung der Heuchler in der EU.<br />

Ennahda versucht, in der künftigen Verfassung, den Begriff<br />

„Gleichheit zwischen Mann und Frau“ durch „ergänzende<br />

Stellung“ zu ersetzen.<br />

Wie sind die Auseinandersetzungen in den<br />

vergangenen beiden Jahren gelaufen?<br />

Seit dem 17. Dezember 2010 1 befinden wir uns in einem<br />

revolutionären Prozess, der auf und ab geht. Besonders<br />

heftig verliefen die Kämpfe zwischen dem 17. Dezember<br />

2010 und dem 27. Februar 2011, <strong>als</strong> Ben Ali aus dem Amt<br />

gejagt wurde und die nachfolgende Regierung Ghannouchi<br />

zweimal abdanken musste. Dabei wurden wesentliche<br />

Fortschritte erzielt, etwa das Verbot der Partei von Ben Ali<br />

oder die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung.<br />

In anschließenden Kämpfen ging es um soziale Rechte,<br />

v. a. im Bergbaurevier und im Landesinneren, wie in Sidi<br />

Bouzid oder Siliana. Bei der Post und der Telekommunikation<br />

wurde der Staat zum Nachgeben gezwungen.<br />

Dann änderte sich die Lage, indem sich viele Aktivist-<br />

Innen auf die anstehenden Wahlen konzentriert haben.<br />

Danach wiederum ging es mit den Mobilisierungen<br />

wieder aufwärts, ausgehend vom Bergbaurevier. Täglich<br />

gab es Streiks oder Demonstrationen, selbst in kleinen<br />

Ortschaften. Vorrangig ging es bei den Mobilisierungen<br />

um Lohnerhöhungen. Da die Regierung nicht in der Lage<br />

war, die ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen,<br />

schoss sie sich Anfang 2012 auf die UGTT <strong>als</strong> den Motor<br />

und das Rückgrat der sozialen Bewegung ein. Allerdings<br />

musste sie sich angesichts heftiger Mobilisierungen wieder<br />

zurücknehmen.<br />

Auch unter den prekär Beschäftigten, den (scheinselbständigen)<br />

Subunternehmern und den in der UDC<br />

(Gewerkschaft der arbeitslosen Akademiker) zusammen<br />

geschlossenen arbeitslosen Hochschulabgängern gärte es.<br />

Auch für die Verteidigung der Grundrechte wie der freien<br />

Meinungsäußerung wurde mobilisiert. Tunesien erlebte<br />

seinen ersten Gener<strong>als</strong>treik der Journalist Innen und bei<br />

einer der bedeutendsten Zeitungen des Landes wurde erfolgreich<br />

gegen die von Ennahda aufgezwungene Direktion<br />

gestreikt. Für die Rechte der Frauen gingen zahlreiche<br />

22 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Tunesien<br />

Menschen am 13. August 2012, dem Jahrestag der rechtlichen<br />

Gleichstellung der Frau (1956), auf die Straße.<br />

Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen<br />

den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, die auf ganz<br />

unterschiedliche Kampftraditionen zurückblicken. Auch<br />

regional sind die Unterschiede groß, da manche Regionen<br />

wie Sidi Bouzid und viele andere Städte im Landesinnern<br />

Wenn man die Ennahda-Regierung benoten würde,<br />

bekäme sie eine Sechs. Ihre Funktionäre rechneten<br />

gar nicht mit dem Sturz des alten Regimes. Stattdessen<br />

setzten sie auf Verhandlungen. Sie betreiben die gleiche<br />

Vetternwirtschaft wie Ben Ali.“<br />

anderen weit voraus sind. Das gleiche gilt natürlich für die<br />

Arbeiterklasse, in der bspw. die Beschäftigten bei der Post<br />

und Telekommunikation sowie im Erziehungs- und Gesundheitswesen,<br />

wo sogar die Ärzteschaft streikt, kampfbereiter<br />

sind <strong>als</strong> woanders.<br />

An den Aktionen waren vor allem die von der UGTT<br />

organisierten Sektoren beteiligt. Im öffentlichen <strong>Die</strong>nst<br />

fanden auf Druck landesweite Tarifverhandlungen statt,<br />

in denen Lohnerhöhungen durchgesetzt wurden. Auch in<br />

der Privatwirtschaft konnten Erfolge erzielt werden. Ende<br />

November war die Region um Siliana in ein Meer roter<br />

Fahnen getaucht, die große Mobilisierungen der Bevölkerung<br />

und einen von der dortigen UGTT-Gliederung<br />

ausgerufenen Gener<strong>als</strong>treik begleiteten. <strong>Die</strong> brutalen<br />

Repressionsmaßnahmen der Polizei forderten allein in<br />

den ersten Tagen über 200 Verletzte. <strong>Die</strong> darauf folgende<br />

Radikalisierung der dortigen Bevölkerung war von großen<br />

Solidaritätsmaßnahmen in allen Regionen begleitet.<br />

Solche Aktionen sind perspektivisch durchaus geeignet,<br />

die Regierungsmacht zu schwächen oder gar infrage zu<br />

stellen.<br />

Mit welcher Repression müssen<br />

diese Proteste rechnen?<br />

Besonders stark davon betroffen ist die Bevölkerung im<br />

Landesinneren. <strong>Die</strong> Repression kommt in dreifacher Gestalt<br />

daher.<br />

Erstens in Form des Staatsapparats, der noch genauso<br />

intakt ist wie zu Zeiten Ben Alis. Es gilt weiterhin<br />

das Kriegsrecht, das Polizei und Armee mit erheblichen<br />

Vollmachten ausstattet. Ein Beispiel hierfür war das martialische<br />

Auftreten gegen die Demonstration arbeitsloser<br />

Hochschulabsolvent Innen am 7. April 2012 oder zwei<br />

Tage später gegen Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration.<br />

(…) Einschüchterungsmaßnahmen nehmen zu, indem<br />

Mitglieder oder Sympathisanten der Linken verhaftet<br />

werden. Selbst wenn sie auf Druck der Straße hin freikommen,<br />

schwebt über ihnen doch das Damoklesschwert<br />

juristischer Verfolgung.<br />

<strong>Die</strong> zweite Säule der Repression sind die Milizen der<br />

Ennahda, die auf lokaler Ebene organisiert sind und vorgeblich<br />

„zur Verteidigung der Revolution“ handeln. Ihr<br />

bevorzugtes Ziel sind die politischen Veranstaltungen und<br />

Demonstrationen der UGTT. Auf sie entfällt der Mord an<br />

einem Funktionär von Nida Tunis 2<br />

bei einer Demonstration<br />

in Tatawin in Südtunesien.<br />

Das dritte Repressionsinstrument bilden die Salafisten<br />

und Dschihadisten, die einen „heiligen Krieg“ gegen die<br />

UGTT, die Demokraten und die Frauen, die die Scharia<br />

nicht achten, erklärt haben. Sie agieren gewalttätig und attackieren<br />

auch die Polizei. In manchen einfachen Vierteln<br />

haben sie ihr Gesetz durchgesetzt und ihre ersten Opfer<br />

sind die Frauen und Armen. Auch bestimmte Künstler<br />

werden auf ihren Demonstrationen ins Visier genommen.<br />

Wie ist die Bilanz der Ennahda-<br />

Regierung seit dem Herbst 2011?<br />

Wenn man sie benoten würde, bekäme sie eine Sechs.<br />

Weder verfügt sie über Sachverstand noch über nötige<br />

Erfahrung. Ihre Funktionäre waren jahrelang im Gefängnis<br />

oder Exil und rechneten gar nicht mit dem Sturz des<br />

alten Regimes. Stattdessen setzten sie auf Verhandlungen.<br />

Inzwischen ist offenbar geworden, dass sie die gleiche Vetternwirtschaft<br />

betreiben wie Ben Ali.<br />

In ihren Wahlversprechen sollten 500 000 neue Arbeitsplätze<br />

entstehen. Stattdessen haben wir 200 000 mehr<br />

Arbeitslose. Vom internationalen Kapital bekam Tunesien<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 23


Tunesien<br />

„strukturelle Anpassungsmaßnahmen“ auferlegt, die zu<br />

Verarmung und weitgehender Zerstörung der wirtschaftlichen<br />

Infrastruktur geführt haben. Außerdem verloren<br />

hunderttausende ihre Arbeit, von denen einige übers Meer<br />

zu emigrieren versuchten und dabei oft den Tod fanden.<br />

In wirtschaftspolitischen Fragen geht die Regierung sogar<br />

noch hinter Ben Ali zurück, indem sie das Partnerschaftsabkommen<br />

mit der EU unterzeichnet hat.<br />

Folglich geraten die Regierungsparteien zunehmend<br />

unter Kritik. <strong>Die</strong>s betrifft auch Fragen wie die richterliche<br />

Unabhängigkeit oder die Organisation der für 2013<br />

vorgesehenen Wahlen – ein Konfliktpunkt mit der Tunesischen<br />

Menschenrechtsliga (LTDH), den in der Volksfront<br />

zusammen geschlossenen Parteien, den Zentrumsparteien<br />

etc. Auch in außenpolitischen Fragen steht die Regierung<br />

unter Beschuss wegen ihrer Hinwendung zu Katar und<br />

den westlichen Ländern, namentlich der USA.<br />

Wie sind die Beziehungen zwischen Ennahda<br />

und den Salafisten und Dschihadisten?<br />

Ein kleiner Teil der Salafisten und Dschihadisten hat Verbindung<br />

zu den Wahabiten oder el Kaida und einige haben<br />

am Krieg in Afghanistan teilgenommen. <strong>Die</strong> anderen<br />

aber und v. a. die Jungen dienen zumeist der Ennahda <strong>als</strong><br />

Handlanger. Sie werden von ihnen und von der politischen<br />

Polizei manipuliert für Angriffe auf die Frauen, Künstler,<br />

die UGTT etc. Meist treten sie auf den Plan, wenn<br />

Polizei und Armee sich schwer tun, den Mobilisierungen<br />

gegenüberzutreten. Andererseits geraten sie auch selbst in<br />

tätliche Konflikte mit den Ordnungskräften, wenn es um<br />

problematische wirtschafts- und sozialpolitische Regierungsmaßnahmen<br />

geht.<br />

In grundsätzlicher und strategischer Hinsicht bestehen<br />

zwischen diesen drei Strömungen keine Unterschiede.<br />

Lediglich ist Ennahda mit Abstand am stärksten und hat<br />

etwa zehnmal so viele Mitglieder wie die beiden anderen<br />

zusammen. […]<br />

Wie ist die vorläufige Bilanz der neu<br />

entstandenen Volksfront?<br />

<strong>Die</strong> Volksfront hat mittlerweile eine unbestreitbare Anerkennung<br />

gefunden, besonders unter den fortschrittlichsten<br />

Kräften der Arbeiterklasse. Sie ist in allen Regionen<br />

vertreten und in etlichen Organisationen wie der UGTT,<br />

der LTDH oder dem Tunesischen Demokratischen Frauenverband<br />

(ATFD) sowie unter den arbeitslosen Hochschulabsolventen.<br />

Mit ihrer Gründung wurde eine Koordination<br />

geschaffen, in der zahlreiche Unabhängige vertreten sind.<br />

<strong>Die</strong> am 16. Oktober organisierte Veranstaltung war mithin<br />

die größte, die in Tunesien seit den Wahlen vom Oktober<br />

2011 stattgefunden hat.<br />

Auch wenn sie nur über sehr bescheidene Mittel und<br />

keine Parteilokale verfügt, ist die Volksfront in den meisten<br />

sozialen Bewegungen und Mobilisierungen vertreten und<br />

ihre Mitglieder sind dort in führender Position. Programmatisch<br />

versteht sie sich <strong>als</strong> demokratisch, fortschrittlich,<br />

antiimperialistisch und anti-neoliberal. Sie tritt explizit<br />

für die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Erstm<strong>als</strong><br />

betrachten es ihre Mitglieder <strong>als</strong> ihre Aufgabe, die Regierung<br />

auf einer antineoliberalen und antifundamentalistischen<br />

Position infrage zu stellen<br />

Wir <strong>als</strong> LGO sehen darin eine breite Front der<br />

Arbeiter Innen und des Volkes, die den Weg dafür ebnet,<br />

dass die UGTT dieselbe Funktion übernimmt. <strong>Die</strong> Volksfront<br />

beteiligt sich uneingeschränkt an den sozialen und<br />

demokratischen Mobilisierungen und wird bei den Wahlen<br />

2013 auch kandidieren. <strong>Die</strong>se beiden Gesichtspunkte<br />

ergänzen einander.<br />

Welche Erwartungen hast Du an das WSF, das im<br />

März 2013 in Tunis stattfinden soll?<br />

Wir sollten das Forum dazu nutzen, um unsere Gegnerschaft<br />

zum Neoliberalismus und den politischen Diktaten<br />

der EU und der USA unüberhörbar darzulegen. Wir<br />

rechnen mit einer großen Beteiligung aller Bewegungen,<br />

die gegen den Neoliberalismus und für die Befreiung der<br />

unterdrückten Völker kämpfen.<br />

Am 13. Dezember hätte der zweite landesweite Gener<strong>als</strong>treik<br />

seit der Unabhängigkeit stattfinden sollen. Der<br />

erste, am 26. Januar 1978, war von Hunderten von Toten<br />

und Verletzten überschattet. Letztlich wurde er am 12.<br />

Dezember abgeblasen. Zunächst zu den Umständen, ihn<br />

anzusagen!<br />

Kurz zuvor gab es in Siliana Proteste. Nachdem der<br />

dortige Verband der UGTT wochenlange Mobilisierungen<br />

organisiert hatte, rief er für den 27. November zum<br />

Streik auf, der trotz heftiger Repressionen vier Tage lang<br />

anhielt. Am 1. Dezember war die Regierung gezwungen,<br />

in Teilen nachzugeben und namentlich den umstrittenen<br />

Gouverneur abzuberufen. Der Angriff der Fundamentalisten<br />

auf die Zentrale der UGTT offenbarte, dass Ennahda<br />

gewaltsam gegen die UGTT vorzugehen gewillt war,<br />

zumal dies auch noch der 60. Jahrestag der Ermordung von<br />

Farhat Hached war, dem großen Führer der Unabhängigkeits-<br />

und Gewerkschaftsbewegung. <strong>Die</strong>se Koinzidenz<br />

wurde von der Bevölkerung <strong>als</strong> respektlos aufgenommen.<br />

24 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Tunesien<br />

<strong>Die</strong> UGTT organisierte umgehend regionale Streiks in<br />

Sfax mit etwa 50 000 Demonstrant Innen, in Tozeur, Siliana<br />

etc. Am Sonntag fanden dort, wo nicht gestreikt worden<br />

war, große Kundgebungen statt. Wie gewohnt griff<br />

die Bourgeoisie – oder das, was bei ihr noch funktioniert:<br />

Polizei und Armee – zu den altbekannten Methoden und<br />

appellierte an die nationale Einheit, beklagte das vergossene<br />

Blut und die drohende Gefahr für das Land. Zugleich<br />

wurde die UGTT mit einer Hasskampagne überzogen und<br />

<strong>als</strong> Gefahr für die nationale Einheit und Wirtschaft dargestellt.<br />

Vor diesem Hintergrund kam es anderntags zu dem<br />

Aufruf zum Gener<strong>als</strong>treik am 13. Dezember.<br />

1 <strong>Die</strong> Selbstverbrennung eines jungen Arbeitslosen an diesem<br />

Tag wurde zum Auslöser der Jasmin-Revolution.<br />

2 Nida Tunis (Der Ruf Tunesiens) ist eine aus „Modernisierern“<br />

und früheren Anhängern Ben Alis zusammen geschlossene<br />

Partei, an deren Spitze der ehemalige Ministerpräsident el<br />

Sebsi steht.<br />

Und warum hat ihn die UGTT-Führung<br />

dann wieder abgesagt?<br />

Auch wenn ein Verbot der Milizen nicht durchgesetzt<br />

werden konnte, waren die Ennahda und die Regierung<br />

bloßgestellt worden. Sie mussten anerkennen, dass die<br />

UGTT Opfer einer Aggression geworden war, und diesen<br />

Angriff verurteilen. Ebenso mussten sie die Einrichtung<br />

einer Untersuchungskommission hinnehmen.<br />

<strong>Die</strong> UGTT konnte zeigen, dass sie nicht nur die unmittelbaren<br />

Interessen der Arbeiterklasse und die Gewerkschaft<br />

verteidigt, sondern auch die Freiheit und das<br />

tunesische Volk gegen die faschistischen Ennahda-Milizen.<br />

Zugleich hat die UGTT die Widersprüche innerhalb der<br />

Bourgeoisie, ob in der Opposition oder an der Macht, und<br />

sogar innerhalb der Ennahda weiter vertieft. Durch die<br />

Absage des Gener<strong>als</strong>treiks erschien die Gewerkschaftsführung<br />

nicht <strong>als</strong> Hasardeur, der den Streik um seiner selbst<br />

betreibt, sondern <strong>als</strong> eine Instanz, die das tunesische Volk<br />

gegen die Gewalt verteidigt. Der Regierung war damit die<br />

gelbe Karte gezeigt worden: Greift sie wieder zur Gewalt,<br />

dann ist ein Gener<strong>als</strong>treik in jedermanns Augen legitim.<br />

Und neben einem Verbot der Milizen wäre dann eine reelle<br />

Chance gegeben, die Regierung vielleicht zu stürzen.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaft geht aus dieser Machtprobe gestärkt<br />

und <strong>als</strong> soziale und demokratische Instanz hervor. Ennahda<br />

muss, um ihre Basis zu befrieden und deren Moral zu stärken,<br />

verbreiten, dass die UGTT gekniffen hat, während in<br />

Wahrheit sie selbst nachgegeben hat. Insofern dürfen wir<br />

auf keinen Fall auf die Propaganda des Gegners hereinfallen.<br />

Jalel Ben Brik Zoghlami, ehemaliger<br />

politischer Gefangener unter Ben Ali, ist führendes Mitglied<br />

der Ligue de la gauche ouvrière (LGO); s. auch den Artikel<br />

zur Gründung der Volksfront.<br />

•Übersetzung: MiWe<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 25


Tunesien<br />

Neuformierung<br />

der Linken<br />

Nachdem die Ziele und Ideale der Jasmin-Revolution durch das<br />

Zweiparteiensystem Tunesiens – in dem sich Islamisten und ehemalige<br />

Gefolgsleute der früheren Diktatur gegenüber stehen – zu Grabe getragen worden<br />

waren, werden sie von der neu formierten Volksfront wieder aufgenommen.<br />

Dominique Lerouge<br />

•<br />

<strong>Die</strong> politische Landschaft Tunesiens ist<br />

seit dem Frühjahr 2012 durch eine zunehmende Polarisierung<br />

zweier politischer Lager geprägt:<br />

Auf der einen Seite stehen die islamistische Ennahda,<br />

der Kongress für die Republik (CPR) von Präsident<br />

Marzouki und das Demokratische Forum für Arbeit und<br />

Freiheit, auch Ettakatol genannt, unter dem sozialdemokratischen<br />

Präsidenten der Konstituierenden Versammlung<br />

Mustapha Ben Jaafar 1 .<br />

Auf der anderen Seite versuchen verschiedene Gruppierungen<br />

sich zusammen zu raufen: im Wesentlichen die 17<br />

Parteien, die <strong>als</strong> Zerfallsprodukt der Parteien von Ben Ali<br />

und Bourguiba entstanden sind und die sich – geeint durch<br />

die bloße Gegnerschaft zur Ennahda – dem Ruf Tunesiens<br />

unter Beji Caid el Sebsi 2 angeschlossen haben. Seit dem<br />

Frühjahr 2012 gibt es Verhandlungen zwischen der Partei<br />

von el Sebsi und den Kräften, die sich unmittelbar nach<br />

dem Sturz von Ben Ali an der Regierung von Mohammed<br />

Ghannouchi 3 beteiligt hatten, wie etwa den Nachfolgern<br />

der Demokratischen Fortschrittspartei 4 und den „Modernisten“<br />

um die Ettajdid 5 . Dazu kamen Strömungen aus der<br />

Tunesischen Arbeitspartei (PTT) von Benoui 6 . In erster Linie<br />

geht es el Sebsi dabei um den Zusammenschluss der ehemaligen<br />

Führer und Mitglieder der früheren Staatspartei<br />

Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) 7 .<br />

<strong>Die</strong> tunesische Linke, deren Mitglieder bei der Jasminrevolution<br />

eine tragende Rolle gespielt hatten, ging bei<br />

den Wahlen im Oktober 2011 nahezu unter. <strong>Die</strong> in der<br />

Front des 14. Januar zusammen geschlossenen politischen<br />

Organisationen der Linken und der arabischen Nationalisten<br />

waren einzeln und ohne entsprechende Kapazitäten zu<br />

den Wahlen angetreten. In der Folge verloren sie erheblich<br />

an Mobilisierungspotential.<br />

Im Frühjahr 2012 wurden Gespräche aufgenommen,<br />

um die Front des 14. Januar auf neuen Grundlagen wiederzubeleben<br />

und dabei sich auch anderen Parteien und<br />

26 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Tunesien<br />

Einzelpersonen gegenüber zu öffnen. Ziel sollte sein, einen<br />

dritten Pol <strong>als</strong> Gegengewicht zu den beiden bestehenden,<br />

neoliberalistisch ausgerichteten Lagern zu gründen.<br />

In einem Interview im Juli 2012 erklärte der Führer<br />

der Arbeiterpartei (vorm<strong>als</strong> PCOT) Hamadi Ben Mim:<br />

„<strong>Die</strong> revolutionären politischen Kräfte, die nach dem<br />

Sturz von Ben Ali die Front des 14. Januar gegründet haben,<br />

waren auch am Sturz der ersten beiden provisorischen<br />

Regierungen maßgeblich beteiligt. Als el Sebsi im Februar<br />

2011 Ministerpräsident wurde, trat die PCOT dafür ein,<br />

ihn ebenfalls zu stürzen und durch eine Regierung im<br />

<strong>Die</strong>nst der Arbeiter zu verpflichten. (…) Allerdings waren<br />

sich die revolutionären Parteien darüber uneins, da einige<br />

von ihnen den Angeboten el Sebsis erlegen und in seinen<br />

Stab eingetreten waren. <strong>Die</strong> Front ist daraufhin auseinander<br />

gebrochen. (…) Jetzt müssen wir uns wieder besinnen<br />

und die revolutionären Kräfte neu sammeln, ob marxistisch<br />

oder nationalistisch. Wir müssen eine neue Koalition<br />

auf der Grundlage eines neuen revolutionären Programms<br />

schaffen, um dem bestehenden Zweifrontensystem (…)<br />

entgegen zu treten. Dafür wollen wir die Front des 14. Januar<br />

in anderer Form wiederbeleben. <strong>Die</strong> Voraussetzungen<br />

dafür sind mittlerweile gegeben, da die meisten von denen,<br />

die sich auf die Seite von el Sebsi geschlagen hatten, ihre<br />

Lektion daraus gelernt haben. (…) Bei der Diskussion zwischen<br />

der PTT und den Trotzkisten von der LGO (Bund<br />

der Arbeiterlinken) geht es vor allem um zwei Punkte: der<br />

erste ist, dass die LGO die UGTT zum Motor und Zentrum<br />

der Front machen will, während die PTT dagegen<br />

ist und die politischen Organisationen der marxistischen<br />

und nationalistischen Linken vereinen will. Der zweite ist,<br />

dass nach Ansicht der LGO die UGTT den Rückhalt für<br />

die Front darstellen soll, während die PTT mit der Gründung<br />

nicht warten will, bis sich die UGTT zur Teilnahme<br />

entschließt, zumal sie momentan eher bestrebt ist, einen<br />

Ausgleich zwischen Regierung und Opposition herbeizuführen.“<br />

8<br />

Der damalige Verantwortliche für Gewerkschaftsarbeit<br />

in der Patriotischen und Demokratischen Arbeitspartei<br />

(PTPD), Chedli Gari, zog im Juli 2012 ebenfalls eine<br />

negative Bilanz aus dem Zerfall der tunesischen Linken:<br />

„<strong>Die</strong> Spaltung der linken politischen Organisationen<br />

wirkte sich katastrophal bei den Wahlen im Oktober<br />

2011 aus. (…) Wenn wir Einheitslisten aufgestellt hätten,<br />

mit der PCOT von Hamma Hammami, der MOUPAD<br />

von Chokri Belaïd (dessen Ermordung am 6. Februar zur<br />

Ankündigung vorgezogener Parlamentswahlen geführt<br />

hat [A.d.Ü]) und der PTPD, wären wir an zweiter Stelle<br />

Tunesien<br />

Einwohner:<br />

Fläche:<br />

Wirtschaft:<br />

Arabischer Frühling:<br />

Ennahda:<br />

Front des 14. Januar:<br />

Tunis<br />

10,3 Mio.<br />

163 610 km² (ungefähr doppelt so groß<br />

wie Österreich).<br />

Galt bis Mitte des letzten Jahrzehnts für<br />

die OECD <strong>als</strong> das „wettbewerbsfähigste<br />

land Afrikas“ und wurde <strong>als</strong> angehendes<br />

Schwellenland bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong> neoliberalen Reformen unter Ben Ali<br />

führten aber zu einer bedeutsamen<br />

Schwächung der Infrastruktur. Heute<br />

steckt Tunesien in einer tiefen<br />

Wirtschaftskrise.<br />

Nahm Dezember 2010 (nach der<br />

Selbstverbrennung eines<br />

Gemüsehändlers) und den dadurch<br />

ausgelösten breiten Protesten seinen<br />

Anfang.<br />

<strong>Die</strong> islamistische Partei hatte bei der<br />

Wahl 18 % der Stimmen erhalten, aber<br />

41 % der Parlamentssitze.<br />

Umfasst den größten Teil der Opposition<br />

und repräsentiert die Kräfte der<br />

revolution, die den Sturz Ben Alis (14.<br />

Januar 2011) herbeiführten.<br />

gewesen. Ein noch besseres Ergebnis hätten wir zusammen<br />

mit den arabischen Nationalisten erzielt. Wir haben dies<br />

bis drei Wochen vor den Wahlen versucht, aber letztlich<br />

wollte jeder den größten Teil vom Kuchen für sich und<br />

kandidierte separat.“ Im Sommer 2012 äußerte er sich zu<br />

den Gründen für den Zerfall der PTPD: „Wir brauchen<br />

einen Bruch mit der rechtsorientierten Politik von Abderrazak<br />

Hammami und der Mehrheit des Politbüros,<br />

die sich immer wieder auf Ennahda, el Sebsi, Chebbi oder<br />

Ettajdid einlassen wollen. Abderrazak Hammami hat um<br />

die Gunst der großen Parteien gebuhlt und den Bruch mit<br />

der radikalen Linken vorangetrieben. Seine Absicht war,<br />

die PTPD <strong>als</strong> Retter der Revolution vor ihren extremis-<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 27


Tunesien<br />

tischen Tendenzen dastehen zu lassen. Deswegen hat er<br />

sich mit Rached Ghannouchi, dem Gründer von Ennahda,<br />

el Sebsi sowie dem Minister für Menschenrechte von der<br />

Ennahda getroffen.“ Zur politischen Ausrichtung seiner<br />

Strömung nach deren Abspaltung von der PTPD meinte<br />

er: „Unsere Orientierung für die kommenden Monate<br />

zielt auf den Vereinigungsprozess mit der MOUPAD, der<br />

auf dem kommenden Kongress vollzogen werden soll, und<br />

auf den Wiederaufbau der Front unter Einbeziehung der<br />

arabischen Nationalisten, die ihrer moslemischen Identität<br />

sehr verhaftet sind, weswegen Ennahda Abwerbungsversuche<br />

unternimmt. Außerdem lassen wir uns nicht auf die<br />

Dichotomie zwischen Laizität und Islamismus ein, die von<br />

Ennahda und Ettajdid hochgehalten wird.“ 9<br />

Néjib Sellami, einer der Verantwortlichen der UGTT<br />

für die Oberschulen und Exponent der MOUPAD, erklärte<br />

im letzten Juli: “Eine Bäuerin meinte zu mir, dass die<br />

tunesische Revolution wie eine Wassermelone auf einem<br />

Tisch sei: Sie steht nicht still, wankt hin und her und kann<br />

jeden Moment hinunter kippen. <strong>Die</strong>ser Vergleich hat mir<br />

gut gefallen. Zuvor hatten wir eine autoritäre Regierung<br />

unter Ben Ali im Palast von Karthago und jetzt eine andere<br />

unter Jebali, dem islamistischen Ministerpräsidenten,<br />

in der Kasbah. <strong>Die</strong>se Partei spricht mit doppelter Zunge:<br />

Einerseits gibt sie sich demokratisch und zivil, andererseits<br />

erinnert ihre Praxis an die RCD unter Ben Ali. Sie<br />

mischt sich in jede Entscheidung ein und die Tunesier<br />

befürchten mittlerweile, dass die Diktatur in religiösem<br />

Gewand zurückkehrt. Gegenüber der Ennahda gibt es eine<br />

Sammlungsbewegung ehemaliger Bourguiba- und RCD-<br />

Anhänger um el Sebsi. Verstärkt werden sie durch Anhänger<br />

des Zentrums und ehemalige Linke. Genau wie die<br />

Regierungen Frankreichs und der USA will die Ennahda<br />

ein Zweiparteiensystem, in dem die Tunesier zwischen den<br />

alten Machthabern und der Ennahda wählen sollen. Sie<br />

verfügen über entsprechendes Geld und geeignete Strukturen.<br />

Dem gegenüber entsteht eine dritte Kraft, die diese<br />

Verengung ablehnt. In ihr sind linke Parteien und arabische<br />

Nationalisten aktiv. Ihnen geht es nicht nur darum,<br />

die Wiederkehr jedweder Diktatur zu verhindern, sondern<br />

auch um die Erfüllung der Forderungen, derentwegen das<br />

Volk die Revolution gemacht hat. Ziel ist die Wiederherstellung<br />

dessen, was früher unter der Bezeichnung Front<br />

des 14. Januar bestand.“ 10<br />

Jalel Ben Brik Zoghlami, Leitungsmitglied der LGO,<br />

fasste die Bedingungen für die Wiederentstehung einer<br />

Front des 14. Januar so zusammen: „<strong>Die</strong>se Front macht nur<br />

Sinn, wenn zugleich mehrere Bedingungen erfüllt sind:<br />

1. <strong>Die</strong> Verankerung in den gegenwärtigen sozialen<br />

Mobilisierungen, wo die politische Linke momentan im<br />

Rückstand ist.<br />

2. Erstellung eines Aktionsprogramms um folgende<br />

Achsen: gegen die reaktionäre, undemokratische und<br />

frauenfeindliche Politik der Ennahda; für die Annullierung<br />

der Schulden und Assoziierungsabkommen mit den<br />

imperialistischen Mächten; Kampagnen gegen die Arbeitslosigkeit<br />

und für das Recht auf Arbeit; für den Aufbau<br />

eines Förderplans zugunsten der benachteiligten Klassen<br />

und Regionen …<br />

3. Frontale Opposition gegen die unsoziale, undemokratische<br />

und pro-imperialistische Politik der Moslembrüder<br />

der Ennahda und ihrer Marionetten. Bekämpfung<br />

der Illusionen, die von den Neoliberalen der ehemaligen<br />

RCD um el Sebsi und deren Verbündeten Najib Chebbi<br />

ausgehen.<br />

4. Aufruf zum Sturz der gegenwärtigen Regierung und<br />

Verständigung über den Charakter einer künftigen Regierung<br />

des Volkes. In den Augen der LGO muss diese auf<br />

einer demokratischen Front des Volkes und der Arbeiter<br />

beruhen, deren Rückhalt in der UGTT liegt.<br />

5. Unvoreingenommene Zusammenarbeit mit unabhängigen<br />

Kräften und besonders mit den tragenden<br />

Kräften der Kämpfe in der Gewerkschaftsbewegung, in<br />

den Regionen und unter den Frauen, Arbeitslosen und<br />

Jugendlichen.“ 11<br />

Am 13. August wurde ein erstes Abkommen zwischen<br />

zwölf Parteien erzielt, in dem die Gründung der Volksfront<br />

für die Umsetzung der Ziele der Revolution angekündigt<br />

wurde. Wie die Tageszeitung Le Temps schreibt:<br />

„In Zeiten, in denen die politischen Beobachter des Landes<br />

eine Zuspitzung auf zwei Pole um Ennahda bzw. Nidaa<br />

Tunes für unumgänglich halten (…), tritt die Front aus<br />

Linksparteien und arabischen Nationalisten auf den Plan,<br />

um diese Scheinalternative zu durchkreuzen“. 12<br />

Der Front gehören Organisationen aus unterschiedlichen<br />

Traditionen an:<br />

• Marxisten-Leninisten: Parti des travailleurs PTT (ex-<br />

PCOT [Hamma Hammami]), Parti des patriotes démocrates<br />

unifiés (aus der vor Kurzem erfolgten Fusion der<br />

MOUPAD von Chokri Belaïd und der Strömung Jmour<br />

der PTPD), die Parti patriotique socialiste révolutionnaire<br />

( Jamel Lazhar), Parti de la lutte progressiste (PLP — Mohamed<br />

Lassoued);<br />

• Trotzkisten: Ligue de la gauche ouvrière (LGO, Bund<br />

der Arbeiterlinken);<br />

• Sozialisten: Parti populaire pour la liberté et le progrès<br />

28 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Tunesien<br />

(PPLP — Jalloul Ben Azzouna, der sich auf Ben Salah<br />

beruft);<br />

• Panarabische Marxisten: Front populaire unioniste<br />

(Amor Mejri);<br />

• „Nasseristen“, arabische Nationalisten: Mouvement du<br />

peuple - Hraket Echaab (Mohamed Brahmi);<br />

• Arabische Nationalisten baathistischer Prägung: Baath-<br />

Bewegung (Othmane Belhaj Amor), Parti de l’avant-garde<br />

arabe et démocratique (PAGAD — Khereddine Souabni);<br />

• Andere Organisationen wie Tunisie verte (Abdelkader<br />

Zitouni), Mouvement des démocrates socialistes, RAID<br />

(ATTAC et CADTM).<br />

Daneben beteiligen sich zahlreiche unabhängige<br />

Aktivist Innen. Während ihrer ersten nationalen Konferenz<br />

im September 2012, verabschiedete die Volksfront<br />

eine politische Charta und wählte den historischen Führer<br />

der PCOT Hamma Hammami zum Sprecher.<br />

Dominique Lerouge ist Mitglied der<br />

französischen NPA und der IV. Internationale.<br />

•Übersetzung: MiWe<br />

diese sich vom Kommunismus lossagte, um zu einer Mitte-<br />

Links-Partei zu werden.. Während der Präsidentschaft von<br />

Ben Ali war die Partei eine der wenigen legalen Oppositionsparteien.<br />

Ihr Erster Sekretär Ahmed Ibrahim wurde Minister<br />

in der Regierung Ghannouchi.<br />

6 Eine sich auf die Arbeiterschaft berufende Partei, die nicht<br />

mit der aus der PCOT hervorgegangenen Tunesischen Arbeiterpartei<br />

(ebenfalls PTT) zu verwechseln ist.<br />

7 Nach einer Meldung der tunesischen Zeitung Le Temps vom<br />

16. Dezember 2012 wurde zur Umgehung des Gesetzes, wonach<br />

ehemalige RCD-Kader für zehn Jahre vom politischen<br />

Leben ausgeschlossen sind, eine Koalition mit vier anderen<br />

Parteien geschlossen.<br />

8 Auszüge aus einem Interview vom Juli 2012 in Tunis<br />

mit Alain Baron: http://www.europe-solidaire.org/spip.<br />

php?article25957<br />

9 Ibid<br />

10 Ibid<br />

11 Ibid<br />

12 Zitiert nach Alain Baron, « Tunisie : Le regroupement à<br />

gauche franchit une nouvelle étape », http://www.europesolidaire.org/spip.php?article26107<br />

1 Ettakatol hatte zu Zeiten Ben Alis einen Beobachterstatus<br />

bei der Sozialistischen Internationale. Seit dessen erst am 17.<br />

Januar 2011 (sic!) erfolgten Ausschluss ist sie offizielles Mitglied.<br />

2 Der Rechtsanwalt Béji Caïd el Sebsi bekleidete nacheinander<br />

das Amt des Innen-, Verteidigungs- und Außenministers<br />

unter Bourguiba und war anschließend zwischen 1990 und<br />

1991 Präsident des Abgeordnetenhauses unter Ben Ali. Am 27.<br />

Februar 2011 wurde er nach dem Sturz der zweiten Regierung<br />

von Mohamed Ghannouchi zum Ministerpräsidenten der provisorischen<br />

Regierung ernannt. Nach den Wahlen räumte er<br />

am 24. Dezember 2011 diesen Posten für Hamadi Jebali, dem<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär der Ennahda. Am 16. Juni 2012 gründete er<br />

die neue Partei Ruf Tunesiens.<br />

3 Mohamed Ghannouchi bekleidete unter Ben Ali nach dessen<br />

Putsch gegen Bourguiba 1987 verschiedene Ministerämter,<br />

bevor er 1999 Ministerpräsident wurde. In der tunesischen<br />

Regierungspartei RCD war er Mitglied des Politbüros. Nach<br />

dem Sturz von Ben Ali am 14. Januar 2011 war er zusätzlich<br />

zum Amt des Premierministers geschäftsführender Präsident<br />

und gründete die sog. Regierung der Nationalen Einheit. Am<br />

27. Februar musste er bereits zurücktreten, ohne das Vertrauen<br />

des tunesischen Volkes gewonnen zu haben.<br />

4 Sie wurde im Jahre 1983 unter dem Namen Progressive<br />

Sozialistische Sammlung von mehreren linken Gruppierungen<br />

gegründet, aber erst 1988 anerkannt und registriert. 2001<br />

nannte sie sich schließlich in Demokratische Fortschrittspartei<br />

um. Nach dem Sturz von Ben Ali wurde ihr Gründer Najib<br />

Chebbi Minister in der Regierung Ghannouchi. Im April<br />

2012 fusionnierte sie mit anderen Parteien zur Republikanischen<br />

Partei, deren Gener<strong>als</strong>ekretärin Maya Jribi wurde.<br />

5 <strong>Die</strong> Bewegung für Erneuerung (Ettajdid) entwickelte sich<br />

1993 aus der alten Tunesischen Kommunistischen Partei, <strong>als</strong><br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 29


Mauritius<br />

Über die<br />

Schönfärberei<br />

des<br />

Neoliber alismus<br />

Mauritius. Modell eines (afrikanischen) Entwicklungslandes –<br />

Dass das eher neoliberalen Träumereien <strong>als</strong> der<br />

Wirklichkeit entspricht, wird in dem folgenden Interview deutlich.<br />

Jean Nanga im Gespräch mit Ashok Subron<br />

In den Begriffen der technischen Struktur des<br />

Kapitalismus hat Mauritius eine der leistungsstärksten<br />

Ökonomien von Afrika bzw. ist es, anders<br />

gesagt, eine neoliberale „success story“. <strong>Die</strong><br />

Internationale Arbeitsorganisation (ILO) reiht es<br />

in Bezug auf die monatlichen Mindestlöhne unter<br />

die „Top 10“ der afrikanischen Länder ein 1 …<br />

Ashok Subron: Bei diesen Indizes wäre auch einer der<br />

neuesten zu erwähnen, der Mauritius auf die 48. Position<br />

von 50 in Bezug auf die Nahrungssicherheit setzt. Wir<br />

importieren 75 % von dem, was wir konsumieren, da die<br />

postkoloniale Ökonomie vor allem unter Einwirkung des<br />

Internationalen Währungsfonds und der Weltbank eine<br />

außengerichtete Ökonomie mit billigen Arbeitskräften<br />

ist. <strong>Die</strong> letzte Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 hat eine<br />

Menge Probleme hervorgerufen und die extreme Anfälligkeit<br />

dieser angeblichen neoliberalen „success story“<br />

gezeigt. Man muss die Dinge zurechtrücken. Es gibt keinen<br />

Mindestlohn auf Mauritius, ich weiß nicht, woher die<br />

ILO diese Daten nimmt. In Wahrheit liegt der sektorale<br />

Mindestlohn beispielsweise bei der Warenproduktion für<br />

die zollfreie Zone bei etwa 100 €. Der Mindestlohn für die<br />

Beschäftigten in der Tourismusindustrie liegt bei etwa 150<br />

bis 175 €. <strong>Die</strong> Beschäftigten in der Zuckerindustrie haben<br />

einen Basislohn von ein wenig über 300 €.<br />

In den beiden letzten Jahrzehnten haben die Ungleichheiten<br />

zugenommen. Das lässt sich anhand der<br />

Zahlen des Gini-Koeffizienten nachweisen. Der Anteil des<br />

Reichtums, der auf die Arbeit entfällt, geht laut diesem<br />

ökonomischen Modell nach unten. Dabei ist noch nicht<br />

30 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Mauritius<br />

berücksichtigt, dass die jüngsten Zahlen zeigen, dass die<br />

Verschuldung der Haushalte zunimmt. Wir haben hier die<br />

klassischen Merkmale des Neoliberalismus: <strong>Die</strong> lokalen<br />

und internationalen Eliten reißen den produzierten Reichtum<br />

an sich, der Anteil der Löhne vermindert sich, und<br />

der Konsum wird mehr und mehr durch Verschuldung der<br />

Haushalte finanziert.<br />

Wenn man von Mauritius <strong>als</strong> ökonomischem Modell<br />

für Afrika spricht, dann benutzen die neoliberalen Ideologen<br />

es natürlich, um den Rezepten des IWF in Afrika<br />

Legitimität zu verschaffen. Sie sagen nicht, dass Bildung<br />

in Mauritius kostenlos ist, von der Vorschulstufe bis zur<br />

Universität. Selbst der Transport der Schüler Innen und<br />

Studierenden ist kostenlos. Sie sagen nicht, dass die öffentliche<br />

Gesundheitsversorgung kostenlos und allgemein ist.<br />

<strong>Die</strong> chirurgischen Operationen, die nicht in Mauritius gemacht<br />

werden können, werden öffentlich subventioniert.<br />

Sie sagen nicht, dass die Beschäftigten das Recht auf eine<br />

universelle Rente haben. All diese sozialen Maßnahmen<br />

werden nicht angesprochen, weil sie zu den Geboten des<br />

IWF oder der Weltbank im Gegensatz stehen. Das System<br />

hat sich nicht wegen, sondern trotz IWF und Weltbank<br />

so entwickelt, weil das Volk, vor allem die Beschäftigten,<br />

gegen den Abbau des Sozi<strong>als</strong>ystems Widerstand geleistet<br />

haben. Hätte das Sozi<strong>als</strong>ystem auf Mauritius <strong>als</strong> Ergebnis<br />

der Kämpfe, die von den ersten Jahren der Unabhängigkeit<br />

an geführt worden sind, nicht existiert, hätte das auf<br />

Export orientierte und auf billiger Arbeitskraft beruhende<br />

Modell niem<strong>als</strong> existieren können, weil niemand mit den<br />

Elendslöhnen hätte überleben können. <strong>Die</strong> sozialen Rechte<br />

sind in gewisser Weise eine Form von indirektem Lohn,<br />

der das Überleben der Arbeitenden möglich gemacht hat.<br />

Was der IWF unseren afrikanischen Landsleuten nicht<br />

sagt. Weil er überall den Abbau der sozialen Reche auf<br />

Bildung und auf Gesundheit und die Privatisierung dieser<br />

<strong>Die</strong>nste vorschlägt.<br />

Man muss auch wissen, dass der herstellenden Industrie<br />

auf Mauritius zugutegekommen ist, dass Mitte der 1980er<br />

Jahre Kapital aus Hongkong gekommen ist, das Angst vor<br />

dem Anschluss an China hatte. <strong>Die</strong>s war für die Expansion<br />

in diesen Jahren günstig. Jetzt hält die zollfreie Zone<br />

sich durch die Anstellung von Wanderarbeiter Innen unter<br />

Bedingungen aufrecht, die ich ohne zu zögern <strong>als</strong> halbe<br />

Versklavung bezeichne.<br />

Ich möchte nun auf die Tourismusindustrie zu sprechen<br />

kommen, die zu einer der Säulen der Wirtschaft auf<br />

Mauritius geworden ist. Das ist eine sehr anfällige Industrie,<br />

wie man es jetzt mit der Krise der Eurozone sehen<br />

Mauritius<br />

Einwohner<br />

Fläche<br />

Sprache<br />

Wirtschaft<br />

BIP<br />

Port Louis<br />

1,3 Mio.<br />

Der Inselstaat im Indischen Ozean ist<br />

mit 2040 km² etwas kleiner <strong>als</strong> das<br />

Saarland<br />

morisyen (eine Kreolsprache) wird von<br />

80 % der Einwohner gesprochen<br />

textilindustrie, Rohrzuckerproduktion<br />

(80 % der bebaubaren Fläche, was<br />

aber nur 2,2 % des BIP ausmacht),<br />

tourismus (2013 wahrscheinlich mehr<br />

<strong>als</strong> 1 Mio. Besucher Innen).<br />

Gemessen an afrikanischen Verhält-<br />

nissen ist das BIP/Kopf vergleichsweise<br />

hoch: 2011 lag es bei ca. 11 320 €.<br />

kann. <strong>Die</strong>, ich möchte mal sagen, wilde Entwicklung des<br />

Tourismus hat fast die Zerstörung der Gemeinschaft der<br />

Fischer mit sich gebracht und den Zugang zu den Stränden<br />

auf 10 % der Küstenstreifen vermindert. Wegen der<br />

Abhängigkeit vom Tourismus hat Mauritius sogar die<br />

Definition von Tourismus qualitativ verändert, denn jetzt<br />

läuft der Ausverkauf der Küstengebiete. In Kombination<br />

mit der Politik, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen,<br />

erleben wir zurzeit, dass sich eine neue Form von<br />

kolonialer Besetzung einstellt. Dabei sind die ökologischen<br />

Schäden noch nicht erwähnt, die diese Art von Entwicklung<br />

zur Folge hat.<br />

Zuletzt sind die „call center“ und „seafood hub“ (Zentren<br />

für Fischerei und alle damit verbundenen Tätigkeiten)<br />

<strong>als</strong> wirtschaftliche Schwerpunkte hinzugekommen. <strong>Die</strong><br />

„call center“, in denen junge Leute zu deregulierten, <strong>als</strong>o<br />

antisozialen Arbeitsbedingungen angestellt sind, haben<br />

dazu beigetragen, neue Arbeitsgesetze für sämtliche<br />

abhängig Beschäftigte zu prägen. Und dieser Sektor ist<br />

für die Zuckungen der internationalen Ökonomie ebenso<br />

anfällig wie der Tourismus und die zollfreie Zone.<br />

Was die Fischereiindustrie betrifft, so besitzt die<br />

Republik Mauritius eine der größten maritimen Flächen<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 31


Mauritius<br />

auf der Welt. Das ausschließlich ihr zustehende Gebiet<br />

erstreckt sich auf über 2,3 Millionen km 2 , doch besitzt das<br />

Land kaum eigene Fischereifahrzeuge. Mauritius schließt<br />

beispielsweise Fischereiabkommen mit der Europäischen<br />

Union, nach denen es deren Schiffen erlaubt ist, in maurizischen<br />

Gewässern Thunfisch für 4,56 Rupien pro Kilo<br />

(1 € = 38 Rupien) zu fangen, während die Maurizier Innen<br />

für ein Kilo Thunfisch ungefähr 200 Rupien bezahlen<br />

müssen. <strong>Die</strong> Fischfangpolitik des Landes räumt den europäischen<br />

Schiffen dieses Recht ein, die mit Subventionen<br />

Fische fangen und den Thunfisch an die Verarbeitungsindustrie<br />

auf Mauritius verkaufen, die den Beschäftigten<br />

einen Monatsmindestlohn von 200 € zahlt. Ich möchte<br />

unterstreichen, dass der Thunfisch nicht auf dem lokalen<br />

Markt verkauft, sondern auf die europäischen Märkte<br />

exportiert wird. Um Zugang zu ihnen zu erhalten, muss<br />

Mauritius dagegen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen<br />

unterschreiben und <strong>Die</strong>nste wie Telekommunikation<br />

oder die Hafendienste verschleudern. Als ob dies noch<br />

nicht die übelste Sorte von Neokolonialismus wäre, ist zu<br />

unterstreichen, dass die Thunfischfänger mit Ringwadennetzen<br />

fangen, die große ökologische Schäden zur Folge<br />

haben. Der Einsatz von Ringwaden wird von den ökologischen<br />

Organisationen weltweit verurteilt.<br />

<strong>Die</strong> Frage der Fischerei ist wichtig zum Verständnis des<br />

Modells Mauritius: eines Landes mit einem ernsthaften<br />

Problem der Versorgung mit Nahrungsmitteln, das über<br />

eine maritime Fläche von 2,3 Millionen km 2 verfügt, das<br />

aber seine Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht unter<br />

anderem durch Fischfang sicherstellen kann. Der Thunfisch,<br />

der in Mauritius konsumiert wird, wird … importiert.<br />

Wie sehen die Reaktionen auf die Situation aus,<br />

die Du nun beschrieben hast?<br />

Wegen dieser Situation organisieren sich inzwischen die<br />

Beschäftigten (Fischer, LanderarbeiterInnen), die sozialen<br />

Bewegungen und die Linke auf Mauritius. Sie können sich<br />

auf eine reiche Tradition sozialer, gewerkschaftlicher und<br />

politischer Kämpfe stützen. Mauritius, das die Sklaverei,<br />

die Rechtsform der Vertragsknechtschaft [französisch:<br />

engagisme; englisch: indentured servitude] und bis 1968<br />

(dem Datum der Unabhängigkeit) den Kolonialismus<br />

durchgemacht hat, hat eine bedeutende Arbeiterbewegung<br />

hervorgebracht, die die Hauptträgerin des Kampfs<br />

für das allgemeine Wahlrecht und die Unabhängigkeit<br />

des Landes gewesen ist. <strong>Die</strong> Gründung der Labour Party<br />

(Parti travailliste) 1936 hat die Dynamik des Kampfs für<br />

die Unabhängigkeit geschaffen. Mauritius war eines der<br />

wenigen afrikanischen Länder, in denen es seit dieser Zeit<br />

eine Labour Party gegeben hat. In den 1970er Jahren sind<br />

erneut intensive Kämpfe aufgeflammt (Gener<strong>als</strong>treik, der<br />

Mai 68 auf Mauritius), aus denen die Mouvement militant<br />

mauricien (MMM) hervorgegangen ist, eine linke Organisation,<br />

die dam<strong>als</strong> für die Nationalisierung der meisten<br />

Wirtschaftssektoren und für Selbstverwaltung eingetreten<br />

ist. Das Scheitern der MMM an der Regierung, die<br />

Durchführung von Strukturanpassungsmaßnahmen, die<br />

Krisen und die politischen Bündnisse haben zu einer langen<br />

Periode des Rückgangs der Kämpfe geführt. Seit ein<br />

paar Jahren nehmen sie wieder zu, da sich die strukturellen<br />

Schranken des so genannten Modells Mauritius zeigen und<br />

die Bevölkerung ihre sozialen Errungenschaften nicht verlieren<br />

will. Zudem haben die Zunahme der Ungleichheit<br />

und die Willkür des Staats, vor allem der Polizei, 1999 zu<br />

schweren sozialen Unruhen geführt.<br />

Auf gewerkschaftlicher Ebene hat es mehrere Mobilisierungen<br />

der Beschäftigten gegen die neuen Arbeitsgesetze<br />

gegeben, die vom Unternehmertum auf Mauritius, dem<br />

IWF und der Weltbank durchgedrückt und 2008 von der<br />

Nationalversammlung angenommen wurden. Das Parlament<br />

wurde von der Labour Party dominiert, die zu einer<br />

Partei der Mitte geworden ist und sich seit geraumer Zeit<br />

der neoliberalen Logik untergeordnet hat.<br />

Seit einigen Jahren ist eine Wiederbelebung der Kämpfe<br />

in verschiedenen Arbeiterbereichen festzustellen, in<br />

denen es eine reiche Gewerkschaftstradition gibt (Zuckerindustrie,<br />

Docker, öffentlicher Verkehr). 2010 setzte in der<br />

Zuckerindustrie ein Prozess von Streikbewegungen ein,<br />

der zum Auftakt zur Rückkehr der Gewerkschaftskämpfe<br />

geworden ist. <strong>Die</strong> Entschiedenheit der Beschäftigten in<br />

dieser Industrie hat viele überrascht, denn sie kam unerwartet.<br />

<strong>Die</strong> Aktivitäten der Beschäftigten stießen sogar<br />

auf politisches Echo und führten zu einem ersten Arbeitersieg<br />

gegen die Zuckeroligarchie, die aus der Kolonialzeit<br />

stammende historische Bourgeoisie. Ziel war es, die<br />

Reform der Zuckerindustrie in Frage zu stellen, die darauf<br />

zurechtgeschneidert war, diese Oligarchie zufrieden zu<br />

stellen. In der Zuckerindustrie, die auf protektionistischen<br />

und privilegierten Bestimmungen beruhte, wurde eine<br />

Reform eingeleitet, um dem Rückgang des Zuckerpreises<br />

und der durch die Abkommen zwischen der Gruppe<br />

der AKP-Staaten und der Europäischen Gemeinschaft<br />

garantierten Exportquoten zu begegnen. <strong>Die</strong>se Reform<br />

wurde durch die Kompensation finanziert, die von der<br />

Europäischen Union an den Staat Mauritius überwiesen<br />

32 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Mauritius<br />

wurde. <strong>Die</strong> Oligarchie hat sich dieser Mittel bedient, um<br />

eine massive Verringerung der Zahl der Festangestellten<br />

zu finanzieren und danach missbräuchlich Saisonarbeitskräfte<br />

eingesetzt. <strong>Die</strong> Mobilisierung der fest angestellten<br />

Beschäftigten im Jahr 2010 war eine Antwort auf die<br />

Umleitung von öffentlichen Mitteln zur Verwirklichung<br />

eines arbeiterfeindlichen Vorhabens der Oligarchie. Der<br />

Sieg der Beschäftigten in der Zuckerindustrie, der unter<br />

anderem in einer Vereinbarung über Lohnerhöhungen von<br />

20 % bestand, hat wieder Zuversicht in die Arbeiter- und<br />

Gewerkschaftskämpfe gebracht. Im August 2012 kam es zu<br />

einer erneuten Konfrontation zwischen den Beschäftigten<br />

der Zuckerindustrie mit ihren Gewerkschaften, die sich zu<br />

einer Plattform, dem „Joint Negiotiating Panel“, zusammengetan<br />

hatten, auf der einen und der Zuckeroligarchie<br />

auf der anderen Seite. Nachdem sie in den Genuss des<br />

Mannas der EU gekommen waren, wollten sie das Prinzip<br />

der nationalen Tarifverhandlungen in Frage stellen, um<br />

die Beschäftigten aufzusplittern. In dieser Konfrontation<br />

haben sich die Arbeitenden und ihre Gewerkschaften sogar<br />

über eine arbeitsrichterliche Anordnung hinweggesetzt,<br />

mit der jegliche Vorbereitung oder tatsächliche Durchführung<br />

von Streiks untersagt wurde. Über 98 % der Beschäftigten<br />

hatten trotz des Abstimmungsverbots für den Streikbeginn<br />

gestimmt. <strong>Die</strong>ser Konflikt hat fast einen Monat<br />

lang sämtliche Medien beschäftigt. Somit ist 2012 nach<br />

2010 ein weiteres Jahr mit einem Sieg der Beschäftigten der<br />

Zuckerindustrie geworden. <strong>Die</strong>ser alte Sektor der Wirtschaft<br />

auf Mauritius, den es seit der Zeit der Sklaverei bis<br />

hin zur neoliberalen Globalisierung gibt, gehört zu denjenigen<br />

mit dem höchsten Klassenbewusstsein im Lande.<br />

<strong>Die</strong>se Dynamik in der Zuckerindustrie hat sich auf<br />

die Docker ausgedehnt, die eine Mobilisierung gegen die<br />

Privatisierung des Hafens und die Degeneration der alten<br />

Gewerkschaftsbürokratie begonnen haben. Und seit zwei<br />

Monaten ist eine Wiederaufnahme der Kämpfe in einem<br />

weiteren Schlüsselsektor festzustellen: im öffentlichen<br />

Verkehr.<br />

Außerdem ist die Bewegung der jungen Beschäftigten<br />

in den Callcentern zu erwähnen, die 2011 die Form einer<br />

Besetzung und von zwei Hungerstreiks von jungen Leuten<br />

angenommen hat. <strong>Die</strong> Herausforderung für die Linke in<br />

Mauritius auf gewerkschaftlichem Gebiet besteht darin, die<br />

Kämpfe in den traditionellen Sektoren mit diesen neuen<br />

Sektoren zusammenzubringen.<br />

Es geht da um die Privatwirtschaft. Wie sieht es<br />

mit dem öffentlichen Sektor und mit den Beziehungen<br />

zwischen den Lohnarbeiter Innen und den<br />

Gewerkschaften im privatwirtschaftlichen und im<br />

öffentlichen Sektor aus?<br />

<strong>Die</strong> Lohnabhängigen im öffentlichen Bereich stellen eine<br />

bedeutende Kraft dar, da sie in etwa 25 % bis 30 % der<br />

abhängig Beschäftigten auf Mauritius ausmachen. Sie sind<br />

am stärksten gewerkschaftlich organisiert und dominieren<br />

die Gewerkschaftsföderationen und -konföderationen auf<br />

Mauritius. Das verursacht sogar ein gewisses Ungleichgewicht<br />

in der Repräsentation der Arbeiterklasse in den<br />

Gewerkschaftsführungen. Das ist ein strukturelles Problem.<br />

In den letzten Jahren standen die Gewerkschaften des<br />

öffentlichen Bereichs bei den großen Kämpfen ein wenig<br />

im Hintergrund, auch wenn sie ideologisch gegen die<br />

neoliberale Vorherrschaft und die Politik des IWF eingestellt<br />

sind. Sie sind entschieden gegen die Privatisierung,<br />

aber sie konnten die versteckte Privatisierung bestimmter<br />

öffentlicher <strong>Die</strong>nste über das Outsourcing von <strong>Die</strong>nsten<br />

(Überlassung bestimmter <strong>Die</strong>nste an private Anbieter<br />

wie der Verpflegung in den öffentlichen Krankenhäusern)<br />

oder Arbeitsplätzen nicht verhindern. Zu erwähnen<br />

ist, dass für die Beschäftigten im öffentlichen Sektor ein<br />

verfassungsmäßiges Verbot der öffentlichen Betätigung in<br />

politischen Organisationen gilt. Sie können nicht einmal<br />

bei Regionalwahlen kandidieren. Das trägt zu einer<br />

gewissen Form von Distanzierung der Gewerkschaften der<br />

Staatsbediensteten von Aktivitäten der Gewerkschaften<br />

im Privatsektor bei, die einen recht politischen Charakter<br />

haben. Aber die Wiederaufnahme der Kämpfe in der<br />

Zuckerindustrie in der letzten Zeit hat dazu geführt, dass<br />

eine Dynamik der Annäherung von Gewerkschaften im<br />

privaten und im öffentlichen Sektor in Gang gekommen<br />

ist. Zum Beispiel hat es am 2. September [2012] nach dem<br />

Sieg der Beschäftigten in der Zuckerindustrie eine große<br />

Versammlung gegeben, an der die Gewerkschaftsführer-<br />

Innen unter anderem der Bereiche Gesundheit, Bildung<br />

und der quasi-staatlichen Betriebe teilgenommen haben.<br />

<strong>Die</strong> Kampfbereitschaft der Beschäftigten der Zuckerindustrie<br />

hat den anderen Bereichen, darunter den öffentlichen,<br />

neuen Schwung verliehen. <strong>Die</strong> Herausforderung für die<br />

kommenden Jahre besteht darin, dieses Zusammenspiel<br />

durch gemeinsame Aktivitäten und Übergangsforderungen<br />

zu konsolidieren.<br />

Wie sieht es mit der Beteiligung der Frauen an<br />

dieser gewerkschaftlichen Dynamik aus?<br />

Auf Mauritius haben die Frauen eine bedeutende Rolle<br />

in den Kämpfen gespielt. Das war seit der Epoche der<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 33


Mauritius<br />

Sklaverei so, über die großen Kämpfe auf den Zuckerrohrfeldern<br />

während der Kolonialzeit und in den 1970er Jahren<br />

im Verlauf der Revolte der Studierenden. In den letzten<br />

Jahren hat es viele sporadische Aktionen auf der Straße<br />

gegeben, bei denen sie die vorantreibende Kraft gewesen<br />

sind, beispielsweise gegen die Entlassungen oder nicht<br />

gezahlte Löhne. Jedoch ist ihre Beteiligung an den Gewerkschaften<br />

zurzeit noch nicht durchgängig der Fall. <strong>Die</strong><br />

neuesten Statistiken zeigen, dass die Frauen über 35 % der<br />

Arbeiterklasse ausmachen, den öffentlichen und den privaten<br />

Sektor zusammengenommen. Im öffentlichen Bereich<br />

sind es fast 50 %. <strong>Die</strong>se Stellung der Frauen spiegelt sich in<br />

den Gewerkschaftsgremien nicht wider, und übrigens auch<br />

nicht in den politischen Gremien. Somit liegt Mauritius in<br />

Bezug auf die Repräsentation der Frauen weit unter dem<br />

Durchschnitt in Afrika allgemein und in der Subregion<br />

Südliches Afrika im Besonderen. Im Gewerkschaftsbereich<br />

gibt es außerdem strukturelle Faktoren, die zu dieser<br />

Unterrepräsentation beitragen. Im privaten Sektor ist in<br />

den Bereichen, in denen mehr Frauen arbeiten, wie in der<br />

zollfreien Zone, den Callcentern, dem „seafood hub“,<br />

im Handel und im Hotelgewerbe der gewerkschaftliche<br />

Organisationsgrad niedrig. Darin liegt eine der großen<br />

Herausforderungen für die Gewerkschaftslinke.<br />

Wirkt sich der Kommunalismus, der eine nicht zu<br />

vernachlässigende Wirkung auf die Gesellschaft in<br />

Mauritius hat, negativ auf die Arbeiterklasse und<br />

die Gewerkschaftseinheit im Allgemeinen aus?<br />

Das Phänomen des Kommunalismus oder Kommunitarismus<br />

ist ein Erbe der Geschichte der Besiedlung von Mauritius,<br />

der Zeit der Sklaverei, der Vertragsknechtschaft und<br />

der Kolonisierung: <strong>Die</strong> maurizische Bourgeoisie wurde<br />

ursprünglich von französischen Kolonist Innen gestellt, die<br />

Sklav Innen kamen in der Mehrzahl vom [afrikanischen]<br />

Kontinent, und die Arbeiter Innen, die auf den Zuckerrohrfeldern<br />

eingesetzt wurden (die „coolies“), kamen nach<br />

der Abschaffung der Sklaverei (1835) in der Mehrzahl aus<br />

Indien. Von daher ist der Kampf der Unterdrückten in<br />

Mauritius immer eng mit dem Kampf gegen die ethnischen<br />

Spaltungen verbunden gewesen. <strong>Die</strong>se Verbindung<br />

war der grundlegende Sockel der großen Emanzipationsbewegungen<br />

der Jahre 1930 bis 1940 und der 1970er Jahre<br />

… <strong>Die</strong> Vereinigung der Arbeiterklasse in den 1930er und<br />

1940er Jahren hat zu den großen Klassenkämpfen beigetragen<br />

bzw. war für sie günstig. Im Laufe des Unabhängigkeitsprozesses<br />

in den 1950er und 1960er Jahren haben<br />

die traditionelle Bourgeoisie und die anderen sich herausbildenden<br />

Eliten bei ihrem Ringen um Kontrolle der politischen<br />

und ökonomischen Macht das kommunalistische<br />

Bewusstsein gefördert. Das hat zu schweren ethnischen<br />

Konflikten kurz vor der Unabhängigkeit geführt, die<br />

Ursache für viele Tote waren. <strong>Die</strong>se tragischen Ereignisse<br />

hatten zur Wirkung, dass ein neuer Aufschwung des<br />

Volkes, vor allem der Arbeiterklasse stattfand, und führten<br />

zum Entstehen der MMM mit ihrem Gründungsslogan<br />

„Lutte des classes, non pas lutte des races“ (Klassenkampf,<br />

nicht Rassenkampf). Wie in den 1930er und 1940er Jahren<br />

haben die darauf folgenden Gewerkschaftskämpfe die<br />

Einheit der Arbeiterklasse und des Volkes gefestigt. Doch<br />

hat die Degeneration der MMM, die den Antikommunalismus<br />

verkörpert hat, in den Regierungsämtern in den<br />

1980er Jahren dem kommunalistischen Bewusstsein neue<br />

Dynamik verliehen. Jetzt schafft die Wiederaufnahme<br />

der Kämpfe in den erwähnten Bereichen in Kombination<br />

mit der Aktivität der ökosozialistischen Linken wieder die<br />

Bedingungen, dass das kommunalistische Bewusstsein von<br />

Klassen- und Bürgerbewusstsein überlagert wird.<br />

Wo steht die Linke auf Mauritius heute?<br />

Auf Mauritius besteht die Linke gegenwärtig aus drei<br />

außerparlamentarischen antikapitalistischen Organisationen,<br />

die beträchtlichen Einfluss im Land haben. Das sind<br />

Lalit, die Bewegung 1. Mai unter Leitung von Jack Bizlal<br />

und Rezistans ek Alternativ (Widerstand und Alternative).<br />

Lalit ist aus einer Abspaltung von der MMM in den<br />

1980er Jahren hervorgegangen, die Bewegung 1. Mai aus<br />

der Fusion von OMT/FNAS (die mit der IV. Internationale<br />

verbunden war) und so genannten nationalistischen<br />

Strömungen, während Rezistans ek Alternativ, der ich<br />

angehöre und die sich zur ökosozialistischen Linken zählt,<br />

aus einer Abspaltung von Lalit im Jahr 2004 entstanden<br />

ist. <strong>Die</strong> Aktivitäten zur Kritik an den kommunalistischen<br />

Elementen des Wahlsystems, die Rezistans ek Alternativ<br />

bei den Wahlen 2005 entfaltet hat, haben in der Bevölkerung<br />

bedeutenden Zuspruch erfahren. <strong>Die</strong>se Aktivitäten<br />

konnten bei den Wahlen 2010 ausgeweitet werden,<br />

<strong>als</strong> Kräfte der antikapitalistischen Linken, vor allem von<br />

Rezistans ek Alternativ und der Bewegung des 1. Mai,<br />

mit linken Gewerkschafter Innen, Aktiven der sozialen<br />

Bewegungen, Fischern, LandarbeiterInnen, Aktivist Innen<br />

der Ökologiebewegung, Frauenbewegungen und vor allem<br />

Jugendbewegungen gemeinsam aufgetreten sind. Aus<br />

dieser Initiative ist eine Plattform entstanden, die sich den<br />

Namen „Plattform für eine neue Verfassung und eine neue<br />

Republik“ gegeben hat.<br />

34 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Mauritius<br />

Es ist anzumerken, dass sich bei den letzten Wahlen<br />

über 16 % der Kandidat Innen der von der Verfassung<br />

geforderten ethnischen Einordnung entzogen haben. <strong>Die</strong><br />

Ablehnung ihrer Kandidatur durch die Wahlkommission<br />

hat eine Protestbewegung ausgelöst, die zu der Initiative<br />

von Rezistans ek Alternativ im Jahr 2005 hinzugekommen<br />

ist. Parallel zu Aktionen des Ungehorsams, die von<br />

Rezistans ek Alternativ initiiert wurden, gab es juristische<br />

Schritte in internationalen Gremien, um die Verpflichtung<br />

der Kandidat Innen zu ethnischer Einordnung anzugreifen.<br />

Das hat zu einem großen Sieg der Bewegung geführt, die<br />

Rezistans ek Alternativ 2005 ausgelöst hat: Der Ausschuss<br />

für Menschenrechte der Vereinten Nationen erklärte, dass<br />

die Verpflichtung auf kommunalistische oder ethnische<br />

Einordnung der Kandidat Innen eine Verletzung von Artikel<br />

25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte<br />

darstellt, den Mauritius unterzeichnet hat. Der Staat Mauritius<br />

hat jetzt Zeit bis März 2013, um sich dem zu fügen.<br />

Anders gesagt, er muss die Verfassung ändern. <strong>Die</strong> Aktivitäten<br />

von Rezistans ek Alternativ und der 2010 entstandenen<br />

gemeinsamen Plattform haben eine historische Bresche<br />

geschlagen und schaffen die notwendigen Bedingungen<br />

für größere Veränderungen der Verfassung der Republik<br />

Mauritius nach der Unabhängigkeit. Unter diesem Blickwinkel<br />

tritt die Plattform von 2010 dafür ein, dass in dem<br />

Entwurf für eine neue Verfassung nicht nur das ethnische<br />

Element beseitigt wird, sondern dass auch neue Rechte und<br />

Freiheiten, der Grundsatz partizipativer Demokratie, die<br />

Sozialisierung der Wirtschaft, der Schutz der Meeresressourcen<br />

und der Gemeingüter wie der landwirtschaftlichen<br />

Böden und Biodiversität sowie das Recht der Natur in die<br />

künftige Verfassung aufgenommen werden. Für Rezistans<br />

ek Alternativ ebenso wie für die Plattform von 2010 ist der<br />

Entwurf einer neuen Verfassung ein Instrument der Mobilisierung<br />

für Gesellschaftsveränderung und zugleich für<br />

eine neue, ökosozialistische Republik. Der globale Kapitalismus<br />

hat den neokolonialen Nation<strong>als</strong>taat neu gestaltet,<br />

der jetzt von den Interessen der transnationalen Konzerne<br />

völlig überflutet ist. Der Entwurf für eine neue Verfassung<br />

zielt darauf ab, eine wahre Souveränität des Volks mit den<br />

Interessen vorrangig der Lohnabhängigen, der Unterdrückten,<br />

der Frauen und der Jugendlichen einzufordern.<br />

Wie ist es um die US-Militärpräsenz auf der Insel<br />

<strong>Die</strong>go Garcia bestellt, die normalerweise Teil der<br />

Republik Mauritius sein müsste, es sei denn, der<br />

Chagos-Archipel, zu dem <strong>Die</strong>go Garcia gehört,<br />

wäre unabhängig?<br />

In den letzten<br />

Jahren hat es einen<br />

hartnäckigen Kampf der<br />

Chagossianer innen für das<br />

Recht auf Rückkehr in ihr<br />

Heimatland gegeben.“<br />

<strong>Die</strong>s ist für die Linke auf Mauritius ein großes Anliegen,<br />

umso mehr, <strong>als</strong> ein bedeutender Teil des maurizischen Territoriums,<br />

der Chagos-Archipel, nach wie vor unter kolonialer<br />

Besetzung durch die Briten im Rahmen des „British<br />

Indian Ocean Territory“ steht. Auf der Insel <strong>Die</strong>go Garcia,<br />

die zum Chagos-Archipel gehört, ist eine der „höchstentwickelten“<br />

und strategisch bedeutendsten Militärbasen der<br />

USA auf der Welt untergebracht. <strong>Die</strong> Einrichtung dieser<br />

Basis – die seit den 1960er Jahren vom Vereinigten Königreich<br />

den Vereinigten Staaten überlassen wird – und seine<br />

Abtrennung vom Territorium der Chagos ist nicht nur<br />

nach der Charta der Vereinten Nationen illegal, sondern<br />

hat die Deportation der Chagos-Bevölkerung zur Folge<br />

gehabt, die seit Generationen auf der gesamten Inselgruppe<br />

lebt.<br />

In den letzten Jahren hat es einen hartnäckigen Kampf<br />

der Chagossianer Innen für das Recht auf Rückkehr in ihr<br />

Heimatland gegeben. Sie haben den juristischen Kampf<br />

gewonnen, doch hat der britische Staat die koloniale und<br />

autoritäre Verfügungsgewalt der Königin benutzt, um<br />

das Urteil zu blockieren. <strong>Die</strong> Chagossianer Innen haben<br />

die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof für<br />

Menschenrechte gebracht. <strong>Die</strong> Briten nutzen mit dem<br />

stillschweigenden Einverständnis der USA alle möglichen<br />

Tricks, um das Recht der Chagossianer Innen<br />

auf Rückkehr und das des Volks von Mauritius auf die<br />

Chagos-Inseln zu blockieren. Der letzte dieser Tricks ist<br />

die Ausweisung einer „Marine Protected Area“ (Meeresschutzgebiet)<br />

um das Chagos-Archipel. <strong>Die</strong> Enthüllungen<br />

von Wikileaks haben unlängst das Komplott aufgedeckt,<br />

das das Tandem aus USA und Vereinigtem Königreich in<br />

dieser Frage inszeniert hat. Wikileaks hat den Austausch<br />

von Dokumenten enthüllt, die beweisen, dass es Ziel der<br />

„Marine Protected Area“ war, einen eventuellen Zugang<br />

der Chagossianer Innen zum Archipel zu verhindern.<br />

Einige Umweltorganisationen sind sich dadurch darüber<br />

klar geworden, dass sie einer ökologisch verpackten<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 35


Mauritius<br />

imperialistischen Machenschaft des Tandems aus USA und<br />

Vereinigtem Königreich getäuscht worden sind. Der Staat<br />

Mauritius hat ein Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof<br />

angestrengt, um gegen die „Marine Protected<br />

Area“ zu protestieren. Trotz dieses Verfahrens führen die<br />

Briten laut den jüngsten Informationen die Umsetzung<br />

ihres Projekts fort.<br />

Aber die politisch und wirtschaftlich herrschende<br />

Klasse von Mauritius trägt auch einen großen Teil an der<br />

Verantwortung für die Abtrennung der Chagos-Inseln<br />

und für die Einrichtung und das Fortbestehen der US-<br />

Militärbasis. Bei Verhandlungen zwischen den Briten und<br />

den maurizischen politischen Parteien kurz vor der Unabhängigkeit<br />

hatten die Repräsentant Innen der Bourgeoisie<br />

und der gegen die Unabhängigkeit eingestellten Rechten<br />

den Tausch des Chagos-Archipels gegen eine hohe Quote<br />

für den Export von Zucker in das Vereinigte Königreich<br />

vorgeschlagen. <strong>Die</strong> Stellung dieser Rechten gegen die Unabhängigkeit<br />

hat im Hinblick auf die Kräfteverhältnisse die<br />

Bedingungen dafür geschaffen, dass die Herausnahme der<br />

Chagos aus dem unabhängigen Territorium von Mauritius<br />

möglich geworden ist. Nachdem dies in den 1970er Jahren<br />

eine ihrer Hauptforderungen war, hat die MMM von Paul<br />

Bérenger wie alle Parteien der Mitte und der Rechten im<br />

Land inzwischen die Grundlage der US-Militärbasis auf<br />

den Chagos akzeptiert. Nur für die Souveränität von Mauritius<br />

über die Chagos treten sie weiter ein. So wollen sie<br />

an den Verhandlungen beteiligt werden, da der Pachtvertrag<br />

zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten<br />

Königreich 2016 ausläuft. Sie sind jedoch nicht gegen<br />

die Existenz der US-Militärbasis <strong>Die</strong>go Garcia.<br />

Für die antiimperialistische Linke auf Mauritius, darunter<br />

Rezistans ek Alternativ, ist es inakzeptabel, die Frage<br />

der Beseitigung der US-Militärbasis von der Frage der<br />

Souveränität von Mauritius über die Chagos und von dem<br />

Rückkehrrecht der Chagossianer Innen auf den Chagos-<br />

Archipel einschließlich <strong>Die</strong>go Garcia abzutrennen. Wir<br />

wollen diesen Kampf mit den drei Dimensionen, die für<br />

uns untrennbar zusammengehören, zusammen mit den<br />

sozialen und antimilitaristischen Bewegungen der USA,<br />

des Vereinigten Königreichs und im Rest der Welt führen.<br />

Sowie mit sämtlichen Kräften, die sich vor allem in Afrika<br />

gegen das US-Militärkommando für Afrika (Africom)<br />

stellen. <strong>Die</strong> Schließung der Militärbasen, darunter <strong>Die</strong>go<br />

Garcia, ist nicht nur vom Standpunkt der Rechte der<br />

Völker auf Mauritius und den Chagos und unter dem Gesichtspunkt<br />

des Friedens notwendig, mit der ökologischen<br />

und Klimakrise ist diese Frage vielmehr ein Imperativ des<br />

Überlebens für die Menschheit geworden. <strong>Die</strong> Militärausgaben<br />

müssen drastisch vermindert werden, damit ein<br />

ökosozialistisches Projekt der energetischen, wirtschaftlichen<br />

und sozialen Neuorganisation der Menschheit ausgearbeitet<br />

und umgesetzt werden kann.<br />

•Ashok Subron<br />

Mitglied der ökosozialistischen Organisation<br />

Rezistans ek Alternativ, Sprecher<br />

der Confédération syndicale de gauche<br />

– Solidarité und Aktivist der General<br />

Workers Federation – Joint Negotiating<br />

Panel (GWF – JNP), einem Gewerkschaftsverband.<br />

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn<br />

1 Organisation internationale du travail, „Rapport mondial<br />

sur les salaires. Note d’information sur l’Afrique 2011“, Dezember<br />

2011, S. 20.<br />

36 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Indonesien<br />

<strong>Die</strong> Bosse<br />

schlagen zurück<br />

<strong>Die</strong> neusten Streiks in Indonesien sind ein gutes Beispiel für die<br />

potenzielle Kraft und strategische Rolle der Arbeiterbewegung.<br />

<strong>Die</strong> monatelangen Kämpfe, vor allem in Industriegebieten in Bekasi,<br />

West-Java, mündeten in einen 24-stündigen Gener<strong>als</strong>treik in 80<br />

Industrieanlagen, die sich auf über 24 Städte verteilen.<br />

Zely Ariane<br />

•<br />

<strong>Die</strong> Bewegung erreichte bedeutende<br />

Lohnerhöhungen und Einschränkungen des Outsourcings<br />

in Indonesien. <strong>Die</strong> Bewegung brachte das Parlament<br />

auch dazu, das Sozialversicherungsgesetz „Social Security<br />

Organizing Body (indonesische Abkürzung: BJPS) zu verabschieden.<br />

Es soll die soziale Sicherheit und die Gesundheitsversorgung<br />

der Arbeiter Innen und Armen verbessern.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaften sind sich zwar uneinig über den Plan<br />

der Regierung, der auf dem Modell der privaten gewerblichen<br />

Versicherung basiert und höhere Arbeitnehmerbeiträge<br />

vorsieht. Dennoch ist die politische Wirkung der<br />

Bewegung nicht zu unterschätzen.<br />

<strong>Die</strong> indonesischen Arbeiter Innen waren sich ihrer eigenen<br />

Macht seit dem Niedergang von Suharto im Jahr 1998<br />

noch nie so bewusst. <strong>Die</strong> Bosse haben dies erkannt und<br />

gehen langsam, aber sicher zum Gegenangriff über. <strong>Die</strong><br />

Aktivist Innen verlassen sich dabei auf den KSPI (Verband<br />

der Indonesischen Gewerkschaften, einen der führenden<br />

Gewerkschaftsverbände des Landes) und insbesondere auf<br />

dessen Gründungsmitglied, den indonesischen Metallgewerkschaftsbund<br />

(FSPMI), der viele Teilnehmer Innen des<br />

Gener<strong>als</strong>treiks vom 3. Oktober 2012 mobilisiert hatte.<br />

In der jüngsten Welle der Auseinandersetzungen forderten<br />

die Arbeiter Innen einen Existenzlohn und wehrten<br />

sich gegen Outsourcing und Leiharbeit, die Behinderung<br />

von Gewerkschaften und die Kriminalisierung ihrer Führer.<br />

Außerdem kämpften sie für ein gerechteres Sozialversicherungs-<br />

und Gesundheitssystem.<br />

<strong>Die</strong>se Forderungen sind entscheidend, um das nationale<br />

Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiter Innen<br />

zu verschieben. Das indonesische Wirtschaftswachstum<br />

betrug in den letzten zwei Jahren jeweils rund sechs<br />

Prozent – dank einem großen Binnenmarkt, niedrigen<br />

Produktionskosten, billigen und flexiblen Arbeitskräften<br />

und verschiedenen, ergiebigen Rohstoffquellen. Während<br />

viele Teile der Welt mit ökonomischen Schwierigkeiten<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 37


Indonesien<br />

zu kämpfen haben, wird Indonesien infolge seines starken<br />

Wirtschaftswachstums zu einer immer bedeutenderen<br />

kapitalistischen Macht.<br />

Gleichzeitig werden die Rechte der Gewerkschaften<br />

kontinuierlich angegriffen. Medienunternehmen, zum<br />

Beispiel, verbieten gewerkschaftliche Aktivitäten am<br />

Arbeitsplatz und viele Gewerkschaftsführer müssen sich<br />

vor Gericht gegen f<strong>als</strong>che Beschuldigungen verteidigen.<br />

Trotz des Wirtschaftswachstums sind die Reallöhne seit<br />

1998 gesunken. <strong>Die</strong> Minimallöhne basieren auf einer<br />

Schätzung der Bedürfnisse der Arbeiter Innen, der sogenannten<br />

„Lohnbestandteile“ wie Nahrung, Unterkunft,<br />

Kleidung und so weiter. Weil die Lebenshaltungskosten<br />

in den verschiedenen Landesteilen stark variieren, werden<br />

die Minimallöhne regional festgelegt. <strong>Die</strong> Berechnungen<br />

fallen allerdings viel zu niedrig aus. <strong>Die</strong> von der Bewegung<br />

erkämpfte Minimallohnerhöhung ist ein wichtiger Schritt,<br />

sie garantiert jedoch noch keinen würdigen Lebensstandard,<br />

insbesondere wenn man die Inflation mit einrechnet.<br />

<strong>Die</strong> bedeutende Erhöhung der regionalen Minimallöhne<br />

(zwischen 7 und 60 Prozent) ist für alle indonesischen<br />

Arbeiter Innen ein Gewinn. In den Städten mit den aktivsten<br />

und kämpferischsten Arbeiterorganisationen gab es die<br />

deutlichsten Lohnerhöhungen. Sie sind das Resultat einer<br />

Reihe von Protesten, in denen die Arbeiter Innen eine<br />

Neuberechnung der Lebenshaltungskosten forderten.<br />

Doch kurz nachdem die Bewegung in Jakarta eine<br />

Lohnerhöhung von 44 Prozent durchgesetzt hatte, lobbyierte<br />

die Indonesische Industrie- und Handelskammer<br />

(KADIN) bei der Regierung für „Ausnahmen“, insbesondere<br />

in beschäftigungsintensiven Industrien wie im<br />

Schuh-, Bekleidungs- und Textilsektor. Zugleich wurde<br />

behauptet, Unternehmen müssten schließen, Investoren<br />

würden ihr Interesse verlieren und es werde zu sehr vielen<br />

Entlassungen kommen. Kurz: all die klassischen Argumente<br />

gegen Lohnerhöhungen. Das Industrieministerium<br />

bewilligte die Ausnahmen.<br />

Von diesem Rückschlag sind vor allem weibliche<br />

Angestellte betroffen, die in den erwähnten Sektoren die<br />

Mehrheit ausmachen.<br />

In der Freien Exportzone Cakung (KBN, Nusantara<br />

Bonded Zone) beantragten 60 Unternehmen mit insgesamt<br />

mindestens 80 000 Arbeitskräften (90 Prozent davon<br />

sind nicht organisierte, weibliche Leiharbeiterinnen) einen<br />

„Aufschub“ der Lohnerhöhung. <strong>Die</strong> Gewerkschaften haben<br />

gegen diese Gesuche keine Handhabe. <strong>Die</strong> Unternehmen<br />

berufen sich auf die Beurteilung durch Wirtschaftsprüfer,<br />

die angeblich ihre finanzielle Situation analysiert<br />

haben. Es gibt kein Prozedere, das den Gewerkschaften<br />

ermöglichen würde, solche Beurteilungen zu überprüfen<br />

oder anzufechten.<br />

Während der Entstehung dieses Artikels organisierte<br />

die Gewerkschaft Across Factory Labor Forum (FBLP)<br />

eine Protestaktion gegen zwei Unternehmen in der Freien<br />

Exportzone Cakung. Sie hatten ihre Angestellten unter<br />

Druck gesetzt, eine Erklärung zum Verzicht auf die<br />

Lohnerhöhung zu unterschreiben. <strong>Die</strong> FBLP organisiert<br />

auch wöchentliche Kundgebungen und Proteste gegen die<br />

„Ausnahmen“ bei den Lohnerhöhungen.<br />

Der Kampf gegen Auslagerungen und Leiharbeit muss<br />

weitergehen. Der Gewerkschaftsverband KSPI wertet es<br />

<strong>als</strong> Erfolg, dass das Arbeitsministerium das Outsourcing<br />

auf fünf Sektoren beschränken will: auf Verpflegung,<br />

Sicherheit, Transporte, Reinigung und unterstützende<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen in Bergbaugebieten. Tatsächlich ist diese<br />

Bestimmung aber schon seit 2003 im Gesetz enthalten.<br />

Ein echter Erfolg ist, dass die Solidaritätsproteste („geruduk“)<br />

zu festen Anstellungen von mindestens 40 000<br />

Arbeiter Innen geführt haben. Der KSPI und Sekber<br />

Buruh ( Joint Secretariat of Labor, ein Bündnis linksradikaler<br />

Gewerkschaften) werden sich auch weiterhin gegen<br />

Auslagerungen wehren.<br />

Gegenoffensive<br />

<strong>Die</strong> jüngsten Fortschritte der indonesischen Arbeiterbewegung<br />

bereiten der Regierung von Präsident Susilo<br />

Bambang Yudhoyono (allgemein bekannt <strong>als</strong> SBY) Kopfschmerzen.<br />

Der indonesische Arbeitgeberverband (APIN-<br />

DO) reagierte postwendend auf die anhaltenden Proteste<br />

und drohte, die Arbeiter Innen auszusperren. Zuvor hatten<br />

Unternehmen aus mehreren Industriegebieten in Bekasi<br />

die indonesische Polizei und Armee offiziell um „Schutz“<br />

gebeten. Sie behaupteten, das Management würde durch<br />

die laufenden Solidaritätskundgebungen bedroht. <strong>Die</strong> Arbeitgeber<br />

beklagen sich über „gewalttätige Gewerkschaftsaktivisten“<br />

und fordern Schutz für ihr Eigentum.<br />

Gleichzeitig haben die Unternehmen Schläger angeheuert,<br />

um gegen die Arbeiter Innen vorzugehen. Der erste<br />

Großangriff erfolgte gegen Streikposten von Samsung-<br />

Arbeitern. Samsung ist berüchtigt für seine Maßnahmen<br />

gegen Gewerkschaften und für seine kriminellen Aktivitäten.<br />

Der Metallgewerkschaftsbund (FSPMI) gehört zu<br />

den ersten Gewerkschaften, die es gewagt haben, sich mit<br />

diesem Unternehmen anzulegen.<br />

Nach mehreren ernsthaften Angriffen und Bedrohungen<br />

unterzeichneten einige Gewerkschaften in Bekasi,<br />

38 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Indonesien<br />

darunter auch der FSPMI, am 8. November 2012 eine Vereinbarung<br />

über einen „Arbeitsfrieden“. Unterzeichnende<br />

des Abkommens sind der Bürgermeister von Bekasi, der<br />

Chef des regionalen Parlaments, der Polizeichef, die lokale<br />

Militärführung, Arbeitgeber- und Unternehmerverbände<br />

sowie Gewerkschaftsvertreter. Auch die Dorfchefs in der<br />

Umgebung der Industriegebiete haben unterschrieben.<br />

<strong>Die</strong> Vereinbarung beschreibt die gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />

<strong>als</strong> Konfrontation, die von beiden Seiten<br />

ausging. Das Abkommen ist ein großer Rückschlag. Es<br />

legitimierte die Niederschlagung weiterer Kundgebungen<br />

in Bekasi und beendete die Solidaritätsproteste, die wichtigste<br />

Form der Arbeitskämpfe in dieser Region.<br />

Derweil werden Gewerkschaftsaktivisten weiter kriminalisiert<br />

und entlassen und verschiedene Unternehmen<br />

halten sich nicht an ihr Versprechen, den Arbeiter Innen<br />

feste Verträge zu geben. Streiks finden zwar noch immer<br />

statt, es ist aber schwieriger geworden, Solidaritätsproteste<br />

zu organisieren. Sekber Buruh veranstaltete kürzlich vor<br />

dem Sitz der nationalen Polizeibehörde eine große Kundgebung<br />

gegen die Einschüchterungen in Bekasi.<br />

Angesichts des zunehmenden Drucks der Bosse ist es<br />

nicht einfach, die Bewegung in Schwung zu halten. Nach<br />

den Angriffen durch die angeheuerten Schläger zögerte<br />

der Gewerkschaftsverband KSPI offenbar, Solidaritätsproteste<br />

zu organisieren. Der KSPI-Führer, Said Iqbal, ist eine<br />

Art Medienliebling, das salonfähige Gesicht der Arbeiterbewegung<br />

– er nutzte seine Bekanntheit aber nicht, um<br />

die andauernden Angriffe gegen Gewerkschafter in Bekasi<br />

anzuprangern.<br />

Noch in diesem Jahr sollen zwei Gesetze erlassen<br />

werden, die die demokratischen Rechte der indonesischen<br />

Arbeiter Innen verschlechtern könnten: das nationale<br />

Sicherheitsgesetz (RUU KAMNAS) und das „Gesetz über<br />

Massenorganisationen“ (RUU ORMAS). <strong>Die</strong> Arbeiterorganisationen<br />

wissen sehr gut, um was es bei dieser<br />

politischen Drohung geht, und machen sich für den Kampf<br />

gegen die Vorlagen bereit.<br />

Offenbar will die Kapitalistenklasse Indonesiens das<br />

Blatt wenden und die wachsende Arbeiterbewegung stoppen.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaftsbewegung kann dies nur verhindern,<br />

wenn sie an die Erfahrungen und das neue Selbstvertrauen<br />

aus den Kämpfen der letzten Monate anknüpft.<br />

Indonesien<br />

Einwohner<br />

Fläche<br />

Sprache<br />

Wirtschaft<br />

BIP<br />

Jakarta<br />

1,3 Mio.<br />

Der Inselstaat im Indischen Ozean ist<br />

mit 2040 km² etwas kleiner <strong>als</strong> das<br />

Saarland<br />

morisyen (eine Kreolsprache) wird von<br />

80 % der Einwohner gesprochen<br />

textilindustrie, Rohrzuckerproduktion<br />

(80 % der bebaubaren Fläche, was<br />

aber nur 2,2 % des BIP ausmacht),<br />

tourismus (2013 wahrscheinlich mehr<br />

<strong>als</strong> 1 Mio. Besucher Innen)<br />

Gemessen an afrikanischen Verhält-<br />

nissen ist das BIP/Kopf vergleichsweise<br />

hoch: 2011 lag es bei ca. 11 320 €.<br />

1 http://tinyurl.com/d2trfu7<br />

2 http://tinyurl.com/cbqjetc<br />

3 Minimum Wage Rise Undermines Cooperative Dispute:<br />

http://tinyurl.com/cjxyk8v<br />

4 Bosses Warn of Job Cuts: http://tinyurl.com/cp85pjt<br />

5 Industry Ministry Pushes Wage Hike Exception):<br />

http://tinyurl.com/cebzudp<br />

6 Firms Call for Delay to Minimum Wage Hike:<br />

http://tinyurl.com/cna7cah<br />

7 Indonesian Workers Demand an End to Outsourcing:<br />

http://tinyurl.com/bwwfvbn<br />

8 International Viewpoint: http://tinyurl.com/ccpxl8d und<br />

National Strike Called in Indonesia for October 3:<br />

http://tinyurl.com/c6e7v9c<br />

9 Workers Rally Against Indonesia’s Outsourcing System:<br />

http://tinyurl.com/cysf56o<br />

10 Businesses Vow to Lock out Workers:<br />

http://tinyurl.com/bw6smuq<br />

11 http://tinyurl.com/cu5pc52<br />

Zely Ariane ist in der sozialistischfeministischen<br />

Organisation Perempuan Mahardhika (Freie<br />

Frauen) aktiv und ist Mitglied der Partai Pembebasan Rakyat<br />

(People’s Liberation Party).<br />

•Übersetzung: Alena Wehrli<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 39


Mali<br />

intervention<br />

in Mali<br />

Normalerweise befasst sich die französische Regierung mit den<br />

Maliern nur im Zuge der Ausweisung aus Frankreich. Warum <strong>als</strong>o schwingt sie<br />

sich mit einem Mal zum Verteidiger der malischen Bevölkerung<br />

auf? Bei der Beantwortung dieser Frage stößt man zwangsläufig auf die eigene<br />

Verantwortung Frankreichs an der Krise in Mali.<br />

Paul Martial<br />

•<br />

<strong>Die</strong> Schuldenkrise der 80er Jahre hatte dramatische<br />

Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent.<br />

Während Mali 1968 noch mit 55 Mrd. CFA-Francs (83<br />

Mio. €) verschuldet war, ist die Verschuldung bis 2005<br />

auf 1766 Mrd. CFA-Francs (2,7 Mrd €) gestiegen. <strong>Die</strong><br />

„strukturellen Anpassungsmaßnahmen“ und die daraus<br />

abgeleitete Politik zur Entschuldung hoch verschuldeter<br />

armer Länder (HIPC-Initiative) hatten für Mali katastrophale<br />

Folgen. <strong>Die</strong> einheimischen Unternehmen wurden<br />

weitgehend privatisiert, wovon die multinationalen<br />

und v. a. französischen Konzerne erheblich profitierten.<br />

<strong>Die</strong> Elektrizitätsversorgung ging bspw. in die Hände des<br />

Bouygues-Konzerns über, der auch an der Rohstoffindustrie,<br />

wie etwa der Goldmine von Morila, beteiligt ist. <strong>Die</strong><br />

halbstaatliche Baumwollgesellschaft CMDT wurde teilweise<br />

an den agrarindustriellen Konzern Dagris verkauft,<br />

die Telekommunikation ging teilweise an Ikatel-Orange<br />

(vorm<strong>als</strong> France Télécom) und das staatliche Bewässerungsprojekt<br />

Office du Niger vertreibt Anbauflächen an<br />

„Landgrabber“. <strong>Die</strong> französische Handelsgesellschaft<br />

Delmas und der Mischkonzern Bolloré betreiben riesige<br />

Lagerhallen, in denen vorwiegend Baumwolle gelagert<br />

wird.<br />

<strong>Die</strong> „Strukturreformen“ führten außerdem dazu,<br />

dass der Staat geschwächt wurde und seinen sozialen und<br />

hoheitlichen Aufgaben nicht mehr nachgehen konnte.<br />

Das Gesundheits- und Erziehungswesen ist heruntergekommen<br />

und die desolate Verfassung der Armee hat sich<br />

gerade eindrucksvoll gezeigt. Am schlimmsten sind die<br />

Zustände in Nordmali, der ärmsten Region.<br />

40 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Mali<br />

Zugleich ist die Politikerkaste in Mali besonders korrupt.<br />

<strong>Die</strong> Seilschaft um Amadou Toumani Touré (ATT)<br />

und seine Sippe haben durch Bestechung und Schmuggel,<br />

besonders in Nordmali, Millionen Euro gescheffelt. Über<br />

den Schmuggel aller Art finanzieren sich nicht nur die<br />

bewaffneten Banden, u. a. des Dschihad, sondern auch der<br />

malische Militärstab und die Politikerkaste. Amadou Toumani<br />

Touré genoss stets die Unterstützung Frankreichs: <strong>als</strong><br />

Staatsoberhaupt nach dem Militärputsch, später, <strong>als</strong> er die<br />

Macht wieder einer Zivilregierung anvertrauen konnte,<br />

und schließlich, <strong>als</strong> er zweimal erfolgreich für die Präsidentschaftswahlen<br />

(2002 – 2007, 2007 – 2012) kandidierte,<br />

die zumindest beim zweiten Mal unter sehr fragwürdigen<br />

Bedingungen stattfanden. <strong>Die</strong>s alles hat Frankreich in<br />

gewohnter Manier hingenommen und Touré auch noch<br />

unterstützt, <strong>als</strong> er das Land schnurstracks in den Abgrund<br />

führte.<br />

Bei der Militärintervention in Libyen war Frankreich<br />

die Speerspitze. Genau wie heute im Falle Malis berief<br />

sich Sarkozy auf eine Notfallsituation – dam<strong>als</strong> waren es<br />

die Panzerkolonnen, die im Begriff waren, in die befreite<br />

Stadt Bengasi einzudringen. Alles Weitere ist bekannt:<br />

Aus dem Eingreifen zur Blockade dieser Kolonnen wurde<br />

später eine massive Militärintervention der NATO, die<br />

die Libyer um die Früchte ihrer Revolution gebracht und<br />

sie daran gehindert hat, in den eroberten Gebieten eigene<br />

Machtorgane zu gründen. Durch die forcierte Militarisierung<br />

des Konflikts und die brutale Ausschaltung Gaddafis<br />

wurde ein Machtvakuum geschaffen, in dem sich Dschihadisten<br />

und Schmuggler nach Belieben in den Waffenarsenalen<br />

bedienen konnten. Zudem wurde durch den<br />

völlig unvorbereiteten Sturz des libyschen Regimes, ohne<br />

dass sich eine glaubwürdige Regierungsalternative hätte<br />

herausbilden können, die gesamte Region destabilisiert<br />

und um eine vermittelnde Instanz bei den Konflikten in<br />

der Saharazone gebracht.<br />

Frankreichs Spiel mit dem Feuer<br />

Frankreich und auch den anderen imperialistischen Mächten<br />

ist klar, dass Touré nicht ernsthaft an der Bekämpfung<br />

von al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM) interessiert<br />

war. Für Frankreich geht es hier um fundamentale<br />

Interessen, da die AREVA große Summen in die Uranförderung<br />

in der Grenzzone zwischen Niger und Mali<br />

investiert hat. <strong>Die</strong> MNLA gilt ihnen <strong>als</strong> Hilfstruppe zur<br />

Sicherung der Förderminen und zur Abwehr der AQIM.<br />

<strong>Die</strong> Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad<br />

(MNLA) ist eine säkulare Organisation der Tuaregs, die<br />

Mali<br />

Fläche<br />

Einwohner<br />

BIP/Kopf<br />

Armut<br />

Bamako<br />

mali ist mit 1,25 km² etwa dreieinhalb<br />

mal so groß wie Deutschland<br />

14,6 Mio.<br />

810 US $, wobei drei Viertel der<br />

Bevölkerung täglich weniger <strong>als</strong> 1 US $<br />

zur Verfügung hat.<br />

mehr <strong>als</strong> ein Drittel der Bevölkerung<br />

hat keinen sicheren Zugang zu sau -<br />

berem Trinkwasser. <strong>Die</strong> durch-<br />

schnittliche Lebenserwartung liegt<br />

bei 48,1 Jahren. Mangelernährung,<br />

Hygieneprobleme, Infektionskrank-<br />

heiten (Cholera und Tuberkulose<br />

können regelmäßig auftreten.)<br />

für die Unabhängigkeit von Azawad im Norden Malis<br />

kämpft. Entstanden ist sie <strong>als</strong> Zusammenschluss verschiedener<br />

Organisationen der Tuaregs. Ihre Kampftruppen<br />

stammen vorwiegend aus Libyen, wo sie in der Armee<br />

dienten. Nach Gaddafis Sturz sind sie mit Waffen und<br />

MG-armierten Fahrzeugen nach Mali zurückgekehrt,<br />

ohne dass der Konvoi auf diesen mehreren Tausend Kilometern<br />

behelligt worden wäre. Der damalige Chef der<br />

französischen Diplomatie, erklärte dam<strong>als</strong> wie heute, dass<br />

Verhandlungen mit der MNLA überfällig seien und verschaffte<br />

ihnen damit Aufwind und Rückendeckung: „Paris<br />

ist für eine politische Aussprache zwischen den Maliern.<br />

Alain Juppé meinte dazu, dass die Konflikte nur durch<br />

politische Verständigung und nicht durch Konfrontation<br />

zu lösen seien. Dafür sei ein Dialog zwischen den Maliern<br />

unerlässlich. Außerdem erinnerte er daran, dass Frankreich<br />

die territoriale Integrität Malis respektieren würde und<br />

der Hauptfeind die al-Qaida des Islamischen Maghreb<br />

(AQIM) sei.“<br />

<strong>Die</strong> Ereignisse entwickelten sich jedoch anders, <strong>als</strong> es<br />

die Strategen vom Quai d‘Orsay [das französische Außenministerium]<br />

vorhergesehen hatten. <strong>Die</strong> MNLA schloss<br />

mit den Dschihadisten ein Bündnis für den Kampf gegen<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 41


Mali<br />

die malische Armee und wurde anschließend von ihren<br />

Verbündeten aus den großen Städten des Nordens vertrieben.<br />

Unter den Dschihadisten gibt es vier Gruppen: Ansar<br />

Dine ist eine Organisation der Tuaregs, die den Zusammenschluss<br />

mit der MNLA ablehnt und für die Einführung<br />

der Scharia eintritt; Al-Qaida des Islamischen Maghreb<br />

(AQIM) entwickelte sich aus der algerischen Salafisten-<br />

Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC); <strong>Die</strong> Bewegung für<br />

Einheit und Dschihad in Westafrika (MUJAO) und Boko<br />

Haram, eine terroristische Sekte aus Nord-Nigeria, die<br />

sowohl den nigerianischen Staat <strong>als</strong> auch die christlichen<br />

Bewohner bekämpft.<br />

Frankreichs Militärintervention folgt einer langen<br />

einschlägigen Tradition: Etwa sechzig Mal hat Frankreich<br />

seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten eingegriffen.<br />

<strong>Die</strong> Strategie ist, seinen politischen und ökonomischen<br />

Einfluss durch bedingungslose Unterstützung der jeweiligen<br />

Diktaturen zu sichern, die wiederum für diese Rundumversicherung<br />

die französischen Interessen wahren. Für die<br />

französischen Konzerne herrschen dadurch regelrecht paradiesische<br />

Zustände im Geschäft mit Landwirtschaftsprodukten,<br />

Logistik, Transport- und Telekommunikationswesen,<br />

aber auch bei der Ausbeutung der Bodenschätze, besonders<br />

von Uran und Erdöl.<br />

Wenn irgend möglich, vermeidet die französische Diplomatie<br />

direkte Eingriffe – so auch bei der Krise in Mali.<br />

Stattdessen greift sie auf Umwegen ein, bspw. über den<br />

Vorsitz der Afrikanischen Union, den Boni Yayi aus Benin<br />

innehat. Bei dessen Frankreichbesuch am 30. Mai riet ihm<br />

Hollande, dass die Union beim UNO-Sicherheitsrat um<br />

Unterstützung für eine afrikanische militärische Intervention<br />

ersuchen solle. „Als er auf die möglichen Auswege aus<br />

der Krise zu sprechen kam, regte der französische Präsident<br />

die Ecowas und die Afrikanische Union an, den UNO-<br />

Sicherheitsrat damit zu befassen, „einen Interventionsplan<br />

zu erstellen, um in Mali und darüber hinaus der Sahelzone<br />

wieder stabile Verhältnisse schaffen zu können“. Als er die<br />

Mitteilung über den Beginn der französischen Militärintervention<br />

erhielt, wähnte sich Hollande „im siebenten<br />

Himmel“.<br />

Der zweite Hebel, den Frankreich benutzt, ist die Westafrikanische<br />

Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, deren<br />

Vorsitzender Alassane Ouattara seinen Posten <strong>als</strong> Präsident<br />

der Elfenbeinküste französischen Panzern verdankt. <strong>Die</strong><br />

seinerzeitige Rechtfertigung für die Intervention lautete,<br />

man müsse dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen<br />

Geltung verschaffen – obwohl dies unter sehr fragwürdigen<br />

Bedingungen zustande kam. Der Vermittler der ECOWAS<br />

in der Mali-Krise ist ausgerechnet Blaise Compoaré, ein<br />

alter Bekannter in dem Beziehungsgeflecht Frankreichs mit<br />

den alten Kolonien (Françafrique), seit er Thomas Sankara<br />

in Burkina Faso beseitigt hat – nebenbei auch Komplize<br />

von Charles Taylor war, der wegen Verbrechen gegen<br />

die Menschlichkeit in Liberia und Sierra Leone verurteilt<br />

wurde.<br />

Als die Militärführung malische Soldaten an die Front<br />

schicken wollte, mit der Zusicherung, dass Waffen und<br />

Munition nachkämen, brach eine Revolte in der Kaserne<br />

von Kati aus, die etwa 15 km von der Hauptstadt Bamako<br />

entfernt liegt. <strong>Die</strong> Meuterer richteten sich gegen den Präsidentenpalast,<br />

der von ein paar Mitgliedern der Präsidentengarde<br />

halbherzig verteidigt wurde. Touré musste fliehen<br />

und die Aufständischen ergriffen die Macht und kündigten<br />

die Schaffung eines Nationalrats an. Der Putsch wurde von<br />

der radikalen Linken unterstützt sowie von den Bürgerrechtsorganisationen<br />

und einem Teil der Gewerkschaften,<br />

die später die Volksbewegung des 22. März gründeten.<br />

Sie wollten damit <strong>als</strong> politischer Flügel der aufständischen<br />

Militärs fungieren.<br />

Frankreich war sich mit den afrikanischen Machthabern<br />

über das Risiko einig, dass sich Mali aus der Kuratel befreien<br />

könnte, und sie setzten alles daran, die zuvor so geschmähten<br />

Herrscher wieder in den Sattel zu hieven. <strong>Die</strong> ECOWAS<br />

verhängte eine Wirtschaftsblockade, die sich recht schnell<br />

bemerkbar machte, da das Land quasi eingekesselt ist. Alle<br />

Versuche einer tiefgreifenden politischen Reform in Einklang<br />

mit den Interessen der Bevölkerung wurden von den<br />

Widersachern sabotiert und sie konnten schließlich den Präsidenten<br />

der Nationalversammlung ins Amt hieven, obwohl<br />

dieser weder vom Volk noch von der Verfassung legitimiert<br />

war. ECOWAS blockierte sogar, obwohl die Dschihadisten<br />

ihre Positionen ausbauten, die Löschung der Schiffe in den<br />

Häfen von der von Mali völlig legal erworbenen Waffen in<br />

den Häfen von Dakar und Conakry. <strong>Die</strong>se Blockade wurde<br />

erst aufgehoben, <strong>als</strong> die malische Regierung schriftlich um<br />

militärischen Beistand von außen ersuchte.<br />

Kriegstreiber<br />

Frankreich bemühte sich unterdessen intensiv darum, die<br />

internationale Gemeinschaft auf eine Militärintervention<br />

zur Konfliktlösung einzustimmen. Es verfasste die UNO-<br />

Resolution und beackerte monatelang die Skeptiker in der<br />

UNO, den USA und selbst in Algerien, das letztlich gegen<br />

die eigene Überzeugung die Aufnahme von Verhandlungen<br />

mit bestimmten Gruppen wie der MNLA und Ansar Dine<br />

schlucken musste.<br />

42 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Mali<br />

Beobachter wie Jacquemot in der Wochenzeitung<br />

L’Express belegen, dass diese Intervention von langer<br />

Hand vorbereitet war: „<strong>Die</strong> Auslösung der französischen<br />

Intervention erfolgte spontan, aber <strong>als</strong> solche war sie geplant.<br />

<strong>Die</strong>s zeigt schon die durchdachte Durchführung der<br />

Gegenoffensive über die bedrohten Ortschaften hinaus“.<br />

Auch der Verteidigungsminister Le Drian sprach schon<br />

2012 davon, dass die Intervention unabwendbar sei.<br />

Einmal mehr dient die angebliche Dringlichkeit einer<br />

Militärintervention <strong>als</strong> Vorwand, die Diskussion zu ersticken<br />

und nach und nach weitergehende Ziele zu verfolgen.<br />

Ursprünglich sollte durch die Intervention der Vormarsch<br />

der Dschihadisten gestoppt werden. Nachdem inzwischen<br />

dieses Ziel erreicht ist, wird ein neues vorgegeben: „die<br />

Islamisten sollen vernichtet und der malische Staat gesichert<br />

werden“, was Frankreichs Außenpolitik Tür und Tor<br />

öffnet. <strong>Die</strong> Intervention überschreitet jeden international<br />

rechtlichen Rahmen, wenn man bedenkt, dass die Resolution<br />

2085 des UNO-Sicherheitsrats nur das Eingreifen<br />

afrikanischer Streitkräfte autorisiert hat. Frankreich hat im<br />

Nachhinein ein Placet des Sicherheitsrats erhalten – jedoch<br />

gegen starke Vorbehalte der dortigen Militärexperten.<br />

Um den rechtlichen Anschein zu wahren beruft sich<br />

Frankreich darauf, auf Ersuchen des malischen Präsidenten<br />

gehandelt zu haben, der wiederum über keinerlei verfassungsgemäße<br />

oder plebiszitäre Legitimation verfügt.<br />

<strong>Die</strong> Intervention wird noch andauern, da die gut<br />

ausgebildeten und bewaffneten Dschihadisten starken<br />

Widerstand leisten. Außerdem sind sie zu der Taktik übergegangen,<br />

sich zu zerstreuen und die kleinen und mittleren<br />

Städte zu infiltrieren. Damit sind Luftangriffe wirkungslos<br />

geworden und dienen nur noch dazu, feste Ziele wie<br />

Trainingslager, Munitionsdepots oder Kommandostellen<br />

zu bombardieren. Es wird in jedem Falle Bodenkämpfe<br />

geben, die ersten Gefechte haben sich die französischen<br />

Truppen bereits in Diabali geliefert. Theoretisch wären<br />

solche Operationen Aufgabe der afrikanischen Truppen,<br />

aber diese sind entweder – wie die aus Niger oder Senegal<br />

– wenig effizient oder sie kennen – wie die nigerianische<br />

Armee – nicht das Terrain. Also werden die französischen<br />

Truppen dies übernehmen müssen und dabei durchaus in<br />

die vorderste Front geraten. Eine lang dauernde Operation<br />

ist bereits angedacht, zumal 2500 Soldaten nach Mali<br />

entsandt werden sollen.<br />

Nebenbei bemerkt kostet die Intervention auf ihrem<br />

heutigen Stand jeden Tag 400 000 Euro, was in Zeiten der<br />

Stoppt die französische Militärintervention in Mali!<br />

Erklärung der Sozialistischen Arbeiterpartei (PST) Algeriens<br />

Wie schon 2011 in der Elfenbeinküste geht es bei der französischen<br />

Militärintervention in Mali nach bewährter kolonialistischer Manier<br />

darum, den „afrikanischen Hinterhof“ wieder unter ihre Kuratel zu<br />

zwingen, nachdem sich China und andere Großmächte im Zuge<br />

der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise dort eingenistet haben.<br />

Das von Bush für Afghanistan und Irak bemühte Alibi der „terroristischen<br />

Bedrohung“ dient im Falle Malis auch Hollande,<br />

der uns ernsthaft glauben machen will, dass „Frankreich dabei<br />

keine politischen oder wirtschaftlichen Absichten verfolge“ und<br />

dass seine Kampfflugzeuge und Armada – unter Ausschluss der<br />

Öffentlichkeit – nur „der Freiheit dienen“, Seit an Seit mit den<br />

Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas<br />

– Ländern, in denen selbst keine Freiheit herrscht. <strong>Die</strong>ser<br />

„Altruismus“ Frankreichs erinnert fatal an die „zivilisatorische<br />

Mission“ im 19. Jahrhundert, unter der das algerische Volk in der<br />

finsteren Kolonialära zu leiden hatte.<br />

Trotzdem hat das algerische Regime mit Blick auf die 2014 anstehenden<br />

Präsidentschaftswahlen dem Druck der Imperialisten<br />

nachgegeben. Bouteflika hat den französischen Bombern gestattet,<br />

unseren Luftraum zu nutzen, und die Schließung unserer<br />

Grenzen verfügt. Gerade wo wir den 50. Jahrestag unserer Unabhängigkeit<br />

feiern, ist die Kehrtwendung des algerischen Regimes<br />

und die Kooperation mit den französischen Kriegstreibern eine<br />

politische Zäsur, die die Souveränität des Landes herabsetzt und<br />

Algerien zum Komplizen eines neokolonialen Manövers macht.<br />

Wie bei den Revolten in den arabischen Ländern und sogar in<br />

Europa hat die Krise in Mali ihre Ursachen in den wirtschaftlichen<br />

und sozialen Verheerungen, die der Neoliberalismus hervorgebracht<br />

hat und die von den imperialistischen Mächten und Institutionen<br />

den abhängigen Ländern aufgezwungen und von den<br />

dortigen diktatorischen Regimes willfährig umgesetzt werden.<br />

Was die Bevölkerung Malis – ob im Süden oder Norden – braucht,<br />

ist Unabhängigkeit, Würde und Wohlstand und keineswegs<br />

Bomben und Knechtschaft. Es ist Sache des malischen Volkes,<br />

die bewaffneten islamistischen Banden zu vertreiben, die ihnen<br />

ihre Gesetze auferlegen wollen. Allein das malische Volk muss<br />

frei über seine Zukunft entscheiden.<br />

Nationales Sekretariat der PST,<br />

algerische Sektion der IV. Internationale, 17. Januar 2013<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 43


Mali<br />

Austeritätspolitik keine Kleinigkeit ist, zumal wenn man<br />

bedenkt, was man mit diesen Summen im Gesundheitsund<br />

Sozialwesen in Nordmali erreichen könnte.<br />

Durch den Ausbau der „Antiterrormaßnahmen“ in<br />

Frankreich und die Beschwörung der Bedrohung durch<br />

den Terrorismus soll die Nation zusammengeschweißt<br />

werden. Zugleich aber nimmt dadurch der Rassismus in<br />

Frankreich weiter zu und der Islam wird einmal mehr zur<br />

Bedrohung stilisiert.<br />

Bereits sechs Tage nach Ausbruch des Konflikts verzeichnet<br />

das UNO-Flüchtlingswerk über 150 000 Menschen,<br />

die aus den Kriegsgebieten in gleichermaßen arme<br />

Länder geflohen sind, sowie 230 000 Binnenflüchtlinge.<br />

Das Vakuum, das die fliehenden Dschihadisten in den<br />

großen Städten hinterlassen, droht mangels politischer Prävention<br />

in Stammeskonflikte aufgrund alter Ressentiments<br />

auszuarten. Aus vielerlei Gründen droht ein Gewaltausbruch<br />

oder zumindest eine Spirale mörderischer Konflikte,<br />

die durch die neu gegründeten Selbstverteidigungsmilizen<br />

der verschiedenen Stämme angeheizt wird. Zum einen<br />

sind haufenweise Waffen in der Region in Umlauf. Zum<br />

anderen sind weitere Milizen entstanden, besonders die<br />

Ganda Iso („Söhne des Landes“ in der Sprache von Songhai),<br />

eine der drei Komponenten der FLNM (nordmalische<br />

Befreiungsfront). Außerdem vertritt die MNLA inzwischen<br />

die Position, dass die malische Armee in Nordmali<br />

nichts zu suchen habe.<br />

<strong>Die</strong> Lage ist in beunruhigender Weise mit der in der<br />

Demokratischen Republik Kongo vergleichbar, wo es den<br />

UNO-Truppen trotz ihrer Präsenz nicht gelingt, diese<br />

Gewaltspirale einzudämmen. Hier wie dort sind neben<br />

Stammeskonflikten enorme wirtschaftliche Interessen im<br />

Spiel, bei denen es um allerlei Schmuggelgeschäfte, besonders<br />

mit Drogen, geht. Das spektakulärste Beispiel war der<br />

Absturz einer Boeing 727 auf dem Weg nach Europa, die<br />

voll mit Kokain im Marktwert von mehreren Millionen<br />

Euro war. Inzwischen gibt es auch schon Presseberichte<br />

über Gräueltaten seitens der malischen Armee.<br />

Unser Standpunkt ist internationalistisch<br />

Wir beziehen klar Position gegen eine „Politik der nationalen<br />

Einheit“. Auch wenn sich manche zu Recht über die<br />

Barbarei der Dschihadisten und die Leiden der Bevölkerung<br />

empört haben, dürfen wir uns den Blick nicht dafür<br />

trüben lassen, dass ein langer, harter und teurer Krieg<br />

bevorsteht.<br />

Frankreich ist die Ursache der Probleme und kann daher<br />

nicht Teil der Lösung sein. Denn ein Land, das seit der<br />

Imperialistische Interessen<br />

Der französische Atomkonzern Cogema (heute AREVA) entdeckte<br />

vor Jahren Uran-, Kupfer-, Silber- und Bauxitvorkommen<br />

bei Falea im Grenzgebiet zu Senegal. <strong>Die</strong> Bauxitvorkommen<br />

zählen zu den größten der Welt.<br />

Im Jahre 2007 schloss die Firma Delta exploration, heute<br />

Rockgate Capital Corp. mit der Regierung Malis einen Vertrag<br />

über den Abbau dieser Rohstoffe in 80 Kilometer Entfernung<br />

von der von AREVA entdeckten Lagerstätte und plante eine<br />

große Mine. Bohrproben ergaben einen Urangehalt von bis<br />

zu über 6 %. Über die Vertragsklauseln wurde Stillschweigen<br />

vereinbart. Wahrscheinlich wurde ein Gebiet von insgesamt<br />

150 Quadratkilometer an die Gesellschaft abgetreten.<br />

Dort soll die Erde bis auf 300 Meter Tiefe abgetragen, staubfein<br />

zermahlen und mit Wasser und Chemikalien vermischt<br />

werden, um die Rohstoffe trennen zu können, was u. a. katastrophale<br />

Folgen für den Grundwasserspiegel hätte.<br />

Quelle: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Mali<br />

Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten unentwegt die<br />

schlimmsten Diktaturen, Massaker und Kriege unterstützt<br />

hat und in den Völkermord in Ruanda verwickelt war, ist<br />

sicherlich nicht dazu berufen, die Völkerrechte in Afrika<br />

zu verteidigen. Wir müssen uns eindeutig von diesem<br />

Françafrique distanzieren und von seiner Unterstützung<br />

für die Diktatoren, die sich darin ausdrückt, dass Hollande<br />

Staatsbesuche von Bongo, Déby, Compoaré etc. empfängt<br />

und gegenüber den Demonstranten kein Wort über die<br />

Gewalttaten der Repressionskräfte in Togo verliert.<br />

Unsere Solidarität gilt den fortschrittlichen Kräften in<br />

Afrika und Mali, die sich gegen die französische Intervention<br />

stellen.<br />

Paul Martial ist Afrikakorrespondent<br />

von TEAN, der Wochenzeitung der französischen NPA, aus<br />

deren online-Version wir den vom 16. Januar stammenden<br />

Artikel entnommen haben.<br />

•Übersetzung: MiWe<br />

44 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Südafrika<br />

Klassenkampf – Lohn<br />

der Ausbeutung<br />

Landarbeiter Innen in Western Cape, Südafrika, kämpfen gegen Misshandlung<br />

und Ausbeutung, für Rechte, die sie seit dem Ende der Apartheid auf dem<br />

Papier schon haben, und für Rechte, die sie darüber hinaus beanspruchen.<br />

Mercia Andrews<br />

•<br />

„Ich verdiene 800 Rand im Monat und<br />

muss damit meine achtköpfige Familie ernähren, kleiden<br />

und versorgen. Wir können gerade so überleben. Ich kann<br />

es mir nicht leisten, Schulschuhe für die Kinder zu kaufen.<br />

Ich ertrage es nicht länger.“ Gertie Beukes, Landarbeiterin<br />

in Ashton. „Wir produzieren die Lebensmittel, die wir uns<br />

nicht leisten können, wir sind oft hungrig“, sagt Denico<br />

Swartz, ein Landarbeiter aus Robertson. (Landarbeiter-<br />

Innen bei einem Treffen in Ashton, Western Cape am 26.<br />

November 2012)<br />

Rebellion auf den Farmen<br />

<strong>Die</strong> Proteste und Mobilisierungen, die am 6. November in<br />

der Kleinstadt De Doorns begannen, brachten den angestauten<br />

Ärger von Farmbewohner Innen über Jahrzehnte<br />

extremer Ausbeutung und Unterdrückung auf Farmen, in<br />

ländlichen Gemeinden und im Agrarsektor im Allgemeinen<br />

zum Ausdruck.<br />

De Doorns unterscheidet sich nicht von Hunderten kleiner<br />

ländlicher Städte in Western Cape und in Südafrika. <strong>Die</strong><br />

Missstände und Probleme, von denen die Landarbeiter Innen<br />

und ländlichen Armen sprechen, gibt es von den Hex River<br />

Mountains in Western Cape bis zu den südafrikanischen<br />

Grenzen bei Limpopo und Mpumalanga. Allerdings muss<br />

der Aufstand in De Doorns <strong>als</strong> wichtiges Ereignis betrachtet<br />

werden. Wie Marikana im Bergbausektor hat „De Doorns“<br />

Landarbeiter Innen und die ländlichen Armen elektrisiert.<br />

Wie die Forderung der Bergarbeiter nach „12 500 Rand im<br />

Monat“ wurde die der Landarbeiter Innen nach „150 Rand<br />

pro Tag“ zur zentralen Forderung dieses Kampfes.<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 45


Südafrika<br />

Bergbau und Landwirtschaft, die historische Basis des<br />

südafrikanischen Kapitalismus, sind schwer erschüttert.<br />

<strong>Die</strong> spontanen Proteste und oft selbstorganisierten<br />

Aktionen von Landarbeiter Innen auf Farmen und in<br />

ländlichen Städten sind historisch, begeisternd und haben<br />

das ländliche Establishment völlig überrascht. Selbst die<br />

Ministerin für Landwirtschaft, Fischerei und Forsten, Tina<br />

Joernat-Petterson erkannte das, <strong>als</strong> sie sagte: „Farmen und<br />

Landwirtschaft in Western Cape werden nie mehr so sein<br />

wie zuvor“.<br />

Bedeutsam an der Entwicklung in Western Cape ist,<br />

dass sich eine Bevölkerung, die unter fast feudalen Bedingungen<br />

arbeitete und schlecht organisiert war (weniger<br />

<strong>als</strong> 5 Prozent sind Gewerkschaftsmitglieder), in einigen<br />

der reichsten und produktivsten Farmgebieten spontan<br />

erhoben hat, einen Lohn, der zum Leben reicht, sowie die<br />

radikale Umgestaltung des ländlichen Raumes forderte.<br />

Eine neue Generation von Landarbeiter Innen ist im<br />

Südafrika der Nachapartheid herangewachsen. Es handelt<br />

sich um junge Arbeiter Innen, die ihren Eltern vorwerfen,<br />

sich nicht gegen die jahrzehntelange Unterdrückung auf<br />

den Farmen gewehrt zu haben. Sie sind besser ausgebildet,<br />

und im Falle von De Doorns und Robertson spielten<br />

Handys und soziale Medien wie Mixit eine große Rolle,<br />

um Landarbeiter Innen in der Nachbarschaft zu motivieren<br />

und es ihnen zu erleichtern, sich an Aktionen zu beteiligen.<br />

Zugang zu sozialen Organisationen, Fernsehen und<br />

Radio hatten einen bedeutenden Anteil am Aufbrechen<br />

der Isolation und Marginalisierung der Landarbeiter-<br />

Innen und ermöglichte Koordination – wie verhalten auch<br />

immer.<br />

Landfrauen, von denen viele Saisonarbeiterinnen sind,<br />

spielten eine führende Rolle bei der Mobilisierung auf<br />

Gemeindeebene in den Townships und den informellen<br />

Siedlungen am Rande der Farmen. In vielen Fällen führten<br />

sie die Proteste und ermunterten die Männer zu folgen.<br />

<strong>Die</strong>se Frauen verdienen oft weniger <strong>als</strong> die Männer und<br />

haben unsicherere Beschäftigungsbedingungen.<br />

Ursachen des Streiks<br />

Es ist wichtig zu wissen, was die Kämpfe in De Doorns<br />

auslöste. Was führte zu dem historischen Erwachen in<br />

den ländlichen Gebieten? Und warum konnten sich der<br />

Streik und die Proteste in kurzer Zeit auf viele der umliegenden<br />

ländlichen Städte in Western Cape ausdehnen?<br />

Im Wesentlichen handelt es sich um eine Reihe von<br />

objektiven und subjektiven Gründen, die zum Entstehen<br />

der Streiks und Proteste führten. Der zentrale Grund<br />

ist, dass sich trotz der Änderung in den Arbeitsgesetzen<br />

seit 1994 auf den südafrikanischen Farmen wenig<br />

geändert hat. Vielmehr sind viele der gegenwärtigen<br />

Arbeitsbeziehungen eine Fortsetzung des „Baasskap“ der<br />

Apartheidzeit, d. h. feudaler sozialer und wirtschaftlicher<br />

Herr-<strong>Die</strong>ner-Beziehungen. Es gibt weiterhin massive<br />

Menschenrechtsverletzungen, wie aus vielen örtlichen<br />

Berichten und dem vor kurzem veröffentlichten Bericht<br />

„Ripe with Abuse“ (dt. etwa: „Misshandlung allenthalben“)<br />

von Human Rights Watch hervorgeht. Das neue<br />

Arbeitsgesetz (Labor Relations Act) sowie andere Arbeitsgesetze,<br />

die gute Arbeitsbedingungen vorschreiben,<br />

werden von den Farmbesitzern weitgehend ignoriert.<br />

Das Arbeitsministerium, das überwachen und Inspektionen<br />

auf den Farmen durchführen soll, ist nicht in der<br />

Lage, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Sie haben nur<br />

sehr eingeschränkten Zugang zu den Farmen und – was<br />

schlimmer ist – verbünden sich manchmal insgeheim mit<br />

den Farmbesitzern gegen die Arbeiter Innen.<br />

In vielen Treffen in den letzten Wochen erzählten<br />

Landarbeiter Innen, wie sie leben und arbeiten:<br />

„In dieser Woche habe ich nur 240 Rand verdient<br />

und ich weiß nicht warum. Ich bekomme keinen Lohnzettel.“<br />

(Bonnievale)<br />

„Als ich der Gewerkschaft beitrat, wurde mir gesagt,<br />

dass ich von seiner Farm verschwinden soll, er will keine<br />

Unruhestifter haben.“ (François, Ashton)<br />

„Sie sind so grob und verletzend, sie sind rassistisch<br />

und sprechen sehr schlecht zu uns.“ (Betty, De Doorns)<br />

Es gibt viele Geschichten, die von Gewalt und Einschüchterung<br />

sprechen:<br />

„Einige von uns standen gedrängt zusammen, um sich<br />

vor dem Regen zu schützen. Der Farmmanager kam auf<br />

uns zu und befahl uns, weiterzuarbeiten. Plötzlich fing er<br />

an, uns mit einem Spaten zu schlagen.“ (Gawie, Ashton)<br />

„Kurz bevor der Streik weitergehen sollte, stellte<br />

uns der Farmer vor einem Zaun auf, zielte mit seinem<br />

Gewehr auf uns und drohte, uns zu erschießen, wenn wir<br />

uns an dem Streik beteiligen würden.“<br />

Aus vielen dieser Erzählungen ging klar hervor, dass<br />

viele Landarbeiter Innen weit weniger <strong>als</strong> den Mindestlohn<br />

von 70 Rand pro Tag verdienen und dass das der<br />

wesentliche Punkt der Auseinandersetzung ist. „Ich<br />

arbeite auf einer Aprikosenfarm an der Straße nach<br />

Montague, wo ich 89 Cent für jeden von mir gefüllten<br />

25-Kilo-Behälter bekomme, und wenn ich lausige 89<br />

Rand am Tag verdienen will, muss ich 100 Behälter mit<br />

Aprikosen füllen. Nach einer solchen Woche tun mir alle<br />

46 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


Südafrika<br />

Knochen weh und ich kann kaum aufrecht stehen.“ (Margriet,<br />

Montague)<br />

Das sind Geschichten über Not und Leiden. Viele erzählen<br />

ähnliches darüber, wie sie ständig erniedrigt, herabgesetzt<br />

und sogar geschlagen werden: „Mein Boss hat sieben<br />

Farmen, aber wir haben keine Toiletten und <strong>als</strong> wir Toiletten<br />

forderten, sagte er, dass er lieber eine weitere Farm kaufen<br />

würde anstatt Toiletten zu installieren … Seine Kinder<br />

sind alle auf der Universität und haben Autos. Wir können<br />

uns nichts leisten, noch nicht einmal Schulschuhe.“<br />

Probleme bei der Organisierung von<br />

Landarbeiter Innen<br />

Zurzeit gibt es etwas mehr <strong>als</strong> 500 000 Landarbeiter Innen<br />

in Südafrika, von denen der größte Teil (121 000) in Western<br />

Cape beschäftigt ist. Sehr wenige Landarbeiter Innen<br />

sind organisiert, das gilt für permanente und saisonale<br />

Arbeitskräfte gleichermaßen. Nur drei bis fünf Prozent<br />

sind gewerkschaftlich organisiert. <strong>Die</strong> Geschichte der<br />

Arbeiterbewegung Südafrikas zeigt, dass es extrem schwer<br />

war, während der Apartheidzeit Landarbeiter Innen zu organisieren.<br />

Der Grund war die strenge staatliche Kontrolle<br />

über die ländlichen Gebiete, die es sehr schwer machte, die<br />

Farmen zu erreichen, wo die meisten Landarbeiter Innen<br />

lebten.<br />

<strong>Die</strong> Teile des Western Cape, in denen die Proteste und<br />

Streiks am intensivsten waren, sind auch die Regionen, die<br />

am besten organisiert und in denen kleine Gewerkschaften,<br />

soziale Bewegungen, Bauernverbände und NGOs stärker<br />

vertreten sind.<br />

Das demokratische Südafrika hat eine <strong>ganze</strong> Menge<br />

fortschrittlicher Gesetze erlassen – einschließlich der Verfassung,<br />

die das Recht auf Organisations- und Meinungsfreiheit<br />

garantiert. Während theoretisch jede(r) das Recht<br />

hat, einer selbstgewählten Gewerkschaft anzugehören und<br />

zu streiken, wurden den meisten Landarbeiter Innen wegen<br />

der im südafrikanischen Farmwesen vorherrschenden Bedingungen<br />

von Angst und Einschüchterung diese Rechte<br />

verweigert. Sich einer Gewerkschaft anzuschließen, führt<br />

oft zu Vertreibung oder Einschränkungen.<br />

Eine andere Schwierigkeit bei der Organisierung von<br />

Landarbeiter Innen ist die isolierte Lage der Farmen und<br />

der dort lebenden Landarbeiter Innen. Anders <strong>als</strong> städtische<br />

Arbeiter Innen müssen Landarbeiter Innen regelrecht<br />

kämpfen, um sich regelmäßig zu treffen. Es fehlt an Zugang<br />

zu öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen Ressourcen,<br />

um sich miteinander in Verbindung zu setzen und<br />

zu organisieren.<br />

Südafrika<br />

Einwohner<br />

Sprachen<br />

BIP/Kopf<br />

Pretoria<br />

Etwa 90 % der 49,5 Mio. Einwohner-<br />

Innen sind keine Weißen (haupt-<br />

sächlich AfrikanerInnen, aber auch<br />

menschen indischer Abstammung).<br />

Es gibt 11 amtliche Landessprachen,<br />

die Bedeutung des <strong>als</strong> „Sprache der<br />

Apartheid“ verhassten Afrikaans geht<br />

zurück, während sich Englisch immer<br />

mehr <strong>als</strong> allgemeine Verkehrssprache<br />

durchsetzt, da es von den meisten<br />

verstanden wird<br />

8 300 €; 43 % (fast ausnahmslos<br />

Schwarze) leben in absoluter Armut,<br />

80 % der Ackerböden gehören<br />

Weißen, die weniger <strong>als</strong> 10 % der<br />

Bevölkerung stellen.<br />

Hinter dem Streik steckt auch wachsende Armut, ironischer<br />

Weise vertieft durch steigende Lebensmittelpreise.<br />

Niedrige Löhne und steigende Kosten haben die Verzweiflung<br />

zu einem Punkt getrieben, wo die Landarbeiter Innen<br />

– durch Auf begehren – wenig zu verlieren hatten.<br />

Landarbeiter Innen beklagen, dass sie den größten Teil<br />

ihres mageren Einkommens für Lebensmittel ausgeben<br />

und trotzdem hungrig sind. Das ist eine Klage sowohl<br />

derjenigen, die auf den Farmen leben, <strong>als</strong> auch derjenigen,<br />

die Kontrakt- oder Saisonarbeiter Innen sind. <strong>Die</strong>jenigen,<br />

die auf den Farmen leben, kaufen ihre Lebensmittel oft auf<br />

Kredit in den Läden, die die Farmer dort einrichten. Hier<br />

bezahlen sie auch die Elektrizität für Prepaid-Zähler , die<br />

kürzlich in ihren Behausungen, die Bretterbuden ähneln,<br />

eingerichtet wurden. Oft müssen sie auch Miete zahlen<br />

und einen zusätzlichen Beitrag für Kinder, die bei ihnen<br />

leben, aber nicht auf der Farm arbeiten.<br />

Das Ergebnis sind direkte Lohnabzüge wegen des<br />

Schuldbetrages. <strong>Die</strong>ses Farm-Kredit-System führt dazu,<br />

dass sich Tausende von Arbeiter Innen in einer wachsenden<br />

Schuldenfalle wiederfinden. Darüber hinaus müssen die<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 47


Südafrika<br />

Landarbeiter Innen auch Schulgebühren und in einigen<br />

Fällen auch für die Unterbringung in Wohnheimen zahlen.<br />

<strong>Die</strong>se Belastung, die Familie und die erweiterte Familie zu<br />

ernähren und für sie zu sorgen, bedeutet weiteren Druck<br />

auf das magere Einkommen.<br />

Ungleichheit wird besonders heftig empfunden, wo<br />

verarmte Landarbeiter Innen in solcher Nähe zu den Farmern<br />

und ihren Familien leben. Eklatante Ungleichheit in<br />

den Lebensbedingungen, Hygiene, Transport, Mobilität,<br />

Zugang zur Gesundheitsversorgung usw. springen geradezu<br />

ins Auge. Landarbeiter Innen werden so dazu gebracht,<br />

sich <strong>als</strong> Untermenschen zu empfinden, wenn Ursache und<br />

Wirkung verwechselt werden. Je mehr der Landarbeiter/<br />

die Landarbeiterin nicht hat, desto weniger gesteht man<br />

ihm/ihr zu. In dem zum Beispiel den Landarbeiter Innen<br />

anständige Sanitäranlagen in den Weinbergen und auf den<br />

Feldern verweigert werden, verfestigt das die Auffassung<br />

des Farmers, dass seine Beschäftigten wie Tiere sind. Das ist<br />

augenscheinlich, wenn man von Farm zu Farm geht.<br />

Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich der schlafende<br />

Gigant gerührt. Eine neue Periode bricht an. Landarbeiter-<br />

Innen in mehr <strong>als</strong> zwanzig Städten in Western Cape haben<br />

sich mobilisiert und begonnen, sich auf den Farmen und in<br />

den informellen Siedlungen, in denen viele Wanderarbeiter<br />

leben, zu organisieren. Bei den Protesten und dem Streik<br />

haben Kontrakt- und Saisonarbeiter Innen – einschließlich<br />

derer, die auf den Farmen leben und derer, die jeden Tag<br />

gebracht werden – zusammen gearbeitet. Vielleicht sollte<br />

man sich an die folgenden Worte von Karl Marx erinnern,<br />

wenn man die Lastwagen voller Arbeiter Innen auf ihrem<br />

täglichen Weg zu den Farmen sieht: „Der Kapitalismus hat<br />

seine eigenen Totengräber geschaffen“.<br />

Durch die Proteste entstanden auch neue Formen der<br />

Selbstorganisation auf den Farmen, wie der Aufbau von<br />

Arbeiter Innen-Komitees. Es ist bedeutsam, dass die Bündnisse<br />

zwischen Kleinbauernorganisationen, Landarbeiter-<br />

Innen und sozialen Initiativen sich nicht nur zusammen<br />

fanden, um die Proteste zu unterstützen, sondern dass auch<br />

neue Verbindungen entstanden zwischen den grundlegenden<br />

Forderungen der Landarbeiter Innen und denen, die auf<br />

eine radikale Umwälzung des ländlichen Raumes abzielen.<br />

Mercia Andrews arbeitet <strong>als</strong> Aktivistin<br />

auf dem Gebiet des Landrechts. Sie ist Mitglied der<br />

Demokratischen Linken Front.<br />

•Übersetzung:<br />

W. Weitz<br />

48 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

50<br />

GENMANIPULIERTE ORGANISMEN: Friss und Stirb!<br />

Nachdem bereits die „Grüne Revolution“ daran gescheitert ist, den Hunger<br />

auszurotten, soll es nun die Gentechnik richten – zum Nutzen der Agrarkonzerne.<br />

55<br />

Élysée-Vertrag: Motor der „europäischen Einigung“?<br />

Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser Élysée-Palast ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet,<br />

mit dem die deutsch-französische Zusammenarbeit beschlossen wurde.


<strong>Die</strong> Internationale<br />

FRISS UND<br />

STIRB!<br />

Mit der Patentierung genmanipulierter Organismen ist das Tor zur<br />

weltweiten Diktatur der Saatgutproduzenten aufgestoßen. Selbst<br />

Fehler und Irrtümer lassen sich so noch vergolden: Zur Abhängigkeit der<br />

Landwirtschaft von den Saatgutproduzenten kommt der Zwang<br />

zum Kauf von immer mehr Pestiziden noch dazu.<br />

Nationale Ökologiekommission der NPA<br />

•<br />

Am 19. September 2012 erschien in der Fachzeitschrift<br />

Food and Chemical Toxicology" ein Artikel<br />

über die Ergebnisse einer Studie, die Gilles-Éric Séralini<br />

gemeinsam mit dem Comité de recherche et d’information<br />

indépendantes sur le génie génétique (Criigen) betrieben<br />

hatte. Gegenstand der Studie war der gentechnisch veränderte<br />

Mais der Sorte NK603 (resistent gegen Glyphosat)<br />

und das Herbizid Roundup. <strong>Die</strong> darin veröffentlichten<br />

Fotos von Ratten, die mit Tumoren übersät waren, gingen<br />

um die Welt. Aus diesem Anlass veröffentlichte die Ökologiekommission<br />

der französischen NPA ein Dossier über<br />

die Gentechnik, das wir hier in Übersetzung abdrucken.<br />

Ein offener Skandal<br />

<strong>Die</strong> über zwei Jahre hinweg geführte Langzeitstudie<br />

ergab, dass mit Mais der Sorte NK603 – mit oder ohne<br />

Roundup (Handelsname für Glyphosat) behandelt – gefütterte<br />

oder auch nur diesem Herbizid ausgesetzte Ratten<br />

Tumore und schwere pathologische Veränderungen<br />

entwickelten. Seralini stellte fest, dass die Gene und die<br />

Zellstrukturen durch horizontalen Gentransfer betroffen<br />

waren. Neben den bereits bekannten Nebenwirkungen<br />

– Fettsucht, Unfruchtbarkeit und ZNS-Erkrankungen<br />

– müssen Glyphosat demnach erhöhte Tumorhäufigkeit<br />

und weitere Krankheitshäufungen zugeschrieben werden.<br />

Mit Auchan und Carrefour (französische Supermarktketten)<br />

fallen zwei der Finanziers dieser Studie aus dem<br />

Rahmen, denen man schwerlich Sorge um die Gesundheit<br />

der Bevölkerung unterstellen kann. Sie werden wohl<br />

eher davon umgetrieben, dass sich ein Skandal wie weiland<br />

um BSE („Rinderwahn“) wiederholen könnte, der<br />

50 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

ihnen die Umsätze schmälern und sie schlimmstenfalls<br />

auch juristisch belangbar machen würde.<br />

Rufmordkampagne <strong>als</strong> Krisenkommunikation<br />

- <strong>Die</strong> Veröffentlichung dieser Studie hat zu einer regelrechten<br />

wissenschaftlichen Rufmordkampagne geführt.<br />

Wissenschaftliche Akademien, die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

(Efsa) und andere Expertengremien<br />

(darunter der deutsche Schweinezüchterverband [AdÜ])<br />

haben ihre Schmutzkübel über die Arbeit von Seralini<br />

ausgeschüttet. Kein Zweifel, dass die Studie Schwachstellen<br />

enthält und aufgrund limitierter Budgets und Probandenzahl<br />

keine endgültigen Schlussfolgerungen erlaubt.<br />

<strong>Die</strong>s heißt aber nur, dass die Untersuchung unter nicht<br />

anfechtbaren Bedingungen wiederholt werden muss.<br />

<strong>Die</strong> heftigsten Kritiker Seralinis sind diejenigen, die<br />

die Zulassung des Genmaises zu verantworten haben.<br />

Und auch das von Monsanto vorgelegte Versuchsprotokoll<br />

weist ernste Schwachstellen auf und bekanntlich schreckt<br />

Monsanto nicht davor zurück, die Daten zu manipulieren,<br />

um eine Zulassung zu erwirken. Insofern fällt die doppelzüngige<br />

Polemik eher auf ihre Urheber zurück.<br />

Ungeachtet der konkreten Ergebnisse wirft die Studie<br />

ein Schlaglicht auf die gängigen Zulassungsverfahren<br />

und deren Evaluationsmethode:<br />

• <strong>Die</strong> Studien werden unter Schweigepflicht und bar<br />

jeder Transparenz durchgeführt;<br />

• <strong>Die</strong> Versuchsprotokolle werden von der Industrie entlang<br />

ihrer Erfordernisse definiert. In diesem Zusammenhang<br />

entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, wenn<br />

den Autoren der Studie die Verwendung eines bestimmten<br />

Rattenstamms vorgeworfen wird, der übrigens genau<br />

derselbe ist wie bei Monsanto;<br />

• <strong>Die</strong> Firmen entscheiden über die Dauer der Versuche,<br />

die üblicherweise bei genmanipulierten Organismen und<br />

bei Herbiziden 90 Tage beträgt, obwohl die Folgewirkungen<br />

bekanntlich langfristig evaluiert werden müssen.<br />

Daneben gibt es gravierende Interessenskonflikte innerhalb<br />

der Zulassungsbehörden: <strong>Die</strong> vormalige Vorsitzende<br />

der Efsa arbeitete anschließend für die Biotechnologielobby<br />

und die Sachverständigen und Forscher pendeln<br />

– mitunter parallel – in ihrer Karriere zwischen öffentlichem<br />

<strong>Die</strong>nst und Privatwirtschaft.<br />

• Das Prinzip der substantiellen Äquivalenz, das bewirkt,<br />

dass die Eigenschaften genmanipulierter Pflanzen<br />

<strong>als</strong> Nahrungsmittel nicht untersucht werden, mit dem<br />

Argument, dass eine genmanipulierte Tomate auch eine<br />

Tomate ist, beruht auf keinerlei wissenschaftlichem<br />

Nachweis.<br />

SofortmaSSnahmen<br />

Genmanipulierte Pflanzen gehören nicht in eine Landwirtschaft,<br />

die verantwortlich mit der Biosphäre und der Gesundheit<br />

der Menschen umgeht. Zu deren Erhaltung bedarf es folgender<br />

Sofortmaßnahmen:<br />

• Eine unabhängige Institution muss mit einer neuen Studie<br />

auf Kosten von Monsanto und unter unanfechtbaren Bedingungen<br />

beauftragt werden.<br />

• <strong>Die</strong> europäische Gesetzgebung muss revidiert werden, sodass<br />

die Gesundheit der Menschen und die Erhaltung der Umwelt<br />

grundlegend berücksichtigt werden.<br />

•Alle bereits auf dem Markt befindlichen transgenen<br />

Pflanzen müssen unabhängigen Studien unterzogen werden, in<br />

denen sie ihre Unschädlichkeit unter Beweis stellen müssen. Dasselbe<br />

gilt für Pestizide und deren Beistoffe.<br />

• Mais der Sorte NK 603 muss sofort vom Markt genommen<br />

werden<br />

• Alle Zulassungsstudien müssen von öffentlichen Forschungsinstituten,<br />

aber auf Kosten der Auftraggeber durchgeführt<br />

werden. In Frankreich käme dafür die INRA (Nationales<br />

Institut für Agronomieforschung) infrage, was aber voraussetzen<br />

würde, dass deren Verbundenheit mit der industrialisierten<br />

Landwirtschaft und besonders der Gentechnikindustrie gelöst<br />

werden muss.<br />

• Kritiker der bestehenden Systeme wie Seralini müssen gesetzlich<br />

geschützt werden.<br />

• Lobbyisten dürfen in öffentlichen Institutionen nicht mehr<br />

vertreten sein.<br />

• Intensive Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen<br />

chemischer Produkte müssen durchgeführt werden. Es geht<br />

bspw. um die Klärung, warum in Frankreich Tumorerkrankungen<br />

des Verdauungstraktes am häufigsten vorkommen oder warum<br />

Morbus Parkinson wegen der Exposition gegenüber Pestiziden<br />

<strong>als</strong> Berufskrankheit in der Landwirtschaft anerkannt ist, während<br />

die dort Beschäftigten nicht die einzigen sind, die diesen Substanzen<br />

ausgesetzt sind.<br />

Dabei darf man nicht vergessen, dass wir – leider<br />

– auf Freilandversuche zurückgreifen können. Eine in<br />

der Viehzucht in den USA durchgeführte Studie zeigt,<br />

dass es diese substantielle Äquivalenz nicht gibt. <strong>Die</strong> mit<br />

genveränderter (gv) Luzerne gefütterten Rinder leiden<br />

unter Mangelerscheinungen und weisen eine erhöhte<br />

Tumorhäufigkeit auf. Was Glyophosat angeht, gibt es<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 51


<strong>Die</strong> Internationale<br />

menschliche Versuchskaninchen – die Argentinier. <strong>Die</strong><br />

Kritiker Seralinis, die Krokodilstränen über die angeblich<br />

nicht rechtzeitig getöteten Ratten vergießen, scheren<br />

sich keinen Deut an den dortigen Dorfbewohnern, die<br />

neben den transgenen Sojaplantagen in einem der größten<br />

Soja-Erzeugerländer leben. Das Verzeichnis der dort<br />

gehäuft auftretenden Erkrankungen lässt schaudern und<br />

reicht von bösartigen Tumoren über neurodegenerative<br />

Erkrankungen bis hin zu vorgeburtlichen Missbildungen.<br />

Der Skandal um die Gentechnik zeigt, wie es um<br />

unser vorgeblich demokratisches System bestellt ist, das<br />

in Wahrheit eine Plutokratie ist, die sich Experten <strong>als</strong> Feigenblatt<br />

halten.<br />

Sie privatisieren die lebendige Natur, um<br />

die Menschheit zu kontrollieren<br />

<strong>Die</strong> Sparte von Monsanto ist die chemische Industrie:<br />

PCB, Agent Orange, Aspartam etc. Was zählt, ist der<br />

Profit und nicht die Gesundheit. Und mit den Roundupresistenten<br />

genmanipulierten Pflanzen (Roundup Ready,<br />

RR) haben sie das große Los gezogen. Sie verdienen<br />

durch den Verkauf von Saatgut und des dazu gehörigen<br />

Herbizids im Paket. Und das auf Dauer!<br />

Aufgrund des Patentschutzes dürfen die Bauern nicht<br />

säen, was sie im Vorjahr geerntet haben. Und wer die<br />

Tantiemen nicht bezahlt, wird von Monsanto belangt, sogar<br />

wenn das eigene Feld durch die transgenen Pflanzen<br />

auf dem Nachbaracker kontaminiert worden ist.<br />

<strong>Die</strong> Diktatur der Saatgutkonzerne - Nachdem<br />

er die Arbeiter Innen ausgebeutet und die Bodenschätze<br />

ausgeschöpft hat, nimmt der Kapitalismus jetzt die<br />

Biosphäre ins Visier, die Diversität der Ökosysteme und<br />

die Artenvielfalt, die aus der Arbeit von Hunderten von<br />

Generationen von Züchtern und Bauern hervorgegangen<br />

ist. <strong>Die</strong> Saatgutkonzerne verfolgen nur ein Ziel, nämlich<br />

den Bauern jede Eigenständigkeit zu rauben und sie zu<br />

zwingen, alljährlich Saatgut, Dünger, Pflanzenschutzmittel<br />

etc. zu kaufen. Durch die Terminator-Technologie<br />

(zurzeit mit einem [rechtlich unverbindlichen] Moratorium<br />

belegt), die den Keimling im ausgereiften Samenkorn<br />

abtötet, sollen die Bauern nunmehr endgültig um ihre<br />

Unabhängigkeit und ihr Können gebracht werden.<br />

Nur vier Konzerne teilen sich 53 % des weltweiten<br />

Saatguthandels: die beiden US-Konzerne Monsanto und<br />

Dupont, die Schweizer Syngenta und die französische<br />

„Kooperative“ Limagrain. Ihr Ziel ist nicht die Entlastung<br />

der Kleinbauern, sondern deren Knechtung. Sie müssen<br />

sich verschulden, um Samen, Pestizide und Dünger zu<br />

kaufen und sind auf Gedeih und Verderb dem Unbill des<br />

Klimas ausgesetzt. Wenn sie in Zahlungsnöte geraten,<br />

ziehen sie es mitunter vor, sich umzubringen, wie dies<br />

tausende indischer Kleinbauern getan haben, indem sie<br />

die Pestizide geschluckt haben, durch die sie ins Elend<br />

gestürzt worden sind. <strong>Die</strong> versprochenen Erträge lassen<br />

meist auf sich warten, da die genmanipulierten Pflanzen<br />

für bestimmte Anbaubedingungen entwickelt wurden<br />

und nicht an die klimatischen und anbautechnischen Bedingungen<br />

der indischen oder afrikanischen Kleinbauern<br />

angepasst sind.<br />

Eine landwirtschaftliche Katastrophe - <strong>Die</strong> ökologischen<br />

und sozioökonomischen Konsequenzen sind<br />

katastrophal. <strong>Die</strong> verschiedenen Kontinente haben sich<br />

landwirtschaftlich derart spezialisiert, dass sie voneinander<br />

abhängen: Südamerika auf transgenen Soja, die USA<br />

auf transgenen Mais und Europa auf Getreide. Durch<br />

diese Spezialisierung findet kein Fruchtwechsel mehr<br />

statt. In Frankreich werden keine Leguminosen mehr <strong>als</strong><br />

Stickstofflieferanten im Wechsel angebaut, obwohl sie<br />

durchaus <strong>als</strong> Alternativen zu Soja infrage kämen: Ackerbohnen,<br />

Erbsen, Luzerne, Klee. <strong>Die</strong> Soja-Monokultur in<br />

Südamerika durch Direktsaat und ohne Bodenbearbeitung<br />

(was bei bestimmten Fruchtfolgen durchaus sinnvoll<br />

sein kann) hat zu Verkargung und Humusverlust der<br />

Ackerböden geführt. Allein in Argentinien sind davon<br />

19 Millionen Hektar und somit über 50 % des Ackerlands<br />

betroffen. Und dieses Land wurde den Pampas oder den<br />

Regenwäldern abgetrotzt, was an sich schon ein unwiederbringlicher<br />

Verlust für die Biodiversität war. Durch<br />

die großflächige Entwaldung werden Treibhausgase<br />

freigesetzt und die Böden unwiederbringlich degradiert.<br />

Ganze Volksstämme wurden mit Waffengewalt von<br />

ihrem Land vertrieben, darunter indigene Völker, die nur<br />

in den Wäldern (über)leben konnten – und alles nur, um<br />

ein paar weitere tausend Hektar ausbeuten zu können.<br />

Auf der <strong>ganze</strong>n Welt werden Bauern enteignet. <strong>Die</strong><br />

Saatgutkonzerne usurpieren die Saatrechte, die die<br />

Bauern geschaffen haben. Durch die Nichteintragung in<br />

den offiziellen Sortenkatalog verbieten sie die Nutzung<br />

der Saaten, während sie selbst schamlos davon Gebrauch<br />

machen, um ihre Gentechnikpflanzen und sterilen Hybride<br />

herzustellen. Seit Anbeginn war umstritten, ob sich<br />

diese transgenen Pflanzen von selbst ausbreiten können.<br />

Inzwischen ist dies bewiesen. Raps ist eng mit dem Senf<br />

verwandt und in den USA sind Kontaminationsfälle<br />

nachgewiesen worden. Schlimmer ist, dass in Mexiko<br />

– der Wiege aller Maissorten auf der Welt – wilder<br />

52 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

Mais kontaminiert worden ist. Dadurch ist ein Erbe der<br />

Menschheit bedroht.<br />

Monsanto und die Hungerkatastrophe<br />

<strong>Die</strong> Agrarindustrie verbreitet, dass genmanipulierte<br />

Pflanzen mit einem geringeren Verbrauch von Pestiziden<br />

einhergehen und Hungersnöte ausrotten würden.<br />

Es gibt zwei Kategorien von genmanipulierten Pflanzen<br />

und eine davon (59 %) ist resistent gegen Herbizide. Und<br />

wenn Monsanto den ersten transgenen Mais entwickelt hat,<br />

geschah dies, um den Absatz von Roundup zu mehren und<br />

nicht, um die Verkaufszahlen zu mindern. Selbst wenn sie<br />

pulverisiert werden, behalten diese Pflanzen ihre Eigenschaften<br />

und werden zu regelrechten Herbizidschwämmen.<br />

Manche gv-Pflanzen (15 %) sind in der Lage, selbst<br />

ein Insektizid zu produzieren. Ein Beispiel hierfür ist der<br />

Bt-Mais, dem ein Gen des Bacillus thuringiensis eingeschleust<br />

wurde und der dadurch gegen die Larven des<br />

Maiszünslers (Schmetterlingsart) resistent ist. Allerdings<br />

ist er dadurch auch toxisch für andere Schmetterlingsarten<br />

– sog. „Nichtzielorganismen“ – und kann dort Mutationen<br />

hervorrufen 2 .<br />

Zucht resistenter Pflanzen zur Mehrung des<br />

Herbizidabsatzes - <strong>Die</strong> statistischen Erhebungen in<br />

den USA über den Einsatz von Pestiziden sind alarmierend:<br />

Beim Anbau genmanipulierter Pflanzen werden<br />

mehr Pestizide gebraucht <strong>als</strong> bei herkömmlichen Pflanzen<br />

(2008: +12 % bei Mais und +237 % bei Soja) und die Ausbringung<br />

von Pestiziden in diesen Kulturen steigt ständig<br />

(zwischen 1996 und 2008: +21 % bei Mais und +85 % bei<br />

Soja). Der Grund dafür ist in der Selektionstheorie von<br />

Darwin zu finden. Bestimmte Unkräuter, die durch Roundup<br />

eliminiert werden sollen, entwickeln Resistenzen. In<br />

Lebenssmittel-produktion in zahlen<br />

Milliarden Menschen, <strong>als</strong>o die<br />

für 2050 vorhergesagte gesamte<br />

Weltbevölkerung könnten mit<br />

den gegenwärtig erzeugten Nah-<br />

9rungsmitteln ernährt werden.<br />

1868<br />

Millionen Menschen leiden an Unterernährung<br />

4<br />

Pflanzen decken 99 Prozent der weltweit<br />

gesamten Menge gemanipulierter Agrarprodukte:<br />

Baumwolle 15 %, Soja 47 %, Mais<br />

32 %, Raps 5 % (Zahlen von 2011.)<br />

53<br />

Prozent des weltweiten Saatguthandels teilen<br />

sich vier Konzerne: Monsanto und Dupont (USA),<br />

Syngenta (Schweiz) und Limagrain (Frankreich).<br />

MaSSnahmen gegen <strong>Die</strong> Agrarindustrie<br />

Auf dem Spiel stehen die Nahrungssouveränität und die Souveränität<br />

schlechthin, da die Menschheit kontrolliert, wer die Landwirtschaft<br />

kontrolliert. Daher<br />

• müssen diese Konzerne entschädigungslos und unwiderruflich<br />

enteignet werden;<br />

• muss die Macht der Agrarindustrie gebrochen werden, da sie<br />

für Umweltverschmutzung, Bodenerosion, Zerstörung der Subsistenzwirtschaft,<br />

Wasserverschwendung und Lebensmittelskandale<br />

verantwortlich ist und die Vielfalt der Ernährung und somit die Gesundheit<br />

bedroht;<br />

• muss demokratisch und unter Kontrolle der Beschäftigten<br />

und Bewohner über die Nahrungsmittelproduktion entschieden<br />

werden, wobei ökologische und gesundheitliche Aspekte im Vordergrund<br />

stehen müssen;<br />

• müssen genmanipulierte Organismen verboten werden;<br />

• müssen die EU-Agrarpolitik reformiert und Kleinbauern wieder<br />

gezielt gefördert und unterstützt werden;<br />

• müssen Exportsubventionen verboten werden;<br />

• desgleichen chemische Düngemittel, was eine Umstellung auf<br />

biologische Erzeugung beinhaltet.<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 53


<strong>Die</strong> Internationale<br />

den USA betrifft dies etwa 20 Pflanzen, wobei diese Zahl<br />

insofern geschönt ist, <strong>als</strong> eine Pflanze erst dann <strong>als</strong> resistent<br />

gilt, wenn sie das Vierfache der empfohlenen Dosis<br />

übersteht. Ein bekanntes Beispiel ist amaranthus palmeri, ein<br />

Fuchsschwanzgewächs, das Stickstoffdünger stark verzehrt,<br />

pro Pflanze mehrere Hunderttausend Samen produziert<br />

und große Hitze verträgt. Seine Wurzeln sind so<br />

hart, dass sich die Mäh- und Dreschmaschinen die Zähne<br />

daran ausbeißen. Angesichts der massenhaften Ausbreitung<br />

auf den Äckern haben die US-Farmer zunächst die<br />

Herbizid-Dosis erhöht, was dazu geführt hat, dass sich die<br />

überlebenden Pflanzen angesichts fehlender Konkurrenz<br />

umso stärker ausgebreitet haben.<br />

Daraufhin hat Monsanto zum Einsatz von 2,4 D geraten,<br />

einem altbekanntem Gift, das <strong>als</strong> Agent Orange<br />

im Vietnamkrieg zu traurigem Ruhm gelangt ist und<br />

an dessen Spätfolgen Vietnam noch heute leidet. Seither<br />

entwickelt der Konzern gv-Pflanzen, die gegen zwei verschiedene<br />

Herbizide resistent sind. <strong>Die</strong>se Flucht nach vorn<br />

führt zur weiteren Zunahme des Pestizid-Einsatzes. <strong>Die</strong><br />

Farmer waren letztlich gezwungen, den Amarant von Studenten<br />

oder Arbeitslosen mit mechanischem Werkzeug<br />

einzeln rausreißen zu lassen. Ähnliche Anpassungsmechanismen<br />

gab es bei den Baumwoll- und Maisschädlingen.<br />

Wem nützen die genmanipulierten Pflanzen?<br />

- Nachdem bereits die „Grüne Revolution“ daran<br />

gescheitert ist, den Hunger auszurotten, soll es nun die<br />

Gentechnik richten. Nach Angaben der Welternährungsorganisation<br />

FAO leiden 1868 Millionen Menschen<br />

an Unterernährung, soviel wie die USA, Kanada und<br />

Europa zusammen an Einwohnern haben. Und jährlich<br />

verhungern fünf Millionen Kinder.<br />

Dabei landet ein Drittel der landwirtschaftlichen<br />

Erzeugnisse auf dem Müll, durch Misswirtschaft in den<br />

reichen und durch mangelnde Infrastruktur in den armen<br />

Ländern. Mit den gegenwärtig erzeugten Nahrungsmitteln<br />

könnte die gesamte Weltbevölkerung ernährt<br />

werden und sogar die für 2050 vorhergesagten neun<br />

Milliarden. In erster Linie ist die Agrarpolitik der reichen<br />

Länder für den Hunger in der Welt verantwortlich. Sie<br />

überschwemmen den Markt in den Entwicklungsländern<br />

mit ihren Erzeugnissen und zerstören auf diese Art<br />

die dortige agrarische Subsistenzwirtschaft. Und durch<br />

die Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln wird eine<br />

künstliche Verknappung erzeugt.<br />

Wenn schon nicht die Armen, wen dann ernährt die<br />

Gentechnik? Auf lediglich vier Pflanzen entfallen 99 %<br />

(Zahlen von 2011) der weltweit gesamten Agrarproduktion.<br />

Abgesehen von der Baumwolle (15 %) ist dies<br />

an erster Stelle das Soja (47 %), das <strong>als</strong> Viehfutter den<br />

steigenden Fleischbedarf in den reichen Ländern gewährleistet<br />

und in geringem Maß <strong>als</strong> Lebensmittel und in zunehmendem<br />

Maß <strong>als</strong> Agrotreibstoff dient. Mit 32 % folgt<br />

der Maisanbau, der zu mehr <strong>als</strong> der Hälfte ebenfalls zur<br />

Biotreibstoffproduktion verwendet wird. Zuletzt mit 5 %<br />

der Raps, der in der Nahrungsindustrie oder <strong>als</strong> Biodiesel<br />

Verwendung findet.<br />

Das heißt, dass die gv-Pflanzen letztlich den Fleischverzehr<br />

in den Industrieländern und den Autoverkehr<br />

unterhalten. Nachdem man die Rinder zu Körnerfressern<br />

gemacht hat, lässt man sie jetzt ihr Futter picken. Wenn<br />

sie aber Körnerfresser wären, hätten sie nicht vier Mägen.<br />

<strong>Die</strong> Verwendung der Ernten für Agrotreibstoffe sorgt<br />

mithin für die Hungerrevolten und Hungertoten auf der<br />

Welt. Erst recht ist die CO2-Bilanz dabei katastrophal.<br />

Profitabel hingegen ist dies für die Industrie, in Frankreich<br />

bspw. für den Biodiesel-Produzenten Sofiprotéol<br />

(in dessen Vorstand der Vorsitzende der Landwirtschaftslobby<br />

FNSEA sitzt), der nebenbei ein Steuergeschenk<br />

über 54 Mio. Euro erhält. n Übersetzung: MiWe<br />

1 Tout est à nous 172 vom 29.11.2012<br />

2 Hier weicht die Übersetzung vom Original ab, da sich kein<br />

eindeutiger Beleg für die dortige Behauptung finden ließ.<br />

54 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

Motor der<br />

„europäischen Einigung“?<br />

<strong>Die</strong> Feiern zum Jahrestag des „Élysée-Vertrags“ wurden zum Werfen<br />

von Nebelkerzen genutzt. Den Herrschenden in beiden Ländern ging es 1963<br />

wie heute darum, von der tatsächlichen Motivation für diesen Vertrag, den<br />

wirtschaftlichen Interessen, abzulenken.<br />

Jakob Schäfer<br />

•<br />

Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser<br />

Élysée-Palast der nach ihm benannte Freundschaftsvertrag<br />

unterzeichnet, mit dem die deutsch-französische Zusammenarbeit<br />

beschlossen wurde. In der Öffentlichkeit<br />

wurde dabei immer die Überwindung der langjährigen<br />

Feindschaft gefeiert; von Versöhnung und „Motor für die<br />

europäische Einigung Europas“ war fortan die Rede.<br />

Im Januar dieses Jahres nun wurde mit viel offiziellem<br />

Tamtam die große Bedeutung der „deutsch-französischen<br />

Freundschaft für die Einheit Europas“ beschworen. Dabei<br />

ist die EU gerade dabei, sich auseinanderzuentwickeln. Der<br />

EU-Gipfel vom 7.8. Februar bestätigte diese Entwicklung.<br />

Das Verhältnis Frankreich – Deutschland sollte entgegen<br />

der herrschenden Propaganda vorwiegend auf der Grundlage<br />

der jeweiligen wirtschaftlichen Ziele gesehen und<br />

der aktuelle Stand vor dem Hintergrund der Euro-Krise<br />

bewertet werden.<br />

Zu keinem Zeitpunkt war die Annäherung Deutschlands<br />

und Frankreichs eine Liebeshochzeit, sondern von<br />

Anfang an eine Vernunftheirat. Dam<strong>als</strong> dominierten bei<br />

Frankreich machtpolitische (auch militärische) Überlegungen,<br />

weil die französische Regierung der US-Vorherschaft<br />

etwas entgegensetzen wollte. Schon früh standen bei allen<br />

anderen Beteiligten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(EWG, s. Kasten) die wirtschaftlichen Interessen im<br />

Vordergrund: Das Kapital brauchte größere Absatzgebiete;<br />

Zollschranken wurden schrittweise reduziert und später<br />

abgeschafft.<br />

Vor allem der Kalte Krieg (die Konfrontation mit dem<br />

„Ostblock“), aber auch die starke Vormachtstellung der<br />

USA erforderten eine engere Kooperation westeuropäischer<br />

Staaten. Eine Handelsunion war in den Zeiten des lang<br />

anhaltenden Aufschwungs (von Ende der 1940er bis Anfang<br />

der 1970er Jahre) für alle Beteiligten außerordentlich<br />

vorteilhaft. Im Prinzip reichten aber in den Anfangsjahren<br />

der Abbau von Zollschranken und die Erleichterung von<br />

Direktinvestitionen in den beteiligten Staaten.<br />

In den 1970er Jahren änderten sich allerdings die weltwirtschaftlichen<br />

Konkurrenzbedingungen. Hintergrund<br />

war das Auslaufen der langen Welle der Prosperität nach<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 55


<strong>Die</strong> Internationale<br />

dem Zweiten Weltkrieg 1 . Es verschärfte sich die internationale<br />

Konkurrenz, vor allem zwischen den Mächten der<br />

Triade, <strong>als</strong>o der USA, Japans und Westeuropas. <strong>Die</strong> USA<br />

reagierten auf den „Sturz des Dollars“ 2 , <strong>als</strong>o die allmähliche<br />

Reduzierung ihrer absoluten Dominanz, durch zunächst<br />

die Auf hebung der Dollarbindung an das Gold (1971) und<br />

dann durch die Auf hebung der festen Wechselkurse gegenüber<br />

dem Dollar (1973). <strong>Die</strong> damit bewirkte noch stärkere<br />

Abwertung des Dollars sollte die Exportchancen der US-<br />

Industrie fördern (was teilweise auch gelang).<br />

<strong>Die</strong> Reaktion in Europa blieb nicht aus: 1978/1979 verständigten<br />

sich der französische Präsident Giscard D’Estaing<br />

und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt auf die<br />

Einführung eines Europäischen Währungssystems (EWS,<br />

s. Kasten), das bis zur Einführung der Gemeinsamen Währung,<br />

des Euro, 1998 funktionierte. In dieser Zeit, <strong>als</strong>o ab<br />

Mitte der 1970er Jahre bis Ende des vergangenen Jahrhunderts,<br />

waren dann Deutschland und Frankreich tatsächlich<br />

der Motor der kapitalistischen Integration Europas und<br />

damit der Verbesserung der Ausgangsbedingungen für das<br />

europäische Kapital im internationalen Konkurrenzkampf.<br />

Parallel dazu wurde im Rahmen der EWG, dann der<br />

EG und später der EU am Aufbau gemeinsamer militärischer<br />

Strukturen gearbeitet, auch wenn dies nicht die<br />

Dominanz der USA in der NATO infrage stellen konnte<br />

(offiziell auch nie sollte) 3 .<br />

Gravierender Funktionswandel<br />

Gravierender war die Veränderung, die sich ab Ende der<br />

1980er Jahre langsam anbahnte. Ausgelöst wurde sie durch<br />

den Mitte der 1980er Jahre eingetretenen Positionsverlust<br />

der französischen Wirtschaft gegenüber der deutschen. Mitte<br />

der 1980er Jahre rutschte die französische Wirtschaft in<br />

ein massives Außenhandelsdefizit, was zu einer Schwächung<br />

des Franc führte. Es drohte ein Ausverkauf der französischen<br />

Industrie. Der französische Präsident Mitterrand zog<br />

die Handbremse und verständigte sich schon früh mit der<br />

deutschen Regierung – nämlich noch vor dem Zusammenbruch<br />

der DDR – auf das Projekt einer gemeinsamen<br />

Währung der EG. Faktisch war dies der Startschuss für die<br />

Schaffung der späteren Währungsunion.<br />

Es mag sein – wie gerne kolportiert wurde – dass andere<br />

Regierungen in einer gemeinsamen Währung ein Mittel<br />

sahen, die seit Jahren wachsende wirtschaftliche Dominanz<br />

Deutschlands bändigen zu können. Das Hoffen auf eine<br />

Win-win-Situation war aber von vornherein unbegründet.<br />

Auf keinen Fall trifft zu, dass sich Deutschland die Zustimmung<br />

zum Euro nur zähneknirschend – angeblich <strong>als</strong><br />

„Preis für die Wiedervereinigung“ – hat abringen lassen.<br />

Längst vor der Wiedervereinigung hatten sich Frankreich<br />

und Deutschland verständigt, eine gemeinsame Währung<br />

anzusteuern.<br />

<strong>Die</strong> meisten westeuropäischen Staaten waren spätestens<br />

seit den 1980er Jahren einer gemeinsamen Währungsunion<br />

zugeneigt, weil sie darin ein adäquates Mittel sahen, im<br />

heftiger werdenden Konkurrenzkampf der Triade bessere<br />

Ausgangsbedingungen zu bekommen. <strong>Die</strong> Vorteile liegen<br />

auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen können die<br />

Konzerne bei einer gemeinsamen Währung innerhalb dieses<br />

Wirtschaftsraums besser kalkulieren. Sie müssen keine<br />

Abwertungen in dem Abnehmerland mehr befürchten und<br />

zumindest zwischen diesen Staaten gibt es dann keinen Devisenverkehr<br />

mehr, der von Markteinflüssen (oder Spekulationen)<br />

gebeutelt werden kann. Und selbst in den südeuropäischen<br />

Ländern wurden deutliche Vorteile erhofft, wenn<br />

nämlich aufgrund der Gemeinschaftswährung diese Staaten<br />

und die dortigen Unternehmen billiger an Kredite kommen<br />

(was ja anfangs auch so eintrat).<br />

Zum anderen bedeutet eine größere Masse an gemeinsamer<br />

Währung mehr Sicherheit für Anleger von außerhalb<br />

der Währungsunion. <strong>Die</strong>se Währung wird <strong>als</strong>o attraktiver,<br />

sie zieht Kapital an und kann ansatzweise die absolute Dominanz<br />

des Dollars <strong>als</strong> internationaler Leitwährung infrage<br />

stellen. Schmidt formulierte das so: „Wir wollen nicht mehr<br />

der Fußball des Dollars sein.“ Eine starke eigene Währung<br />

mit ausreichend internationaler Anerkennung ist nicht mehr<br />

so stark von den Kursschwankungen (vor allem den gezielten<br />

Verbilligungen) des Dollars abhängig 4 .<br />

Der Höhepunkt des Euro-Traums kann in der Mitte des<br />

letzten Jahrzehnts (genauer 2004-2006) angesiedelt werden.<br />

Zum damaligen Zeitpunkt war auch die Triade insgesamt<br />

noch auf dem Höhepunkt ihrer Wirkungsmöglichkeiten.<br />

<strong>Die</strong>se drei Regionen wickelten 85 % des Welthandels ab und<br />

verfügten über 75 % des Bestands an Auslandsinvestitionen.<br />

Seitdem ist die Entwicklung rückläufig, zum einen weil<br />

sich in diesen Regionen die Weltwirtschaftskrise besonders<br />

deutlich auswirkte, zum anderen weil die BRICS-Staaten 5<br />

(vor allem China) zunehmend Marktanteile erobern.<br />

Zu keinem Zeitpunkt jedoch wurde der Euro eine<br />

wirkliche Gefahr für den Dollar <strong>als</strong> Leitwährung. <strong>Die</strong><br />

Vorzüge einer immer liquiden Referenzwährung (die sich<br />

sogar weiteres massives Gelddrucken à la quantitative easing<br />

leisten kann) konnte der Euro, selbst in der Hochphase nicht<br />

erobern, obwohl die EU <strong>als</strong> Wirtschaftsraum größer <strong>als</strong> die<br />

USA ist und allein schon in der Euro-Zone mehr Menschen<br />

leben <strong>als</strong> in den USA.<br />

56 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

Eine Währungsunion ist aber in jedem Fall ein strategischer<br />

Vorteil für exportstarkes Kapital. <strong>Die</strong> deutsche Industrie<br />

hatte dabei von Anfang an die Nase vorne und konnte<br />

extrem stark von dieser Gemeinschaftswährung profitieren.<br />

Das deutsche Kapital ist in sehr vielen Bereichen deutlich<br />

produktiver (d. h. kapitalintensiver, <strong>als</strong>o auf einem höheren<br />

technologischen Stand), sodass in vielen Bereichen die sogenannten<br />

„Mitbewerber“ niederkonkurriert wurden.<br />

Der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands allein gegenüber<br />

der Eurozone beträgt heute (kumuliert) 850 Mrd.<br />

€. Für das Jahr 2011 erzielte die BRD einen Gesamtüberschuss<br />

in der Handelsbilanz (gegenüber der gesamten Welt)<br />

von 170 Mrd. € (das sind 6,6 % des BIP!).<br />

Mit jedem Überschussjahr steigen die Forderungen<br />

deutscher Unternehmen und Privatpersonen gegen das<br />

Ausland. 2000 waren es 67 Mrd. €, 2009 schon 808,9 Mrd.<br />

€. <strong>Die</strong> deutsche Regierung hält nicht zuletzt deswegen am<br />

Euro fest, weil diese Forderungen (trotz, bzw. gerade wegen<br />

Target 2; siehe Kasten) dann großenteils in den Wind zu<br />

schreiben wären.<br />

Krise<br />

Zunächst, nämlich in einer allgemeinen Phase wirtschaftlicher<br />

(Hoch)konjunktur schien die Gesamtrechnung (alle<br />

profitieren vom Euro) auch aufzugehen. Seit 2009 sieht es<br />

aber schon ganz anders aus und die Krise des Euro-Raums<br />

wird sich noch verschärfen. Hierbei ist zu beachten, dass<br />

die Krise des Euros nicht in erster Linie eine Folge der<br />

Austeritätspolitik (Sparpolitik) ist, wie sie vor allem von der<br />

deutschen Regierung hartnäckig eingefordert und auch<br />

durchgesetzt wird. Es liegt vielmehr in der Unmöglichkeit,<br />

eine Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschaft und<br />

ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik zu haben, <strong>als</strong>o an den<br />

fehlenden Möglichkeiten des Ausgleichs zu einer „nationalen“<br />

Profitrate. Der Produktivitätsvorsprung der „nordeuropäischen“<br />

Kapitale (vor allem der deutschen Industrie)<br />

kann auch mit noch so niedrigen Löhnen in Südeuropa<br />

nicht ausgeglichen werden und wird mit einer Währungsunion<br />

zwangsläufig nur ständig ausgebaut 6 .Südeuropa kann<br />

sich ja nicht mehr mit Währungsabwertungen wehren.<br />

Zweifellos verstärkt die Austeritätspolitik die Krise, aber<br />

eine andere Politik (etwa mittels Euro-Bonds) könnte lediglich<br />

Zeit kaufen. An dem grundlegenden Dilemma ließe<br />

sich auch damit nichts ändern. Spätestens seit dem Ausbruch<br />

der Weltwirtschaftskrise im Sommer 2007 ist die Konstruktion<br />

der Währungsunion in Europa zu einer zusätzlichen<br />

Belastung geworden. <strong>Die</strong> Bankenrettungsprogramme<br />

hatten die Wirtschaftskrise in den Staatssektor verlagert.<br />

Was ist Target 2?<br />

Mit „Target 2“ werden Zentralbankoperationen und Überweisungen<br />

im Interbankenverkehr verrechnet. <strong>Die</strong> EZB fungiert<br />

dabei <strong>als</strong> Clearingstelle, aber aufgrund des Exportüberschusses<br />

aus Deutschland addieren sich die Target-Forderungen<br />

Deutschlands gegenüber der EZB, die naturgemäß nur in Euro<br />

beglichen werden können. Geht <strong>als</strong>o ein südeuropäisches Land<br />

bankrott oder bricht der Euro auseinander, ist mit gewaltigen<br />

Verlusten zu rechnen. Bereits Mitte 2012 betrugen die Forderungen<br />

der BRD an die EZB über 730 Mrd. €, <strong>als</strong>o weit mehr <strong>als</strong><br />

die Fortführung der Bankrettung für südeuropäische Banken<br />

kostet. Das erklärt den Meinungsumschwung der deutschen<br />

Bourgeoisie Mitte 2012 in Sachen Griechenlandrettung. Mit<br />

Abstand die größten Schuldner gegenüber der EZB sind Spanien<br />

und Italien.<br />

Welche Rolle hat die EWG?<br />

<strong>Die</strong> Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ist der Ausgangspunkt<br />

der heutigen EU. 1957 wurde sie mit der Unterzeichnung<br />

der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich.<br />

Italien, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland gegründet.<br />

Schon dam<strong>als</strong> drängten vor allem die Beneluxstaaten,<br />

aber auch Deutschland, auf eine größere gemeinsame Wirtschaftseinheit.<br />

1993 wurde die EWG aufgrund erweiterter Funktionen in<br />

Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt. Am 1. Dezember<br />

2009 wurde sie mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in<br />

die EU überführt.<br />

Mit den dadurch vermehrt erforderlichen Staatsanleihen<br />

gibt es jetzt in diesem Bereich vermehrte Anlagemöglichkeiten<br />

für überschüssiges Geldkapital. Und wenn ein Kredit<br />

notleidend wird, springt natürlich der Staat ein – und verschuldet<br />

sich noch mehr.<br />

Das Jahr 2013 könnte zu einem Wendepunkt in der Entwicklung<br />

des Krisenverlaufs und der Politik der verschiedenen<br />

Regierungen werden. Denn bisher hatte Deutschland<br />

zwar sehr stark von der Währungsunion profitiert und<br />

konnte die Folgen der Krise von sich fernhalten. Aber je<br />

mehr Länder davon erfasst werden, desto näher rückt die<br />

Krise an Deutschland heran. Eine Schlüsselstellung dabei<br />

nimmt der Verlauf der Wirtschaftskrise in Frankreich ein,<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 57


<strong>Die</strong> Internationale<br />

das (ökonomisch gesehen) tendenziell eher zu den Südländern<br />

gehört (s. dazu auch den zitierten Beitrag von M.<br />

Husson).<br />

Seit dem Herbst 2012 wird zunehmend deutlich, dass<br />

Frankreich ein sozio-ökonomischer Abstieg droht. Damit<br />

schwindet dann auch endgültig die Basis für die besonders<br />

enge Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland.<br />

<strong>Die</strong>s wird nicht schlagartig zu einer anderen Politik<br />

führen, aber Frankreich wird die von Merkozy betriebene<br />

Politik einfach objektiv nicht mehr in dergleichen Weise<br />

fortführen können und wird sich mehr für eine Vergemeinschaftung<br />

der Schulden starkmachen.<br />

Hiergegen positioniert sich seit dem Sommer 2012 die<br />

deutsche Bundesregierung neu. Im August bereiste Wirtschaftsminister<br />

Rösler einige „nordeuropäische“ Länder<br />

(Finnland, Estland, Niederlande und Polen), um perspektivisch<br />

eine neue Allianz innerhalb der EU zu schmieden.<br />

<strong>Die</strong> Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert dazu aus den<br />

Statements von Rössler:<br />

„<strong>Die</strong> „Idee der Stabilitätsunion“, die Regeln müssten<br />

eingehalten werden, „keine Rabatte auf Reformen“, „keine<br />

Vergemeinschaftung der Haftung“, „feste Überzeugung“,<br />

„Union der Werte“. Ein Satz soll auch entschlossen<br />

klingen, gerät aber etwas defätistisch: Deutschland sei<br />

in diesen Punkten mithin „nicht gänzlich allein“, und<br />

„vor allem die Kraft der Argumente ist auf unserer Seite.“<br />

(FAZ, 18.8.2012)<br />

Das Problem für die deutsche Regierung (genauer: für<br />

das deutsche Kapital) dabei ist: Es gibt keine wirtschaftlich<br />

potenten Bündnispartner für eine Allianz gegen Südeuropa.<br />

Auch die Fortführung der bisherigen Politik wird<br />

immer schwerer zu machen sein. Egal <strong>als</strong>o ob mit Sarkozy<br />

oder mit Hollande: <strong>Die</strong> Bedingungen für eine besondere<br />

Allianz zwischen Frankreich und Deutschland – und damit<br />

eine gemeinsame Politik in Europa – laufen aus.<br />

Nicht nur in dieser Konstellation, auch generell verstärken<br />

sich mit anhaltender Krise die nationalen Interessengegensätze.<br />

<strong>Die</strong> Haltung der britischen Regierung ist<br />

nur der auffälligste Ausdruck, in den Niederlanden regen<br />

sich ähnliche Stimmungen und selbst in Finnland gewinnen<br />

die Gegner eines engeren Zusammenwachsens an<br />

Boden.<br />

Eine weitere Integration (und die Durchsetzung etwa<br />

einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik) rücken damit in<br />

weite Ferne. Daran ändert auch der Fiskalpakt nichts, der<br />

nur die Dominanzambitionen der deutschen Bourgeoisie<br />

zum Ausdruck bringt, nicht aber ein realistisches Szenario<br />

für die nächsten Jahre.<br />

Deutschland kann dies (die „europäische Einigung“)<br />

auch nicht von sich aus alleine bewerkstelligen, denn auch<br />

das starke Deutschland ist nicht in der Lage, die Krisenfolgen<br />

abzumildern. <strong>Die</strong> BRD trägt knapp 27 % zum BIP<br />

der Euro-Zone bei. Das reicht für eine relative Dominanz,<br />

aber nicht für eine absolute. Heute rücken sogar Länder<br />

wie Österreich ein wenig von Deutschland ab (Österreich<br />

favorisiert eine Banklizenz für den ESM; mittels dieser<br />

GröSSenverhältnis Euro zu Dollar<br />

4500<br />

3500<br />

2000<br />

1000<br />

4058<br />

1046<br />

2645<br />

I<br />

2009<br />

4269<br />

1147<br />

2682<br />

II<br />

2009<br />

4439<br />

1239<br />

2729<br />

III<br />

2009<br />

EWS und Euro-Zone<br />

Quart<strong>als</strong>werte in Mrd. Dollar<br />

4562<br />

1255<br />

2833<br />

IV<br />

2009<br />

4635<br />

1264<br />

2859<br />

I<br />

2010<br />

4752<br />

1259<br />

2955<br />

II<br />

2010<br />

4999<br />

1346<br />

2063<br />

III<br />

2010<br />

Das Europäische Währungssystem (EWS) existierte vom 13.<br />

März 1979 bis 31. Dezember 1998 zwischen den Ländern<br />

der Europäischen Gemeinschaft. Kernelement des EWS war<br />

der sogenannte Wechselkursmechanismus (WKM), der die<br />

Wechselkursfluktuationen innerhalb spezifisch festgelegter<br />

Bandbreiten halten sollte.<br />

Am 7.2. 1992 wurde in Maastricht offiziell die Einführung<br />

des Euro beschlossen und zwar auf der Grundlage der dam<strong>als</strong><br />

noch bestehenden Europäischen Wirtschaftsunion (EWU) und<br />

der klaren Festlegung, dass es keine Transfers innerhalb dieses<br />

Wirtschaftsraums geben sollte. D. h., ärmere Länder sollten<br />

nicht gestützt oder deren Wirtschaft geschützt werden. Im<br />

Vertrag von Lissabon (2000) wurde nochm<strong>als</strong> bestätigt, dass<br />

es keine gemeinsame Wirtschaftspolitik und keine sogenannte<br />

„Staatsfinanzierung“ geben solle Am 1.1.1999 startete der<br />

Euro <strong>als</strong> internationales Verrechnungssystem und für die BürgerInnen<br />

wurde er am 1.2.2002 eingeführt.<br />

58 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013


<strong>Die</strong> Internationale<br />

Lizenz könnte der ESM Staatsanleihen aufkaufen und sie <strong>als</strong><br />

„Sicherheit“ bei der EZB hinterlegen).<br />

Inzwischen gehen – <strong>als</strong> Folge der anhaltenden Krise in<br />

Südeuropa – die deutschen Exporte in diese Länder zurück<br />

und können gerade noch durch wachsende Exporte in Drittländer<br />

(vor allem in die „Schwellenländer“) ausgeglichen<br />

werden.<br />

Es gibt somit in Europa keine Macht, die mit Wucht eine<br />

andere Politik (eine forcierte „Einigung Europas“ in Richtung<br />

eines Bundesstaates) durchsetzen könnte. Der Euro ist<br />

damit <strong>als</strong> Gegenprojekt zum Dollar gescheitert und damit<br />

schwindet auch die Triebkraft für die Weiterentwicklung<br />

einer besonderen Freundschaft zwischen den beiden Staaten<br />

Frankreich und Deutschland. Anfang 2013 deutet alles darauf<br />

hin, dass in absehbarer Zeit die Krise auch in Deutschland<br />

ankommen wird, einfach weil die Euro-Krise in<br />

Südeuropa nicht lösbar ist, weil sie sich ausdehnen wird und<br />

weil schließlich der Euro selbst auf der Kippe stehen wird.<br />

Scheitert allerdings der Euro, dann wird dies ein absolut<br />

verheerender Rückschlag für das deutsche Kapital und für<br />

die „deutsch-französische Freundschaft“ sein. <strong>Die</strong> deutsche<br />

Währung müsste dann um mindestens 30 % aufgewertet<br />

werden. Damit würden im internationalen Konkurrenzkampf<br />

die Karten neu gemischt, mit klaren Gewinnern, die<br />

heute schon feststehen: andere europäische Länder und vor<br />

allem die Schwellenländer (BRICS-Staaten).<br />

So oder so ist die Tendenz in Europa heute in Richtung<br />

Auseinanderlaufen (aufgrund wachsender Gegensätze der<br />

nationalen Kapitale). Sollte sich dabei die ökonomische Lage<br />

Frankreichs dramatisch verschlechtern, dann ist auch mit<br />

einer deutlichen Zuspitzung der Gegensätze zum Partner<br />

Deutschland zu rechnen.<br />

1 Am fundiertesten wurden diese erklärt in: Ernest Mandel:<br />

<strong>Die</strong> Langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung.<br />

Frankfurt (isp-Verlag, 1983), heute zu beziehen über<br />

www.neuerispverlag.de.<br />

2 Ernest Mandel: Der Sturz des Dollars, Berlin (Verlag Olle &<br />

Wolter), 1973<br />

3 1988 setzten Bundeskanzler Kohl und der französische<br />

Staatspräsident Mitterrand in Ergänzung des Vertrages<br />

Räte für die Abstimmung von Verteidigungsinteressen den<br />

Deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat ein.<br />

4 Außerhalb der 17 offiziellen Euro-Staaten haben z. B.<br />

Bosnien, Bulgarien, Lettland, Litauen, oder etwa eine <strong>ganze</strong><br />

Reihe westafrikanischer Staaten (ehem. franz. Kolonien) ihre<br />

Währung an den Euro gekoppelt.<br />

5 Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika<br />

6 Zu den Hintergründen der Auseinanderentwicklung siehe<br />

auch Michel Husson: Politische Ökonomie des „Euro-Systems“,<br />

in <strong>Inprekorr</strong> 5/2012<br />

Impressum<br />

<strong>Inprekorr</strong> ist das Organ der IV. Internationale in<br />

deutscher Sprache. <strong>Inprekorr</strong> wird herausgegeben<br />

von der deutschen Sektion der IV. Internationale,<br />

von RSB und isl. <strong>Die</strong>s geschieht in Zusammenarbeit<br />

mit GenossInnen aus Österreich und der<br />

Schweiz und unter der politischen Verantwortung<br />

des Exekutivbüros der IV. Internationale.<br />

<strong>Inprekorr</strong> erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte<br />

im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt die Meinung des herausgebenden<br />

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Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-<br />

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Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich<br />

ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe<br />

der Gründe der Nichtaushändigung umgehend<br />

zurückzusenden.<br />

<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 59


US-Hubschrauber über der Stadt Sendai (Japan) nach dem Erdbeben/Tsunami 2012 (Foto: Official U.S. Navy Imagery, flickr.com)<br />

Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet<br />

<strong>Die</strong> Vereinigung Europe solidaire sans frontières (ESSF, Solidarisches Europa ohne Grenzen)<br />

hat einen ständigen Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet.<br />

Pierre Rousset<br />

•<br />

Seit 2004 organisiert sie Hilfskampagnen für die von<br />

humanitären Katastrophen (Tsunamis, atomarer<br />

Super-GAU) betroffene Bevölkerung. <strong>Die</strong> Gesamtbilanz<br />

dieser gezielten Initiativen ist äußerst positiv.<br />

Daher werden wir sie auch weiterführen, aber die Erfahrung<br />

zeigt, dass sie nicht ausreichen.<br />

Mit der Einrichtung eines Fonds können wir im Notfall<br />

unmittelbar helfen und intervenieren, auch wenn in<br />

unseren Medien das Ereignis nicht thematisiert und eine<br />

spezifische Kampagne daher erschwert wird. Wir können<br />

damit die Basisbewegungen, die vor Ort die Solidaritätsund<br />

Wiederaufbauarbeit leisten, dauerhaft unterstützen<br />

und sie wirksamer gegen mögliche Repressalien schützen.<br />

„Spendenpolitik“ ist auch immer politisch: <strong>Die</strong> Mächtigen<br />

nutzen sie, um ihre Klientel zu bedienen oder um<br />

Privatinteressen durchzusetzen.<br />

Gegen Repression, für autonome Organisierung<br />

Beispielsweise wurden in Nordpakistan Aktivisten, deren<br />

Schuld darin bestand, Opfern von Überschwemmungen<br />

in den Dörfern geholfen zu haben, eingekerkert und<br />

gefoltert. Freigelassen wurden sie erst nach einer langen<br />

Kampagne, die sowohl im Land selbst <strong>als</strong> auch auf internationaler<br />

Ebene geführt wurde. Zwischen 2005 und<br />

2012 hat die ESSF über 77 000 € an Spenden aus einem<br />

guten Dutzend Länder weitergeleitet. <strong>Die</strong>se Hilfe floss an<br />

die ärmste Bevölkerung, damit sie sich autonom organisieren<br />

und ihre Rechte in Notsituationen auch selbst<br />

verteidigen kann. Dabei sind dauerhafte Beziehungen<br />

mit aktiven Bewegungen vor Ort entstand. Durch einen<br />

ständigen Solidaritätsfonds können wir unsere Aktionsfähigkeit<br />

verbessern, doch dafür brauchen wir Eure<br />

Hilfe.<br />

Ein ausführlicher Beitrag findet sich auf der homepage<br />

von ESSF unter http://www.europe-solidaire.org/<br />

spip.php?article27199<br />

n Übersetzung: MiWe<br />

Spenden bitte an:<br />

ESSF<br />

IBAN: FR85 3000 2005 2500 0044 5757 C12<br />

BIC / SWIFT: CRLYFRPP<br />

Crédit lyonnais<br />

Stichwort : Fonds de solidarité Asie

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