Die ganze Ausgabe als PDF (1293 K) - Inprekorr
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inprekorr<br />
Internationale Pressekorrespondenz<br />
Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF<br />
März/April<br />
2/2013<br />
Foto: Altruisto, flickr.com<br />
Brennpunkt Afrika
<strong>Ausgabe</strong> 2/2013<br />
Letzte Seite<br />
•<br />
Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet<br />
Pierre Rousset......................................................60<br />
Dänemark<br />
Ein schwerer<br />
Fehler der<br />
Enhedslisten<br />
<strong>Die</strong> SAP – dänische<br />
Sektion der<br />
4<br />
4. Internationale und<br />
Mitglied der Enhedslisten<br />
– übt scharfe Kritik<br />
an deren Zustimmung<br />
zum Haushaltskompromiss<br />
der Mitte-Links-<br />
Regierung.<br />
Von Michael Voss<br />
Katalonien<br />
Katalonien vor<br />
und nach den<br />
Wahlen<br />
<strong>Die</strong> Frage der Unabhängigkeit<br />
vom<br />
7<br />
Spanischen Staat und die<br />
Lösung der ökonomischen<br />
und sozialen Probleme<br />
des Landes gehören<br />
zusammen. Daran haben<br />
die Wahlen von 2012<br />
nichts geändert.<br />
Von Andreu Coll<br />
Griechenland<br />
ANTIKAPITA-<br />
LISTISCH AUS<br />
DER KRISE<br />
<strong>Die</strong> parlamentarische<br />
Orientierung<br />
16<br />
von SYRIZA schafft<br />
Illusionen und lenkt vom<br />
Kampf auf der Straße<br />
ab. <strong>Die</strong> Bildung einer<br />
starken Einheitsfront<br />
ist die hier vertretene<br />
Gegenposition.<br />
Von Andreas Kloke<br />
Tunesien<br />
Regierung<br />
unter Druck<br />
<strong>Die</strong> sozialen Probleme<br />
in Tunesien<br />
21<br />
wurden nicht geringer.<br />
Steht eine erneute<br />
Machtprobe bevor und<br />
wer sind die Akteure?<br />
Interview mit einem<br />
führenden Genossen der<br />
tunesischen Linken,<br />
Jalel Ben Brik Zoghlami.<br />
Tunesien<br />
NeuFormierung<br />
der Linken<br />
Umbruch in<br />
26<br />
der politischen<br />
Landschaft Tunesiens.<br />
Das Land ist zunehmend<br />
polarisiert. Aber die Permanenz<br />
der Revolution<br />
hat mit der Front des 14.<br />
Januar eine neue Chance<br />
bekommen.<br />
Von Dominique Lerouge
Inhalt<br />
Mali<br />
intervention<br />
in Mali<br />
Frankreichs<br />
40<br />
uneigennütziges<br />
Eintreten für die<br />
Verteidigung gegen<br />
den Islamismus ist pure<br />
Heuchelei. <strong>Die</strong> Kumpanei<br />
mit postkolonialen<br />
Diktaturen hat eine<br />
lange Tradition.<br />
Von Paul Martial<br />
<strong>Die</strong> Internationale<br />
Friss und Stirb!<br />
Genmanipulierte<br />
50<br />
Organismen – Widerstand<br />
ist berechtigt.<br />
Ökokommission der NPA<br />
Motor der<br />
„europäischen<br />
Einigung“?<br />
Zum Fünfzigsten<br />
Jahrestag des<br />
55<br />
„Élysée-Vertrages“.<br />
Von Jakob Schäfer<br />
Südafrika<br />
Klassenkampf<br />
– Lohn der<br />
Ausbeutung<br />
<strong>Die</strong> Apartheid <strong>als</strong><br />
45<br />
System ist überwunden,<br />
Ausbeutung<br />
und Misshandlungen<br />
gehen vielerorts weiter.<br />
Doch nicht ungehindert.<br />
Landarbeiter Innen in<br />
Western Cape kämpfen<br />
dagegen.<br />
Von Mercia Andrews<br />
Mauritius<br />
Über die<br />
Schönfärberei<br />
des Neoliberalismus<br />
Interview mit<br />
30<br />
vielen Themen,<br />
die zeigen, dass das Land<br />
für die ArbeiterInnenbewegung<br />
interessanter<br />
ist <strong>als</strong> für die schönfärbende<br />
Bourgeoisie<br />
und ihre neoliberalen<br />
Träumereien.<br />
Von Ashok Subron<br />
Indonesien<br />
Bosse schlagen<br />
zurück<br />
Der Aufschwung<br />
37<br />
der erfreulicherweise<br />
erfolgreichen<br />
Kämpfe der indonesischen<br />
ArbeiterInnenklasse<br />
vor allem in<br />
Bekasi beunruhigt und<br />
verunsichert das Unternehmertum<br />
sehr.<br />
Von Zely Ariane
Dänemark<br />
Ein schwerer Fehler<br />
der Enhedslisten<br />
Am 11. November gaben die dänische Regierung<br />
und die Enhedslisten – auf getrennten<br />
Pressekonferenzen – bekannt, dass sie sich auf<br />
den Staatshaushalt für 2013 geeinigt hatten. Auf<br />
einer Nationalen Konferenz zwei Wochen später<br />
charakterisierte die SAP, die dänische Sektion<br />
der Vierten Internationale, dies <strong>als</strong> schweren<br />
Fehler der Enhedslisten. 1<br />
Michael Voss<br />
•<br />
<strong>Die</strong>s war der zweite Haushalt, seit die Mitte-Links-<br />
Regierung im September 2011 an die Macht gekommen<br />
war. Auch der erste Haushalt war von der Enhedslisten<br />
unterstützt worden. Während die Entscheidung im ersten<br />
Jahr kaum eine Debatte auslöste, entwickelte sich in diesem<br />
Jahr eine beträchtliche Opposition in der Partei. In<br />
beiden Fällen bestätigte, wie von den Statuten gefordert,<br />
der Parteivorstand die Entscheidung, in diesem Jahr allerdings<br />
nur mit 15 zu 9 Stimmen. <strong>Die</strong> kritischen Mitglieder<br />
der Partei brachten zwei Hauptargumente vor.<br />
Ein Argument bezieht sich auf die Frage des Arbeitslosengelds.<br />
<strong>Die</strong> frühere Regierung hatte das Gesetz zum<br />
Arbeitslosengeld geändert, so dass der Zeitraum, in dem<br />
man Zahlungen aus dem gewerkschaftlich verwalteten<br />
Arbeitslosigkeitsfonds beziehen kann, begrenzt werden<br />
sollte.<br />
<strong>Die</strong>se Änderung sollte im Januar 2013 wirksam<br />
werden und sie hat viel Wut und Proteste ausgelöst, vor<br />
allem bei den Gewerkschaften und den Mitgliedern und<br />
Wählern der beiden Arbeiterparteien, Sozialdemokratie<br />
(S) und Sozialistische Volkspartei (SF) 2 .<br />
Monatelang war der Vorschlag, entweder neue Jobs<br />
für die Arbeitslosen zu schaffen oder die Dauer der<br />
Zahlungen zu verlängern, die wichtigste Forderung der<br />
Enhedslisten für den Staatshaushalt. Zeitweise wurde<br />
dies sogar <strong>als</strong> nicht-verhandelbare Forderung bezeichnet.<br />
Aber am Ende akzeptierte die Enhedslisten weit weniger.<br />
<strong>Die</strong> Gegner innerhalb der Partei vertraten die Ansicht,<br />
dass die Partei durch Akzeptieren dieses Kompromisses<br />
weit unter der Minimallösung die Proteste unterminiere<br />
und die Möglichkeiten zum Aufbau einer Bewegung<br />
schwäche.<br />
Das zweite wichtige Argument gegen das Stimmverhalten<br />
der Enhedslisten ist, dass der Haushalt nicht<br />
die Bedingungen erfüllt, die im Mai 2010, noch vor den<br />
Wahlen und der neuen Mitte-Links-Regierung, von<br />
einer Jahreskonferenz der Enhedslisten festgelegt worden<br />
waren. Als Teil eines Textes über die Enhedslisten und<br />
den erwarteten Regierungswechsel führte die Resolution<br />
aus:<br />
„Enhedslisten ermutigt eine neue Regierung, einen<br />
Bruch vorzunehmen, der die Politik der bisherigen<br />
Regierung durch eine Politik ersetzt, die auf soziale<br />
Gleichheit, Solidarität und Nachhaltigkeit basiert. Ein<br />
Haushalt, der einen solchen Bruch ausdrückt, wird auch<br />
unsere Stimmen erhalten. Aber wir werden unter keinen<br />
Umständen für einen Haushalt stimmen, der:<br />
• Verschlechterungen beinhaltet<br />
• keine wesentlichen Verbesserungen beinhaltet<br />
• die Zusammenfassung von einem Jahr gemeinsam mit<br />
den Rechtsparteien beschlossener Sparpolitik ist.”<br />
Gegner einer Unterstützung des Haushalts argumentierten,<br />
dass der Haushalt Verschlechterungen für arbeitende<br />
und arme Menschen beinhalte. Wichtiger ist aber<br />
die Tatsache, dass der Staatshaushalt die Ergebnisse von<br />
einem Jahr Sparpolitik zusammenfasst. Seit dem ersten<br />
Staatshaushalt dieser Regierung wurden größere Reformen<br />
ohne die Stimmen der Enhedslisten beschlossen<br />
und stattdessen von den Liberalen und der Konservativen<br />
Partei unterstützt.<br />
<strong>Die</strong>se Reformen basierten deutlich auf einem neoliberalen<br />
Ansatz mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />
und der Einkommensspanne zwischen arbeitslosen<br />
und Menschen mit Job. In diesen Rahmen passt,<br />
dass Kapital und Bezieher höherer Einkommen nichts zur<br />
Rechnung beitragen mussten.<br />
4 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Dänemark<br />
Eine davon ist eine Steuerreform, die die Steuern auf<br />
höhere Einkommen senkte. <strong>Die</strong> andere ist eine Reform<br />
der Sozialversicherung, die es benachteiligten Menschen<br />
noch schwieriger macht, einen staatlich finanzierten Job<br />
zu bekommen.<br />
Hinzu kommt, dass es im Haushaltsplan keinen Raum<br />
für expansive Politik gab, die vielleicht die soziale Sicherheit<br />
hätte verbessern und Arbeitsplätze im öffentlichen<br />
Sektor schaffen können - und kein einziges Element, das<br />
die Reichen hätte zahlen lassen.<br />
Bei den Verhandlungen über den Haushalt gelang<br />
es der Enhedslisten, einige Verbesserungen für benachteiligte<br />
Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen<br />
Problemen zu erreichen, aber nichts, was die allgemeine<br />
Richtung verändert hätte. Einige zusätzliche Mittel für<br />
grüne Politik und eine Reihe von kleineren Verbesserungen<br />
in anderen Bereichen wurden in den Haushalt<br />
aufgenommen - <strong>als</strong> Ergebnis von Enhedslisten-Anträgen.<br />
Aber <strong>als</strong> der Parteivorstand der Enhedslisten das Budget<br />
ohne eine wirkliche Lösung für die Arbeitslosen akzeptierte,<br />
war die letzte Chance verloren, ernsthaft zu<br />
behaupten, der Haushalt würde wesentliche Verbesserungen<br />
enthalten.<br />
Kleineres Übel?<br />
<strong>Die</strong> Fraktion und die Mehrheit des Parteivorstands geben<br />
zur Begründung an, sie seien taktisch überrascht worden,<br />
<strong>als</strong> die Liberale Partei in die Verhandlungen über den<br />
Haushalt eintrat - nachdem die Partei lange Zeit erklärt<br />
hatte, dass sie nicht helfen würde, der Regierung eine<br />
parlamentarische Mehrheit für ihren Haushalt zu verschaffen.<br />
<strong>Die</strong>s ließ die Führung und die Abgeordneten befürchten,<br />
dass die Regierung sich mit der liberalen Partei über<br />
den Haushalt einigen würde. <strong>Die</strong> Führung fürchtete,<br />
dass die Wählerschaft die Enhedslisten kritisieren würde,<br />
weil (I) es aussehen würde, <strong>als</strong> ob ihre nicht verhandelbare<br />
Forderung die Regierung in die Arme der Liberalen<br />
Haushaltskompromiss: Ein schwerer Fehler<br />
Dass die Vorstandsmehrheit nicht dem Beschluss der<br />
Jahreskonferenz folgte, ist sowohl ein politisches wie<br />
auch ein demokratisches Problem.<br />
Es ist ein politisches Problem, weil es gute politische Gründe<br />
dafür gab, dass die Jahreskonferenz 2010 Richtlinien für die Mitwirkung<br />
der Enhedslisten am Haushalt beschloss.<br />
Zum einen ist es entscheidend für die Glaubwürdigkeit einer<br />
sozialistischen Partei und ihre Fähigkeit, den Zusammenhalt für<br />
Verbesserungen und für eine bessere Welt zu stärken, dass wir<br />
nicht an faulen Kompromissen mitwirken, wo Teile der Arbeiterklasse<br />
und Menschen mit Sozialleistungen dafür mit Verschlechterungen<br />
bezahlen, dass andere´ Verbesserungen erhalten.<br />
Daher beschloss die Jahreskonferenz, dass ein Haushalt ein<br />
wirklicher Bruch mit der neoliberalen Politik, wie sie die bisherige<br />
Rechtsregierung betrieben hatte, sein müsse.<br />
Mit dieser Forderung hatte die Partei eine Möglichkeit, sofort<br />
Druck von außen auf die Verhandlungen aufzubauen und<br />
zu zeigen, dass es eine politische Alternative gibt. Aber das war<br />
nicht die Linie, der zu folgen sich die Mehrheit des Vorstands<br />
entschied.<br />
Darüber hinaus ist der Beschluss der Vorstandsmehrheit ein<br />
demokratisches Problem. Wenn die Vorstandsmehrheit einen<br />
zentralen Beschluss der Jahreskonferenz ignoriert, dann untergräbt<br />
sie die demokratische Debatte und Entscheidungsfindung<br />
in der Partei. Warum sollen sich die Mitglieder noch bei Debatten<br />
und Entscheidungen der Partei engagieren, wenn die Mehrheit<br />
des Vorstands das Signal sendet: „Ihr könnt beschließen, was ihr<br />
wollt. Und wenn es soweit ist, beschließen wir sowieso, wozu wir<br />
Lust haben.“<br />
<strong>Die</strong> Spuren zu diesem politischen und demokratischen Verrat<br />
sind schon lange gelegt worden. Vorstandsmehrheit und Folketingsfraktion<br />
führten niem<strong>als</strong> eine offensive Kampagne für den<br />
Haushalt, den wir brauchen, eine Kampagne für die politische<br />
Alternative der Enhedslisten, die mit den selbst auferlegten Grenzen<br />
und dem Gesellschafts- und Politikverständnis der Regierung<br />
bricht.<br />
<strong>Die</strong> Vorstandsmehrheit steckte mehr Ressourcen in die Organisation<br />
von Wählergesprächen <strong>als</strong> in Kampagnen zur Schaffung<br />
von Druck aus der Bevölkerung für die Forderungen nach Arbeit,<br />
Ausbildung und Recht auf Arbeitslosengeld. Damit brachten sich<br />
Vorstandsmehrheit und Folketingsfraktion in eine Situation, wo<br />
es am Tage der Abstimmung über den Haushaltskompromiss<br />
schwerer war, mit der Regierung zu brechen, <strong>als</strong> es hätte sein<br />
müssen.<br />
Angenommen von der Nationalen Konferenz der SAP<br />
am 17./18. November 2012<br />
Quelle: Socialistisk Information (http://sap-fi.dk/side.php?id=1032)<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 5
Dänemark<br />
Partei gezwungen hätte, und (II) die Partei das Angebot<br />
der Regierung für eine sehr partielle Lösung für einige<br />
der Arbeitslosen zu Fall gebracht hätte. Einige Teile der<br />
Mehrheit argumentieren sogar, dass die Enheds listen für<br />
den Haushalt hätte stimmen müssen, um ein Budget mit<br />
der Liberalen Partei zu verhindern, das noch schlimmer<br />
gewesen wäre, <strong>als</strong>o das klassische „kleinere Übel“-Argument.<br />
<strong>Die</strong> SAP, die dänische Sektion der Vierten Internationale,<br />
war Teil der Enhedslisten seit ihrer Gründung im<br />
Jahr 1989. Mitglieder der SAP bauen aktiv die Enhedslisten<br />
und ihre Jugendorganisation SUF auf. Eine Nationale<br />
Konferenz der SAP war ohnehin bereits für das<br />
Wochenende zwei Wochen nach der Einigung über den<br />
Staatshaushalt geplant. <strong>Die</strong> Tagesordnung wurde schnell<br />
geändert, um Raum für Diskussionen und Entscheidungen<br />
für eine Erklärung zum Haushalt zu schaffen.<br />
Der Titel der Erklärung lautet: „Der Haushaltskompromiss:<br />
Ein schwerer Fehler“. Sie kommt zu dem<br />
Schluss, dass die Voraussetzungen für die Unterstützung<br />
eines Haushalts nicht erfüllt waren. <strong>Die</strong> Erklärung<br />
betont auch, dass der Verzicht auf die Forderung nach<br />
Arbeitsplatzsicherheit ein schwerer taktischer Fehler<br />
war - der umso schwerer wiegt, <strong>als</strong> die Partei gerade<br />
eine Kampagne zu Arbeitslosengeld und Arbeitsplätzen<br />
durchführt.<br />
<strong>Die</strong> Erklärung fordert alle Teile der Enhedslisten auf,<br />
ihr Engagement für die Kampagne zu verstärken - insbesondere<br />
zu versuchen, örtliche Einheiten der Gewerkschaften<br />
für diese Forderungen zu mobilisieren, um<br />
Druck auf die Regierung auszuüben.<br />
Außerdem ruft die SAP jede Ortsgruppe der Enhedslisten<br />
auf, die Entscheidung zu diskutieren und kritische<br />
Stellungnahmen zum Verhalten der Führung zu beschließen.<br />
SAP verspricht, dafür zu arbeiten, dass die nächste<br />
Jahreskonferenz der Enhedslisten im Mai 2013 eine<br />
negative Bilanz der Entscheidung zum Staatshaushalt<br />
beschließt und die ursprünglichen Prinzipien bekräftigt,<br />
die in diesem Jahr vernachlässigt wurden. Schließlich<br />
ruft die SAP die Delegierten auf, nur für die Gegner der<br />
Zustimmung zum Staatshaushalt zu stimmen, wenn die<br />
Jahreskonferenz einen neuen Parteivorstand wählt.<br />
1995 bis 2006 arbeitete er <strong>als</strong> Journalist und Pressesprecher<br />
für die Parlamentsfraktion der Enhedslisten.<br />
•Übersetzung:<br />
Björn Mertens<br />
1 Siehe die Konferenzresolution „Haushalt 2013: Ein schwerer<br />
Fehler der Enhedslisten”, hier in stark gekürzter Fassung im<br />
Kasten zu lesen.<br />
2 Sozialdemokratie und SF bildeten die neue Regierung<br />
zusammen mit einer linksliberalen Partei; mehr dazu: „A<br />
new period for the Red Green Alliance - After the Danish<br />
elections” und „Use the election victory to put pressure on the<br />
government and build up the Red-Green Alliance”.<br />
Michael Voss ist Mitglied der<br />
En heds listen und der Führung der SAP (Sozialistische<br />
Arbeiterpartei, dänische Sektion der 4. Internationale). Als<br />
Vertreter der SAP hat er an den Verhandlungen teilgenommen,<br />
die zur Gründung der Enhedslisten führten. Von<br />
6 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Katalonien<br />
Katalonien<br />
vor und nach den<br />
Wahlen<br />
<strong>Die</strong> Abhängigkeit vom Spanischen Staat und die ökonomischen Probleme in<br />
Katalonien lassen sich nur schwer getrennt voneinander betrachten. Und doch<br />
sind sie nicht einfach zwei Seiten ein und derselben Medaille.<br />
Andreu Coll<br />
•<br />
<strong>Die</strong> Demonstration vom 11. September 2012<br />
war zweifellos eine der größten der jüngeren katalanischen<br />
Geschichte. <strong>Die</strong>se Massendemo ist die konsequente Antwort<br />
auf die seit Längerem sich zuspitzende Entwicklung<br />
im Land. Sie zeigt, dass ein klarer Wunsch nach Unabhängigkeit<br />
besteht und dass dieser Wunsch in allen sozialen<br />
Klassen vorhanden ist. Anhand der Ereignisse im Vorfeld<br />
der Wahlen kann versucht werden, die Widersprüche der<br />
politischen Situation Kataloniens zu verstehen, die zur<br />
Erklärung von Generalitatspräsident Artur Mas im katalanischen<br />
Parlament und zu den vorgezogenen Wahlen vom<br />
25. November geführt hatten.<br />
2005 versuchte der erste Tripartito 1 die katalanische<br />
Verfassung 2 zu reformieren. Der Versuch scheiterte, weil<br />
die Cortes Generales (Senat und Abgeordnetenhaus des<br />
Spanischen Staates) den Verfassungstext auf Antrag der<br />
PSOE 3 beschnitten haben, obwohl Zapatero im Vorfeld<br />
feierlich versprochen hatte, eine Verfassungsreform zu unterstützen,<br />
die vom katalanischen Parlament verabschiedet<br />
werde. Als das Verfassungsgericht auf Antrag des Partido<br />
Popular (PP) auch noch große Teile des Textes für verfassungswidrig<br />
erklärte, wurde er noch einmal beschnitten.<br />
<strong>Die</strong>s ist der Grund für die wachsende Unzufriedenheit<br />
großer Teile der Bevölkerung. Es wurde <strong>als</strong> Angriff auf<br />
den demokratischen Willen der katalanischen Gesellschaft<br />
verstanden. <strong>Die</strong>se Meinung wurde von Schichten vertreten,<br />
die weit über die traditionelle soziale und Wählerbasis<br />
nationalistischer Parteien wie der Convergència i<br />
Uniò (CiU) 4 oder der Esquerra Republicana de Catalunya<br />
(ERC) 5 hinausgehen.<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 7
Katalonien<br />
Während der Debatte in den beiden nationalen Parlamentskammern<br />
zur katalanischen Verfassung, wurde eine<br />
„Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“ gegründet,<br />
die die Kürzungen am vom katalanischen Parlament verabschiedeten<br />
Text ablehnt und riesige Demos organisierte.<br />
Als der verstümmelte Text zur Volksabstimmung kam,<br />
verwandelte sich diese Kampagne in ein Nein zum „Estatut<br />
de la vergonya“ („Verfassung der Schande“ – wegen<br />
des schändlichen Bündnisses von Artur Mas und Zapatero<br />
in der Moncloa 6 ). <strong>Die</strong>se Kampagne vermochte die ERC<br />
derart unter Druck zu setzen, dass sie die gleiche Abstimmungsparole<br />
herausgeben und damit mit der Regierung<br />
brechen musste, an der sie beteiligt war. Einige Tage später<br />
wurde sie aus der Regierung ausgeschlossen.<br />
Mit der Neuauflage der Dreiparteienregierung kam es<br />
in der Esquerra Republicana (ERC) zu ersten Brüchen.<br />
Es begann sich eine rechte, unabhängigkeitsfreundliche<br />
Opposition herauszubilden, die in der Bündnispolitik<br />
für eine Wende um 180° eintrat. In der zweiten Legislaturperiode<br />
der Dreiparteienregierung (die sogenannte<br />
„Govern d’Entesa“, die Entesa-Regierung 7 ) kam es zu<br />
einem Rechtsrutsch in Sozial- und Umweltfragen (das<br />
Bildungsgesetz Kataloniens, das die Privatisierung der<br />
öffentlichen Schule möglich macht und die Zustimmung<br />
zur vierten Autobahnumfahrung um Barcelona sind Beispiele<br />
dafür), zu Verhandlungen über ein neues Finanzierungsmodell,<br />
zum Chaos in der Infrastruktur und zu einer<br />
Psychose kurz vor dem immer wieder verschobenen Urteil<br />
des Verfassungsgerichts zum verstümmelten, aber in der<br />
Volksabstimmung angenommenen Estatut (bei nur 20 %<br />
Nein-Stimmen, was außergewöhnlich war, vergleicht man<br />
das Ergebnis mit dem Núria-Statut von 1932 oder dem<br />
Sau-Statut von 1979).<br />
<strong>Die</strong> Ausdünnung des Fahrplanes der AVE-Bahn nach<br />
Barcelona 8 und die chronischen Störfälle und Verspätungen<br />
bei der S-Bahn der RENFE 9 offenbarten, wie<br />
Katalonien bei den staatlichen Investitionen in die öffentliche<br />
Infrastruktur und <strong>Die</strong>nstleistungen diskriminiert<br />
war. <strong>Die</strong>se Situation erleichterte es der CiU, ihre soziale<br />
Basis erneut zu mobilisieren, und führte dazu, dass sich<br />
das Kräfteverhältnis in der „Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“<br />
veränderte. Anstatt zu einer breiten<br />
Mobilisierung (von Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees<br />
und sozialen Bewegungen) zur Verteidigung der<br />
öffentlichen <strong>Die</strong>nste (gegen die Privatisierung und gegen<br />
Investitionskürzungen bei ADIF-RENFE 10 ) ist es zum<br />
Bruch in der Bewegung gekommen. <strong>Die</strong>se ist von demokratischen<br />
Forderungen (eines fragilen Gleichgewichts<br />
zwischen links-nationalistischen Kräften und politischen<br />
Organisationen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen)<br />
zu einer Kampagne im Stil „Madrid raubt uns aus“<br />
mutiert. <strong>Die</strong> Gewerkschaftsführungen und ein Großteil<br />
des sozialen Netzwerkes waren leider bereit, sich der<br />
zweiten Dreiparteienregierung unterzuordnen. Zudem<br />
wurde die Regierung Zapatero trotz allem <strong>als</strong> „Freund“<br />
anerkannt. <strong>Die</strong>s öffnete dem konservativen Nationalismus<br />
und einer Offensive gegen die „Zivilgesellschaft“ (private<br />
und teure Business Schools, Ausbildungsstätten in den<br />
Betrieben und Handelskammern) und der Unterstellung<br />
der bedeutendsten Infrastruktureinrichtungen unter die<br />
Generalitat (Regionalregierung [A.d.Red.]) Tür und Tor<br />
(RENFE, Flughafen von Barcelona usw.), um sie später<br />
privatisieren zu können. Es wurden große öffentliche Veranstaltungen<br />
durchgeführt, an denen diese Verlagerungen<br />
gefordert und von der Regierung das Aushandeln eines<br />
guten Finanzierungsabkommens verlangt wurde. Mitten<br />
in der Krise der Agglomeration von Barcelona (Probleme<br />
im öffentlichen Verkehr, insbesondere der RENFE) wurde<br />
eine Demo organisiert, bei der sich klar zeigte, dass sich die<br />
soziale Zusammensetzung der Bewegung verändert hatte<br />
und dass es bei den Forderungen eine populistische Wende<br />
gegeben hatte. <strong>Die</strong>se Mobilisierung vermochten die CiU<br />
und in geringerem Maß der nationalistischste Sektor, der<br />
den Bruch mit der Entesa-Regierung der ERC anstrebte,<br />
für sich zu nutzen. <strong>Die</strong> Frustration der Mittelschichten wegen<br />
der Krise sowie die Tatsache, dass die Arbeiter Innen-<br />
Bewegung kein so undiskutabler sozialer Bezugspunkt<br />
mehr ist wie in der Vergangenheit, sind mit Sicherheit<br />
die Erklärung dafür, weshalb diese Sektoren ihre soziale<br />
Unzufriedenheit in Form von typisch bürgerlich-sozialen<br />
Vorurteilen und simplifizierenden und unüberlegten Reden<br />
äußern. In dieser Zeit der Mobilisierung kam es innerhalb<br />
der „Plattform für das Selbstbestimmungsrecht“ zur<br />
Machtübernahme durch den mächtigsten Sektor, der für<br />
die Unabhängigkeit Kataloniens eintritt, und zum Beitritt<br />
der sozialen Basis der CiU zu dieser Plattform. <strong>Die</strong>s war<br />
der Beginn dessen, was wir die „Unabhängigkeitsbewegung<br />
in Steuerfragen“ mit einer gewissen populistischen<br />
Färbung nennen könnten.<br />
Volksbefragungen der Unabhängigkeitsbefürworter<br />
<strong>Die</strong> Candidatures d’Unitat Popular (CUP, Kandidaturen<br />
der Volkseinheit) 11 umfassen die meisten politischen, sozialen<br />
und kulturellen Kräfte, die sich <strong>als</strong> linke Bewegung<br />
für die Unabhängigkeit verstehen und die in den letzten<br />
Jahren bei Wahlen sowohl in Dörfern wie in einigen<br />
8 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Katalonien<br />
Katalonien<br />
Einwohnerzahl<br />
Fläche<br />
Wirtschaft<br />
Staatsschuldenkrise<br />
7,5 Mio.<br />
etwas kleiner <strong>als</strong> NRW<br />
katalonien ist hoch industrialisiert. Das<br />
BIP betrug 2009 193,5 Mrd. €<br />
<strong>Die</strong> Krise hat das Bestreben nach<br />
finanzieller Autonomie befeuert, weil<br />
8 % des katalanischen BIP <strong>als</strong><br />
nettotransfer an den Zentr<strong>als</strong>taat gehen.<br />
Autonomie katalonien (Catalunya) verfügt seit 1978<br />
Nordkatalonien<br />
Barcelona<br />
über verwaltungsrechtliche und<br />
kulturelle Autonomie. Seitdem gewinnt<br />
vor allem das Katalanische <strong>als</strong> erste<br />
muttersprache wieder an Bedeutung<br />
(heute ca. 32 % der Bevölkerung; mehr<br />
<strong>als</strong> die Hälfte ist zweisprachig.)<br />
In dem französsichen Département<br />
Pyrénées-Orientales sprechen ca. 10 %<br />
das Katalanische <strong>als</strong> Muttersprache, aber<br />
über die Hälfte sieht sich <strong>als</strong> zwei<br />
sprachig. <strong>Die</strong> Autonomiebestrebungen<br />
sind hier eher schwach.<br />
Städten stark zulegen konnten. <strong>Die</strong>se CUP lancierten im<br />
September 2009 in ganz Katalonien eine Wahlkampagne<br />
für die Unabhängigkeit. Ihre Feuerprobe bestanden sie am<br />
29. September 2009 in Arenys de Munt und es zeigte sich<br />
bald, dass folgende Gruppierungen die Bewegung für sich<br />
einnehmen wollten: Reagrupament de Carretero (zuerst<br />
Tendenz und später rechte Abspaltung der ERC), die ERC<br />
selbst (die wegen des Urteils des Verfassungsgerichts und<br />
wegen der Sackgasse, in der die Debatte um die Verfassung<br />
steckte, eine politische Krise befürchtete) und die erstarkende<br />
CiU. <strong>Die</strong>se Volksbefragungen, die <strong>als</strong> Bewegung<br />
für das Selbstbestimmungsrecht verkauft wurden, waren<br />
in Wirklichkeit eine Agitationskampagne für die Unabhängigkeit.<br />
Obwohl dabei eine Dynamik des demokratischen<br />
Bruchs mit den Grenzen der Verfassung von 1978<br />
entstand, wurde im Laufe dieser Kampagne de facto eine<br />
patriotische und klassenübergreifende Front geschmiedet,<br />
die sich mit Höhen und Tiefen und mit Widersprüchen<br />
bis heute halten konnte. Nicht zufällig wird die Ortschaft,<br />
wo die Volksbefragung begann – Arenys de Munt – heute<br />
von einer Koalition aus CUP, ERC und CiU regiert. Zum<br />
Glück hat der Großteil der CUP inzwischen gemerkt, dass<br />
er gegenüber der neuen, klassenübergreifenden Bewegung<br />
für die Unabhängigkeit in Steuerfragen ein unabhängiges<br />
politisches Projekt beibehalten muss. Er hat große Kampagnen<br />
gegen Kürzungen und gegen die Korruption im<br />
Gesundheitswesen organisiert. Der schwache strategische<br />
Zusammenhalt der Koalition zeigt, dass ihre Bündnispolitik<br />
je nach den lokal vorherrschenden Konstellationen<br />
schnell kippen kann. <strong>Die</strong>s war zum Beispiel der Fall, <strong>als</strong><br />
ihre Gemeindegruppen den Sturz „pluralistischer linker“<br />
Regierungen anstrebten zugunsten der Rückkehr des<br />
konservativen und/oder zentristischen Nationalismus<br />
(CiU, ERC) an die Macht, wie dies in großen Städten wie<br />
Manresa oder Vilafranca del Penedès der Fall war.<br />
Doch wie bereits erwähnt, ist es wegen der je nach<br />
Ort unterschiedlichen Zusammensetzung der CUP auch<br />
vorgekommen, dass sie gegenüber der antikapitalistischen<br />
Linken offen waren, wenn die offen marxistischen oder<br />
marxistisch-leninistischen Strömungen in der Überzahl<br />
waren.<br />
Als es schließlich zu einem neuen Finanzabkommen 12<br />
zwischen der Regierung der Entesa und der Regierung<br />
Zapatero kam, wurde klar, dass es um die Steuererhebung<br />
in Katalonien selbst ging. Das Steueraufkommen befand<br />
sich <strong>als</strong> Folge der wirtschaftlichen Konzentration bereits<br />
im freien Fall. <strong>Die</strong>se wiederum war eine Folge der Krise.<br />
Zum Entsetzen aller, die für eine Politik der Umverteilung<br />
einstehen, hat die Regierung Montilla auf Antrag<br />
des ultraliberalen Wirtschaftsberaters Castells nur wenige<br />
Wochen nach dem Finanzabkommen einer teilweisen<br />
Abschaffung der Erbschaftssteuer zugestimmt. Damit<br />
reduzierten sich die Steuereinnahmen um 70 bis 80 %. <strong>Die</strong><br />
Steuer wurde lediglich für Vermögen von über 600 000 €<br />
beibehalten. <strong>Die</strong> Abschaffung der Erbschaftssteuer ist ein<br />
Hauptgrund für die Steuerkrise, die dafür herhalten musste,<br />
später die brutalen Kürzungen zu begründen.<br />
Bei den Demonstrationen vom 10. Juli 2010 zeigte die<br />
Reaktion der Bevölkerung auf das Urteil der Verfassungsschutzgerichts,<br />
das jede Legitimität verloren hatte, dass die<br />
Bewegung für die Unabhängigkeit am Erstarken war. Nur<br />
die CiU konnte von dieser Situation profitieren. Sie hat<br />
es verstanden, die Karten gut auszuspielen und die zweite<br />
Dreiparteienregierung zu schwächen. Anderseits hat sie<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 9
Katalonien<br />
es auch verstanden, die Unabhängigkeitswelle mit ihrem<br />
Vorschlag eines Fiskalpaktes 13 vorübergehend einzudämmen.<br />
Nationalistische Rechte kehrt an die Macht zurück<br />
<strong>Die</strong> Wahlen vom 28. November 2010 brachten zweifellos<br />
einen in der katalanischen Gesellschaft noch nie dagewesenen<br />
Rechtsrutsch. <strong>Die</strong> ERC sank förmlich ab (ein echtes<br />
Debakel), ebenso der PSC und die CiU und die PP konnten<br />
sehr große Stimmengewinne erzielen. Zum ersten Mal<br />
verzeichnete der ultrarechte Populismus der Plataforma per<br />
Catalunya in vielen traditionell konservativen Ortschaften,<br />
vor allem aber auch in typischen Arbeiterquartieren einen<br />
alarmierenden Stimmenzuwachs. Bei der Auszählung der<br />
Stimmen sah es zuerst fast so aus, <strong>als</strong> ob die Plataforma<br />
per Catalunya einen Parlamentssitz erringen würde. Auch<br />
Ciutadans, eine Neolerroux-Partei 14 , die die Verteidigung<br />
der Verfassung aus dem Jahre 1978 und die Einheit des<br />
Spanischen Staates zu ihren einzigen Programmpunkten<br />
macht, konnte sich bei diesen Wahlen konsolidieren. Alle<br />
diese Phänomene zeigen, wie sehr sich die Arbeitswelt politisch<br />
aufgesplittert hat und wie stark sich die organisierte<br />
Arbeiterbewegung und die nationale Emanzipationsbewegung<br />
auseinanderentwickelt haben. <strong>Die</strong> Tatsache, dass die<br />
Iniciativa per Catalunya verds –Esquerra Unida i Alternativa<br />
(ICV-EUiA) 15 nicht viele Stimmen verlor, entpuppte<br />
sich <strong>als</strong> Pyrrhussieg, da sie links mehr Stimmen verlor <strong>als</strong><br />
sie rechts von Wähler Innen dazugewann, die vom PSC<br />
enttäuscht waren.<br />
Artur Mas kam mit Inhalten an die Generalitat-Regierung,<br />
die jenen von Rajoy 16 ähnlich sind: Gegen die<br />
„Geldverschwendung“ durch die linken Kräfte, für eine<br />
Regierung „der Besten“, um das Land in einer Krisensituation<br />
wieder aufzurichten und für die Wiederherstellung<br />
„des Ansehens Kataloniens und seiner Institutionen“ nach<br />
den Lächerlichkeiten der Dreiparteienregierung. Der<br />
Pragmatismus der CiU war schon beeindruckend. Während<br />
der Ausarbeitung ihres Plans zur Durchsetzung des<br />
Fiskalpaktes machte sie keinen Hehl daraus, dass sie auf<br />
allen notwendigen Punkten zu einer Einigung mit der<br />
PP bereit war (die beim Verfassungsgericht Rekurs gegen<br />
das Estatut erhoben und sich gegen das Zweisprachensystem<br />
17 engagiert hatte und deren Gemeindepräsidien (wie<br />
z. B. Badalona) eine offen rassistische und populistische<br />
Wende vollzogen hatten, um Kürzungen und Sparbudgets<br />
durchzusetzen. Das Dramatischste in dieser Legislaturperiode<br />
war, dass die einzige Partei, die schüchtern Widerstand<br />
leistete, die Iniciativa per Catalunya verds-Esquerra<br />
Unida i Alternativa (ICV-EUiA) 18 war. Schüchtern, weil<br />
die CiU abgesehen von der Zerschlagung des öffentlichen<br />
Gesundheitswesens, was ein qualitativer Schritt war, im<br />
Grunde genommen nichts anderes getan hat, <strong>als</strong> dass sie<br />
die Politik der vorherigen Regierung weitergeführt und<br />
verstärkt hat. Der CiU ist es zudem gelungen, die PSC, die<br />
in einer Führungs- und Richtungskrise steckte, zu lähmen<br />
und die ERC mit dem Fiskalpakt an sich zu binden. Es war<br />
eine Legislaturperiode zum Verzweifeln, in der es zu den<br />
härtesten Angriffen auf den Sozi<strong>als</strong>taat seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg kam, ohne dass es in der Regierungspartei<br />
auch nur zur geringsten Erosion kam und ohne dass es<br />
der außerparlamentarischen Opposition gelungen wäre,<br />
die sozialen Bewegungen gegen die Kürzungen und die<br />
Gewerkschaften in einem starken sozialen und politischen<br />
Bündnis gegen die Abbaupolitik zusammenzuführen. Es<br />
war schlicht pathetisch zu sehen, wie die PP einerseits und<br />
die PSC und der ERC andererseits der CiU hofierten, um<br />
sich den Anschein verantwortungsbewusster Regierungsparteien<br />
zu geben, die angesichts der Wirtschafts- und<br />
Staatskrise zu einem breiten „Konsens“ bereit sind.<br />
<strong>Die</strong> CiU hat der Bevölkerung zudem immer wieder<br />
eingeimpft, die Kürzungen seien nicht gewollt, sondern<br />
die einzig mögliche Antwort auf den drohenden finanziellen<br />
Kollaps, der von einem ungerechten Finanzsystem<br />
aufgezwungen wird, das Katalonien auszuplündern droht.<br />
In höchstem Grad zynisch und heuchlerisch war es dann,<br />
<strong>als</strong> Mas-Collell die restliche Erbschaftssteuer auch noch<br />
abschaffte (die Steuer auf Vermögen von über 600 000 €!),<br />
aber gleichzeitig gesagt wurde, das vorhandene Geld reiche<br />
nicht einmal bis zum Monatsende, in einem Moment,<br />
wo die Regierung Kataloniens Krankenhausabteilungen<br />
schloss und die Löhne der Generalitat-Beamten kürzte.<br />
Wir wissen ja, Madrid raubt uns aus … Doch vielleicht<br />
raubt uns nicht nur Madrid aus: Artur Mas setzte dem<br />
Gesundheitsminister den Vorsitzenden aller Privatkrankenhäuser<br />
vor die Nase, um das öffentliche Gesundheitswesen<br />
abzubauen, um so seinem Bereich mehr Spielraum<br />
für Geschäfte zu verschaffen. <strong>Die</strong>ser Bereich wurde bereits<br />
bisher mit riesigen öffentlichen Transferzahlungen mit<br />
zweifelhaften gesetzlichen Grundlagen vollgepumpt (Enthüllungen<br />
der Genoss Innen der Zeitschrift Cafè amb Llet).<br />
Nichts vermag die Erklärungen von Artur Mas an<br />
Zynismus zu übertreffen, wenn er wegen „unausweichlicher<br />
Anpassungen“ beim Wohlfahrtsstaat Krokodilstränen<br />
vergießt (natürlich immer, wie könnte es anders sein, um<br />
diesen Wohlfahrtsstaat zu erhalten) oder wenn er seinen<br />
„Schmerz“ darüber zum Ausdruck bringt, dass man ihm<br />
10 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Katalonien<br />
vorwirft, öffentliche <strong>Die</strong>nste abzubauen, die doch „das<br />
Werk seiner Partei seien“. Dabei verschweigt er das Kräfteverhältnis<br />
in Katalonien am Ende der Franco-Diktatur<br />
und die relative Stärke der organisierten Arbeiter Innen-<br />
Bewegung jener Zeit.<br />
Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die gegenwärtige<br />
Krise für die CiU, die PP und alle anderen bürgerlichen<br />
Parteien in der EU ein fantastischer Vorwand ist,<br />
um weiter an der Schraube der neoliberalen Offensive vom<br />
Ende der 70er Jahre zu drehen, um so die sozialen und<br />
demokratischen Errungenschaften aus der Zeit nach der<br />
Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg wieder<br />
rückgängig zu machen. <strong>Die</strong> ideologische Hegemonie des<br />
Bürgertums (die meiner Ansicht nach ihre Kraft vor allem<br />
aus der politischen Schwäche ihrer Klassenfeinde schöpft),<br />
zeigt sich vor allem darin, dass es ihm gelungen ist, die<br />
Steuerfrage aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten,<br />
wenn sie nicht gerade – wie im Fall Kataloniens –<br />
gegenüber anderen bürgerlichen Fraktionen <strong>als</strong> Beschimpfung<br />
genutzt wird.<br />
Das Urteil des Obersten Gerichts zur Zweisprachigkeit<br />
hat ebenfalls geholfen, die Kämpfe gegen die Kürzungen<br />
im Bildungswesen zurückzudrängen zugunsten der<br />
gemeinsamen Front zur Verteidigung eines Sprachenmodells,<br />
das ein Staatsapparat wie wild in einer rückwärtsgewandten<br />
Entgleisung verfolgt, der in den Augen der<br />
katalanischen Gesellschaft klar in die Offensive gegangen<br />
ist. <strong>Die</strong>s ist vor allem deshalb dramatisch, weil damit eine<br />
Synergie zwischen den damaligen Kämpfen gegen die<br />
Kürzungen im Bildungsbereich in der Stadt Madrid und<br />
dem Protest gegen die ersten Kürzungen der CiU in Katalonien<br />
verhindert wurde. Damit wurde der Aufbau einer<br />
größeren Bewegung im <strong>ganze</strong>n Spanischen Staat gegen die<br />
Angriffe der PP in der Bildung und im Gesundheitswesen<br />
extrem erschwert.<br />
Hinzu kommt der Versuchsballon der PP für eine stärkere<br />
Zentralisierung des Staates (weil zu wenig Geld für<br />
die Regionen zur Verfügung stehe) und für das Spanischtum,<br />
von dem die von der Zentralregierung auf den Weg<br />
gebrachte Bildungsreform getränkt ist. <strong>Die</strong>s zeigt, weshalb<br />
die PP in Katalonien darauf hingearbeitet hat, dass hier<br />
eine wachsende Mehrheit für die Unabhängigkeit entsteht.<br />
Eine gerechtere Verteilung der Steuerflucht …<br />
Hier kommen wir nun zu einem grundlegenden Thema,<br />
zu einem Knotenpunkt, an dem viele Eckwerte der politischen<br />
Lage in Katalonien, Spanien und weltweit aufeinandertreffen.<br />
<strong>Die</strong> gegenwärtige Krise der kapitalistischen<br />
<strong>Die</strong> CiU hat der<br />
Bevölkerung immer<br />
wieder eingeimpft, die<br />
Kürzungen seien die einzig<br />
mögliche Antwort auf den<br />
finanziellen Kollaps“<br />
Globalisierung straft bestimmte Sichtweisen eben dieser<br />
Globalisierung Lügen, die besagen, es handle sich dabei<br />
um einen Homogenisierungsprozess, in welchem sich nationale,<br />
staatliche und imperiale Konflikte auflösten und in<br />
dem das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit auf<br />
nationaler Ebene an Bedeutung verliere, weil die politische<br />
Macht unter dem zunehmenden Gewicht eines formlosen<br />
und universellen Kapitalismus angeblich ebenfalls an<br />
Bedeutung verliere. Sicher ist indes, dass das globalisierte<br />
Kapital und transnationale Zusammenschlüsse das zunehmend<br />
hierarchisierte Staatensystem und die interimperialistischen<br />
Spannungen mehr und mehr ersetzen, die sich<br />
<strong>als</strong> Folge veränderter geopolitischer und geoökonomischer<br />
Kräfteverhältnisse zwischen den alten herrschenden<br />
Mächten und den neuen aufstrebenden Mächten ständig<br />
erneuern. Was da auf internationaler Ebene geschieht,<br />
geschieht auch in der EU und im Spanischen Staat. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />
Krise führt zu einer Verschärfung sämtlicher<br />
Widersprüche. Ja mehr noch: Der Ausbruch des Schuldenbumerangs<br />
in der EU hat die neokoloniale Logik, mit<br />
welcher die Dritte Welt über drei Jahrzehnte ausgebeutet<br />
wurde, mitten in die EU verlagert. <strong>Die</strong>se Finanzmacht,<br />
noch verstärkt durch das neoliberale Konstrukt des Euro,<br />
den Stabilitätsplan und die Europäische Zentralbank, führt<br />
zu einer immer hierarchischeren politischen Macht. <strong>Die</strong>ses<br />
Herrschaftsverhältnis zwischen den entwickelteren und<br />
den weniger entwickelten Ländern der Europäischen Union<br />
zeigt sich immer deutlicher in den Memoranden, unter<br />
denen die Länder unter der Fuchtel der Troika zu leiden<br />
haben. <strong>Die</strong>se Anpassungsprogramme sind unumgänglich,<br />
soll der Absturz des europäischen Finanzsektors verhindert<br />
werden. Ideologisch werden sie von einer Schuldzuweisung<br />
an die Opfer begleitet. <strong>Die</strong>se Politik, die sich in den<br />
Worten „die Armen zahlen für die Krise“ zusammenfassen<br />
lässt (das Gegenteil dessen, was die antikapitalistische Linke<br />
vertritt), verlagert sich ebenfalls mitten in die Nation<strong>als</strong>taaten<br />
der EU. Sie hat in jenen Ländern schwerwiegen-<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 11
Katalonien<br />
dere Folgen, in denen die nationale Frage noch ungelöst<br />
ist. In diesem Sinn geht die Abbaupolitik, mit der sich die<br />
PP- und CiU-Regierungen und die übrigen konservativen<br />
Kräfte in der EU so sehr identifizieren, davon aus, dass die<br />
massive Verschuldung, in welche die Staaten wegen der<br />
Krise geraten sind – nach Jahrzehnten der Steuersenkungen<br />
für das Kapital und wegen der Rettung großer, ins<br />
Schlingern geratener Finanzgruppen –, abgebaut werden<br />
muss, indem die Staatseinnahmen reduziert und nicht<br />
erhöht und die bereits kargen Sozialleistungen und das<br />
öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen zerschlagen<br />
werden müssen. Einer der großen Widersprüche des Spanischen<br />
Staates besteht gerade darin, dass die Autonomie<br />
in der Krise ist, u. a. weil die autonomen Regionen das<br />
öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen verwalten,<br />
ihnen aber die konsolidierte Finanzierung fehlt, um diese<br />
Leistungen zu garantieren.<br />
Wie auch Vicenç Navarro 19 darauf hinweist, besteht<br />
eine der historischen Eigenschaften der EU-Mitgliedsländer,<br />
die gerettet wurden (oder gerade gerettet werden wie<br />
der Spanische Staat), darin, dass sich deren Bourgeoisien<br />
historisch mit autoritären und/oder faschistischen Regimes<br />
entwickelt haben. Im Vergleich zu den entwickelteren<br />
Ländern sind sie sehr niedrige Steuern gewohnt. Daraus<br />
sind große soziale Unterschiede entstanden, die die organisierte<br />
Arbeiter Innenbewegung geschwächt haben, und<br />
oligarchische Demokratien von sehr schlechter Qualität,<br />
die von der Finanz- und Medienmacht beherrscht werden.<br />
Trotz ihrer Besonderheiten entgeht selbstverständlich auch<br />
die katalanische Bourgeoisie dieser Charakterisierung<br />
nicht.<br />
Was bedeutet der Fiskalpakt der CiU in diesem Kontext<br />
des sozialen Rückschritts und der Hierarchisierung<br />
der Staaten, Regionen und Nationalitäten desselben Staates?<br />
(Auch die Ungleichheiten Norden-Süden sind in Italien<br />
oder im Spanischen Staat mit der Krise gewachsen. Das<br />
zeigt sich sehr deutlich an den Erwerbslosenzahlen.) Geht<br />
es ihr wirklich um eine Politik zur Erhöhung der Einnahmen<br />
der Generalitat, um so das soziale Modell Kataloniens<br />
zu bewahren? Was ist daran gerecht und solidarisch und<br />
was ist neoliberal und regressiv?<br />
Meiner Meinung nach sollte die antikapitalistische<br />
Linke in Steuerfragen von drei Prinzipien ausgehen:<br />
• Zur Wahrung des sozialen Zusammenhalts und zur<br />
Umverteilung des Reichtums muss mehr bezahlen, wer<br />
mehr hat. <strong>Die</strong>s gilt für Personen wie für die Territorien.<br />
• Es braucht Umverteilungsmechanismen zwischen den<br />
entwickelteren und den weniger entwickelten Territorien.<br />
• Wer mehr bezahlt und wer weniger bezahlt: Alle kommen<br />
grosso modo in den Genuss der gleichen <strong>Die</strong>nstleistungen.<br />
<strong>Die</strong>se werden damit zu universellen Rechten.<br />
Deshalb ist die Aussage korrekt, wonach Katalonien im<br />
Verhältnis zur Einwohnerzahl bei der staatlichen Zuteilung<br />
finanzieller Mittel und Investitionen benachteiligt<br />
wird. <strong>Die</strong>se Diskriminierung ist eine Revanche des Staatsapparates<br />
für den katalanischen Nationalismus. (Dessen<br />
Konsolidierung ist wiederum eine der historischen Folgen<br />
des Scheiterns der bürgerlichen Revolution in Spanien, da<br />
die Industriebourgeoisien weniger Einfluss auf den Staatsapparat<br />
besaßen <strong>als</strong> die Großgrundbesitzer und Finanzoligarchen.)<br />
Mit diesem objektiven Unrecht wird bis in alle Ewigkeit<br />
legitimiert, dass der konservative Nationalismus die<br />
soziale Unzufriedenheit für seine eigene neoliberale Politik<br />
einspannt und „Madrid“ systematisch die Schuld an<br />
seinem Abbau des öffentlichen Bereichs zuschiebt. <strong>Die</strong>se<br />
zwei Umstände bilden die ewige Quelle für die politische<br />
Hegemonie des konservativen Nationalismus über die<br />
Mittelschichten und selbst über breite Teile der Lohnabhängigen.<br />
Es gelingt dem konservativen Nationalismus damit,<br />
den Klassenkampf bis zu einem gewissen Grad in einen<br />
nationalen Konflikt umzuwandeln. Obwohl er starke<br />
politische und historische Wurzeln hat und von legitimen,<br />
unerfüllten nationalen und demokratischen Aspirationen<br />
lebt, lenkt er den Kampf gegen das Elend auf eine andere<br />
Ebene um. Damit umschifft er völlig, dass eigentlich eine<br />
Umverteilung des Reichtums in Katalonien und im Spanischen<br />
Staat durchgesetzt werden sollte.<br />
<strong>Die</strong> Idee war, dass die Generalitat alle Steuern direkt in<br />
Katalonien einzieht und verwaltet und dass sie danach dem<br />
Spanischen Staat jenen Teil weitergibt, der den <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
entspricht, die Katalonien von ihm erhält.<br />
Zusätzlich würde ein vage definierter Betrag in einen<br />
Solidaritätsfonds einbezahlt. Meiner Ansicht nach war es<br />
nicht das Hauptanliegen des Artur Mas, die Einnahmen<br />
der Generalitat zu erhöhen, um den Wohlfahrtsstaat zu<br />
erhalten oder zu verbessern. Es sollte vielmehr die steuerliche<br />
Belastung der katalanischen Steuerzahler Innen<br />
(und vor allem der Unternehmen) nach Belieben gesenkt<br />
werden können. Damit sollte verhindert werden, dass<br />
die katalanische Wirtschaft <strong>als</strong> Folge des Steuerdumpings<br />
in anderen Gebieten des Spanischen Staates wie Euskadi<br />
oder der Stadt Madrid ihre relative Konkurrenzfähigkeit<br />
verliert. Mit anderen Worten: Es wird Steuersouveränität<br />
angestrebt, um die Steuerflucht gerechter zu verteilen. Ich<br />
denke, dass die katalanische Regierung darauf spekulierte,<br />
12 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Katalonien<br />
katalanische Bourgeoise mit der nationalen und der Steuerfrage<br />
die Arbeiter Innen-Bewegung lähmen und spalten<br />
und die Linke übertönen konnte. Damit konnte sie einen<br />
solchen Grad an Hegemonie erreichen, dass die brutalen<br />
Kürzungen der CiU deren soziale und Wählerbasis nicht<br />
zu schwächen vermochten. Der Regierung von Artur Mas<br />
ist dies <strong>als</strong> erster in Europa gelungen.<br />
Es hört sich schon seltsam an, dass in einer Zeit, in der<br />
der wahre Klassen- und imperialistische Charakter der<br />
EU in seiner Brutalität offen zu Tage tritt, die katalanische<br />
Unabhängigkeitsbewegung in der EU die Retterin sieht.“<br />
dass mit der Abschaffung des sogenannten „Steuerdiebstahls<br />
an Katalonien“ die Einnahmen in etwa beibehalten,<br />
doch die Steuerlast hingegen drastisch gesenkt werden<br />
könne.<br />
Was die mächtigsten EU-Länder in der EU nicht wollen<br />
– nämlich eine Steuerharmonisierung nach oben und<br />
europäische öffentliche <strong>Die</strong>nste mit einem Umverteilungsmechanismus,<br />
um so die ungleiche Entwicklung innerhalb<br />
der EU auszugleichen – soll mit Vorschlägen wie dem<br />
Fiskalpakt des Mas schrittweise auch im Spanischen Staat<br />
abgebaut werden.<br />
Was sagt die Linke?<br />
Wie bereits erwähnt hat die politische, gewerkschaftliche,<br />
ja sogar die akademische und intellektuelle Linke<br />
dem breit ausgewalzten Vorschlag der CiU-Regierung<br />
für einen Fiskalpakt passiv zugeschaut. <strong>Die</strong> PSC hat sich<br />
schließlich dem Vorschlag nach kleinen Änderungen<br />
angeschlossen. <strong>Die</strong> ERC hat sich ihm mit jämmerlicher<br />
und unterwürfiger Begeisterung angeschlossen. <strong>Die</strong> ICV<br />
bat wohlerzogen darum, dass der Fiskalpakt von einem<br />
Sozialpakt zur Verteidigung des Wohlfahrtsstaates begleitet<br />
wird. <strong>Die</strong> Mehrheitsgewerkschaften verlangten drei<br />
Viertel von all dem … Leider hat es auch die Bewegung<br />
gegen die Kürzungen nicht verstanden, die Steuerdiskussion<br />
dazu zu nutzen, die beabsichtigte Steuersenkung <strong>als</strong><br />
Ursache für das Defizit und <strong>als</strong> Vorwand für Kürzungen<br />
anzuprangern. <strong>Die</strong> institutionelle Angeberei und die<br />
heilige Union haben sich einmal mehr durchgesetzt und<br />
die sozialen Widersprüche und die eigentliche Plünderung<br />
während der Ausarbeitung des erwähnten Fiskalpaktes<br />
wurden ausgeblendet. Nicht einmal die kritische Linke<br />
war – nicht einmal wir waren – in der Lage zu tun, was<br />
hätte getan werden müssen: alternative Kräfte und Ideen<br />
aufzubauen und operative Vorschläge zu machen, um die<br />
größeren aber zersplitterten Widerstandskerne, die sich<br />
gegen die Sparpolitik wehren, auf die politische Szene<br />
zu verlagern. <strong>Die</strong> logische Folge von all dem ist, dass die<br />
Ausgehend von den Erfahrungen mit den souveränen<br />
Volksbefragungen hat ein breites Spektrum von Kollektiven,<br />
Gruppierungen und sozialen Netzen die sogenannte<br />
Assemblea Nacional Catalana (ANC) 20 gegründet und versucht,<br />
symbolisch an die Assemblea de Catalunya 19 aus der<br />
Zeit des Widerstandes gegen das Franco-Regime <strong>als</strong> einer<br />
alternativen verfassunggebenden Versammlung anzuknüpfen.<br />
Bis jetzt unterstützt die ANC-Bewegung den Aufruf,<br />
möglichst viele Vollversammlungen sollen sich zu unabhängigen<br />
und freien Gemeinden erklären. Sie hat einen<br />
Steuerstreik angeregt – der von einigen Unternehmern in<br />
Girona befolgt wird – und einen großen Marsch für die<br />
Unabhängigkeit durchgeführt, der in der Großdemo an<br />
der Diada Diada (11. September, katalanischer Nationalfeiertag<br />
[A. d. R.]) gipfelte.<br />
<strong>Die</strong>se Bewegung tritt offen für die Proklamation<br />
eines unabhängigen Staates innerhalb der EU auf. Damit<br />
entsteht eine klassenübergreifende Unabhängigkeitsbewegung,<br />
die vom Kleinbürgertum hegemonisiert wird,<br />
mit einer messianischen Vision der Unabhängigkeit <strong>als</strong><br />
Allheilmittel zur Lösung aller Probleme der katalanischen<br />
Gesellschaft. Um dieser Bewegung beitreten zu können,<br />
muss lediglich die angestrebte Unabhängigkeit unterstützt<br />
werden, ohne weitere politische und soziale Anliegen.<br />
Es hört sich schon seltsam an, dass in einer Zeit, in der<br />
der wahre Klassen- und imperialistische Charakter der EU<br />
in seiner <strong>ganze</strong>n Brutalität offen zu Tage tritt und in der<br />
formell unabhängige Staaten wie Griechenland, Portugal<br />
oder Irland (der letzte Staat Westeuropas, der seine<br />
Unabhängigkeit erlangt hat) de facto dem Protektorat der<br />
Troika unterstehen, die katalanische Unabhängigkeitsbe-<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 13
Katalonien<br />
wegung in der EU die Retterin sieht, mit deren Hilfe eine<br />
„zivilisierte Trennung“ vom Spanischen Staat möglich sein<br />
soll. Dabei wird vergeblich gehofft, dass Katalonien ohne<br />
die Steuerlast besser dastehen würde, die sie heute wegen<br />
ihrer Zugehörigkeit zum Spanischen Staat zu entrichten<br />
hat. Durao Barroso hat sich bereits beeilt zu erklären, dass<br />
eine eventuelle Unabhängigkeit Kataloniens die Uhren der<br />
Schuld nicht auf null stellen würde und ohne Zustimmung<br />
der EU nicht möglich sei.<br />
<strong>Die</strong> CiU wurde an der Diada-Demo überbordet – von<br />
der sie vorgab, sie diene ausschließlich der Unterstützung<br />
ihres Fiskalpaktes. <strong>Die</strong> ANC hat zur Mobilisierung für die<br />
Unabhängigkeit den Pluralismus des politischen Katalanentums<br />
hochleben lassen, dabei aber andere legitime<br />
politische Souveränitäts- und Demokratiebestrebungen<br />
verschwiegen oder an den Rand gedrängt. An dieser<br />
Demo zeigte sich aber auch, dass die großen institutionellen<br />
Parteien und ihre Manöver klar auf Ablehnung stoßen.<br />
Vorgezogene Wahlen und<br />
„Selbst bestimmungsübung“<br />
Wie gesagt ist es der CiU dank einer offensichtlich populistischen<br />
Dynamik und dank dem Zerfall der PSC gelungen,<br />
ihre ultrakapitalistische Politik elegant hinter sich zu<br />
lassen. <strong>Die</strong> PSC bezahlt den Preis für ihre Treue zur Verfassung<br />
und ihre Unterordnung unter die PSOE, einer der<br />
starken Säulen des spanischen Regimes. <strong>Die</strong> Polarisierung<br />
in der Frage des Referendums über die Selbstbestimmung<br />
wurde zur Hauptachse der katalanischen Politik. <strong>Die</strong>s<br />
machte jede Art von Koalition unmöglich, die eine Gefahr<br />
für die absolute Mehrheit der CiU hätte werden können.<br />
Nun kommt es darauf an, was in der Unabhängigkeitswelt<br />
geschieht: entweder kommt es zu einem der CiU<br />
unterstellten patriotischen Block oder es wird ein Bündnis<br />
mit der Klassenlinken angestrebt, um den konsequenten<br />
Kampf gegen die kapitalistische Offensive anzustoßen.<br />
In diesem Kontext sollte die antikapitalistische Linke für<br />
eine möglichst breite Einheit der Klassenlinken und der<br />
Linken, die die Unabhängigkeit anstrebt, eintreten, um<br />
die Sparpolitik zu bekämpfen und um mit dem Regime zu<br />
brechen. So kann eine Dynamik der „Regierung der nationalen<br />
Einheit“ verhindert werden, wie sie von der Solidaritat<br />
de la Independència 21 offen oder von der Assemblea<br />
Nacional Catalana indirekt postuliert wird. Sie wäre für<br />
das Klassenbewusstsein eine Katastrophe und die katalanische<br />
Arbeiter Innen-Bewegung ginge in Richtung einer<br />
Front, die für die Verfassung und für die Unabhängigkeit<br />
eintritt. Damit entstünden soziale Brüche (aufgrund der<br />
Herkunft und/oder Muttersprache der Bevölkerung), die<br />
von Reaktionären aller Couleur leicht manipuliert werden<br />
könnten.<br />
Zweifellos ist die in Katalonien entstandene politische<br />
Dynamik für den Spanischen Staat einen Destabilisierungsfaktor<br />
ersten Ranges. Deren Ausgang ist äußerst<br />
ungewiss. In diesem Kontext sollten die katalanische und<br />
spanische Linke die Konjunktur dazu nutzen, um neue republikanische<br />
und solidarische Szenarien zu entwickeln, in<br />
denen mit Respekt und in gegenseitigem Einvernehmen<br />
eine Zusammenarbeit angestrebt wird, die nicht von Ressentiments<br />
und Misstrauen geprägt sein darf, wie sie von<br />
den jeweiligen Leitungen jeweils gesät werden. <strong>Die</strong> Forderung<br />
nach Unabhängigkeit darf weder abgelehnt noch<br />
fetischisiert werden. Sie sollte nicht abgelehnt werden, weil<br />
ein Großteil der Bevölkerung mit den Finanztransaktionen<br />
des konservativen Nationalismus brechen will. Sie<br />
sollte auch nicht fetischisiert werden, weil sie in gewissem<br />
Sinn demagogisch ist, man denke bloß an die politische Situation<br />
in Südeuropa. <strong>Die</strong> entstandene politische Dynamik<br />
birgt auch populistische Gefahren, die den Wiederaufbau<br />
der sozialen Bewegung und die notwendige Neuzusammensetzung<br />
der Arbeiter Innen-Bewegung nicht nur in<br />
Katalonien sondern im <strong>ganze</strong>n Spanischen Staat behindern<br />
oder sogar im Keim ersticken könnten.<br />
Aus all diesen Gründen sollte die Diskussion über<br />
eine mögliche katalanische Syriza wieder aufgenommen<br />
werden. Eine solche Gruppierung hat aber nur dann einen<br />
Sinn, wenn folgende drei Ideen aufgenommen werden:<br />
• Ziel sollte es sein, die verschiedenen Widerstandskerne<br />
gegen die Kürzungen maximal zu stärken und zu organisieren.<br />
Jede Art von sozialliberaler Regierung oder die<br />
Begleitung einer solchen muss abgelehnt werden.<br />
• Man sollte sich darauf konzentrieren, das Regime von<br />
einer republikanischen Warte aus zum Verschwinden<br />
zu bringen. Dabei darf der Aufbau einer katalanischen<br />
Republik nicht der Unterstützung der republikanischen<br />
Bewegungen für eine andere Verfassung im übrigen<br />
Spanischen Staat entgegengesetzt werden, für die dieser<br />
Tage mit großer Energie und Kampf bereitschaft in Madrid<br />
mobilisiert wird.<br />
• <strong>Die</strong> Unabhängigkeit und der Pluralismus der sozialen<br />
und gewerkschaftlichen Bewegungen müssen peinlich<br />
genau respektiert werden.<br />
In der heutigen Situation wäre es das schlechtestmögliche<br />
Szenario, wenn die antikapitalistische Linke zum<br />
Anhängsel der antiliberalen Linken oder der die Unabhängigkeit<br />
anstrebenden Linken würde. Das würde sie daran<br />
14 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Katalonien<br />
hindern, soziale und nationale Forderungen aufzustellen.<br />
Damit würde ein Keil zwischen die soziale Basis der Lohnabhängigen<br />
in den großen Städten und die Bauern und die<br />
Landbevölkerung getrieben. Wenn kein großer sozialer,<br />
alternativer Block aufgebaut wird wie im Widerstand gegen<br />
die Franco-Diktatur, wird die katalanische Bourgeoisie<br />
trotz wiederkehrender Überbordungen weiterhin über<br />
ein weites Manövrierfeld verfügen, um die Kontrolle über<br />
die politische Situation zu behalten. 4. September 2012<br />
18 Vicenç Navarro, ehem. PSOE-Mitglied, lehrte <strong>als</strong> Professor<br />
in den USA, seit 10 J. Professor für Politikwissenschaften<br />
an der Universität Barcelona, gegenüber der neoliberalen<br />
Politik kritisch eingestellt, steht Attac nahe.<br />
19 Katalanische Nationalversammlung<br />
20 Katalanische Versammlung<br />
21 Solidarität der Unabhängigkeit<br />
Andreu Coll ist Mitglied der Revolta<br />
Global-Esquerra Anticapitalista, Sektion der Vierten Internationale<br />
im Spanischen Staat.<br />
•Übersetzung und Bearbeitung: Ursi Urech<br />
1 Erste Dreiparteienkonferenz. El Tripartito ist der Name der<br />
katalanischen Koalitionsregierung, der drei Parteien angehören:<br />
Partido Socialista de Catalunya (PSC), Esquerra Republicana<br />
de Catalunya (ERC) (Republikanische Linke Kataloniens)<br />
und Iniciativa per Catalunya verds (ICV) (Initiative für<br />
ein grünes Katalonien)<br />
2 Estatut de Catalunya<br />
3 Partido Socialista Obrero Español (Sozialdemokratische Partei<br />
Spaniens)<br />
4 Konvergenz und Einheit. Sie ist die stärkste Partei Kataloniens.<br />
5 Republikanische Linke Kataloniens<br />
6 Sitz der Zentralregierung in Madrid<br />
7 Gleiche Regierung und gleiche Zusammensetzung wie<br />
unter 1. Nur deren Namen wurde geändert.<br />
8 Spanischer Hochgeschwindigkeitszug, entspricht dem TGV<br />
in Frankreich<br />
9 nationale Eisenbahngesellschaft Spaniens<br />
10 Inzwischen ist die Privatisierung der RENFE in ADIF-<br />
RENFE beschlossene Sache. <strong>Die</strong> RENFE wurde wie folgt<br />
aufgeteilt: RENFE = Züge, ADIF = Infrastruktur<br />
11 Candidatures d’Unitat Popular (CUP) (Volksfront-Kandidaturen)<br />
Wahlbündnis aus Parteien der unabhängigen Linken,<br />
vergleichbar mit dem Sinn Fein Nordirlands<br />
12 wird mit der Zentralregierung immer wieder neu verhandelt.<br />
13 neues Finanzierungsmodell: Katalonien würde die Steuern<br />
erheben und einen Teil davon an den Zentr<strong>als</strong>taat weiterleiten.<br />
Im Baskenland funktioniert das heute schon so.<br />
14 Ciutadans, eine Partei, die sich auf Lerroux bezieht, ein<br />
Populist aus der 2. Republik, der gegen eine Autonomie Kataloniens<br />
war. Er entwickelte sich immer mehr nach rechts und<br />
schloss sich schließlich Franco an. Er ist bei den Landarbeitern<br />
auf großes politisches Echo gestoßen.<br />
15 Iniciativa per Catalunya verds (ICV (Initiative für ein<br />
grünes Katalonien) und Esquerra Unida i Alternativa (EUiA<br />
(Vereinigte und alternative Linke). Ist kämpferischer <strong>als</strong> ICV.<br />
Waren eine einzige Partei, die sich inzwischen gespalten hat.<br />
16 Jetziger spanischer Ministerpräsident (PP)<br />
17 Bei diesem Zweisprachensystem wird das Katalanische<br />
bevorzugt.<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 15
Griechenland<br />
ANTIKAPITALISTISCH<br />
AUS DER KRISE?<br />
Griechenland steht wegen der fortgesetzten, hemmungslosen Angriffe der<br />
EU- und IWF-Eliten, aber auch der einheimischen Bourgeoisie, auf<br />
die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu Recht weiter im<br />
Mittelpunkt des internationalen Interesses. Für die weltweite<br />
Linke stellt sich die Frage, ob Griechenland einen Ausweg aus der Krise<br />
im antikapitalistischen Sinn finden kann.<br />
Andreas Kloke<br />
•<br />
Wegen der im Mai und Juni 2012 von<br />
SYRIZA erzielten Wahlerfolge und seiner daraus resultierenden<br />
führenden Rolle innerhalb der griechischen Linken<br />
ist es verständlich, dass sich das Augenmerk der internationalen<br />
fortschrittlichen Öffentlichkeit gerade auf diese<br />
Partei bzw. Allianz konzentriert. SYRIZA hat vom 30.11.<br />
bis 2.12.2012 einen Parteikongress abgehalten, auf dem die<br />
Konturen der gegenwärtigen Parteilinie naturgemäß noch<br />
deutlicher hervorgetreten sind.<br />
DEA („Internationalistische Arbeiter-Linke“), eine<br />
Organisation, die aus einer Abspaltung von SEK, der<br />
griechischen Organisation der IST, hervorgegangen ist und<br />
seit seiner Gründung 2004 SYRIZA angehört, Kokkino<br />
(„Rot“), eine Abspaltung von DEA, und APO, eine<br />
kleinere Abspaltung von Kokkino, sowie KEDA, eine<br />
Gruppe, die von in den vergangenen Jahren aus der KPG<br />
Ausgeschlossenen geführt wird, sind Bestandteile von SY-<br />
RIZA. In der Vergangenheit deckten diese Organisationen<br />
letztlich alle Manöver der Führung (deren es viele gab) „von<br />
links“, d. h. mit linken Argumentationen und entsprechendem<br />
Vokabular. Zusammen mit der nicht unbedeutenden<br />
„Linken Strömung“ der SYN-Partei bilden sie nun die<br />
„Linke Plattform.“ <strong>Die</strong> Linke Strömung befürwortet den<br />
Ausstieg aus dem Euro und der EU, hat aber beträchtliche<br />
Illusionen in den „parlamentarischen Weg“ zum Sozialismus,<br />
natürlich ohne den Anspruch, die Institutionen des<br />
bürgerlichen Staates infrage zu stellen. <strong>Die</strong> neue Linke<br />
Plattform ist eine Art Errungenschaft für die kleineren<br />
halb-trotzkistischen Gruppen, bedeutet aber auch eine Anpassung<br />
an klar linksreformistische Ideen und Konzepte.<br />
Ein Autor von DEA hat kürzlich einen Bericht zum<br />
SYRIZA-Kongress in englischer Sprache vorgelegt 1 . <strong>Die</strong><br />
vier in diesem Bericht erwähnten essenziellen Punkte der<br />
Linken Plattform seien hier zitiert:<br />
• „SYRIZA muss weiterhin daraufhin orientiert bleiben,<br />
eine ‚Regierung der Linken’ mit Appellen an die<br />
16 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Griechenland<br />
Kommunistische Partei und ANTARSYA zur Zusammenarbeit<br />
zustande zu bringen.<br />
• SYRIZA sollte nur eine ‚Regierung der Linken’<br />
akzeptieren und jede Koalitionsregierung, die bürgerliche<br />
Parteien mit einschließt, ablehnen.<br />
• <strong>Die</strong> Regierungskoalition muss weiterhin auf der sofortigen<br />
Beendigung der Schuldenrückzahlungen bestehen<br />
und zugunsten des Euro sollten keinerlei Opfer gebracht<br />
werden.<br />
• SYRIZA muss für die Umkehrung der Sparpolitik<br />
einstehen, welche Mittel dafür auch immer notwendig sein<br />
mögen und die Bedürfnisse der Arbeiter Innen über die ‚realistischen’<br />
Vorschläge, den Bedürfnissen des Kapitalismus<br />
zu entsprechen, stellen.“<br />
Schwachpunkte der Linken Plattform<br />
Kaum zu übersehen ist, dass die „vier Punkte" der Linken<br />
Plattform programmatisch sehr schwach sind. <strong>Die</strong> Aussicht<br />
auf eine „Regierung der Linken“ bedeutet eine parlamentarische<br />
Orientierung im Rahmen des bestehenden<br />
Systems. Abgesehen davon ist bekannt, dass sich die KPG<br />
(KKE) absolut gegen eine Koalition mit SYRIZA ausspricht.<br />
Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass ANTAR-<br />
SYA selbst für den Fall, dass sie im Parlament vertreten ist,<br />
die im Wesentlichen „linkskapitalistische“, „ein wenig“<br />
(nicht zu sehr) keynesianische Orientierung der Tsipras-<br />
Führung unterstützt, die gerade die „fantastischen“ wirtschaftlichen,<br />
sozialen und politischen „Errungenschaften“<br />
der Mitte-Links-Regierungen da Silvas („Lulas“) und<br />
Kirchners in Brasilien und Argentinien entdeckt hat.<br />
Tsipras verspricht auch weiterhin die Abbezahlung<br />
der Schuldenlast. „Wir sind keine Batachtsides“ (Leute,<br />
die ihre Schulden nicht zurückbezahlen), wie er schon im<br />
September feierlich erklärte. Daher kann sich jedermann<br />
ausmalen, was für eine Art von Politik man in Griechenland<br />
im Falle einer von SYRIZA geführten Regierung<br />
haben wird. Sie wird nichts anderes bedeuten <strong>als</strong> den<br />
Versuch, den griechischen Kapitalismus, im Rahmen des<br />
Weltkapitalismus, versteht sich, „von links“ zu retten. Es<br />
ist unschwer vorherzusagen, dass dies zu einem kompletten<br />
Desaster für eine solche „Links-Regierung“ selbst und vor<br />
allem für die betroffenen Arbeiter Innen und den Großteil<br />
der Bevölkerung führen wird. Es ist völlig unverantwortlich,<br />
diese extrem rechte Linie der Tsipras-Führung nicht<br />
bereits jetzt auf das Schärfste zu kritisieren.<br />
Stattdessen räsoniert die Linke Plattform weiterhin herum<br />
und redet davon, SYRIZA solle sich nicht „nach rechts<br />
bewegen“, und „jede Wendung in Richtung einer eher<br />
Griechenland<br />
Einwohner:<br />
BIP pro Einwohner 2012:<br />
11.3 Mio.<br />
25 343 € (kaufkraftbereinigt);<br />
Erwerbslosenrate 2013: laut IWF 25,3 %<br />
zum Vergleich Deutschland: 38 696 €<br />
Wirtschaft: mehr <strong>als</strong> Dreiviertel der Wirtschafts -<br />
Radikale Linke:<br />
Athen<br />
leistung entstehen im <strong>Die</strong>nstleistungs-<br />
sektor: Tourismus, Handel, Finanz-<br />
dienstleistungen, Schifffahrt …<br />
Antarsya (Antikapitalistische Linke für<br />
den Umsturz) ist ein Bündnis von 10<br />
revolutionären Organisationen. Das<br />
kurzprogramm der Antarsya findet<br />
sich auf Deutsch unter: http://tinyurl.<br />
com/ccqh798<br />
OKDE-Spartakos (Organisation<br />
kommunistischer Internationalisten<br />
Griechenlands; www.okde.org) ist<br />
die griechische Sektion der<br />
IV. Internationale und Mitglied von<br />
Antarsya.<br />
gemäßigten oder sonstigen Verschiebung von SYRIZAs<br />
politischer Linie“ werde „auf heftigen internen Widerstand<br />
stoßen (!)“. Starke Worte, aber was besagen sie in einer<br />
Situation, wo sich der Kurs der SYRIZA-Führung schon<br />
in fast unglaublicher Weise nach rechts verschoben hat?<br />
Es handelt sich um nichts anderes <strong>als</strong> Schönfärberei und<br />
sollte charakterisiert werden <strong>als</strong> das, was es ist, nämlich ein<br />
untauglicher Versuch, den Rechtsschwenk der Führung<br />
zu vertuschen. Und natürlich bedeutet diese Haltung, die<br />
Hoffnungen und Erwartungen von Millionen von Menschen,<br />
die sich eine wirkliche Abwehr und einen Stopp der<br />
furchtbaren und unaufhörlichen Attacken von Regierung<br />
und Troika herbeisehnen, auf höchst zweifelhafte Weise zu<br />
hintergehen. Es sollte klar sein, dass sich diese notwendige<br />
Kritik nicht einfach auf eine „taktische Frage“ bezieht.<br />
Zu den „vier Punkten“ der Linken Plattform wäre zu<br />
bemerken, dass die ersten beiden Punkte, die „Regierung<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 17
Griechenland<br />
der Linken“ und die Weigerung, „bürgerliche Parteien“<br />
in eine solche Regierung aufzunehmen, fast identisch<br />
sind. <strong>Die</strong>se beiden Punkte schweigen sich jedoch über die<br />
schlichte Wahrheit, dass eine SYRIZA-geführte Regierung<br />
selbst eine „linksbürgerliche“ Regierung wäre (oder<br />
sein wird), aus. Der dritte Punkt besagt, dass „die Regierungskoalition<br />
weiterhin auf der sofortigen Beendigung<br />
der Schuldenrückzahlungen bestehen“ muss und „zugunsten<br />
des Euro keinerlei Opfer gebracht werden“ sollten.<br />
Jeder, der die Entwicklungen verfolgt, weiß, dass die<br />
Tsipras-Mehrheit keinerlei Absicht hat, die Abbezahlung<br />
der Schulden zu stornieren. (...)<br />
Der vierte Punkt, SYRIZA müsse „für die Umkehrung<br />
der Sparpolitik einstehen, welche Mittel dafür auch<br />
immer notwendig sein mögen und die Bedürfnisse der<br />
Arbeiter Innen über die ‚realistischen’ Vorschläge, den<br />
Bedürfnissen des Kapitalismus zu entsprechen, stellen“, ist<br />
reines Wunschdenken der Autor Innen. Er bedeutet eine<br />
Abdeckung der politischen Linie der SYRIZA-Mehrheit,<br />
die im Grunde in einer Verquickung von neoliberalen<br />
und keynesianischen Ideen und Konzepten besteht, von<br />
„links“. Tatsächlich sind die politische Substanz und der<br />
programmatische Gehalt der vier Punkte äußerst dünn.<br />
Hinzuzufügen wäre, dass die Organisationen und<br />
Gruppen, die angeblich links von der SYN-Partei angesiedelt<br />
sind, insbesondere die maoistische KOE („Kommunistische<br />
Organisation Griechenlands“), gleichzeitig<br />
die größte Organisation, die außer SYN an SYRIZA<br />
teilnimmt, sowie die links-eurokommunistische AKOA,<br />
die „Gruppe Rosa“ und andere die Tsipras-Führung unterstützen<br />
und sich geweigert haben, der Linken Plattform<br />
beizutreten. Fairerweise sollte man zugeben, dass ihr Verhalten<br />
<strong>als</strong> eine Kapitulation vor der SYN-Mehrheit ehrlicher<br />
war <strong>als</strong> das der Linken Plattform. Es handelt sich aber<br />
offensichtlich um einen Versuch, SYRIZA nach der in<br />
den Wahlmonaten im Frühjahr offenkundig gewordenen<br />
Rechtswende zu stabilisieren. Knapp 26 % der Stimmen<br />
für die Linke Plattform sehen wie ein zufriedenstellendes<br />
Ergebnis für eine Minderheit aus, bedeuten aber in Wirklichkeit,<br />
dass alle Versuche, SYRIZA zu „revolutionieren“<br />
oder auch nur ansatzweise nach links zu verschieben,<br />
gescheitert sind.<br />
Je mehr die SYRIZA-Führung der Meinung ist, dass<br />
sie auf die Übernahme der Regierungsverantwortung<br />
zusteuert (oder dies eventuell auch tatsächlich der Fall ist),<br />
desto entschlossener rückt sie nach rechts und lässt keinen<br />
Zweifel daran, dass sie den Eliten in der EU und weltweit<br />
ein zuverlässiger Partner und vor allem ein „Garant des<br />
Euro“ sein wird, koste es, was es wolle. Innenpolitisch<br />
drückt sich das so aus, dass auf eine verstärkte Zusammenarbeit<br />
mit der KPG oder ANTARSYA kein besonderer<br />
Wert mehr gelegt wird. Eine Regierungskoalition mit<br />
den gegenwärtigen Regierungsparteien oder möglichen<br />
Abspaltungen von DIMAR oder sogar PASOK wird<br />
keineswegs ausgeschlossen, sondern offenbar angestrebt.<br />
SYRIZA erhält damit zunehmend und immer offener ein<br />
Profil, das man in früheren Zeiten <strong>als</strong> „klassisch sozialdemokratisch“<br />
definiert hätte.<br />
<strong>Die</strong> Schlussfolgerung wäre, dass die Linke Plattform<br />
nicht etwa einen „zentristischen“ Einigungsversuch<br />
gegenüber einer reformistischen SYRIZA-Mehrheit,<br />
sondern ein „linkes“ Feigenblatt der offen pro-kapitalistischen<br />
politischen Konzepte der Tsipras-Führung darstellt.<br />
Dabei könnte eine Unterscheidung vorgenommen<br />
werden: <strong>Die</strong> Linke Strömung in der SYN-Partei, die zum<br />
Großteil aus der KPG stammt, war von Beginn an, d. h.<br />
seit 1991, der linke Flügel einer ehem<strong>als</strong> eurokommunistischen<br />
und jetzt im Grunde „links“-sozialdemokratischen<br />
Partei, und ist in diesem Sinn „ehrlich“ und ihrem Verständnis<br />
politischer Konzepte „treu“ geblieben.<br />
Der Fall der Organisationen mit revolutionärem<br />
Anspruch ist etwas anderes: <strong>Die</strong>se Gruppen werden mehr<br />
und mehr in die fraktionellen Auseinandersetzungen einer<br />
reformistischen Partei (oder Allianz) integriert, ohne in<br />
der Lage zu sein, die bürokratische Führung aus einer<br />
politisch und programmatisch fundierten Perspektive zu<br />
kritisieren. Wie auch immer, in der Tat kritisieren sie nicht<br />
sehr viel.<br />
<strong>Die</strong> wirkliche Alternative<br />
Es ist daher unmöglich, SYRIZA „auf revolutionärer<br />
Basis“ beizutreten und entsprechende politische Arbeit<br />
zu leisten, wie es von verschiedenen Organisationen dem<br />
eigenen Anspruch nach praktiziert worden ist oder weiter<br />
unternommen wird. Derartige Versuche in SYRIZA bedeuten<br />
im Wesentlichen nur, den notwendigen Kampf für<br />
eine wirklich antikapitalistisch-revolutionäre Alternative<br />
zum (linken) Reformismus in Griechenland aufzugeben.<br />
Das ist auch der Grund, warum OKDE-Spartakos (griech.<br />
Sektion der IV. Internationale) sich weiter dafür einsetzt,<br />
die antikapitalistische Allianz ANTARSYA durch die<br />
Methodik des Übergangsprogramms, das an den Erfordernissen<br />
unserer Zeit orientiert ist, auf eine revolutionärmarxistische<br />
Perspektive auszurichten. Vier Kernforderungen<br />
dieses Ansatzes sind:<br />
• Stopp und Annullierung aller Schuldenzahlungen,<br />
18 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Griechenland<br />
• die Verstaatlichung der Banken und Großunternehmen<br />
unter Arbeiter Innen-Kontrolle, was<br />
• unter den gegenwärtigen Bedingungen zwangsläufig<br />
den Austritt (oder das Ausscheiden) aus der Euro-Zone<br />
und der EU bedeutet (ob es uns nun gefällt oder nicht) und<br />
• die Durchführung eines Programms für öffentliche<br />
Arbeiten, das die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit<br />
und der zunehmenden Verelendung in Angriff nimmt.<br />
Natürlich macht dies alles nur in einer radikalen, internationalistischen<br />
Perspektive Sinn, <strong>als</strong> Beginn der sozialistischen<br />
Umwälzung in Europa.<br />
Dennoch ist natürlich nicht zu verkennen, dass Millionen<br />
von Menschen ihre Hoffnung in SYRIZA und<br />
die Aussicht setzen, eine „linke Regierung“ könne die<br />
Situation tatsächlich zu ihren Gunsten verändern. Sie tun<br />
das allerdings <strong>als</strong> „Wähler Innen“ und nicht so sehr <strong>als</strong><br />
Unterstützer Innen der Widerstandsbewegung. Auf den<br />
Straßen, in den Streiks und bei den Demonstrationen, in<br />
den aktiven antifaschistischen Komitees ist der Einfluss<br />
von SYRIZA sehr begrenzt und man kann ohne weiteres<br />
feststellen, dass die kämpferische Präsenz der KPG, von<br />
ANTARSYA und anderen antikapitalistischen Organisationen,<br />
bei den antifaschistischen Aktivitäten teilweise<br />
auch der Autonomen und Anarchist Innen, stärker ist <strong>als</strong><br />
die von SYRIZA.<br />
Instabilität der Situation<br />
2011 war das Jahr der aufsteigenden Widerstandsbewegung<br />
gegen die Memorandum-Politik, 2012 herrschten Hoffnungen<br />
auf einen „friedlichen Wandel“ durch Parlamentswahlen<br />
vor. Aber 2012 war auch das Jahr, das den Aufstieg<br />
der Nazihorde „Goldenes Morgenrot“ (GM) erlebte.<br />
Meinungsumfragen zufolge liegt sie derzeit bei rund 10 %.<br />
Deshalb bleibt die Situation weiterhin sehr instabil, die<br />
Politik der neuen Dreiparteienregierung wird zwangsläufig<br />
scheitern, aber die herrschende Klasse verfügt neben<br />
diesen Parteien über keine politischen Reserven mehr und<br />
setzt mehr und mehr auf autoritäre Repressionsmethoden<br />
eines Polizeistaates. <strong>Die</strong> Polizei deckt weitgehend offen die<br />
Aktivitäten von GM, immer mehr Menschen werden in<br />
Arbeitslosigkeit und Verzweiflung getrieben. Ein Ausweg<br />
oder echte Lösungen sind nicht in Sicht.<br />
Ein Aufschwung der Widerstandsbewegung und letztlich<br />
ein Aufstand vergleichbar mit dem „Argentinazo“ im<br />
Jahr 2001 sind die einzige Aussicht, die den Weg für eine<br />
wirklich antikapitalistische Lösung ebnen und die Machtfrage<br />
durch das Erscheinen von selbstorganisierten Komitees<br />
in den Unternehmen, in Krankenhäusern, Schulen<br />
und Universitäten, aber auch in den Städten und Kommunen<br />
stellen und so die verfaulte bürgerliche Demokratie<br />
und die repressiven Staatsorgane herausfordern könnte.<br />
<strong>Die</strong> Besetzung staatlicher Gebäude sowie von Fabriken<br />
und Büros, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten<br />
und ein unbefristeter Gener<strong>als</strong>treik gehören zum geeigneten<br />
Repertoire der Kampfmaßnahmen. Nur auf diesem<br />
Weg wird sich eine reale antikapitalistische und sozialistische<br />
Lösung der Krise vollziehen können. Gleichzeitig<br />
besteht die Gefahr, dass sich die Konterrevolution, in welcher<br />
Form auch immer, durchsetzt. Das instabile soziale<br />
und politische Gleichgewicht, das seit der Verhängung der<br />
Memoranden existiert, wird nicht ewig andauern können.<br />
Das taktische Instrument, das der antikapitalistischrevolutionären<br />
Linken zur Verfügung steht, um breitere<br />
Schichten von dieser Kampfperspektive zu überzeugen, ist<br />
die Einheitsfront. Es wird notwendig sein, gemeinsam mit<br />
SYRIZA und KPG und ihren Unterstützer Innen, wo immer<br />
es möglich ist, die kapitalistische, rassistische, zutiefst<br />
antidemokratische Memorandum-Politik abzuwehren.<br />
Ebenso entscheidend ist, dass neue Schichten von Arbeiter-<br />
Innen, Jugendlichen und Immigrant Innen aufwachen und<br />
bereit sind, sich aktiv an den Kämpfen zu beteiligen. Es<br />
gibt keinen anderen Ausweg, keine andere Rettung. Im<br />
Moment kann niemand sagen, wann und unter welchen<br />
Umständen dies geschehen wird. <strong>Die</strong> antikapitalistische<br />
und revolutionäre Linke hat keine andere Wahl, <strong>als</strong> ihre<br />
Kräfte auf diese Perspektive zu orientieren.<br />
Der antikapitalistischen Linken in Europa und der<br />
<strong>ganze</strong>n Welt würde es gut anstehen, SYRIZA gegenüber<br />
eine wirklich kritische Einstellung einzunehmen, da die<br />
Förderung von Illusionen nicht nur die notwendigen<br />
Kämpfe in Griechenland, sondern auch den Aufbau der<br />
antikapitalistisch-revolutionären Linken auf internationaler<br />
Ebene behindert.<br />
Andreas Kloke ist Leitungsmitglied<br />
der OKDE-Spartakos, der griechischen Sektion der IV.<br />
Internationale und regelmäßiger Korrespondent für deren<br />
internationale Organe.<br />
•Übersetzung: Name Vorname<br />
1 auf Englisch nachzulesen bei: http://socialistworker.<br />
org/2012/12/19/where-is-syriza-headed<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 19
Demo in Solidarität mit dem Aufstand in Tunesien in Austin, USA (Foto: Artem Nezvigin, flickr.com)
Tunesien<br />
Regierung<br />
unter<br />
Druck<br />
Mit dem Sturz der alten Diktatur in Tunesien wurden die sozialen<br />
Probleme nicht geringer. Steht eine erneute Machtprobe bevor und wer<br />
sind die Akteure? Dominique Lerouge führte zu diesen Fragen<br />
ein Interview mit Jalel Ben Brik Zoghlami<br />
Was hat sich zwei Jahre nach dem „arabischen<br />
Frühling“ getan?<br />
Jalel Ben Brik Zoghlami: Es ging in dem revolutionären<br />
Prozess um Würde, Freiheit und soziale Gerechtigkeit.<br />
Was sich grundlegend geändert hat, ist das Verhältnis der<br />
Bevölkerung und namentlich der abhängigen Klassen zu<br />
den Mächtigen und ihrer Politik. Das Volk hat die Diktaturen<br />
verjagt – in Tunesien und anderen arabischen Ländern.<br />
Was Tunesien von ihnen unterscheidet, ist zweierlei.<br />
Erstens die spezifische Geschichte mit einer starken und<br />
gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, einer Linken,<br />
die bei der Bevölkerung und den Arbeitern Einfluss<br />
und eine gewisse Tradition hat, und einer vergleichsweise<br />
emanzipierten Stellung der Frau. <strong>Die</strong> zweite Besonderheit<br />
rührt aus den Wahlen vom Oktober 2011. <strong>Die</strong>se haben<br />
einerseits zu der islamistisch dominierten Ennahda-<br />
Regierung geführt, andererseits zu einer Fortsetzung der<br />
Kämpfe und Mobilisierungen von unten, da die zentralen<br />
Forderungen der Revolution unberücksichtigt bleiben.<br />
<strong>Die</strong>se Gemengelage eröffnet eine neue Phase des revolutionären<br />
Prozesses, die durch die Reorganisierung der<br />
Basis-, Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegungen bestimmt<br />
wird. <strong>Die</strong>se stehen in totaler Konfrontation zu der fundamentalistischen,<br />
neoliberalen Regierung, die auf politische<br />
Hilfe seitens der USA, EU und Katars angewiesen ist.<br />
Wir befinden uns an einem Scheidepunkt, wo entweder<br />
der revolutionäre Prozess liquidiert wird oder – durchaus<br />
mögliche – Fortschritte in Richtung einer demokratischen<br />
und antiimperialistischen Regierung des Volkes errungen<br />
werden.<br />
Auch wenn gegenwärtig die Ennahda an der Regierung<br />
ist, heißt das nicht, dass sie die Arbeiterklasse, die<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 21
Tunesien<br />
arbeitslosen Jungakademiker Innen, Studierenden, Frauen,<br />
Bewohner Innen in vernachlässigten Regionen und<br />
Elendsvierteln, Künstler, Bauern, Mittelständler etc. unter<br />
Kontrolle hätte. Ganz im Gegenteil – hier gibt es einen<br />
starken Wiederaufschwung der Mobilisierungen in verschiedenen<br />
Bereichen.<br />
Was hat sich in Tunesien hinsichtlich<br />
demokratischer Freiheiten geändert?<br />
Wir haben das Recht auf freie Meinungsäußerung und<br />
Organisierung errungen. <strong>Die</strong>se Rechte wurden de facto<br />
durchgesetzt ohne vorhergehende rechtliche Verankerung.<br />
Unter der Vorgängerregierung ist das Land verschiedenen<br />
internationalen Konventionen beigetreten, die besonders<br />
die Frauen- und demokratischen Rechte betreffen.<br />
Wahllisten müssen bspw. paritätisch besetzt werden. <strong>Die</strong>se<br />
Forderung, die vorrangig von der Frauenbewegung, der<br />
UGTT und den linken Parteien getragen wurde, musste<br />
die Ennahda hinnehmen.<br />
<strong>Die</strong> Schlacht ist noch nicht geschlagen. Ennahda setzt<br />
alles daran, auf direktem Weg und über ihre Mehrheit in<br />
der Verfassungsgebenden Versammlung Justiz, Presse,<br />
Öffentlichkeit und die Verwaltungsstrukturen unter ihre<br />
Kuratel zu kriegen. <strong>Die</strong> Demokratiebewegung organisiert<br />
gemeinsam mit der UGTT und der aktiven Jugend die<br />
Gegenwehr, um mit aller Macht die Rechte und demokratischen<br />
Freiheiten zu verteidigen und auszuweiten. Gegen<br />
die Offensive der Regierung laufen umfassende Mobilisierungen<br />
seitens der sozialen Bewegung, der UGTT, der<br />
Journalist Innen (die am 17. Oktober erstm<strong>als</strong> gestreikt<br />
haben), der Verwaltungen etc.<br />
Was hat sich in sozialer Hinsicht geändert?<br />
<strong>Die</strong> auf den Sturz von Ben Ali folgenden Regierungen<br />
haben die gleiche neoliberale und mit dem internationalen<br />
Kapital abgestimmte Wirtschaftspolitik wie zuvor betrieben.<br />
Wir haben eine hohe Inflation und etwa 200 000<br />
Arbeitslose mehr <strong>als</strong> früher. In die Entwicklung der<br />
Binnenregionen wird weder seitens des Staates noch der<br />
Privatwirtschaft ernsthaft investiert, mit dem Ergebnis,<br />
dass die Armut wächst. Durch das neue Partnerschaftsabkommen<br />
mit der EU wird die neoliberale Politik noch<br />
verstärkt, die bestehenden Wirtschaftszweige zerstört und<br />
v. a. die Landwirtschaft ruiniert.<br />
Wie ist die Lage der Frauen?<br />
<strong>Die</strong> Frauen erleiden gegenwärtig eine Offensive seitens<br />
der Ennahda und ihrer salafistischen Verbündeten, die sie<br />
aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen. Manche<br />
Strömungen gehen sogar soweit, den Frauen Zwangsheiraten<br />
oktroyieren und die Polygamie einführen zu<br />
wollen. Obwohl das neue Abkommen mit der EU die<br />
Anerkennung internationaler Konventionen beinhaltet,<br />
sind die Frauenrechte, die in der Frauenrechtskonvention<br />
CEDAW festgelegt sind, davon ausgenommen – übrigens<br />
mit stillschweigenden Billigung der Heuchler in der EU.<br />
Ennahda versucht, in der künftigen Verfassung, den Begriff<br />
„Gleichheit zwischen Mann und Frau“ durch „ergänzende<br />
Stellung“ zu ersetzen.<br />
Wie sind die Auseinandersetzungen in den<br />
vergangenen beiden Jahren gelaufen?<br />
Seit dem 17. Dezember 2010 1 befinden wir uns in einem<br />
revolutionären Prozess, der auf und ab geht. Besonders<br />
heftig verliefen die Kämpfe zwischen dem 17. Dezember<br />
2010 und dem 27. Februar 2011, <strong>als</strong> Ben Ali aus dem Amt<br />
gejagt wurde und die nachfolgende Regierung Ghannouchi<br />
zweimal abdanken musste. Dabei wurden wesentliche<br />
Fortschritte erzielt, etwa das Verbot der Partei von Ben Ali<br />
oder die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung.<br />
In anschließenden Kämpfen ging es um soziale Rechte,<br />
v. a. im Bergbaurevier und im Landesinneren, wie in Sidi<br />
Bouzid oder Siliana. Bei der Post und der Telekommunikation<br />
wurde der Staat zum Nachgeben gezwungen.<br />
Dann änderte sich die Lage, indem sich viele Aktivist-<br />
Innen auf die anstehenden Wahlen konzentriert haben.<br />
Danach wiederum ging es mit den Mobilisierungen<br />
wieder aufwärts, ausgehend vom Bergbaurevier. Täglich<br />
gab es Streiks oder Demonstrationen, selbst in kleinen<br />
Ortschaften. Vorrangig ging es bei den Mobilisierungen<br />
um Lohnerhöhungen. Da die Regierung nicht in der Lage<br />
war, die ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen,<br />
schoss sie sich Anfang 2012 auf die UGTT <strong>als</strong> den Motor<br />
und das Rückgrat der sozialen Bewegung ein. Allerdings<br />
musste sie sich angesichts heftiger Mobilisierungen wieder<br />
zurücknehmen.<br />
Auch unter den prekär Beschäftigten, den (scheinselbständigen)<br />
Subunternehmern und den in der UDC<br />
(Gewerkschaft der arbeitslosen Akademiker) zusammen<br />
geschlossenen arbeitslosen Hochschulabgängern gärte es.<br />
Auch für die Verteidigung der Grundrechte wie der freien<br />
Meinungsäußerung wurde mobilisiert. Tunesien erlebte<br />
seinen ersten Gener<strong>als</strong>treik der Journalist Innen und bei<br />
einer der bedeutendsten Zeitungen des Landes wurde erfolgreich<br />
gegen die von Ennahda aufgezwungene Direktion<br />
gestreikt. Für die Rechte der Frauen gingen zahlreiche<br />
22 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Tunesien<br />
Menschen am 13. August 2012, dem Jahrestag der rechtlichen<br />
Gleichstellung der Frau (1956), auf die Straße.<br />
Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen<br />
den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, die auf ganz<br />
unterschiedliche Kampftraditionen zurückblicken. Auch<br />
regional sind die Unterschiede groß, da manche Regionen<br />
wie Sidi Bouzid und viele andere Städte im Landesinnern<br />
Wenn man die Ennahda-Regierung benoten würde,<br />
bekäme sie eine Sechs. Ihre Funktionäre rechneten<br />
gar nicht mit dem Sturz des alten Regimes. Stattdessen<br />
setzten sie auf Verhandlungen. Sie betreiben die gleiche<br />
Vetternwirtschaft wie Ben Ali.“<br />
anderen weit voraus sind. Das gleiche gilt natürlich für die<br />
Arbeiterklasse, in der bspw. die Beschäftigten bei der Post<br />
und Telekommunikation sowie im Erziehungs- und Gesundheitswesen,<br />
wo sogar die Ärzteschaft streikt, kampfbereiter<br />
sind <strong>als</strong> woanders.<br />
An den Aktionen waren vor allem die von der UGTT<br />
organisierten Sektoren beteiligt. Im öffentlichen <strong>Die</strong>nst<br />
fanden auf Druck landesweite Tarifverhandlungen statt,<br />
in denen Lohnerhöhungen durchgesetzt wurden. Auch in<br />
der Privatwirtschaft konnten Erfolge erzielt werden. Ende<br />
November war die Region um Siliana in ein Meer roter<br />
Fahnen getaucht, die große Mobilisierungen der Bevölkerung<br />
und einen von der dortigen UGTT-Gliederung<br />
ausgerufenen Gener<strong>als</strong>treik begleiteten. <strong>Die</strong> brutalen<br />
Repressionsmaßnahmen der Polizei forderten allein in<br />
den ersten Tagen über 200 Verletzte. <strong>Die</strong> darauf folgende<br />
Radikalisierung der dortigen Bevölkerung war von großen<br />
Solidaritätsmaßnahmen in allen Regionen begleitet.<br />
Solche Aktionen sind perspektivisch durchaus geeignet,<br />
die Regierungsmacht zu schwächen oder gar infrage zu<br />
stellen.<br />
Mit welcher Repression müssen<br />
diese Proteste rechnen?<br />
Besonders stark davon betroffen ist die Bevölkerung im<br />
Landesinneren. <strong>Die</strong> Repression kommt in dreifacher Gestalt<br />
daher.<br />
Erstens in Form des Staatsapparats, der noch genauso<br />
intakt ist wie zu Zeiten Ben Alis. Es gilt weiterhin<br />
das Kriegsrecht, das Polizei und Armee mit erheblichen<br />
Vollmachten ausstattet. Ein Beispiel hierfür war das martialische<br />
Auftreten gegen die Demonstration arbeitsloser<br />
Hochschulabsolvent Innen am 7. April 2012 oder zwei<br />
Tage später gegen Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration.<br />
(…) Einschüchterungsmaßnahmen nehmen zu, indem<br />
Mitglieder oder Sympathisanten der Linken verhaftet<br />
werden. Selbst wenn sie auf Druck der Straße hin freikommen,<br />
schwebt über ihnen doch das Damoklesschwert<br />
juristischer Verfolgung.<br />
<strong>Die</strong> zweite Säule der Repression sind die Milizen der<br />
Ennahda, die auf lokaler Ebene organisiert sind und vorgeblich<br />
„zur Verteidigung der Revolution“ handeln. Ihr<br />
bevorzugtes Ziel sind die politischen Veranstaltungen und<br />
Demonstrationen der UGTT. Auf sie entfällt der Mord an<br />
einem Funktionär von Nida Tunis 2<br />
bei einer Demonstration<br />
in Tatawin in Südtunesien.<br />
Das dritte Repressionsinstrument bilden die Salafisten<br />
und Dschihadisten, die einen „heiligen Krieg“ gegen die<br />
UGTT, die Demokraten und die Frauen, die die Scharia<br />
nicht achten, erklärt haben. Sie agieren gewalttätig und attackieren<br />
auch die Polizei. In manchen einfachen Vierteln<br />
haben sie ihr Gesetz durchgesetzt und ihre ersten Opfer<br />
sind die Frauen und Armen. Auch bestimmte Künstler<br />
werden auf ihren Demonstrationen ins Visier genommen.<br />
Wie ist die Bilanz der Ennahda-<br />
Regierung seit dem Herbst 2011?<br />
Wenn man sie benoten würde, bekäme sie eine Sechs.<br />
Weder verfügt sie über Sachverstand noch über nötige<br />
Erfahrung. Ihre Funktionäre waren jahrelang im Gefängnis<br />
oder Exil und rechneten gar nicht mit dem Sturz des<br />
alten Regimes. Stattdessen setzten sie auf Verhandlungen.<br />
Inzwischen ist offenbar geworden, dass sie die gleiche Vetternwirtschaft<br />
betreiben wie Ben Ali.<br />
In ihren Wahlversprechen sollten 500 000 neue Arbeitsplätze<br />
entstehen. Stattdessen haben wir 200 000 mehr<br />
Arbeitslose. Vom internationalen Kapital bekam Tunesien<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 23
Tunesien<br />
„strukturelle Anpassungsmaßnahmen“ auferlegt, die zu<br />
Verarmung und weitgehender Zerstörung der wirtschaftlichen<br />
Infrastruktur geführt haben. Außerdem verloren<br />
hunderttausende ihre Arbeit, von denen einige übers Meer<br />
zu emigrieren versuchten und dabei oft den Tod fanden.<br />
In wirtschaftspolitischen Fragen geht die Regierung sogar<br />
noch hinter Ben Ali zurück, indem sie das Partnerschaftsabkommen<br />
mit der EU unterzeichnet hat.<br />
Folglich geraten die Regierungsparteien zunehmend<br />
unter Kritik. <strong>Die</strong>s betrifft auch Fragen wie die richterliche<br />
Unabhängigkeit oder die Organisation der für 2013<br />
vorgesehenen Wahlen – ein Konfliktpunkt mit der Tunesischen<br />
Menschenrechtsliga (LTDH), den in der Volksfront<br />
zusammen geschlossenen Parteien, den Zentrumsparteien<br />
etc. Auch in außenpolitischen Fragen steht die Regierung<br />
unter Beschuss wegen ihrer Hinwendung zu Katar und<br />
den westlichen Ländern, namentlich der USA.<br />
Wie sind die Beziehungen zwischen Ennahda<br />
und den Salafisten und Dschihadisten?<br />
Ein kleiner Teil der Salafisten und Dschihadisten hat Verbindung<br />
zu den Wahabiten oder el Kaida und einige haben<br />
am Krieg in Afghanistan teilgenommen. <strong>Die</strong> anderen<br />
aber und v. a. die Jungen dienen zumeist der Ennahda <strong>als</strong><br />
Handlanger. Sie werden von ihnen und von der politischen<br />
Polizei manipuliert für Angriffe auf die Frauen, Künstler,<br />
die UGTT etc. Meist treten sie auf den Plan, wenn<br />
Polizei und Armee sich schwer tun, den Mobilisierungen<br />
gegenüberzutreten. Andererseits geraten sie auch selbst in<br />
tätliche Konflikte mit den Ordnungskräften, wenn es um<br />
problematische wirtschafts- und sozialpolitische Regierungsmaßnahmen<br />
geht.<br />
In grundsätzlicher und strategischer Hinsicht bestehen<br />
zwischen diesen drei Strömungen keine Unterschiede.<br />
Lediglich ist Ennahda mit Abstand am stärksten und hat<br />
etwa zehnmal so viele Mitglieder wie die beiden anderen<br />
zusammen. […]<br />
Wie ist die vorläufige Bilanz der neu<br />
entstandenen Volksfront?<br />
<strong>Die</strong> Volksfront hat mittlerweile eine unbestreitbare Anerkennung<br />
gefunden, besonders unter den fortschrittlichsten<br />
Kräften der Arbeiterklasse. Sie ist in allen Regionen<br />
vertreten und in etlichen Organisationen wie der UGTT,<br />
der LTDH oder dem Tunesischen Demokratischen Frauenverband<br />
(ATFD) sowie unter den arbeitslosen Hochschulabsolventen.<br />
Mit ihrer Gründung wurde eine Koordination<br />
geschaffen, in der zahlreiche Unabhängige vertreten sind.<br />
<strong>Die</strong> am 16. Oktober organisierte Veranstaltung war mithin<br />
die größte, die in Tunesien seit den Wahlen vom Oktober<br />
2011 stattgefunden hat.<br />
Auch wenn sie nur über sehr bescheidene Mittel und<br />
keine Parteilokale verfügt, ist die Volksfront in den meisten<br />
sozialen Bewegungen und Mobilisierungen vertreten und<br />
ihre Mitglieder sind dort in führender Position. Programmatisch<br />
versteht sie sich <strong>als</strong> demokratisch, fortschrittlich,<br />
antiimperialistisch und anti-neoliberal. Sie tritt explizit<br />
für die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Erstm<strong>als</strong><br />
betrachten es ihre Mitglieder <strong>als</strong> ihre Aufgabe, die Regierung<br />
auf einer antineoliberalen und antifundamentalistischen<br />
Position infrage zu stellen<br />
Wir <strong>als</strong> LGO sehen darin eine breite Front der<br />
Arbeiter Innen und des Volkes, die den Weg dafür ebnet,<br />
dass die UGTT dieselbe Funktion übernimmt. <strong>Die</strong> Volksfront<br />
beteiligt sich uneingeschränkt an den sozialen und<br />
demokratischen Mobilisierungen und wird bei den Wahlen<br />
2013 auch kandidieren. <strong>Die</strong>se beiden Gesichtspunkte<br />
ergänzen einander.<br />
Welche Erwartungen hast Du an das WSF, das im<br />
März 2013 in Tunis stattfinden soll?<br />
Wir sollten das Forum dazu nutzen, um unsere Gegnerschaft<br />
zum Neoliberalismus und den politischen Diktaten<br />
der EU und der USA unüberhörbar darzulegen. Wir<br />
rechnen mit einer großen Beteiligung aller Bewegungen,<br />
die gegen den Neoliberalismus und für die Befreiung der<br />
unterdrückten Völker kämpfen.<br />
Am 13. Dezember hätte der zweite landesweite Gener<strong>als</strong>treik<br />
seit der Unabhängigkeit stattfinden sollen. Der<br />
erste, am 26. Januar 1978, war von Hunderten von Toten<br />
und Verletzten überschattet. Letztlich wurde er am 12.<br />
Dezember abgeblasen. Zunächst zu den Umständen, ihn<br />
anzusagen!<br />
Kurz zuvor gab es in Siliana Proteste. Nachdem der<br />
dortige Verband der UGTT wochenlange Mobilisierungen<br />
organisiert hatte, rief er für den 27. November zum<br />
Streik auf, der trotz heftiger Repressionen vier Tage lang<br />
anhielt. Am 1. Dezember war die Regierung gezwungen,<br />
in Teilen nachzugeben und namentlich den umstrittenen<br />
Gouverneur abzuberufen. Der Angriff der Fundamentalisten<br />
auf die Zentrale der UGTT offenbarte, dass Ennahda<br />
gewaltsam gegen die UGTT vorzugehen gewillt war,<br />
zumal dies auch noch der 60. Jahrestag der Ermordung von<br />
Farhat Hached war, dem großen Führer der Unabhängigkeits-<br />
und Gewerkschaftsbewegung. <strong>Die</strong>se Koinzidenz<br />
wurde von der Bevölkerung <strong>als</strong> respektlos aufgenommen.<br />
24 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Tunesien<br />
<strong>Die</strong> UGTT organisierte umgehend regionale Streiks in<br />
Sfax mit etwa 50 000 Demonstrant Innen, in Tozeur, Siliana<br />
etc. Am Sonntag fanden dort, wo nicht gestreikt worden<br />
war, große Kundgebungen statt. Wie gewohnt griff<br />
die Bourgeoisie – oder das, was bei ihr noch funktioniert:<br />
Polizei und Armee – zu den altbekannten Methoden und<br />
appellierte an die nationale Einheit, beklagte das vergossene<br />
Blut und die drohende Gefahr für das Land. Zugleich<br />
wurde die UGTT mit einer Hasskampagne überzogen und<br />
<strong>als</strong> Gefahr für die nationale Einheit und Wirtschaft dargestellt.<br />
Vor diesem Hintergrund kam es anderntags zu dem<br />
Aufruf zum Gener<strong>als</strong>treik am 13. Dezember.<br />
1 <strong>Die</strong> Selbstverbrennung eines jungen Arbeitslosen an diesem<br />
Tag wurde zum Auslöser der Jasmin-Revolution.<br />
2 Nida Tunis (Der Ruf Tunesiens) ist eine aus „Modernisierern“<br />
und früheren Anhängern Ben Alis zusammen geschlossene<br />
Partei, an deren Spitze der ehemalige Ministerpräsident el<br />
Sebsi steht.<br />
Und warum hat ihn die UGTT-Führung<br />
dann wieder abgesagt?<br />
Auch wenn ein Verbot der Milizen nicht durchgesetzt<br />
werden konnte, waren die Ennahda und die Regierung<br />
bloßgestellt worden. Sie mussten anerkennen, dass die<br />
UGTT Opfer einer Aggression geworden war, und diesen<br />
Angriff verurteilen. Ebenso mussten sie die Einrichtung<br />
einer Untersuchungskommission hinnehmen.<br />
<strong>Die</strong> UGTT konnte zeigen, dass sie nicht nur die unmittelbaren<br />
Interessen der Arbeiterklasse und die Gewerkschaft<br />
verteidigt, sondern auch die Freiheit und das<br />
tunesische Volk gegen die faschistischen Ennahda-Milizen.<br />
Zugleich hat die UGTT die Widersprüche innerhalb der<br />
Bourgeoisie, ob in der Opposition oder an der Macht, und<br />
sogar innerhalb der Ennahda weiter vertieft. Durch die<br />
Absage des Gener<strong>als</strong>treiks erschien die Gewerkschaftsführung<br />
nicht <strong>als</strong> Hasardeur, der den Streik um seiner selbst<br />
betreibt, sondern <strong>als</strong> eine Instanz, die das tunesische Volk<br />
gegen die Gewalt verteidigt. Der Regierung war damit die<br />
gelbe Karte gezeigt worden: Greift sie wieder zur Gewalt,<br />
dann ist ein Gener<strong>als</strong>treik in jedermanns Augen legitim.<br />
Und neben einem Verbot der Milizen wäre dann eine reelle<br />
Chance gegeben, die Regierung vielleicht zu stürzen.<br />
<strong>Die</strong> Gewerkschaft geht aus dieser Machtprobe gestärkt<br />
und <strong>als</strong> soziale und demokratische Instanz hervor. Ennahda<br />
muss, um ihre Basis zu befrieden und deren Moral zu stärken,<br />
verbreiten, dass die UGTT gekniffen hat, während in<br />
Wahrheit sie selbst nachgegeben hat. Insofern dürfen wir<br />
auf keinen Fall auf die Propaganda des Gegners hereinfallen.<br />
Jalel Ben Brik Zoghlami, ehemaliger<br />
politischer Gefangener unter Ben Ali, ist führendes Mitglied<br />
der Ligue de la gauche ouvrière (LGO); s. auch den Artikel<br />
zur Gründung der Volksfront.<br />
•Übersetzung: MiWe<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 25
Tunesien<br />
Neuformierung<br />
der Linken<br />
Nachdem die Ziele und Ideale der Jasmin-Revolution durch das<br />
Zweiparteiensystem Tunesiens – in dem sich Islamisten und ehemalige<br />
Gefolgsleute der früheren Diktatur gegenüber stehen – zu Grabe getragen worden<br />
waren, werden sie von der neu formierten Volksfront wieder aufgenommen.<br />
Dominique Lerouge<br />
•<br />
<strong>Die</strong> politische Landschaft Tunesiens ist<br />
seit dem Frühjahr 2012 durch eine zunehmende Polarisierung<br />
zweier politischer Lager geprägt:<br />
Auf der einen Seite stehen die islamistische Ennahda,<br />
der Kongress für die Republik (CPR) von Präsident<br />
Marzouki und das Demokratische Forum für Arbeit und<br />
Freiheit, auch Ettakatol genannt, unter dem sozialdemokratischen<br />
Präsidenten der Konstituierenden Versammlung<br />
Mustapha Ben Jaafar 1 .<br />
Auf der anderen Seite versuchen verschiedene Gruppierungen<br />
sich zusammen zu raufen: im Wesentlichen die 17<br />
Parteien, die <strong>als</strong> Zerfallsprodukt der Parteien von Ben Ali<br />
und Bourguiba entstanden sind und die sich – geeint durch<br />
die bloße Gegnerschaft zur Ennahda – dem Ruf Tunesiens<br />
unter Beji Caid el Sebsi 2 angeschlossen haben. Seit dem<br />
Frühjahr 2012 gibt es Verhandlungen zwischen der Partei<br />
von el Sebsi und den Kräften, die sich unmittelbar nach<br />
dem Sturz von Ben Ali an der Regierung von Mohammed<br />
Ghannouchi 3 beteiligt hatten, wie etwa den Nachfolgern<br />
der Demokratischen Fortschrittspartei 4 und den „Modernisten“<br />
um die Ettajdid 5 . Dazu kamen Strömungen aus der<br />
Tunesischen Arbeitspartei (PTT) von Benoui 6 . In erster Linie<br />
geht es el Sebsi dabei um den Zusammenschluss der ehemaligen<br />
Führer und Mitglieder der früheren Staatspartei<br />
Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) 7 .<br />
<strong>Die</strong> tunesische Linke, deren Mitglieder bei der Jasminrevolution<br />
eine tragende Rolle gespielt hatten, ging bei<br />
den Wahlen im Oktober 2011 nahezu unter. <strong>Die</strong> in der<br />
Front des 14. Januar zusammen geschlossenen politischen<br />
Organisationen der Linken und der arabischen Nationalisten<br />
waren einzeln und ohne entsprechende Kapazitäten zu<br />
den Wahlen angetreten. In der Folge verloren sie erheblich<br />
an Mobilisierungspotential.<br />
Im Frühjahr 2012 wurden Gespräche aufgenommen,<br />
um die Front des 14. Januar auf neuen Grundlagen wiederzubeleben<br />
und dabei sich auch anderen Parteien und<br />
26 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Tunesien<br />
Einzelpersonen gegenüber zu öffnen. Ziel sollte sein, einen<br />
dritten Pol <strong>als</strong> Gegengewicht zu den beiden bestehenden,<br />
neoliberalistisch ausgerichteten Lagern zu gründen.<br />
In einem Interview im Juli 2012 erklärte der Führer<br />
der Arbeiterpartei (vorm<strong>als</strong> PCOT) Hamadi Ben Mim:<br />
„<strong>Die</strong> revolutionären politischen Kräfte, die nach dem<br />
Sturz von Ben Ali die Front des 14. Januar gegründet haben,<br />
waren auch am Sturz der ersten beiden provisorischen<br />
Regierungen maßgeblich beteiligt. Als el Sebsi im Februar<br />
2011 Ministerpräsident wurde, trat die PCOT dafür ein,<br />
ihn ebenfalls zu stürzen und durch eine Regierung im<br />
<strong>Die</strong>nst der Arbeiter zu verpflichten. (…) Allerdings waren<br />
sich die revolutionären Parteien darüber uneins, da einige<br />
von ihnen den Angeboten el Sebsis erlegen und in seinen<br />
Stab eingetreten waren. <strong>Die</strong> Front ist daraufhin auseinander<br />
gebrochen. (…) Jetzt müssen wir uns wieder besinnen<br />
und die revolutionären Kräfte neu sammeln, ob marxistisch<br />
oder nationalistisch. Wir müssen eine neue Koalition<br />
auf der Grundlage eines neuen revolutionären Programms<br />
schaffen, um dem bestehenden Zweifrontensystem (…)<br />
entgegen zu treten. Dafür wollen wir die Front des 14. Januar<br />
in anderer Form wiederbeleben. <strong>Die</strong> Voraussetzungen<br />
dafür sind mittlerweile gegeben, da die meisten von denen,<br />
die sich auf die Seite von el Sebsi geschlagen hatten, ihre<br />
Lektion daraus gelernt haben. (…) Bei der Diskussion zwischen<br />
der PTT und den Trotzkisten von der LGO (Bund<br />
der Arbeiterlinken) geht es vor allem um zwei Punkte: der<br />
erste ist, dass die LGO die UGTT zum Motor und Zentrum<br />
der Front machen will, während die PTT dagegen<br />
ist und die politischen Organisationen der marxistischen<br />
und nationalistischen Linken vereinen will. Der zweite ist,<br />
dass nach Ansicht der LGO die UGTT den Rückhalt für<br />
die Front darstellen soll, während die PTT mit der Gründung<br />
nicht warten will, bis sich die UGTT zur Teilnahme<br />
entschließt, zumal sie momentan eher bestrebt ist, einen<br />
Ausgleich zwischen Regierung und Opposition herbeizuführen.“<br />
8<br />
Der damalige Verantwortliche für Gewerkschaftsarbeit<br />
in der Patriotischen und Demokratischen Arbeitspartei<br />
(PTPD), Chedli Gari, zog im Juli 2012 ebenfalls eine<br />
negative Bilanz aus dem Zerfall der tunesischen Linken:<br />
„<strong>Die</strong> Spaltung der linken politischen Organisationen<br />
wirkte sich katastrophal bei den Wahlen im Oktober<br />
2011 aus. (…) Wenn wir Einheitslisten aufgestellt hätten,<br />
mit der PCOT von Hamma Hammami, der MOUPAD<br />
von Chokri Belaïd (dessen Ermordung am 6. Februar zur<br />
Ankündigung vorgezogener Parlamentswahlen geführt<br />
hat [A.d.Ü]) und der PTPD, wären wir an zweiter Stelle<br />
Tunesien<br />
Einwohner:<br />
Fläche:<br />
Wirtschaft:<br />
Arabischer Frühling:<br />
Ennahda:<br />
Front des 14. Januar:<br />
Tunis<br />
10,3 Mio.<br />
163 610 km² (ungefähr doppelt so groß<br />
wie Österreich).<br />
Galt bis Mitte des letzten Jahrzehnts für<br />
die OECD <strong>als</strong> das „wettbewerbsfähigste<br />
land Afrikas“ und wurde <strong>als</strong> angehendes<br />
Schwellenland bezeichnet.<br />
<strong>Die</strong> neoliberalen Reformen unter Ben Ali<br />
führten aber zu einer bedeutsamen<br />
Schwächung der Infrastruktur. Heute<br />
steckt Tunesien in einer tiefen<br />
Wirtschaftskrise.<br />
Nahm Dezember 2010 (nach der<br />
Selbstverbrennung eines<br />
Gemüsehändlers) und den dadurch<br />
ausgelösten breiten Protesten seinen<br />
Anfang.<br />
<strong>Die</strong> islamistische Partei hatte bei der<br />
Wahl 18 % der Stimmen erhalten, aber<br />
41 % der Parlamentssitze.<br />
Umfasst den größten Teil der Opposition<br />
und repräsentiert die Kräfte der<br />
revolution, die den Sturz Ben Alis (14.<br />
Januar 2011) herbeiführten.<br />
gewesen. Ein noch besseres Ergebnis hätten wir zusammen<br />
mit den arabischen Nationalisten erzielt. Wir haben dies<br />
bis drei Wochen vor den Wahlen versucht, aber letztlich<br />
wollte jeder den größten Teil vom Kuchen für sich und<br />
kandidierte separat.“ Im Sommer 2012 äußerte er sich zu<br />
den Gründen für den Zerfall der PTPD: „Wir brauchen<br />
einen Bruch mit der rechtsorientierten Politik von Abderrazak<br />
Hammami und der Mehrheit des Politbüros,<br />
die sich immer wieder auf Ennahda, el Sebsi, Chebbi oder<br />
Ettajdid einlassen wollen. Abderrazak Hammami hat um<br />
die Gunst der großen Parteien gebuhlt und den Bruch mit<br />
der radikalen Linken vorangetrieben. Seine Absicht war,<br />
die PTPD <strong>als</strong> Retter der Revolution vor ihren extremis-<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 27
Tunesien<br />
tischen Tendenzen dastehen zu lassen. Deswegen hat er<br />
sich mit Rached Ghannouchi, dem Gründer von Ennahda,<br />
el Sebsi sowie dem Minister für Menschenrechte von der<br />
Ennahda getroffen.“ Zur politischen Ausrichtung seiner<br />
Strömung nach deren Abspaltung von der PTPD meinte<br />
er: „Unsere Orientierung für die kommenden Monate<br />
zielt auf den Vereinigungsprozess mit der MOUPAD, der<br />
auf dem kommenden Kongress vollzogen werden soll, und<br />
auf den Wiederaufbau der Front unter Einbeziehung der<br />
arabischen Nationalisten, die ihrer moslemischen Identität<br />
sehr verhaftet sind, weswegen Ennahda Abwerbungsversuche<br />
unternimmt. Außerdem lassen wir uns nicht auf die<br />
Dichotomie zwischen Laizität und Islamismus ein, die von<br />
Ennahda und Ettajdid hochgehalten wird.“ 9<br />
Néjib Sellami, einer der Verantwortlichen der UGTT<br />
für die Oberschulen und Exponent der MOUPAD, erklärte<br />
im letzten Juli: “Eine Bäuerin meinte zu mir, dass die<br />
tunesische Revolution wie eine Wassermelone auf einem<br />
Tisch sei: Sie steht nicht still, wankt hin und her und kann<br />
jeden Moment hinunter kippen. <strong>Die</strong>ser Vergleich hat mir<br />
gut gefallen. Zuvor hatten wir eine autoritäre Regierung<br />
unter Ben Ali im Palast von Karthago und jetzt eine andere<br />
unter Jebali, dem islamistischen Ministerpräsidenten,<br />
in der Kasbah. <strong>Die</strong>se Partei spricht mit doppelter Zunge:<br />
Einerseits gibt sie sich demokratisch und zivil, andererseits<br />
erinnert ihre Praxis an die RCD unter Ben Ali. Sie<br />
mischt sich in jede Entscheidung ein und die Tunesier<br />
befürchten mittlerweile, dass die Diktatur in religiösem<br />
Gewand zurückkehrt. Gegenüber der Ennahda gibt es eine<br />
Sammlungsbewegung ehemaliger Bourguiba- und RCD-<br />
Anhänger um el Sebsi. Verstärkt werden sie durch Anhänger<br />
des Zentrums und ehemalige Linke. Genau wie die<br />
Regierungen Frankreichs und der USA will die Ennahda<br />
ein Zweiparteiensystem, in dem die Tunesier zwischen den<br />
alten Machthabern und der Ennahda wählen sollen. Sie<br />
verfügen über entsprechendes Geld und geeignete Strukturen.<br />
Dem gegenüber entsteht eine dritte Kraft, die diese<br />
Verengung ablehnt. In ihr sind linke Parteien und arabische<br />
Nationalisten aktiv. Ihnen geht es nicht nur darum,<br />
die Wiederkehr jedweder Diktatur zu verhindern, sondern<br />
auch um die Erfüllung der Forderungen, derentwegen das<br />
Volk die Revolution gemacht hat. Ziel ist die Wiederherstellung<br />
dessen, was früher unter der Bezeichnung Front<br />
des 14. Januar bestand.“ 10<br />
Jalel Ben Brik Zoghlami, Leitungsmitglied der LGO,<br />
fasste die Bedingungen für die Wiederentstehung einer<br />
Front des 14. Januar so zusammen: „<strong>Die</strong>se Front macht nur<br />
Sinn, wenn zugleich mehrere Bedingungen erfüllt sind:<br />
1. <strong>Die</strong> Verankerung in den gegenwärtigen sozialen<br />
Mobilisierungen, wo die politische Linke momentan im<br />
Rückstand ist.<br />
2. Erstellung eines Aktionsprogramms um folgende<br />
Achsen: gegen die reaktionäre, undemokratische und<br />
frauenfeindliche Politik der Ennahda; für die Annullierung<br />
der Schulden und Assoziierungsabkommen mit den<br />
imperialistischen Mächten; Kampagnen gegen die Arbeitslosigkeit<br />
und für das Recht auf Arbeit; für den Aufbau<br />
eines Förderplans zugunsten der benachteiligten Klassen<br />
und Regionen …<br />
3. Frontale Opposition gegen die unsoziale, undemokratische<br />
und pro-imperialistische Politik der Moslembrüder<br />
der Ennahda und ihrer Marionetten. Bekämpfung<br />
der Illusionen, die von den Neoliberalen der ehemaligen<br />
RCD um el Sebsi und deren Verbündeten Najib Chebbi<br />
ausgehen.<br />
4. Aufruf zum Sturz der gegenwärtigen Regierung und<br />
Verständigung über den Charakter einer künftigen Regierung<br />
des Volkes. In den Augen der LGO muss diese auf<br />
einer demokratischen Front des Volkes und der Arbeiter<br />
beruhen, deren Rückhalt in der UGTT liegt.<br />
5. Unvoreingenommene Zusammenarbeit mit unabhängigen<br />
Kräften und besonders mit den tragenden<br />
Kräften der Kämpfe in der Gewerkschaftsbewegung, in<br />
den Regionen und unter den Frauen, Arbeitslosen und<br />
Jugendlichen.“ 11<br />
Am 13. August wurde ein erstes Abkommen zwischen<br />
zwölf Parteien erzielt, in dem die Gründung der Volksfront<br />
für die Umsetzung der Ziele der Revolution angekündigt<br />
wurde. Wie die Tageszeitung Le Temps schreibt:<br />
„In Zeiten, in denen die politischen Beobachter des Landes<br />
eine Zuspitzung auf zwei Pole um Ennahda bzw. Nidaa<br />
Tunes für unumgänglich halten (…), tritt die Front aus<br />
Linksparteien und arabischen Nationalisten auf den Plan,<br />
um diese Scheinalternative zu durchkreuzen“. 12<br />
Der Front gehören Organisationen aus unterschiedlichen<br />
Traditionen an:<br />
• Marxisten-Leninisten: Parti des travailleurs PTT (ex-<br />
PCOT [Hamma Hammami]), Parti des patriotes démocrates<br />
unifiés (aus der vor Kurzem erfolgten Fusion der<br />
MOUPAD von Chokri Belaïd und der Strömung Jmour<br />
der PTPD), die Parti patriotique socialiste révolutionnaire<br />
( Jamel Lazhar), Parti de la lutte progressiste (PLP — Mohamed<br />
Lassoued);<br />
• Trotzkisten: Ligue de la gauche ouvrière (LGO, Bund<br />
der Arbeiterlinken);<br />
• Sozialisten: Parti populaire pour la liberté et le progrès<br />
28 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Tunesien<br />
(PPLP — Jalloul Ben Azzouna, der sich auf Ben Salah<br />
beruft);<br />
• Panarabische Marxisten: Front populaire unioniste<br />
(Amor Mejri);<br />
• „Nasseristen“, arabische Nationalisten: Mouvement du<br />
peuple - Hraket Echaab (Mohamed Brahmi);<br />
• Arabische Nationalisten baathistischer Prägung: Baath-<br />
Bewegung (Othmane Belhaj Amor), Parti de l’avant-garde<br />
arabe et démocratique (PAGAD — Khereddine Souabni);<br />
• Andere Organisationen wie Tunisie verte (Abdelkader<br />
Zitouni), Mouvement des démocrates socialistes, RAID<br />
(ATTAC et CADTM).<br />
Daneben beteiligen sich zahlreiche unabhängige<br />
Aktivist Innen. Während ihrer ersten nationalen Konferenz<br />
im September 2012, verabschiedete die Volksfront<br />
eine politische Charta und wählte den historischen Führer<br />
der PCOT Hamma Hammami zum Sprecher.<br />
Dominique Lerouge ist Mitglied der<br />
französischen NPA und der IV. Internationale.<br />
•Übersetzung: MiWe<br />
diese sich vom Kommunismus lossagte, um zu einer Mitte-<br />
Links-Partei zu werden.. Während der Präsidentschaft von<br />
Ben Ali war die Partei eine der wenigen legalen Oppositionsparteien.<br />
Ihr Erster Sekretär Ahmed Ibrahim wurde Minister<br />
in der Regierung Ghannouchi.<br />
6 Eine sich auf die Arbeiterschaft berufende Partei, die nicht<br />
mit der aus der PCOT hervorgegangenen Tunesischen Arbeiterpartei<br />
(ebenfalls PTT) zu verwechseln ist.<br />
7 Nach einer Meldung der tunesischen Zeitung Le Temps vom<br />
16. Dezember 2012 wurde zur Umgehung des Gesetzes, wonach<br />
ehemalige RCD-Kader für zehn Jahre vom politischen<br />
Leben ausgeschlossen sind, eine Koalition mit vier anderen<br />
Parteien geschlossen.<br />
8 Auszüge aus einem Interview vom Juli 2012 in Tunis<br />
mit Alain Baron: http://www.europe-solidaire.org/spip.<br />
php?article25957<br />
9 Ibid<br />
10 Ibid<br />
11 Ibid<br />
12 Zitiert nach Alain Baron, « Tunisie : Le regroupement à<br />
gauche franchit une nouvelle étape », http://www.europesolidaire.org/spip.php?article26107<br />
1 Ettakatol hatte zu Zeiten Ben Alis einen Beobachterstatus<br />
bei der Sozialistischen Internationale. Seit dessen erst am 17.<br />
Januar 2011 (sic!) erfolgten Ausschluss ist sie offizielles Mitglied.<br />
2 Der Rechtsanwalt Béji Caïd el Sebsi bekleidete nacheinander<br />
das Amt des Innen-, Verteidigungs- und Außenministers<br />
unter Bourguiba und war anschließend zwischen 1990 und<br />
1991 Präsident des Abgeordnetenhauses unter Ben Ali. Am 27.<br />
Februar 2011 wurde er nach dem Sturz der zweiten Regierung<br />
von Mohamed Ghannouchi zum Ministerpräsidenten der provisorischen<br />
Regierung ernannt. Nach den Wahlen räumte er<br />
am 24. Dezember 2011 diesen Posten für Hamadi Jebali, dem<br />
Gener<strong>als</strong>ekretär der Ennahda. Am 16. Juni 2012 gründete er<br />
die neue Partei Ruf Tunesiens.<br />
3 Mohamed Ghannouchi bekleidete unter Ben Ali nach dessen<br />
Putsch gegen Bourguiba 1987 verschiedene Ministerämter,<br />
bevor er 1999 Ministerpräsident wurde. In der tunesischen<br />
Regierungspartei RCD war er Mitglied des Politbüros. Nach<br />
dem Sturz von Ben Ali am 14. Januar 2011 war er zusätzlich<br />
zum Amt des Premierministers geschäftsführender Präsident<br />
und gründete die sog. Regierung der Nationalen Einheit. Am<br />
27. Februar musste er bereits zurücktreten, ohne das Vertrauen<br />
des tunesischen Volkes gewonnen zu haben.<br />
4 Sie wurde im Jahre 1983 unter dem Namen Progressive<br />
Sozialistische Sammlung von mehreren linken Gruppierungen<br />
gegründet, aber erst 1988 anerkannt und registriert. 2001<br />
nannte sie sich schließlich in Demokratische Fortschrittspartei<br />
um. Nach dem Sturz von Ben Ali wurde ihr Gründer Najib<br />
Chebbi Minister in der Regierung Ghannouchi. Im April<br />
2012 fusionnierte sie mit anderen Parteien zur Republikanischen<br />
Partei, deren Gener<strong>als</strong>ekretärin Maya Jribi wurde.<br />
5 <strong>Die</strong> Bewegung für Erneuerung (Ettajdid) entwickelte sich<br />
1993 aus der alten Tunesischen Kommunistischen Partei, <strong>als</strong><br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 29
Mauritius<br />
Über die<br />
Schönfärberei<br />
des<br />
Neoliber alismus<br />
Mauritius. Modell eines (afrikanischen) Entwicklungslandes –<br />
Dass das eher neoliberalen Träumereien <strong>als</strong> der<br />
Wirklichkeit entspricht, wird in dem folgenden Interview deutlich.<br />
Jean Nanga im Gespräch mit Ashok Subron<br />
In den Begriffen der technischen Struktur des<br />
Kapitalismus hat Mauritius eine der leistungsstärksten<br />
Ökonomien von Afrika bzw. ist es, anders<br />
gesagt, eine neoliberale „success story“. <strong>Die</strong><br />
Internationale Arbeitsorganisation (ILO) reiht es<br />
in Bezug auf die monatlichen Mindestlöhne unter<br />
die „Top 10“ der afrikanischen Länder ein 1 …<br />
Ashok Subron: Bei diesen Indizes wäre auch einer der<br />
neuesten zu erwähnen, der Mauritius auf die 48. Position<br />
von 50 in Bezug auf die Nahrungssicherheit setzt. Wir<br />
importieren 75 % von dem, was wir konsumieren, da die<br />
postkoloniale Ökonomie vor allem unter Einwirkung des<br />
Internationalen Währungsfonds und der Weltbank eine<br />
außengerichtete Ökonomie mit billigen Arbeitskräften<br />
ist. <strong>Die</strong> letzte Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 hat eine<br />
Menge Probleme hervorgerufen und die extreme Anfälligkeit<br />
dieser angeblichen neoliberalen „success story“<br />
gezeigt. Man muss die Dinge zurechtrücken. Es gibt keinen<br />
Mindestlohn auf Mauritius, ich weiß nicht, woher die<br />
ILO diese Daten nimmt. In Wahrheit liegt der sektorale<br />
Mindestlohn beispielsweise bei der Warenproduktion für<br />
die zollfreie Zone bei etwa 100 €. Der Mindestlohn für die<br />
Beschäftigten in der Tourismusindustrie liegt bei etwa 150<br />
bis 175 €. <strong>Die</strong> Beschäftigten in der Zuckerindustrie haben<br />
einen Basislohn von ein wenig über 300 €.<br />
In den beiden letzten Jahrzehnten haben die Ungleichheiten<br />
zugenommen. Das lässt sich anhand der<br />
Zahlen des Gini-Koeffizienten nachweisen. Der Anteil des<br />
Reichtums, der auf die Arbeit entfällt, geht laut diesem<br />
ökonomischen Modell nach unten. Dabei ist noch nicht<br />
30 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Mauritius<br />
berücksichtigt, dass die jüngsten Zahlen zeigen, dass die<br />
Verschuldung der Haushalte zunimmt. Wir haben hier die<br />
klassischen Merkmale des Neoliberalismus: <strong>Die</strong> lokalen<br />
und internationalen Eliten reißen den produzierten Reichtum<br />
an sich, der Anteil der Löhne vermindert sich, und<br />
der Konsum wird mehr und mehr durch Verschuldung der<br />
Haushalte finanziert.<br />
Wenn man von Mauritius <strong>als</strong> ökonomischem Modell<br />
für Afrika spricht, dann benutzen die neoliberalen Ideologen<br />
es natürlich, um den Rezepten des IWF in Afrika<br />
Legitimität zu verschaffen. Sie sagen nicht, dass Bildung<br />
in Mauritius kostenlos ist, von der Vorschulstufe bis zur<br />
Universität. Selbst der Transport der Schüler Innen und<br />
Studierenden ist kostenlos. Sie sagen nicht, dass die öffentliche<br />
Gesundheitsversorgung kostenlos und allgemein ist.<br />
<strong>Die</strong> chirurgischen Operationen, die nicht in Mauritius gemacht<br />
werden können, werden öffentlich subventioniert.<br />
Sie sagen nicht, dass die Beschäftigten das Recht auf eine<br />
universelle Rente haben. All diese sozialen Maßnahmen<br />
werden nicht angesprochen, weil sie zu den Geboten des<br />
IWF oder der Weltbank im Gegensatz stehen. Das System<br />
hat sich nicht wegen, sondern trotz IWF und Weltbank<br />
so entwickelt, weil das Volk, vor allem die Beschäftigten,<br />
gegen den Abbau des Sozi<strong>als</strong>ystems Widerstand geleistet<br />
haben. Hätte das Sozi<strong>als</strong>ystem auf Mauritius <strong>als</strong> Ergebnis<br />
der Kämpfe, die von den ersten Jahren der Unabhängigkeit<br />
an geführt worden sind, nicht existiert, hätte das auf<br />
Export orientierte und auf billiger Arbeitskraft beruhende<br />
Modell niem<strong>als</strong> existieren können, weil niemand mit den<br />
Elendslöhnen hätte überleben können. <strong>Die</strong> sozialen Rechte<br />
sind in gewisser Weise eine Form von indirektem Lohn,<br />
der das Überleben der Arbeitenden möglich gemacht hat.<br />
Was der IWF unseren afrikanischen Landsleuten nicht<br />
sagt. Weil er überall den Abbau der sozialen Reche auf<br />
Bildung und auf Gesundheit und die Privatisierung dieser<br />
<strong>Die</strong>nste vorschlägt.<br />
Man muss auch wissen, dass der herstellenden Industrie<br />
auf Mauritius zugutegekommen ist, dass Mitte der 1980er<br />
Jahre Kapital aus Hongkong gekommen ist, das Angst vor<br />
dem Anschluss an China hatte. <strong>Die</strong>s war für die Expansion<br />
in diesen Jahren günstig. Jetzt hält die zollfreie Zone<br />
sich durch die Anstellung von Wanderarbeiter Innen unter<br />
Bedingungen aufrecht, die ich ohne zu zögern <strong>als</strong> halbe<br />
Versklavung bezeichne.<br />
Ich möchte nun auf die Tourismusindustrie zu sprechen<br />
kommen, die zu einer der Säulen der Wirtschaft auf<br />
Mauritius geworden ist. Das ist eine sehr anfällige Industrie,<br />
wie man es jetzt mit der Krise der Eurozone sehen<br />
Mauritius<br />
Einwohner<br />
Fläche<br />
Sprache<br />
Wirtschaft<br />
BIP<br />
Port Louis<br />
1,3 Mio.<br />
Der Inselstaat im Indischen Ozean ist<br />
mit 2040 km² etwas kleiner <strong>als</strong> das<br />
Saarland<br />
morisyen (eine Kreolsprache) wird von<br />
80 % der Einwohner gesprochen<br />
textilindustrie, Rohrzuckerproduktion<br />
(80 % der bebaubaren Fläche, was<br />
aber nur 2,2 % des BIP ausmacht),<br />
tourismus (2013 wahrscheinlich mehr<br />
<strong>als</strong> 1 Mio. Besucher Innen).<br />
Gemessen an afrikanischen Verhält-<br />
nissen ist das BIP/Kopf vergleichsweise<br />
hoch: 2011 lag es bei ca. 11 320 €.<br />
kann. <strong>Die</strong>, ich möchte mal sagen, wilde Entwicklung des<br />
Tourismus hat fast die Zerstörung der Gemeinschaft der<br />
Fischer mit sich gebracht und den Zugang zu den Stränden<br />
auf 10 % der Küstenstreifen vermindert. Wegen der<br />
Abhängigkeit vom Tourismus hat Mauritius sogar die<br />
Definition von Tourismus qualitativ verändert, denn jetzt<br />
läuft der Ausverkauf der Küstengebiete. In Kombination<br />
mit der Politik, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen,<br />
erleben wir zurzeit, dass sich eine neue Form von<br />
kolonialer Besetzung einstellt. Dabei sind die ökologischen<br />
Schäden noch nicht erwähnt, die diese Art von Entwicklung<br />
zur Folge hat.<br />
Zuletzt sind die „call center“ und „seafood hub“ (Zentren<br />
für Fischerei und alle damit verbundenen Tätigkeiten)<br />
<strong>als</strong> wirtschaftliche Schwerpunkte hinzugekommen. <strong>Die</strong><br />
„call center“, in denen junge Leute zu deregulierten, <strong>als</strong>o<br />
antisozialen Arbeitsbedingungen angestellt sind, haben<br />
dazu beigetragen, neue Arbeitsgesetze für sämtliche<br />
abhängig Beschäftigte zu prägen. Und dieser Sektor ist<br />
für die Zuckungen der internationalen Ökonomie ebenso<br />
anfällig wie der Tourismus und die zollfreie Zone.<br />
Was die Fischereiindustrie betrifft, so besitzt die<br />
Republik Mauritius eine der größten maritimen Flächen<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 31
Mauritius<br />
auf der Welt. Das ausschließlich ihr zustehende Gebiet<br />
erstreckt sich auf über 2,3 Millionen km 2 , doch besitzt das<br />
Land kaum eigene Fischereifahrzeuge. Mauritius schließt<br />
beispielsweise Fischereiabkommen mit der Europäischen<br />
Union, nach denen es deren Schiffen erlaubt ist, in maurizischen<br />
Gewässern Thunfisch für 4,56 Rupien pro Kilo<br />
(1 € = 38 Rupien) zu fangen, während die Maurizier Innen<br />
für ein Kilo Thunfisch ungefähr 200 Rupien bezahlen<br />
müssen. <strong>Die</strong> Fischfangpolitik des Landes räumt den europäischen<br />
Schiffen dieses Recht ein, die mit Subventionen<br />
Fische fangen und den Thunfisch an die Verarbeitungsindustrie<br />
auf Mauritius verkaufen, die den Beschäftigten<br />
einen Monatsmindestlohn von 200 € zahlt. Ich möchte<br />
unterstreichen, dass der Thunfisch nicht auf dem lokalen<br />
Markt verkauft, sondern auf die europäischen Märkte<br />
exportiert wird. Um Zugang zu ihnen zu erhalten, muss<br />
Mauritius dagegen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen<br />
unterschreiben und <strong>Die</strong>nste wie Telekommunikation<br />
oder die Hafendienste verschleudern. Als ob dies noch<br />
nicht die übelste Sorte von Neokolonialismus wäre, ist zu<br />
unterstreichen, dass die Thunfischfänger mit Ringwadennetzen<br />
fangen, die große ökologische Schäden zur Folge<br />
haben. Der Einsatz von Ringwaden wird von den ökologischen<br />
Organisationen weltweit verurteilt.<br />
<strong>Die</strong> Frage der Fischerei ist wichtig zum Verständnis des<br />
Modells Mauritius: eines Landes mit einem ernsthaften<br />
Problem der Versorgung mit Nahrungsmitteln, das über<br />
eine maritime Fläche von 2,3 Millionen km 2 verfügt, das<br />
aber seine Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht unter<br />
anderem durch Fischfang sicherstellen kann. Der Thunfisch,<br />
der in Mauritius konsumiert wird, wird … importiert.<br />
Wie sehen die Reaktionen auf die Situation aus,<br />
die Du nun beschrieben hast?<br />
Wegen dieser Situation organisieren sich inzwischen die<br />
Beschäftigten (Fischer, LanderarbeiterInnen), die sozialen<br />
Bewegungen und die Linke auf Mauritius. Sie können sich<br />
auf eine reiche Tradition sozialer, gewerkschaftlicher und<br />
politischer Kämpfe stützen. Mauritius, das die Sklaverei,<br />
die Rechtsform der Vertragsknechtschaft [französisch:<br />
engagisme; englisch: indentured servitude] und bis 1968<br />
(dem Datum der Unabhängigkeit) den Kolonialismus<br />
durchgemacht hat, hat eine bedeutende Arbeiterbewegung<br />
hervorgebracht, die die Hauptträgerin des Kampfs<br />
für das allgemeine Wahlrecht und die Unabhängigkeit<br />
des Landes gewesen ist. <strong>Die</strong> Gründung der Labour Party<br />
(Parti travailliste) 1936 hat die Dynamik des Kampfs für<br />
die Unabhängigkeit geschaffen. Mauritius war eines der<br />
wenigen afrikanischen Länder, in denen es seit dieser Zeit<br />
eine Labour Party gegeben hat. In den 1970er Jahren sind<br />
erneut intensive Kämpfe aufgeflammt (Gener<strong>als</strong>treik, der<br />
Mai 68 auf Mauritius), aus denen die Mouvement militant<br />
mauricien (MMM) hervorgegangen ist, eine linke Organisation,<br />
die dam<strong>als</strong> für die Nationalisierung der meisten<br />
Wirtschaftssektoren und für Selbstverwaltung eingetreten<br />
ist. Das Scheitern der MMM an der Regierung, die<br />
Durchführung von Strukturanpassungsmaßnahmen, die<br />
Krisen und die politischen Bündnisse haben zu einer langen<br />
Periode des Rückgangs der Kämpfe geführt. Seit ein<br />
paar Jahren nehmen sie wieder zu, da sich die strukturellen<br />
Schranken des so genannten Modells Mauritius zeigen und<br />
die Bevölkerung ihre sozialen Errungenschaften nicht verlieren<br />
will. Zudem haben die Zunahme der Ungleichheit<br />
und die Willkür des Staats, vor allem der Polizei, 1999 zu<br />
schweren sozialen Unruhen geführt.<br />
Auf gewerkschaftlicher Ebene hat es mehrere Mobilisierungen<br />
der Beschäftigten gegen die neuen Arbeitsgesetze<br />
gegeben, die vom Unternehmertum auf Mauritius, dem<br />
IWF und der Weltbank durchgedrückt und 2008 von der<br />
Nationalversammlung angenommen wurden. Das Parlament<br />
wurde von der Labour Party dominiert, die zu einer<br />
Partei der Mitte geworden ist und sich seit geraumer Zeit<br />
der neoliberalen Logik untergeordnet hat.<br />
Seit einigen Jahren ist eine Wiederbelebung der Kämpfe<br />
in verschiedenen Arbeiterbereichen festzustellen, in<br />
denen es eine reiche Gewerkschaftstradition gibt (Zuckerindustrie,<br />
Docker, öffentlicher Verkehr). 2010 setzte in der<br />
Zuckerindustrie ein Prozess von Streikbewegungen ein,<br />
der zum Auftakt zur Rückkehr der Gewerkschaftskämpfe<br />
geworden ist. <strong>Die</strong> Entschiedenheit der Beschäftigten in<br />
dieser Industrie hat viele überrascht, denn sie kam unerwartet.<br />
<strong>Die</strong> Aktivitäten der Beschäftigten stießen sogar<br />
auf politisches Echo und führten zu einem ersten Arbeitersieg<br />
gegen die Zuckeroligarchie, die aus der Kolonialzeit<br />
stammende historische Bourgeoisie. Ziel war es, die<br />
Reform der Zuckerindustrie in Frage zu stellen, die darauf<br />
zurechtgeschneidert war, diese Oligarchie zufrieden zu<br />
stellen. In der Zuckerindustrie, die auf protektionistischen<br />
und privilegierten Bestimmungen beruhte, wurde eine<br />
Reform eingeleitet, um dem Rückgang des Zuckerpreises<br />
und der durch die Abkommen zwischen der Gruppe<br />
der AKP-Staaten und der Europäischen Gemeinschaft<br />
garantierten Exportquoten zu begegnen. <strong>Die</strong>se Reform<br />
wurde durch die Kompensation finanziert, die von der<br />
Europäischen Union an den Staat Mauritius überwiesen<br />
32 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Mauritius<br />
wurde. <strong>Die</strong> Oligarchie hat sich dieser Mittel bedient, um<br />
eine massive Verringerung der Zahl der Festangestellten<br />
zu finanzieren und danach missbräuchlich Saisonarbeitskräfte<br />
eingesetzt. <strong>Die</strong> Mobilisierung der fest angestellten<br />
Beschäftigten im Jahr 2010 war eine Antwort auf die<br />
Umleitung von öffentlichen Mitteln zur Verwirklichung<br />
eines arbeiterfeindlichen Vorhabens der Oligarchie. Der<br />
Sieg der Beschäftigten in der Zuckerindustrie, der unter<br />
anderem in einer Vereinbarung über Lohnerhöhungen von<br />
20 % bestand, hat wieder Zuversicht in die Arbeiter- und<br />
Gewerkschaftskämpfe gebracht. Im August 2012 kam es zu<br />
einer erneuten Konfrontation zwischen den Beschäftigten<br />
der Zuckerindustrie mit ihren Gewerkschaften, die sich zu<br />
einer Plattform, dem „Joint Negiotiating Panel“, zusammengetan<br />
hatten, auf der einen und der Zuckeroligarchie<br />
auf der anderen Seite. Nachdem sie in den Genuss des<br />
Mannas der EU gekommen waren, wollten sie das Prinzip<br />
der nationalen Tarifverhandlungen in Frage stellen, um<br />
die Beschäftigten aufzusplittern. In dieser Konfrontation<br />
haben sich die Arbeitenden und ihre Gewerkschaften sogar<br />
über eine arbeitsrichterliche Anordnung hinweggesetzt,<br />
mit der jegliche Vorbereitung oder tatsächliche Durchführung<br />
von Streiks untersagt wurde. Über 98 % der Beschäftigten<br />
hatten trotz des Abstimmungsverbots für den Streikbeginn<br />
gestimmt. <strong>Die</strong>ser Konflikt hat fast einen Monat<br />
lang sämtliche Medien beschäftigt. Somit ist 2012 nach<br />
2010 ein weiteres Jahr mit einem Sieg der Beschäftigten der<br />
Zuckerindustrie geworden. <strong>Die</strong>ser alte Sektor der Wirtschaft<br />
auf Mauritius, den es seit der Zeit der Sklaverei bis<br />
hin zur neoliberalen Globalisierung gibt, gehört zu denjenigen<br />
mit dem höchsten Klassenbewusstsein im Lande.<br />
<strong>Die</strong>se Dynamik in der Zuckerindustrie hat sich auf<br />
die Docker ausgedehnt, die eine Mobilisierung gegen die<br />
Privatisierung des Hafens und die Degeneration der alten<br />
Gewerkschaftsbürokratie begonnen haben. Und seit zwei<br />
Monaten ist eine Wiederaufnahme der Kämpfe in einem<br />
weiteren Schlüsselsektor festzustellen: im öffentlichen<br />
Verkehr.<br />
Außerdem ist die Bewegung der jungen Beschäftigten<br />
in den Callcentern zu erwähnen, die 2011 die Form einer<br />
Besetzung und von zwei Hungerstreiks von jungen Leuten<br />
angenommen hat. <strong>Die</strong> Herausforderung für die Linke in<br />
Mauritius auf gewerkschaftlichem Gebiet besteht darin, die<br />
Kämpfe in den traditionellen Sektoren mit diesen neuen<br />
Sektoren zusammenzubringen.<br />
Es geht da um die Privatwirtschaft. Wie sieht es<br />
mit dem öffentlichen Sektor und mit den Beziehungen<br />
zwischen den Lohnarbeiter Innen und den<br />
Gewerkschaften im privatwirtschaftlichen und im<br />
öffentlichen Sektor aus?<br />
<strong>Die</strong> Lohnabhängigen im öffentlichen Bereich stellen eine<br />
bedeutende Kraft dar, da sie in etwa 25 % bis 30 % der<br />
abhängig Beschäftigten auf Mauritius ausmachen. Sie sind<br />
am stärksten gewerkschaftlich organisiert und dominieren<br />
die Gewerkschaftsföderationen und -konföderationen auf<br />
Mauritius. Das verursacht sogar ein gewisses Ungleichgewicht<br />
in der Repräsentation der Arbeiterklasse in den<br />
Gewerkschaftsführungen. Das ist ein strukturelles Problem.<br />
In den letzten Jahren standen die Gewerkschaften des<br />
öffentlichen Bereichs bei den großen Kämpfen ein wenig<br />
im Hintergrund, auch wenn sie ideologisch gegen die<br />
neoliberale Vorherrschaft und die Politik des IWF eingestellt<br />
sind. Sie sind entschieden gegen die Privatisierung,<br />
aber sie konnten die versteckte Privatisierung bestimmter<br />
öffentlicher <strong>Die</strong>nste über das Outsourcing von <strong>Die</strong>nsten<br />
(Überlassung bestimmter <strong>Die</strong>nste an private Anbieter<br />
wie der Verpflegung in den öffentlichen Krankenhäusern)<br />
oder Arbeitsplätzen nicht verhindern. Zu erwähnen<br />
ist, dass für die Beschäftigten im öffentlichen Sektor ein<br />
verfassungsmäßiges Verbot der öffentlichen Betätigung in<br />
politischen Organisationen gilt. Sie können nicht einmal<br />
bei Regionalwahlen kandidieren. Das trägt zu einer<br />
gewissen Form von Distanzierung der Gewerkschaften der<br />
Staatsbediensteten von Aktivitäten der Gewerkschaften<br />
im Privatsektor bei, die einen recht politischen Charakter<br />
haben. Aber die Wiederaufnahme der Kämpfe in der<br />
Zuckerindustrie in der letzten Zeit hat dazu geführt, dass<br />
eine Dynamik der Annäherung von Gewerkschaften im<br />
privaten und im öffentlichen Sektor in Gang gekommen<br />
ist. Zum Beispiel hat es am 2. September [2012] nach dem<br />
Sieg der Beschäftigten in der Zuckerindustrie eine große<br />
Versammlung gegeben, an der die Gewerkschaftsführer-<br />
Innen unter anderem der Bereiche Gesundheit, Bildung<br />
und der quasi-staatlichen Betriebe teilgenommen haben.<br />
<strong>Die</strong> Kampfbereitschaft der Beschäftigten der Zuckerindustrie<br />
hat den anderen Bereichen, darunter den öffentlichen,<br />
neuen Schwung verliehen. <strong>Die</strong> Herausforderung für die<br />
kommenden Jahre besteht darin, dieses Zusammenspiel<br />
durch gemeinsame Aktivitäten und Übergangsforderungen<br />
zu konsolidieren.<br />
Wie sieht es mit der Beteiligung der Frauen an<br />
dieser gewerkschaftlichen Dynamik aus?<br />
Auf Mauritius haben die Frauen eine bedeutende Rolle<br />
in den Kämpfen gespielt. Das war seit der Epoche der<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 33
Mauritius<br />
Sklaverei so, über die großen Kämpfe auf den Zuckerrohrfeldern<br />
während der Kolonialzeit und in den 1970er Jahren<br />
im Verlauf der Revolte der Studierenden. In den letzten<br />
Jahren hat es viele sporadische Aktionen auf der Straße<br />
gegeben, bei denen sie die vorantreibende Kraft gewesen<br />
sind, beispielsweise gegen die Entlassungen oder nicht<br />
gezahlte Löhne. Jedoch ist ihre Beteiligung an den Gewerkschaften<br />
zurzeit noch nicht durchgängig der Fall. <strong>Die</strong><br />
neuesten Statistiken zeigen, dass die Frauen über 35 % der<br />
Arbeiterklasse ausmachen, den öffentlichen und den privaten<br />
Sektor zusammengenommen. Im öffentlichen Bereich<br />
sind es fast 50 %. <strong>Die</strong>se Stellung der Frauen spiegelt sich in<br />
den Gewerkschaftsgremien nicht wider, und übrigens auch<br />
nicht in den politischen Gremien. Somit liegt Mauritius in<br />
Bezug auf die Repräsentation der Frauen weit unter dem<br />
Durchschnitt in Afrika allgemein und in der Subregion<br />
Südliches Afrika im Besonderen. Im Gewerkschaftsbereich<br />
gibt es außerdem strukturelle Faktoren, die zu dieser<br />
Unterrepräsentation beitragen. Im privaten Sektor ist in<br />
den Bereichen, in denen mehr Frauen arbeiten, wie in der<br />
zollfreien Zone, den Callcentern, dem „seafood hub“,<br />
im Handel und im Hotelgewerbe der gewerkschaftliche<br />
Organisationsgrad niedrig. Darin liegt eine der großen<br />
Herausforderungen für die Gewerkschaftslinke.<br />
Wirkt sich der Kommunalismus, der eine nicht zu<br />
vernachlässigende Wirkung auf die Gesellschaft in<br />
Mauritius hat, negativ auf die Arbeiterklasse und<br />
die Gewerkschaftseinheit im Allgemeinen aus?<br />
Das Phänomen des Kommunalismus oder Kommunitarismus<br />
ist ein Erbe der Geschichte der Besiedlung von Mauritius,<br />
der Zeit der Sklaverei, der Vertragsknechtschaft und<br />
der Kolonisierung: <strong>Die</strong> maurizische Bourgeoisie wurde<br />
ursprünglich von französischen Kolonist Innen gestellt, die<br />
Sklav Innen kamen in der Mehrzahl vom [afrikanischen]<br />
Kontinent, und die Arbeiter Innen, die auf den Zuckerrohrfeldern<br />
eingesetzt wurden (die „coolies“), kamen nach<br />
der Abschaffung der Sklaverei (1835) in der Mehrzahl aus<br />
Indien. Von daher ist der Kampf der Unterdrückten in<br />
Mauritius immer eng mit dem Kampf gegen die ethnischen<br />
Spaltungen verbunden gewesen. <strong>Die</strong>se Verbindung<br />
war der grundlegende Sockel der großen Emanzipationsbewegungen<br />
der Jahre 1930 bis 1940 und der 1970er Jahre<br />
… <strong>Die</strong> Vereinigung der Arbeiterklasse in den 1930er und<br />
1940er Jahren hat zu den großen Klassenkämpfen beigetragen<br />
bzw. war für sie günstig. Im Laufe des Unabhängigkeitsprozesses<br />
in den 1950er und 1960er Jahren haben<br />
die traditionelle Bourgeoisie und die anderen sich herausbildenden<br />
Eliten bei ihrem Ringen um Kontrolle der politischen<br />
und ökonomischen Macht das kommunalistische<br />
Bewusstsein gefördert. Das hat zu schweren ethnischen<br />
Konflikten kurz vor der Unabhängigkeit geführt, die<br />
Ursache für viele Tote waren. <strong>Die</strong>se tragischen Ereignisse<br />
hatten zur Wirkung, dass ein neuer Aufschwung des<br />
Volkes, vor allem der Arbeiterklasse stattfand, und führten<br />
zum Entstehen der MMM mit ihrem Gründungsslogan<br />
„Lutte des classes, non pas lutte des races“ (Klassenkampf,<br />
nicht Rassenkampf). Wie in den 1930er und 1940er Jahren<br />
haben die darauf folgenden Gewerkschaftskämpfe die<br />
Einheit der Arbeiterklasse und des Volkes gefestigt. Doch<br />
hat die Degeneration der MMM, die den Antikommunalismus<br />
verkörpert hat, in den Regierungsämtern in den<br />
1980er Jahren dem kommunalistischen Bewusstsein neue<br />
Dynamik verliehen. Jetzt schafft die Wiederaufnahme<br />
der Kämpfe in den erwähnten Bereichen in Kombination<br />
mit der Aktivität der ökosozialistischen Linken wieder die<br />
Bedingungen, dass das kommunalistische Bewusstsein von<br />
Klassen- und Bürgerbewusstsein überlagert wird.<br />
Wo steht die Linke auf Mauritius heute?<br />
Auf Mauritius besteht die Linke gegenwärtig aus drei<br />
außerparlamentarischen antikapitalistischen Organisationen,<br />
die beträchtlichen Einfluss im Land haben. Das sind<br />
Lalit, die Bewegung 1. Mai unter Leitung von Jack Bizlal<br />
und Rezistans ek Alternativ (Widerstand und Alternative).<br />
Lalit ist aus einer Abspaltung von der MMM in den<br />
1980er Jahren hervorgegangen, die Bewegung 1. Mai aus<br />
der Fusion von OMT/FNAS (die mit der IV. Internationale<br />
verbunden war) und so genannten nationalistischen<br />
Strömungen, während Rezistans ek Alternativ, der ich<br />
angehöre und die sich zur ökosozialistischen Linken zählt,<br />
aus einer Abspaltung von Lalit im Jahr 2004 entstanden<br />
ist. <strong>Die</strong> Aktivitäten zur Kritik an den kommunalistischen<br />
Elementen des Wahlsystems, die Rezistans ek Alternativ<br />
bei den Wahlen 2005 entfaltet hat, haben in der Bevölkerung<br />
bedeutenden Zuspruch erfahren. <strong>Die</strong>se Aktivitäten<br />
konnten bei den Wahlen 2010 ausgeweitet werden,<br />
<strong>als</strong> Kräfte der antikapitalistischen Linken, vor allem von<br />
Rezistans ek Alternativ und der Bewegung des 1. Mai,<br />
mit linken Gewerkschafter Innen, Aktiven der sozialen<br />
Bewegungen, Fischern, LandarbeiterInnen, Aktivist Innen<br />
der Ökologiebewegung, Frauenbewegungen und vor allem<br />
Jugendbewegungen gemeinsam aufgetreten sind. Aus<br />
dieser Initiative ist eine Plattform entstanden, die sich den<br />
Namen „Plattform für eine neue Verfassung und eine neue<br />
Republik“ gegeben hat.<br />
34 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Mauritius<br />
Es ist anzumerken, dass sich bei den letzten Wahlen<br />
über 16 % der Kandidat Innen der von der Verfassung<br />
geforderten ethnischen Einordnung entzogen haben. <strong>Die</strong><br />
Ablehnung ihrer Kandidatur durch die Wahlkommission<br />
hat eine Protestbewegung ausgelöst, die zu der Initiative<br />
von Rezistans ek Alternativ im Jahr 2005 hinzugekommen<br />
ist. Parallel zu Aktionen des Ungehorsams, die von<br />
Rezistans ek Alternativ initiiert wurden, gab es juristische<br />
Schritte in internationalen Gremien, um die Verpflichtung<br />
der Kandidat Innen zu ethnischer Einordnung anzugreifen.<br />
Das hat zu einem großen Sieg der Bewegung geführt, die<br />
Rezistans ek Alternativ 2005 ausgelöst hat: Der Ausschuss<br />
für Menschenrechte der Vereinten Nationen erklärte, dass<br />
die Verpflichtung auf kommunalistische oder ethnische<br />
Einordnung der Kandidat Innen eine Verletzung von Artikel<br />
25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte<br />
darstellt, den Mauritius unterzeichnet hat. Der Staat Mauritius<br />
hat jetzt Zeit bis März 2013, um sich dem zu fügen.<br />
Anders gesagt, er muss die Verfassung ändern. <strong>Die</strong> Aktivitäten<br />
von Rezistans ek Alternativ und der 2010 entstandenen<br />
gemeinsamen Plattform haben eine historische Bresche<br />
geschlagen und schaffen die notwendigen Bedingungen<br />
für größere Veränderungen der Verfassung der Republik<br />
Mauritius nach der Unabhängigkeit. Unter diesem Blickwinkel<br />
tritt die Plattform von 2010 dafür ein, dass in dem<br />
Entwurf für eine neue Verfassung nicht nur das ethnische<br />
Element beseitigt wird, sondern dass auch neue Rechte und<br />
Freiheiten, der Grundsatz partizipativer Demokratie, die<br />
Sozialisierung der Wirtschaft, der Schutz der Meeresressourcen<br />
und der Gemeingüter wie der landwirtschaftlichen<br />
Böden und Biodiversität sowie das Recht der Natur in die<br />
künftige Verfassung aufgenommen werden. Für Rezistans<br />
ek Alternativ ebenso wie für die Plattform von 2010 ist der<br />
Entwurf einer neuen Verfassung ein Instrument der Mobilisierung<br />
für Gesellschaftsveränderung und zugleich für<br />
eine neue, ökosozialistische Republik. Der globale Kapitalismus<br />
hat den neokolonialen Nation<strong>als</strong>taat neu gestaltet,<br />
der jetzt von den Interessen der transnationalen Konzerne<br />
völlig überflutet ist. Der Entwurf für eine neue Verfassung<br />
zielt darauf ab, eine wahre Souveränität des Volks mit den<br />
Interessen vorrangig der Lohnabhängigen, der Unterdrückten,<br />
der Frauen und der Jugendlichen einzufordern.<br />
Wie ist es um die US-Militärpräsenz auf der Insel<br />
<strong>Die</strong>go Garcia bestellt, die normalerweise Teil der<br />
Republik Mauritius sein müsste, es sei denn, der<br />
Chagos-Archipel, zu dem <strong>Die</strong>go Garcia gehört,<br />
wäre unabhängig?<br />
In den letzten<br />
Jahren hat es einen<br />
hartnäckigen Kampf der<br />
Chagossianer innen für das<br />
Recht auf Rückkehr in ihr<br />
Heimatland gegeben.“<br />
<strong>Die</strong>s ist für die Linke auf Mauritius ein großes Anliegen,<br />
umso mehr, <strong>als</strong> ein bedeutender Teil des maurizischen Territoriums,<br />
der Chagos-Archipel, nach wie vor unter kolonialer<br />
Besetzung durch die Briten im Rahmen des „British<br />
Indian Ocean Territory“ steht. Auf der Insel <strong>Die</strong>go Garcia,<br />
die zum Chagos-Archipel gehört, ist eine der „höchstentwickelten“<br />
und strategisch bedeutendsten Militärbasen der<br />
USA auf der Welt untergebracht. <strong>Die</strong> Einrichtung dieser<br />
Basis – die seit den 1960er Jahren vom Vereinigten Königreich<br />
den Vereinigten Staaten überlassen wird – und seine<br />
Abtrennung vom Territorium der Chagos ist nicht nur<br />
nach der Charta der Vereinten Nationen illegal, sondern<br />
hat die Deportation der Chagos-Bevölkerung zur Folge<br />
gehabt, die seit Generationen auf der gesamten Inselgruppe<br />
lebt.<br />
In den letzten Jahren hat es einen hartnäckigen Kampf<br />
der Chagossianer Innen für das Recht auf Rückkehr in ihr<br />
Heimatland gegeben. Sie haben den juristischen Kampf<br />
gewonnen, doch hat der britische Staat die koloniale und<br />
autoritäre Verfügungsgewalt der Königin benutzt, um<br />
das Urteil zu blockieren. <strong>Die</strong> Chagossianer Innen haben<br />
die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof für<br />
Menschenrechte gebracht. <strong>Die</strong> Briten nutzen mit dem<br />
stillschweigenden Einverständnis der USA alle möglichen<br />
Tricks, um das Recht der Chagossianer Innen<br />
auf Rückkehr und das des Volks von Mauritius auf die<br />
Chagos-Inseln zu blockieren. Der letzte dieser Tricks ist<br />
die Ausweisung einer „Marine Protected Area“ (Meeresschutzgebiet)<br />
um das Chagos-Archipel. <strong>Die</strong> Enthüllungen<br />
von Wikileaks haben unlängst das Komplott aufgedeckt,<br />
das das Tandem aus USA und Vereinigtem Königreich in<br />
dieser Frage inszeniert hat. Wikileaks hat den Austausch<br />
von Dokumenten enthüllt, die beweisen, dass es Ziel der<br />
„Marine Protected Area“ war, einen eventuellen Zugang<br />
der Chagossianer Innen zum Archipel zu verhindern.<br />
Einige Umweltorganisationen sind sich dadurch darüber<br />
klar geworden, dass sie einer ökologisch verpackten<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 35
Mauritius<br />
imperialistischen Machenschaft des Tandems aus USA und<br />
Vereinigtem Königreich getäuscht worden sind. Der Staat<br />
Mauritius hat ein Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof<br />
angestrengt, um gegen die „Marine Protected<br />
Area“ zu protestieren. Trotz dieses Verfahrens führen die<br />
Briten laut den jüngsten Informationen die Umsetzung<br />
ihres Projekts fort.<br />
Aber die politisch und wirtschaftlich herrschende<br />
Klasse von Mauritius trägt auch einen großen Teil an der<br />
Verantwortung für die Abtrennung der Chagos-Inseln<br />
und für die Einrichtung und das Fortbestehen der US-<br />
Militärbasis. Bei Verhandlungen zwischen den Briten und<br />
den maurizischen politischen Parteien kurz vor der Unabhängigkeit<br />
hatten die Repräsentant Innen der Bourgeoisie<br />
und der gegen die Unabhängigkeit eingestellten Rechten<br />
den Tausch des Chagos-Archipels gegen eine hohe Quote<br />
für den Export von Zucker in das Vereinigte Königreich<br />
vorgeschlagen. <strong>Die</strong> Stellung dieser Rechten gegen die Unabhängigkeit<br />
hat im Hinblick auf die Kräfteverhältnisse die<br />
Bedingungen dafür geschaffen, dass die Herausnahme der<br />
Chagos aus dem unabhängigen Territorium von Mauritius<br />
möglich geworden ist. Nachdem dies in den 1970er Jahren<br />
eine ihrer Hauptforderungen war, hat die MMM von Paul<br />
Bérenger wie alle Parteien der Mitte und der Rechten im<br />
Land inzwischen die Grundlage der US-Militärbasis auf<br />
den Chagos akzeptiert. Nur für die Souveränität von Mauritius<br />
über die Chagos treten sie weiter ein. So wollen sie<br />
an den Verhandlungen beteiligt werden, da der Pachtvertrag<br />
zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten<br />
Königreich 2016 ausläuft. Sie sind jedoch nicht gegen<br />
die Existenz der US-Militärbasis <strong>Die</strong>go Garcia.<br />
Für die antiimperialistische Linke auf Mauritius, darunter<br />
Rezistans ek Alternativ, ist es inakzeptabel, die Frage<br />
der Beseitigung der US-Militärbasis von der Frage der<br />
Souveränität von Mauritius über die Chagos und von dem<br />
Rückkehrrecht der Chagossianer Innen auf den Chagos-<br />
Archipel einschließlich <strong>Die</strong>go Garcia abzutrennen. Wir<br />
wollen diesen Kampf mit den drei Dimensionen, die für<br />
uns untrennbar zusammengehören, zusammen mit den<br />
sozialen und antimilitaristischen Bewegungen der USA,<br />
des Vereinigten Königreichs und im Rest der Welt führen.<br />
Sowie mit sämtlichen Kräften, die sich vor allem in Afrika<br />
gegen das US-Militärkommando für Afrika (Africom)<br />
stellen. <strong>Die</strong> Schließung der Militärbasen, darunter <strong>Die</strong>go<br />
Garcia, ist nicht nur vom Standpunkt der Rechte der<br />
Völker auf Mauritius und den Chagos und unter dem Gesichtspunkt<br />
des Friedens notwendig, mit der ökologischen<br />
und Klimakrise ist diese Frage vielmehr ein Imperativ des<br />
Überlebens für die Menschheit geworden. <strong>Die</strong> Militärausgaben<br />
müssen drastisch vermindert werden, damit ein<br />
ökosozialistisches Projekt der energetischen, wirtschaftlichen<br />
und sozialen Neuorganisation der Menschheit ausgearbeitet<br />
und umgesetzt werden kann.<br />
•Ashok Subron<br />
Mitglied der ökosozialistischen Organisation<br />
Rezistans ek Alternativ, Sprecher<br />
der Confédération syndicale de gauche<br />
– Solidarité und Aktivist der General<br />
Workers Federation – Joint Negotiating<br />
Panel (GWF – JNP), einem Gewerkschaftsverband.<br />
Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn<br />
1 Organisation internationale du travail, „Rapport mondial<br />
sur les salaires. Note d’information sur l’Afrique 2011“, Dezember<br />
2011, S. 20.<br />
36 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Indonesien<br />
<strong>Die</strong> Bosse<br />
schlagen zurück<br />
<strong>Die</strong> neusten Streiks in Indonesien sind ein gutes Beispiel für die<br />
potenzielle Kraft und strategische Rolle der Arbeiterbewegung.<br />
<strong>Die</strong> monatelangen Kämpfe, vor allem in Industriegebieten in Bekasi,<br />
West-Java, mündeten in einen 24-stündigen Gener<strong>als</strong>treik in 80<br />
Industrieanlagen, die sich auf über 24 Städte verteilen.<br />
Zely Ariane<br />
•<br />
<strong>Die</strong> Bewegung erreichte bedeutende<br />
Lohnerhöhungen und Einschränkungen des Outsourcings<br />
in Indonesien. <strong>Die</strong> Bewegung brachte das Parlament<br />
auch dazu, das Sozialversicherungsgesetz „Social Security<br />
Organizing Body (indonesische Abkürzung: BJPS) zu verabschieden.<br />
Es soll die soziale Sicherheit und die Gesundheitsversorgung<br />
der Arbeiter Innen und Armen verbessern.<br />
<strong>Die</strong> Gewerkschaften sind sich zwar uneinig über den Plan<br />
der Regierung, der auf dem Modell der privaten gewerblichen<br />
Versicherung basiert und höhere Arbeitnehmerbeiträge<br />
vorsieht. Dennoch ist die politische Wirkung der<br />
Bewegung nicht zu unterschätzen.<br />
<strong>Die</strong> indonesischen Arbeiter Innen waren sich ihrer eigenen<br />
Macht seit dem Niedergang von Suharto im Jahr 1998<br />
noch nie so bewusst. <strong>Die</strong> Bosse haben dies erkannt und<br />
gehen langsam, aber sicher zum Gegenangriff über. <strong>Die</strong><br />
Aktivist Innen verlassen sich dabei auf den KSPI (Verband<br />
der Indonesischen Gewerkschaften, einen der führenden<br />
Gewerkschaftsverbände des Landes) und insbesondere auf<br />
dessen Gründungsmitglied, den indonesischen Metallgewerkschaftsbund<br />
(FSPMI), der viele Teilnehmer Innen des<br />
Gener<strong>als</strong>treiks vom 3. Oktober 2012 mobilisiert hatte.<br />
In der jüngsten Welle der Auseinandersetzungen forderten<br />
die Arbeiter Innen einen Existenzlohn und wehrten<br />
sich gegen Outsourcing und Leiharbeit, die Behinderung<br />
von Gewerkschaften und die Kriminalisierung ihrer Führer.<br />
Außerdem kämpften sie für ein gerechteres Sozialversicherungs-<br />
und Gesundheitssystem.<br />
<strong>Die</strong>se Forderungen sind entscheidend, um das nationale<br />
Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiter Innen<br />
zu verschieben. Das indonesische Wirtschaftswachstum<br />
betrug in den letzten zwei Jahren jeweils rund sechs<br />
Prozent – dank einem großen Binnenmarkt, niedrigen<br />
Produktionskosten, billigen und flexiblen Arbeitskräften<br />
und verschiedenen, ergiebigen Rohstoffquellen. Während<br />
viele Teile der Welt mit ökonomischen Schwierigkeiten<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 37
Indonesien<br />
zu kämpfen haben, wird Indonesien infolge seines starken<br />
Wirtschaftswachstums zu einer immer bedeutenderen<br />
kapitalistischen Macht.<br />
Gleichzeitig werden die Rechte der Gewerkschaften<br />
kontinuierlich angegriffen. Medienunternehmen, zum<br />
Beispiel, verbieten gewerkschaftliche Aktivitäten am<br />
Arbeitsplatz und viele Gewerkschaftsführer müssen sich<br />
vor Gericht gegen f<strong>als</strong>che Beschuldigungen verteidigen.<br />
Trotz des Wirtschaftswachstums sind die Reallöhne seit<br />
1998 gesunken. <strong>Die</strong> Minimallöhne basieren auf einer<br />
Schätzung der Bedürfnisse der Arbeiter Innen, der sogenannten<br />
„Lohnbestandteile“ wie Nahrung, Unterkunft,<br />
Kleidung und so weiter. Weil die Lebenshaltungskosten<br />
in den verschiedenen Landesteilen stark variieren, werden<br />
die Minimallöhne regional festgelegt. <strong>Die</strong> Berechnungen<br />
fallen allerdings viel zu niedrig aus. <strong>Die</strong> von der Bewegung<br />
erkämpfte Minimallohnerhöhung ist ein wichtiger Schritt,<br />
sie garantiert jedoch noch keinen würdigen Lebensstandard,<br />
insbesondere wenn man die Inflation mit einrechnet.<br />
<strong>Die</strong> bedeutende Erhöhung der regionalen Minimallöhne<br />
(zwischen 7 und 60 Prozent) ist für alle indonesischen<br />
Arbeiter Innen ein Gewinn. In den Städten mit den aktivsten<br />
und kämpferischsten Arbeiterorganisationen gab es die<br />
deutlichsten Lohnerhöhungen. Sie sind das Resultat einer<br />
Reihe von Protesten, in denen die Arbeiter Innen eine<br />
Neuberechnung der Lebenshaltungskosten forderten.<br />
Doch kurz nachdem die Bewegung in Jakarta eine<br />
Lohnerhöhung von 44 Prozent durchgesetzt hatte, lobbyierte<br />
die Indonesische Industrie- und Handelskammer<br />
(KADIN) bei der Regierung für „Ausnahmen“, insbesondere<br />
in beschäftigungsintensiven Industrien wie im<br />
Schuh-, Bekleidungs- und Textilsektor. Zugleich wurde<br />
behauptet, Unternehmen müssten schließen, Investoren<br />
würden ihr Interesse verlieren und es werde zu sehr vielen<br />
Entlassungen kommen. Kurz: all die klassischen Argumente<br />
gegen Lohnerhöhungen. Das Industrieministerium<br />
bewilligte die Ausnahmen.<br />
Von diesem Rückschlag sind vor allem weibliche<br />
Angestellte betroffen, die in den erwähnten Sektoren die<br />
Mehrheit ausmachen.<br />
In der Freien Exportzone Cakung (KBN, Nusantara<br />
Bonded Zone) beantragten 60 Unternehmen mit insgesamt<br />
mindestens 80 000 Arbeitskräften (90 Prozent davon<br />
sind nicht organisierte, weibliche Leiharbeiterinnen) einen<br />
„Aufschub“ der Lohnerhöhung. <strong>Die</strong> Gewerkschaften haben<br />
gegen diese Gesuche keine Handhabe. <strong>Die</strong> Unternehmen<br />
berufen sich auf die Beurteilung durch Wirtschaftsprüfer,<br />
die angeblich ihre finanzielle Situation analysiert<br />
haben. Es gibt kein Prozedere, das den Gewerkschaften<br />
ermöglichen würde, solche Beurteilungen zu überprüfen<br />
oder anzufechten.<br />
Während der Entstehung dieses Artikels organisierte<br />
die Gewerkschaft Across Factory Labor Forum (FBLP)<br />
eine Protestaktion gegen zwei Unternehmen in der Freien<br />
Exportzone Cakung. Sie hatten ihre Angestellten unter<br />
Druck gesetzt, eine Erklärung zum Verzicht auf die<br />
Lohnerhöhung zu unterschreiben. <strong>Die</strong> FBLP organisiert<br />
auch wöchentliche Kundgebungen und Proteste gegen die<br />
„Ausnahmen“ bei den Lohnerhöhungen.<br />
Der Kampf gegen Auslagerungen und Leiharbeit muss<br />
weitergehen. Der Gewerkschaftsverband KSPI wertet es<br />
<strong>als</strong> Erfolg, dass das Arbeitsministerium das Outsourcing<br />
auf fünf Sektoren beschränken will: auf Verpflegung,<br />
Sicherheit, Transporte, Reinigung und unterstützende<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen in Bergbaugebieten. Tatsächlich ist diese<br />
Bestimmung aber schon seit 2003 im Gesetz enthalten.<br />
Ein echter Erfolg ist, dass die Solidaritätsproteste („geruduk“)<br />
zu festen Anstellungen von mindestens 40 000<br />
Arbeiter Innen geführt haben. Der KSPI und Sekber<br />
Buruh ( Joint Secretariat of Labor, ein Bündnis linksradikaler<br />
Gewerkschaften) werden sich auch weiterhin gegen<br />
Auslagerungen wehren.<br />
Gegenoffensive<br />
<strong>Die</strong> jüngsten Fortschritte der indonesischen Arbeiterbewegung<br />
bereiten der Regierung von Präsident Susilo<br />
Bambang Yudhoyono (allgemein bekannt <strong>als</strong> SBY) Kopfschmerzen.<br />
Der indonesische Arbeitgeberverband (APIN-<br />
DO) reagierte postwendend auf die anhaltenden Proteste<br />
und drohte, die Arbeiter Innen auszusperren. Zuvor hatten<br />
Unternehmen aus mehreren Industriegebieten in Bekasi<br />
die indonesische Polizei und Armee offiziell um „Schutz“<br />
gebeten. Sie behaupteten, das Management würde durch<br />
die laufenden Solidaritätskundgebungen bedroht. <strong>Die</strong> Arbeitgeber<br />
beklagen sich über „gewalttätige Gewerkschaftsaktivisten“<br />
und fordern Schutz für ihr Eigentum.<br />
Gleichzeitig haben die Unternehmen Schläger angeheuert,<br />
um gegen die Arbeiter Innen vorzugehen. Der erste<br />
Großangriff erfolgte gegen Streikposten von Samsung-<br />
Arbeitern. Samsung ist berüchtigt für seine Maßnahmen<br />
gegen Gewerkschaften und für seine kriminellen Aktivitäten.<br />
Der Metallgewerkschaftsbund (FSPMI) gehört zu<br />
den ersten Gewerkschaften, die es gewagt haben, sich mit<br />
diesem Unternehmen anzulegen.<br />
Nach mehreren ernsthaften Angriffen und Bedrohungen<br />
unterzeichneten einige Gewerkschaften in Bekasi,<br />
38 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Indonesien<br />
darunter auch der FSPMI, am 8. November 2012 eine Vereinbarung<br />
über einen „Arbeitsfrieden“. Unterzeichnende<br />
des Abkommens sind der Bürgermeister von Bekasi, der<br />
Chef des regionalen Parlaments, der Polizeichef, die lokale<br />
Militärführung, Arbeitgeber- und Unternehmerverbände<br />
sowie Gewerkschaftsvertreter. Auch die Dorfchefs in der<br />
Umgebung der Industriegebiete haben unterschrieben.<br />
<strong>Die</strong> Vereinbarung beschreibt die gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />
<strong>als</strong> Konfrontation, die von beiden Seiten<br />
ausging. Das Abkommen ist ein großer Rückschlag. Es<br />
legitimierte die Niederschlagung weiterer Kundgebungen<br />
in Bekasi und beendete die Solidaritätsproteste, die wichtigste<br />
Form der Arbeitskämpfe in dieser Region.<br />
Derweil werden Gewerkschaftsaktivisten weiter kriminalisiert<br />
und entlassen und verschiedene Unternehmen<br />
halten sich nicht an ihr Versprechen, den Arbeiter Innen<br />
feste Verträge zu geben. Streiks finden zwar noch immer<br />
statt, es ist aber schwieriger geworden, Solidaritätsproteste<br />
zu organisieren. Sekber Buruh veranstaltete kürzlich vor<br />
dem Sitz der nationalen Polizeibehörde eine große Kundgebung<br />
gegen die Einschüchterungen in Bekasi.<br />
Angesichts des zunehmenden Drucks der Bosse ist es<br />
nicht einfach, die Bewegung in Schwung zu halten. Nach<br />
den Angriffen durch die angeheuerten Schläger zögerte<br />
der Gewerkschaftsverband KSPI offenbar, Solidaritätsproteste<br />
zu organisieren. Der KSPI-Führer, Said Iqbal, ist eine<br />
Art Medienliebling, das salonfähige Gesicht der Arbeiterbewegung<br />
– er nutzte seine Bekanntheit aber nicht, um<br />
die andauernden Angriffe gegen Gewerkschafter in Bekasi<br />
anzuprangern.<br />
Noch in diesem Jahr sollen zwei Gesetze erlassen<br />
werden, die die demokratischen Rechte der indonesischen<br />
Arbeiter Innen verschlechtern könnten: das nationale<br />
Sicherheitsgesetz (RUU KAMNAS) und das „Gesetz über<br />
Massenorganisationen“ (RUU ORMAS). <strong>Die</strong> Arbeiterorganisationen<br />
wissen sehr gut, um was es bei dieser<br />
politischen Drohung geht, und machen sich für den Kampf<br />
gegen die Vorlagen bereit.<br />
Offenbar will die Kapitalistenklasse Indonesiens das<br />
Blatt wenden und die wachsende Arbeiterbewegung stoppen.<br />
<strong>Die</strong> Gewerkschaftsbewegung kann dies nur verhindern,<br />
wenn sie an die Erfahrungen und das neue Selbstvertrauen<br />
aus den Kämpfen der letzten Monate anknüpft.<br />
Indonesien<br />
Einwohner<br />
Fläche<br />
Sprache<br />
Wirtschaft<br />
BIP<br />
Jakarta<br />
1,3 Mio.<br />
Der Inselstaat im Indischen Ozean ist<br />
mit 2040 km² etwas kleiner <strong>als</strong> das<br />
Saarland<br />
morisyen (eine Kreolsprache) wird von<br />
80 % der Einwohner gesprochen<br />
textilindustrie, Rohrzuckerproduktion<br />
(80 % der bebaubaren Fläche, was<br />
aber nur 2,2 % des BIP ausmacht),<br />
tourismus (2013 wahrscheinlich mehr<br />
<strong>als</strong> 1 Mio. Besucher Innen)<br />
Gemessen an afrikanischen Verhält-<br />
nissen ist das BIP/Kopf vergleichsweise<br />
hoch: 2011 lag es bei ca. 11 320 €.<br />
1 http://tinyurl.com/d2trfu7<br />
2 http://tinyurl.com/cbqjetc<br />
3 Minimum Wage Rise Undermines Cooperative Dispute:<br />
http://tinyurl.com/cjxyk8v<br />
4 Bosses Warn of Job Cuts: http://tinyurl.com/cp85pjt<br />
5 Industry Ministry Pushes Wage Hike Exception):<br />
http://tinyurl.com/cebzudp<br />
6 Firms Call for Delay to Minimum Wage Hike:<br />
http://tinyurl.com/cna7cah<br />
7 Indonesian Workers Demand an End to Outsourcing:<br />
http://tinyurl.com/bwwfvbn<br />
8 International Viewpoint: http://tinyurl.com/ccpxl8d und<br />
National Strike Called in Indonesia for October 3:<br />
http://tinyurl.com/c6e7v9c<br />
9 Workers Rally Against Indonesia’s Outsourcing System:<br />
http://tinyurl.com/cysf56o<br />
10 Businesses Vow to Lock out Workers:<br />
http://tinyurl.com/bw6smuq<br />
11 http://tinyurl.com/cu5pc52<br />
Zely Ariane ist in der sozialistischfeministischen<br />
Organisation Perempuan Mahardhika (Freie<br />
Frauen) aktiv und ist Mitglied der Partai Pembebasan Rakyat<br />
(People’s Liberation Party).<br />
•Übersetzung: Alena Wehrli<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 39
Mali<br />
intervention<br />
in Mali<br />
Normalerweise befasst sich die französische Regierung mit den<br />
Maliern nur im Zuge der Ausweisung aus Frankreich. Warum <strong>als</strong>o schwingt sie<br />
sich mit einem Mal zum Verteidiger der malischen Bevölkerung<br />
auf? Bei der Beantwortung dieser Frage stößt man zwangsläufig auf die eigene<br />
Verantwortung Frankreichs an der Krise in Mali.<br />
Paul Martial<br />
•<br />
<strong>Die</strong> Schuldenkrise der 80er Jahre hatte dramatische<br />
Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent.<br />
Während Mali 1968 noch mit 55 Mrd. CFA-Francs (83<br />
Mio. €) verschuldet war, ist die Verschuldung bis 2005<br />
auf 1766 Mrd. CFA-Francs (2,7 Mrd €) gestiegen. <strong>Die</strong><br />
„strukturellen Anpassungsmaßnahmen“ und die daraus<br />
abgeleitete Politik zur Entschuldung hoch verschuldeter<br />
armer Länder (HIPC-Initiative) hatten für Mali katastrophale<br />
Folgen. <strong>Die</strong> einheimischen Unternehmen wurden<br />
weitgehend privatisiert, wovon die multinationalen<br />
und v. a. französischen Konzerne erheblich profitierten.<br />
<strong>Die</strong> Elektrizitätsversorgung ging bspw. in die Hände des<br />
Bouygues-Konzerns über, der auch an der Rohstoffindustrie,<br />
wie etwa der Goldmine von Morila, beteiligt ist. <strong>Die</strong><br />
halbstaatliche Baumwollgesellschaft CMDT wurde teilweise<br />
an den agrarindustriellen Konzern Dagris verkauft,<br />
die Telekommunikation ging teilweise an Ikatel-Orange<br />
(vorm<strong>als</strong> France Télécom) und das staatliche Bewässerungsprojekt<br />
Office du Niger vertreibt Anbauflächen an<br />
„Landgrabber“. <strong>Die</strong> französische Handelsgesellschaft<br />
Delmas und der Mischkonzern Bolloré betreiben riesige<br />
Lagerhallen, in denen vorwiegend Baumwolle gelagert<br />
wird.<br />
<strong>Die</strong> „Strukturreformen“ führten außerdem dazu,<br />
dass der Staat geschwächt wurde und seinen sozialen und<br />
hoheitlichen Aufgaben nicht mehr nachgehen konnte.<br />
Das Gesundheits- und Erziehungswesen ist heruntergekommen<br />
und die desolate Verfassung der Armee hat sich<br />
gerade eindrucksvoll gezeigt. Am schlimmsten sind die<br />
Zustände in Nordmali, der ärmsten Region.<br />
40 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Mali<br />
Zugleich ist die Politikerkaste in Mali besonders korrupt.<br />
<strong>Die</strong> Seilschaft um Amadou Toumani Touré (ATT)<br />
und seine Sippe haben durch Bestechung und Schmuggel,<br />
besonders in Nordmali, Millionen Euro gescheffelt. Über<br />
den Schmuggel aller Art finanzieren sich nicht nur die<br />
bewaffneten Banden, u. a. des Dschihad, sondern auch der<br />
malische Militärstab und die Politikerkaste. Amadou Toumani<br />
Touré genoss stets die Unterstützung Frankreichs: <strong>als</strong><br />
Staatsoberhaupt nach dem Militärputsch, später, <strong>als</strong> er die<br />
Macht wieder einer Zivilregierung anvertrauen konnte,<br />
und schließlich, <strong>als</strong> er zweimal erfolgreich für die Präsidentschaftswahlen<br />
(2002 – 2007, 2007 – 2012) kandidierte,<br />
die zumindest beim zweiten Mal unter sehr fragwürdigen<br />
Bedingungen stattfanden. <strong>Die</strong>s alles hat Frankreich in<br />
gewohnter Manier hingenommen und Touré auch noch<br />
unterstützt, <strong>als</strong> er das Land schnurstracks in den Abgrund<br />
führte.<br />
Bei der Militärintervention in Libyen war Frankreich<br />
die Speerspitze. Genau wie heute im Falle Malis berief<br />
sich Sarkozy auf eine Notfallsituation – dam<strong>als</strong> waren es<br />
die Panzerkolonnen, die im Begriff waren, in die befreite<br />
Stadt Bengasi einzudringen. Alles Weitere ist bekannt:<br />
Aus dem Eingreifen zur Blockade dieser Kolonnen wurde<br />
später eine massive Militärintervention der NATO, die<br />
die Libyer um die Früchte ihrer Revolution gebracht und<br />
sie daran gehindert hat, in den eroberten Gebieten eigene<br />
Machtorgane zu gründen. Durch die forcierte Militarisierung<br />
des Konflikts und die brutale Ausschaltung Gaddafis<br />
wurde ein Machtvakuum geschaffen, in dem sich Dschihadisten<br />
und Schmuggler nach Belieben in den Waffenarsenalen<br />
bedienen konnten. Zudem wurde durch den<br />
völlig unvorbereiteten Sturz des libyschen Regimes, ohne<br />
dass sich eine glaubwürdige Regierungsalternative hätte<br />
herausbilden können, die gesamte Region destabilisiert<br />
und um eine vermittelnde Instanz bei den Konflikten in<br />
der Saharazone gebracht.<br />
Frankreichs Spiel mit dem Feuer<br />
Frankreich und auch den anderen imperialistischen Mächten<br />
ist klar, dass Touré nicht ernsthaft an der Bekämpfung<br />
von al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM) interessiert<br />
war. Für Frankreich geht es hier um fundamentale<br />
Interessen, da die AREVA große Summen in die Uranförderung<br />
in der Grenzzone zwischen Niger und Mali<br />
investiert hat. <strong>Die</strong> MNLA gilt ihnen <strong>als</strong> Hilfstruppe zur<br />
Sicherung der Förderminen und zur Abwehr der AQIM.<br />
<strong>Die</strong> Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad<br />
(MNLA) ist eine säkulare Organisation der Tuaregs, die<br />
Mali<br />
Fläche<br />
Einwohner<br />
BIP/Kopf<br />
Armut<br />
Bamako<br />
mali ist mit 1,25 km² etwa dreieinhalb<br />
mal so groß wie Deutschland<br />
14,6 Mio.<br />
810 US $, wobei drei Viertel der<br />
Bevölkerung täglich weniger <strong>als</strong> 1 US $<br />
zur Verfügung hat.<br />
mehr <strong>als</strong> ein Drittel der Bevölkerung<br />
hat keinen sicheren Zugang zu sau -<br />
berem Trinkwasser. <strong>Die</strong> durch-<br />
schnittliche Lebenserwartung liegt<br />
bei 48,1 Jahren. Mangelernährung,<br />
Hygieneprobleme, Infektionskrank-<br />
heiten (Cholera und Tuberkulose<br />
können regelmäßig auftreten.)<br />
für die Unabhängigkeit von Azawad im Norden Malis<br />
kämpft. Entstanden ist sie <strong>als</strong> Zusammenschluss verschiedener<br />
Organisationen der Tuaregs. Ihre Kampftruppen<br />
stammen vorwiegend aus Libyen, wo sie in der Armee<br />
dienten. Nach Gaddafis Sturz sind sie mit Waffen und<br />
MG-armierten Fahrzeugen nach Mali zurückgekehrt,<br />
ohne dass der Konvoi auf diesen mehreren Tausend Kilometern<br />
behelligt worden wäre. Der damalige Chef der<br />
französischen Diplomatie, erklärte dam<strong>als</strong> wie heute, dass<br />
Verhandlungen mit der MNLA überfällig seien und verschaffte<br />
ihnen damit Aufwind und Rückendeckung: „Paris<br />
ist für eine politische Aussprache zwischen den Maliern.<br />
Alain Juppé meinte dazu, dass die Konflikte nur durch<br />
politische Verständigung und nicht durch Konfrontation<br />
zu lösen seien. Dafür sei ein Dialog zwischen den Maliern<br />
unerlässlich. Außerdem erinnerte er daran, dass Frankreich<br />
die territoriale Integrität Malis respektieren würde und<br />
der Hauptfeind die al-Qaida des Islamischen Maghreb<br />
(AQIM) sei.“<br />
<strong>Die</strong> Ereignisse entwickelten sich jedoch anders, <strong>als</strong> es<br />
die Strategen vom Quai d‘Orsay [das französische Außenministerium]<br />
vorhergesehen hatten. <strong>Die</strong> MNLA schloss<br />
mit den Dschihadisten ein Bündnis für den Kampf gegen<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 41
Mali<br />
die malische Armee und wurde anschließend von ihren<br />
Verbündeten aus den großen Städten des Nordens vertrieben.<br />
Unter den Dschihadisten gibt es vier Gruppen: Ansar<br />
Dine ist eine Organisation der Tuaregs, die den Zusammenschluss<br />
mit der MNLA ablehnt und für die Einführung<br />
der Scharia eintritt; Al-Qaida des Islamischen Maghreb<br />
(AQIM) entwickelte sich aus der algerischen Salafisten-<br />
Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC); <strong>Die</strong> Bewegung für<br />
Einheit und Dschihad in Westafrika (MUJAO) und Boko<br />
Haram, eine terroristische Sekte aus Nord-Nigeria, die<br />
sowohl den nigerianischen Staat <strong>als</strong> auch die christlichen<br />
Bewohner bekämpft.<br />
Frankreichs Militärintervention folgt einer langen<br />
einschlägigen Tradition: Etwa sechzig Mal hat Frankreich<br />
seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten eingegriffen.<br />
<strong>Die</strong> Strategie ist, seinen politischen und ökonomischen<br />
Einfluss durch bedingungslose Unterstützung der jeweiligen<br />
Diktaturen zu sichern, die wiederum für diese Rundumversicherung<br />
die französischen Interessen wahren. Für die<br />
französischen Konzerne herrschen dadurch regelrecht paradiesische<br />
Zustände im Geschäft mit Landwirtschaftsprodukten,<br />
Logistik, Transport- und Telekommunikationswesen,<br />
aber auch bei der Ausbeutung der Bodenschätze, besonders<br />
von Uran und Erdöl.<br />
Wenn irgend möglich, vermeidet die französische Diplomatie<br />
direkte Eingriffe – so auch bei der Krise in Mali.<br />
Stattdessen greift sie auf Umwegen ein, bspw. über den<br />
Vorsitz der Afrikanischen Union, den Boni Yayi aus Benin<br />
innehat. Bei dessen Frankreichbesuch am 30. Mai riet ihm<br />
Hollande, dass die Union beim UNO-Sicherheitsrat um<br />
Unterstützung für eine afrikanische militärische Intervention<br />
ersuchen solle. „Als er auf die möglichen Auswege aus<br />
der Krise zu sprechen kam, regte der französische Präsident<br />
die Ecowas und die Afrikanische Union an, den UNO-<br />
Sicherheitsrat damit zu befassen, „einen Interventionsplan<br />
zu erstellen, um in Mali und darüber hinaus der Sahelzone<br />
wieder stabile Verhältnisse schaffen zu können“. Als er die<br />
Mitteilung über den Beginn der französischen Militärintervention<br />
erhielt, wähnte sich Hollande „im siebenten<br />
Himmel“.<br />
Der zweite Hebel, den Frankreich benutzt, ist die Westafrikanische<br />
Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, deren<br />
Vorsitzender Alassane Ouattara seinen Posten <strong>als</strong> Präsident<br />
der Elfenbeinküste französischen Panzern verdankt. <strong>Die</strong><br />
seinerzeitige Rechtfertigung für die Intervention lautete,<br />
man müsse dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen<br />
Geltung verschaffen – obwohl dies unter sehr fragwürdigen<br />
Bedingungen zustande kam. Der Vermittler der ECOWAS<br />
in der Mali-Krise ist ausgerechnet Blaise Compoaré, ein<br />
alter Bekannter in dem Beziehungsgeflecht Frankreichs mit<br />
den alten Kolonien (Françafrique), seit er Thomas Sankara<br />
in Burkina Faso beseitigt hat – nebenbei auch Komplize<br />
von Charles Taylor war, der wegen Verbrechen gegen<br />
die Menschlichkeit in Liberia und Sierra Leone verurteilt<br />
wurde.<br />
Als die Militärführung malische Soldaten an die Front<br />
schicken wollte, mit der Zusicherung, dass Waffen und<br />
Munition nachkämen, brach eine Revolte in der Kaserne<br />
von Kati aus, die etwa 15 km von der Hauptstadt Bamako<br />
entfernt liegt. <strong>Die</strong> Meuterer richteten sich gegen den Präsidentenpalast,<br />
der von ein paar Mitgliedern der Präsidentengarde<br />
halbherzig verteidigt wurde. Touré musste fliehen<br />
und die Aufständischen ergriffen die Macht und kündigten<br />
die Schaffung eines Nationalrats an. Der Putsch wurde von<br />
der radikalen Linken unterstützt sowie von den Bürgerrechtsorganisationen<br />
und einem Teil der Gewerkschaften,<br />
die später die Volksbewegung des 22. März gründeten.<br />
Sie wollten damit <strong>als</strong> politischer Flügel der aufständischen<br />
Militärs fungieren.<br />
Frankreich war sich mit den afrikanischen Machthabern<br />
über das Risiko einig, dass sich Mali aus der Kuratel befreien<br />
könnte, und sie setzten alles daran, die zuvor so geschmähten<br />
Herrscher wieder in den Sattel zu hieven. <strong>Die</strong> ECOWAS<br />
verhängte eine Wirtschaftsblockade, die sich recht schnell<br />
bemerkbar machte, da das Land quasi eingekesselt ist. Alle<br />
Versuche einer tiefgreifenden politischen Reform in Einklang<br />
mit den Interessen der Bevölkerung wurden von den<br />
Widersachern sabotiert und sie konnten schließlich den Präsidenten<br />
der Nationalversammlung ins Amt hieven, obwohl<br />
dieser weder vom Volk noch von der Verfassung legitimiert<br />
war. ECOWAS blockierte sogar, obwohl die Dschihadisten<br />
ihre Positionen ausbauten, die Löschung der Schiffe in den<br />
Häfen von der von Mali völlig legal erworbenen Waffen in<br />
den Häfen von Dakar und Conakry. <strong>Die</strong>se Blockade wurde<br />
erst aufgehoben, <strong>als</strong> die malische Regierung schriftlich um<br />
militärischen Beistand von außen ersuchte.<br />
Kriegstreiber<br />
Frankreich bemühte sich unterdessen intensiv darum, die<br />
internationale Gemeinschaft auf eine Militärintervention<br />
zur Konfliktlösung einzustimmen. Es verfasste die UNO-<br />
Resolution und beackerte monatelang die Skeptiker in der<br />
UNO, den USA und selbst in Algerien, das letztlich gegen<br />
die eigene Überzeugung die Aufnahme von Verhandlungen<br />
mit bestimmten Gruppen wie der MNLA und Ansar Dine<br />
schlucken musste.<br />
42 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Mali<br />
Beobachter wie Jacquemot in der Wochenzeitung<br />
L’Express belegen, dass diese Intervention von langer<br />
Hand vorbereitet war: „<strong>Die</strong> Auslösung der französischen<br />
Intervention erfolgte spontan, aber <strong>als</strong> solche war sie geplant.<br />
<strong>Die</strong>s zeigt schon die durchdachte Durchführung der<br />
Gegenoffensive über die bedrohten Ortschaften hinaus“.<br />
Auch der Verteidigungsminister Le Drian sprach schon<br />
2012 davon, dass die Intervention unabwendbar sei.<br />
Einmal mehr dient die angebliche Dringlichkeit einer<br />
Militärintervention <strong>als</strong> Vorwand, die Diskussion zu ersticken<br />
und nach und nach weitergehende Ziele zu verfolgen.<br />
Ursprünglich sollte durch die Intervention der Vormarsch<br />
der Dschihadisten gestoppt werden. Nachdem inzwischen<br />
dieses Ziel erreicht ist, wird ein neues vorgegeben: „die<br />
Islamisten sollen vernichtet und der malische Staat gesichert<br />
werden“, was Frankreichs Außenpolitik Tür und Tor<br />
öffnet. <strong>Die</strong> Intervention überschreitet jeden international<br />
rechtlichen Rahmen, wenn man bedenkt, dass die Resolution<br />
2085 des UNO-Sicherheitsrats nur das Eingreifen<br />
afrikanischer Streitkräfte autorisiert hat. Frankreich hat im<br />
Nachhinein ein Placet des Sicherheitsrats erhalten – jedoch<br />
gegen starke Vorbehalte der dortigen Militärexperten.<br />
Um den rechtlichen Anschein zu wahren beruft sich<br />
Frankreich darauf, auf Ersuchen des malischen Präsidenten<br />
gehandelt zu haben, der wiederum über keinerlei verfassungsgemäße<br />
oder plebiszitäre Legitimation verfügt.<br />
<strong>Die</strong> Intervention wird noch andauern, da die gut<br />
ausgebildeten und bewaffneten Dschihadisten starken<br />
Widerstand leisten. Außerdem sind sie zu der Taktik übergegangen,<br />
sich zu zerstreuen und die kleinen und mittleren<br />
Städte zu infiltrieren. Damit sind Luftangriffe wirkungslos<br />
geworden und dienen nur noch dazu, feste Ziele wie<br />
Trainingslager, Munitionsdepots oder Kommandostellen<br />
zu bombardieren. Es wird in jedem Falle Bodenkämpfe<br />
geben, die ersten Gefechte haben sich die französischen<br />
Truppen bereits in Diabali geliefert. Theoretisch wären<br />
solche Operationen Aufgabe der afrikanischen Truppen,<br />
aber diese sind entweder – wie die aus Niger oder Senegal<br />
– wenig effizient oder sie kennen – wie die nigerianische<br />
Armee – nicht das Terrain. Also werden die französischen<br />
Truppen dies übernehmen müssen und dabei durchaus in<br />
die vorderste Front geraten. Eine lang dauernde Operation<br />
ist bereits angedacht, zumal 2500 Soldaten nach Mali<br />
entsandt werden sollen.<br />
Nebenbei bemerkt kostet die Intervention auf ihrem<br />
heutigen Stand jeden Tag 400 000 Euro, was in Zeiten der<br />
Stoppt die französische Militärintervention in Mali!<br />
Erklärung der Sozialistischen Arbeiterpartei (PST) Algeriens<br />
Wie schon 2011 in der Elfenbeinküste geht es bei der französischen<br />
Militärintervention in Mali nach bewährter kolonialistischer Manier<br />
darum, den „afrikanischen Hinterhof“ wieder unter ihre Kuratel zu<br />
zwingen, nachdem sich China und andere Großmächte im Zuge<br />
der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise dort eingenistet haben.<br />
Das von Bush für Afghanistan und Irak bemühte Alibi der „terroristischen<br />
Bedrohung“ dient im Falle Malis auch Hollande,<br />
der uns ernsthaft glauben machen will, dass „Frankreich dabei<br />
keine politischen oder wirtschaftlichen Absichten verfolge“ und<br />
dass seine Kampfflugzeuge und Armada – unter Ausschluss der<br />
Öffentlichkeit – nur „der Freiheit dienen“, Seit an Seit mit den<br />
Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas<br />
– Ländern, in denen selbst keine Freiheit herrscht. <strong>Die</strong>ser<br />
„Altruismus“ Frankreichs erinnert fatal an die „zivilisatorische<br />
Mission“ im 19. Jahrhundert, unter der das algerische Volk in der<br />
finsteren Kolonialära zu leiden hatte.<br />
Trotzdem hat das algerische Regime mit Blick auf die 2014 anstehenden<br />
Präsidentschaftswahlen dem Druck der Imperialisten<br />
nachgegeben. Bouteflika hat den französischen Bombern gestattet,<br />
unseren Luftraum zu nutzen, und die Schließung unserer<br />
Grenzen verfügt. Gerade wo wir den 50. Jahrestag unserer Unabhängigkeit<br />
feiern, ist die Kehrtwendung des algerischen Regimes<br />
und die Kooperation mit den französischen Kriegstreibern eine<br />
politische Zäsur, die die Souveränität des Landes herabsetzt und<br />
Algerien zum Komplizen eines neokolonialen Manövers macht.<br />
Wie bei den Revolten in den arabischen Ländern und sogar in<br />
Europa hat die Krise in Mali ihre Ursachen in den wirtschaftlichen<br />
und sozialen Verheerungen, die der Neoliberalismus hervorgebracht<br />
hat und die von den imperialistischen Mächten und Institutionen<br />
den abhängigen Ländern aufgezwungen und von den<br />
dortigen diktatorischen Regimes willfährig umgesetzt werden.<br />
Was die Bevölkerung Malis – ob im Süden oder Norden – braucht,<br />
ist Unabhängigkeit, Würde und Wohlstand und keineswegs<br />
Bomben und Knechtschaft. Es ist Sache des malischen Volkes,<br />
die bewaffneten islamistischen Banden zu vertreiben, die ihnen<br />
ihre Gesetze auferlegen wollen. Allein das malische Volk muss<br />
frei über seine Zukunft entscheiden.<br />
Nationales Sekretariat der PST,<br />
algerische Sektion der IV. Internationale, 17. Januar 2013<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 43
Mali<br />
Austeritätspolitik keine Kleinigkeit ist, zumal wenn man<br />
bedenkt, was man mit diesen Summen im Gesundheitsund<br />
Sozialwesen in Nordmali erreichen könnte.<br />
Durch den Ausbau der „Antiterrormaßnahmen“ in<br />
Frankreich und die Beschwörung der Bedrohung durch<br />
den Terrorismus soll die Nation zusammengeschweißt<br />
werden. Zugleich aber nimmt dadurch der Rassismus in<br />
Frankreich weiter zu und der Islam wird einmal mehr zur<br />
Bedrohung stilisiert.<br />
Bereits sechs Tage nach Ausbruch des Konflikts verzeichnet<br />
das UNO-Flüchtlingswerk über 150 000 Menschen,<br />
die aus den Kriegsgebieten in gleichermaßen arme<br />
Länder geflohen sind, sowie 230 000 Binnenflüchtlinge.<br />
Das Vakuum, das die fliehenden Dschihadisten in den<br />
großen Städten hinterlassen, droht mangels politischer Prävention<br />
in Stammeskonflikte aufgrund alter Ressentiments<br />
auszuarten. Aus vielerlei Gründen droht ein Gewaltausbruch<br />
oder zumindest eine Spirale mörderischer Konflikte,<br />
die durch die neu gegründeten Selbstverteidigungsmilizen<br />
der verschiedenen Stämme angeheizt wird. Zum einen<br />
sind haufenweise Waffen in der Region in Umlauf. Zum<br />
anderen sind weitere Milizen entstanden, besonders die<br />
Ganda Iso („Söhne des Landes“ in der Sprache von Songhai),<br />
eine der drei Komponenten der FLNM (nordmalische<br />
Befreiungsfront). Außerdem vertritt die MNLA inzwischen<br />
die Position, dass die malische Armee in Nordmali<br />
nichts zu suchen habe.<br />
<strong>Die</strong> Lage ist in beunruhigender Weise mit der in der<br />
Demokratischen Republik Kongo vergleichbar, wo es den<br />
UNO-Truppen trotz ihrer Präsenz nicht gelingt, diese<br />
Gewaltspirale einzudämmen. Hier wie dort sind neben<br />
Stammeskonflikten enorme wirtschaftliche Interessen im<br />
Spiel, bei denen es um allerlei Schmuggelgeschäfte, besonders<br />
mit Drogen, geht. Das spektakulärste Beispiel war der<br />
Absturz einer Boeing 727 auf dem Weg nach Europa, die<br />
voll mit Kokain im Marktwert von mehreren Millionen<br />
Euro war. Inzwischen gibt es auch schon Presseberichte<br />
über Gräueltaten seitens der malischen Armee.<br />
Unser Standpunkt ist internationalistisch<br />
Wir beziehen klar Position gegen eine „Politik der nationalen<br />
Einheit“. Auch wenn sich manche zu Recht über die<br />
Barbarei der Dschihadisten und die Leiden der Bevölkerung<br />
empört haben, dürfen wir uns den Blick nicht dafür<br />
trüben lassen, dass ein langer, harter und teurer Krieg<br />
bevorsteht.<br />
Frankreich ist die Ursache der Probleme und kann daher<br />
nicht Teil der Lösung sein. Denn ein Land, das seit der<br />
Imperialistische Interessen<br />
Der französische Atomkonzern Cogema (heute AREVA) entdeckte<br />
vor Jahren Uran-, Kupfer-, Silber- und Bauxitvorkommen<br />
bei Falea im Grenzgebiet zu Senegal. <strong>Die</strong> Bauxitvorkommen<br />
zählen zu den größten der Welt.<br />
Im Jahre 2007 schloss die Firma Delta exploration, heute<br />
Rockgate Capital Corp. mit der Regierung Malis einen Vertrag<br />
über den Abbau dieser Rohstoffe in 80 Kilometer Entfernung<br />
von der von AREVA entdeckten Lagerstätte und plante eine<br />
große Mine. Bohrproben ergaben einen Urangehalt von bis<br />
zu über 6 %. Über die Vertragsklauseln wurde Stillschweigen<br />
vereinbart. Wahrscheinlich wurde ein Gebiet von insgesamt<br />
150 Quadratkilometer an die Gesellschaft abgetreten.<br />
Dort soll die Erde bis auf 300 Meter Tiefe abgetragen, staubfein<br />
zermahlen und mit Wasser und Chemikalien vermischt<br />
werden, um die Rohstoffe trennen zu können, was u. a. katastrophale<br />
Folgen für den Grundwasserspiegel hätte.<br />
Quelle: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Mali<br />
Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten unentwegt die<br />
schlimmsten Diktaturen, Massaker und Kriege unterstützt<br />
hat und in den Völkermord in Ruanda verwickelt war, ist<br />
sicherlich nicht dazu berufen, die Völkerrechte in Afrika<br />
zu verteidigen. Wir müssen uns eindeutig von diesem<br />
Françafrique distanzieren und von seiner Unterstützung<br />
für die Diktatoren, die sich darin ausdrückt, dass Hollande<br />
Staatsbesuche von Bongo, Déby, Compoaré etc. empfängt<br />
und gegenüber den Demonstranten kein Wort über die<br />
Gewalttaten der Repressionskräfte in Togo verliert.<br />
Unsere Solidarität gilt den fortschrittlichen Kräften in<br />
Afrika und Mali, die sich gegen die französische Intervention<br />
stellen.<br />
Paul Martial ist Afrikakorrespondent<br />
von TEAN, der Wochenzeitung der französischen NPA, aus<br />
deren online-Version wir den vom 16. Januar stammenden<br />
Artikel entnommen haben.<br />
•Übersetzung: MiWe<br />
44 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Südafrika<br />
Klassenkampf – Lohn<br />
der Ausbeutung<br />
Landarbeiter Innen in Western Cape, Südafrika, kämpfen gegen Misshandlung<br />
und Ausbeutung, für Rechte, die sie seit dem Ende der Apartheid auf dem<br />
Papier schon haben, und für Rechte, die sie darüber hinaus beanspruchen.<br />
Mercia Andrews<br />
•<br />
„Ich verdiene 800 Rand im Monat und<br />
muss damit meine achtköpfige Familie ernähren, kleiden<br />
und versorgen. Wir können gerade so überleben. Ich kann<br />
es mir nicht leisten, Schulschuhe für die Kinder zu kaufen.<br />
Ich ertrage es nicht länger.“ Gertie Beukes, Landarbeiterin<br />
in Ashton. „Wir produzieren die Lebensmittel, die wir uns<br />
nicht leisten können, wir sind oft hungrig“, sagt Denico<br />
Swartz, ein Landarbeiter aus Robertson. (Landarbeiter-<br />
Innen bei einem Treffen in Ashton, Western Cape am 26.<br />
November 2012)<br />
Rebellion auf den Farmen<br />
<strong>Die</strong> Proteste und Mobilisierungen, die am 6. November in<br />
der Kleinstadt De Doorns begannen, brachten den angestauten<br />
Ärger von Farmbewohner Innen über Jahrzehnte<br />
extremer Ausbeutung und Unterdrückung auf Farmen, in<br />
ländlichen Gemeinden und im Agrarsektor im Allgemeinen<br />
zum Ausdruck.<br />
De Doorns unterscheidet sich nicht von Hunderten kleiner<br />
ländlicher Städte in Western Cape und in Südafrika. <strong>Die</strong><br />
Missstände und Probleme, von denen die Landarbeiter Innen<br />
und ländlichen Armen sprechen, gibt es von den Hex River<br />
Mountains in Western Cape bis zu den südafrikanischen<br />
Grenzen bei Limpopo und Mpumalanga. Allerdings muss<br />
der Aufstand in De Doorns <strong>als</strong> wichtiges Ereignis betrachtet<br />
werden. Wie Marikana im Bergbausektor hat „De Doorns“<br />
Landarbeiter Innen und die ländlichen Armen elektrisiert.<br />
Wie die Forderung der Bergarbeiter nach „12 500 Rand im<br />
Monat“ wurde die der Landarbeiter Innen nach „150 Rand<br />
pro Tag“ zur zentralen Forderung dieses Kampfes.<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 45
Südafrika<br />
Bergbau und Landwirtschaft, die historische Basis des<br />
südafrikanischen Kapitalismus, sind schwer erschüttert.<br />
<strong>Die</strong> spontanen Proteste und oft selbstorganisierten<br />
Aktionen von Landarbeiter Innen auf Farmen und in<br />
ländlichen Städten sind historisch, begeisternd und haben<br />
das ländliche Establishment völlig überrascht. Selbst die<br />
Ministerin für Landwirtschaft, Fischerei und Forsten, Tina<br />
Joernat-Petterson erkannte das, <strong>als</strong> sie sagte: „Farmen und<br />
Landwirtschaft in Western Cape werden nie mehr so sein<br />
wie zuvor“.<br />
Bedeutsam an der Entwicklung in Western Cape ist,<br />
dass sich eine Bevölkerung, die unter fast feudalen Bedingungen<br />
arbeitete und schlecht organisiert war (weniger<br />
<strong>als</strong> 5 Prozent sind Gewerkschaftsmitglieder), in einigen<br />
der reichsten und produktivsten Farmgebieten spontan<br />
erhoben hat, einen Lohn, der zum Leben reicht, sowie die<br />
radikale Umgestaltung des ländlichen Raumes forderte.<br />
Eine neue Generation von Landarbeiter Innen ist im<br />
Südafrika der Nachapartheid herangewachsen. Es handelt<br />
sich um junge Arbeiter Innen, die ihren Eltern vorwerfen,<br />
sich nicht gegen die jahrzehntelange Unterdrückung auf<br />
den Farmen gewehrt zu haben. Sie sind besser ausgebildet,<br />
und im Falle von De Doorns und Robertson spielten<br />
Handys und soziale Medien wie Mixit eine große Rolle,<br />
um Landarbeiter Innen in der Nachbarschaft zu motivieren<br />
und es ihnen zu erleichtern, sich an Aktionen zu beteiligen.<br />
Zugang zu sozialen Organisationen, Fernsehen und<br />
Radio hatten einen bedeutenden Anteil am Aufbrechen<br />
der Isolation und Marginalisierung der Landarbeiter-<br />
Innen und ermöglichte Koordination – wie verhalten auch<br />
immer.<br />
Landfrauen, von denen viele Saisonarbeiterinnen sind,<br />
spielten eine führende Rolle bei der Mobilisierung auf<br />
Gemeindeebene in den Townships und den informellen<br />
Siedlungen am Rande der Farmen. In vielen Fällen führten<br />
sie die Proteste und ermunterten die Männer zu folgen.<br />
<strong>Die</strong>se Frauen verdienen oft weniger <strong>als</strong> die Männer und<br />
haben unsicherere Beschäftigungsbedingungen.<br />
Ursachen des Streiks<br />
Es ist wichtig zu wissen, was die Kämpfe in De Doorns<br />
auslöste. Was führte zu dem historischen Erwachen in<br />
den ländlichen Gebieten? Und warum konnten sich der<br />
Streik und die Proteste in kurzer Zeit auf viele der umliegenden<br />
ländlichen Städte in Western Cape ausdehnen?<br />
Im Wesentlichen handelt es sich um eine Reihe von<br />
objektiven und subjektiven Gründen, die zum Entstehen<br />
der Streiks und Proteste führten. Der zentrale Grund<br />
ist, dass sich trotz der Änderung in den Arbeitsgesetzen<br />
seit 1994 auf den südafrikanischen Farmen wenig<br />
geändert hat. Vielmehr sind viele der gegenwärtigen<br />
Arbeitsbeziehungen eine Fortsetzung des „Baasskap“ der<br />
Apartheidzeit, d. h. feudaler sozialer und wirtschaftlicher<br />
Herr-<strong>Die</strong>ner-Beziehungen. Es gibt weiterhin massive<br />
Menschenrechtsverletzungen, wie aus vielen örtlichen<br />
Berichten und dem vor kurzem veröffentlichten Bericht<br />
„Ripe with Abuse“ (dt. etwa: „Misshandlung allenthalben“)<br />
von Human Rights Watch hervorgeht. Das neue<br />
Arbeitsgesetz (Labor Relations Act) sowie andere Arbeitsgesetze,<br />
die gute Arbeitsbedingungen vorschreiben,<br />
werden von den Farmbesitzern weitgehend ignoriert.<br />
Das Arbeitsministerium, das überwachen und Inspektionen<br />
auf den Farmen durchführen soll, ist nicht in der<br />
Lage, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Sie haben nur<br />
sehr eingeschränkten Zugang zu den Farmen und – was<br />
schlimmer ist – verbünden sich manchmal insgeheim mit<br />
den Farmbesitzern gegen die Arbeiter Innen.<br />
In vielen Treffen in den letzten Wochen erzählten<br />
Landarbeiter Innen, wie sie leben und arbeiten:<br />
„In dieser Woche habe ich nur 240 Rand verdient<br />
und ich weiß nicht warum. Ich bekomme keinen Lohnzettel.“<br />
(Bonnievale)<br />
„Als ich der Gewerkschaft beitrat, wurde mir gesagt,<br />
dass ich von seiner Farm verschwinden soll, er will keine<br />
Unruhestifter haben.“ (François, Ashton)<br />
„Sie sind so grob und verletzend, sie sind rassistisch<br />
und sprechen sehr schlecht zu uns.“ (Betty, De Doorns)<br />
Es gibt viele Geschichten, die von Gewalt und Einschüchterung<br />
sprechen:<br />
„Einige von uns standen gedrängt zusammen, um sich<br />
vor dem Regen zu schützen. Der Farmmanager kam auf<br />
uns zu und befahl uns, weiterzuarbeiten. Plötzlich fing er<br />
an, uns mit einem Spaten zu schlagen.“ (Gawie, Ashton)<br />
„Kurz bevor der Streik weitergehen sollte, stellte<br />
uns der Farmer vor einem Zaun auf, zielte mit seinem<br />
Gewehr auf uns und drohte, uns zu erschießen, wenn wir<br />
uns an dem Streik beteiligen würden.“<br />
Aus vielen dieser Erzählungen ging klar hervor, dass<br />
viele Landarbeiter Innen weit weniger <strong>als</strong> den Mindestlohn<br />
von 70 Rand pro Tag verdienen und dass das der<br />
wesentliche Punkt der Auseinandersetzung ist. „Ich<br />
arbeite auf einer Aprikosenfarm an der Straße nach<br />
Montague, wo ich 89 Cent für jeden von mir gefüllten<br />
25-Kilo-Behälter bekomme, und wenn ich lausige 89<br />
Rand am Tag verdienen will, muss ich 100 Behälter mit<br />
Aprikosen füllen. Nach einer solchen Woche tun mir alle<br />
46 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
Südafrika<br />
Knochen weh und ich kann kaum aufrecht stehen.“ (Margriet,<br />
Montague)<br />
Das sind Geschichten über Not und Leiden. Viele erzählen<br />
ähnliches darüber, wie sie ständig erniedrigt, herabgesetzt<br />
und sogar geschlagen werden: „Mein Boss hat sieben<br />
Farmen, aber wir haben keine Toiletten und <strong>als</strong> wir Toiletten<br />
forderten, sagte er, dass er lieber eine weitere Farm kaufen<br />
würde anstatt Toiletten zu installieren … Seine Kinder<br />
sind alle auf der Universität und haben Autos. Wir können<br />
uns nichts leisten, noch nicht einmal Schulschuhe.“<br />
Probleme bei der Organisierung von<br />
Landarbeiter Innen<br />
Zurzeit gibt es etwas mehr <strong>als</strong> 500 000 Landarbeiter Innen<br />
in Südafrika, von denen der größte Teil (121 000) in Western<br />
Cape beschäftigt ist. Sehr wenige Landarbeiter Innen<br />
sind organisiert, das gilt für permanente und saisonale<br />
Arbeitskräfte gleichermaßen. Nur drei bis fünf Prozent<br />
sind gewerkschaftlich organisiert. <strong>Die</strong> Geschichte der<br />
Arbeiterbewegung Südafrikas zeigt, dass es extrem schwer<br />
war, während der Apartheidzeit Landarbeiter Innen zu organisieren.<br />
Der Grund war die strenge staatliche Kontrolle<br />
über die ländlichen Gebiete, die es sehr schwer machte, die<br />
Farmen zu erreichen, wo die meisten Landarbeiter Innen<br />
lebten.<br />
<strong>Die</strong> Teile des Western Cape, in denen die Proteste und<br />
Streiks am intensivsten waren, sind auch die Regionen, die<br />
am besten organisiert und in denen kleine Gewerkschaften,<br />
soziale Bewegungen, Bauernverbände und NGOs stärker<br />
vertreten sind.<br />
Das demokratische Südafrika hat eine <strong>ganze</strong> Menge<br />
fortschrittlicher Gesetze erlassen – einschließlich der Verfassung,<br />
die das Recht auf Organisations- und Meinungsfreiheit<br />
garantiert. Während theoretisch jede(r) das Recht<br />
hat, einer selbstgewählten Gewerkschaft anzugehören und<br />
zu streiken, wurden den meisten Landarbeiter Innen wegen<br />
der im südafrikanischen Farmwesen vorherrschenden Bedingungen<br />
von Angst und Einschüchterung diese Rechte<br />
verweigert. Sich einer Gewerkschaft anzuschließen, führt<br />
oft zu Vertreibung oder Einschränkungen.<br />
Eine andere Schwierigkeit bei der Organisierung von<br />
Landarbeiter Innen ist die isolierte Lage der Farmen und<br />
der dort lebenden Landarbeiter Innen. Anders <strong>als</strong> städtische<br />
Arbeiter Innen müssen Landarbeiter Innen regelrecht<br />
kämpfen, um sich regelmäßig zu treffen. Es fehlt an Zugang<br />
zu öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen Ressourcen,<br />
um sich miteinander in Verbindung zu setzen und<br />
zu organisieren.<br />
Südafrika<br />
Einwohner<br />
Sprachen<br />
BIP/Kopf<br />
Pretoria<br />
Etwa 90 % der 49,5 Mio. Einwohner-<br />
Innen sind keine Weißen (haupt-<br />
sächlich AfrikanerInnen, aber auch<br />
menschen indischer Abstammung).<br />
Es gibt 11 amtliche Landessprachen,<br />
die Bedeutung des <strong>als</strong> „Sprache der<br />
Apartheid“ verhassten Afrikaans geht<br />
zurück, während sich Englisch immer<br />
mehr <strong>als</strong> allgemeine Verkehrssprache<br />
durchsetzt, da es von den meisten<br />
verstanden wird<br />
8 300 €; 43 % (fast ausnahmslos<br />
Schwarze) leben in absoluter Armut,<br />
80 % der Ackerböden gehören<br />
Weißen, die weniger <strong>als</strong> 10 % der<br />
Bevölkerung stellen.<br />
Hinter dem Streik steckt auch wachsende Armut, ironischer<br />
Weise vertieft durch steigende Lebensmittelpreise.<br />
Niedrige Löhne und steigende Kosten haben die Verzweiflung<br />
zu einem Punkt getrieben, wo die Landarbeiter Innen<br />
– durch Auf begehren – wenig zu verlieren hatten.<br />
Landarbeiter Innen beklagen, dass sie den größten Teil<br />
ihres mageren Einkommens für Lebensmittel ausgeben<br />
und trotzdem hungrig sind. Das ist eine Klage sowohl<br />
derjenigen, die auf den Farmen leben, <strong>als</strong> auch derjenigen,<br />
die Kontrakt- oder Saisonarbeiter Innen sind. <strong>Die</strong>jenigen,<br />
die auf den Farmen leben, kaufen ihre Lebensmittel oft auf<br />
Kredit in den Läden, die die Farmer dort einrichten. Hier<br />
bezahlen sie auch die Elektrizität für Prepaid-Zähler , die<br />
kürzlich in ihren Behausungen, die Bretterbuden ähneln,<br />
eingerichtet wurden. Oft müssen sie auch Miete zahlen<br />
und einen zusätzlichen Beitrag für Kinder, die bei ihnen<br />
leben, aber nicht auf der Farm arbeiten.<br />
Das Ergebnis sind direkte Lohnabzüge wegen des<br />
Schuldbetrages. <strong>Die</strong>ses Farm-Kredit-System führt dazu,<br />
dass sich Tausende von Arbeiter Innen in einer wachsenden<br />
Schuldenfalle wiederfinden. Darüber hinaus müssen die<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 47
Südafrika<br />
Landarbeiter Innen auch Schulgebühren und in einigen<br />
Fällen auch für die Unterbringung in Wohnheimen zahlen.<br />
<strong>Die</strong>se Belastung, die Familie und die erweiterte Familie zu<br />
ernähren und für sie zu sorgen, bedeutet weiteren Druck<br />
auf das magere Einkommen.<br />
Ungleichheit wird besonders heftig empfunden, wo<br />
verarmte Landarbeiter Innen in solcher Nähe zu den Farmern<br />
und ihren Familien leben. Eklatante Ungleichheit in<br />
den Lebensbedingungen, Hygiene, Transport, Mobilität,<br />
Zugang zur Gesundheitsversorgung usw. springen geradezu<br />
ins Auge. Landarbeiter Innen werden so dazu gebracht,<br />
sich <strong>als</strong> Untermenschen zu empfinden, wenn Ursache und<br />
Wirkung verwechselt werden. Je mehr der Landarbeiter/<br />
die Landarbeiterin nicht hat, desto weniger gesteht man<br />
ihm/ihr zu. In dem zum Beispiel den Landarbeiter Innen<br />
anständige Sanitäranlagen in den Weinbergen und auf den<br />
Feldern verweigert werden, verfestigt das die Auffassung<br />
des Farmers, dass seine Beschäftigten wie Tiere sind. Das ist<br />
augenscheinlich, wenn man von Farm zu Farm geht.<br />
Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich der schlafende<br />
Gigant gerührt. Eine neue Periode bricht an. Landarbeiter-<br />
Innen in mehr <strong>als</strong> zwanzig Städten in Western Cape haben<br />
sich mobilisiert und begonnen, sich auf den Farmen und in<br />
den informellen Siedlungen, in denen viele Wanderarbeiter<br />
leben, zu organisieren. Bei den Protesten und dem Streik<br />
haben Kontrakt- und Saisonarbeiter Innen – einschließlich<br />
derer, die auf den Farmen leben und derer, die jeden Tag<br />
gebracht werden – zusammen gearbeitet. Vielleicht sollte<br />
man sich an die folgenden Worte von Karl Marx erinnern,<br />
wenn man die Lastwagen voller Arbeiter Innen auf ihrem<br />
täglichen Weg zu den Farmen sieht: „Der Kapitalismus hat<br />
seine eigenen Totengräber geschaffen“.<br />
Durch die Proteste entstanden auch neue Formen der<br />
Selbstorganisation auf den Farmen, wie der Aufbau von<br />
Arbeiter Innen-Komitees. Es ist bedeutsam, dass die Bündnisse<br />
zwischen Kleinbauernorganisationen, Landarbeiter-<br />
Innen und sozialen Initiativen sich nicht nur zusammen<br />
fanden, um die Proteste zu unterstützen, sondern dass auch<br />
neue Verbindungen entstanden zwischen den grundlegenden<br />
Forderungen der Landarbeiter Innen und denen, die auf<br />
eine radikale Umwälzung des ländlichen Raumes abzielen.<br />
Mercia Andrews arbeitet <strong>als</strong> Aktivistin<br />
auf dem Gebiet des Landrechts. Sie ist Mitglied der<br />
Demokratischen Linken Front.<br />
•Übersetzung:<br />
W. Weitz<br />
48 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
50<br />
GENMANIPULIERTE ORGANISMEN: Friss und Stirb!<br />
Nachdem bereits die „Grüne Revolution“ daran gescheitert ist, den Hunger<br />
auszurotten, soll es nun die Gentechnik richten – zum Nutzen der Agrarkonzerne.<br />
55<br />
Élysée-Vertrag: Motor der „europäischen Einigung“?<br />
Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser Élysée-Palast ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet,<br />
mit dem die deutsch-französische Zusammenarbeit beschlossen wurde.
<strong>Die</strong> Internationale<br />
FRISS UND<br />
STIRB!<br />
Mit der Patentierung genmanipulierter Organismen ist das Tor zur<br />
weltweiten Diktatur der Saatgutproduzenten aufgestoßen. Selbst<br />
Fehler und Irrtümer lassen sich so noch vergolden: Zur Abhängigkeit der<br />
Landwirtschaft von den Saatgutproduzenten kommt der Zwang<br />
zum Kauf von immer mehr Pestiziden noch dazu.<br />
Nationale Ökologiekommission der NPA<br />
•<br />
Am 19. September 2012 erschien in der Fachzeitschrift<br />
Food and Chemical Toxicology" ein Artikel<br />
über die Ergebnisse einer Studie, die Gilles-Éric Séralini<br />
gemeinsam mit dem Comité de recherche et d’information<br />
indépendantes sur le génie génétique (Criigen) betrieben<br />
hatte. Gegenstand der Studie war der gentechnisch veränderte<br />
Mais der Sorte NK603 (resistent gegen Glyphosat)<br />
und das Herbizid Roundup. <strong>Die</strong> darin veröffentlichten<br />
Fotos von Ratten, die mit Tumoren übersät waren, gingen<br />
um die Welt. Aus diesem Anlass veröffentlichte die Ökologiekommission<br />
der französischen NPA ein Dossier über<br />
die Gentechnik, das wir hier in Übersetzung abdrucken.<br />
Ein offener Skandal<br />
<strong>Die</strong> über zwei Jahre hinweg geführte Langzeitstudie<br />
ergab, dass mit Mais der Sorte NK603 – mit oder ohne<br />
Roundup (Handelsname für Glyphosat) behandelt – gefütterte<br />
oder auch nur diesem Herbizid ausgesetzte Ratten<br />
Tumore und schwere pathologische Veränderungen<br />
entwickelten. Seralini stellte fest, dass die Gene und die<br />
Zellstrukturen durch horizontalen Gentransfer betroffen<br />
waren. Neben den bereits bekannten Nebenwirkungen<br />
– Fettsucht, Unfruchtbarkeit und ZNS-Erkrankungen<br />
– müssen Glyphosat demnach erhöhte Tumorhäufigkeit<br />
und weitere Krankheitshäufungen zugeschrieben werden.<br />
Mit Auchan und Carrefour (französische Supermarktketten)<br />
fallen zwei der Finanziers dieser Studie aus dem<br />
Rahmen, denen man schwerlich Sorge um die Gesundheit<br />
der Bevölkerung unterstellen kann. Sie werden wohl<br />
eher davon umgetrieben, dass sich ein Skandal wie weiland<br />
um BSE („Rinderwahn“) wiederholen könnte, der<br />
50 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
ihnen die Umsätze schmälern und sie schlimmstenfalls<br />
auch juristisch belangbar machen würde.<br />
Rufmordkampagne <strong>als</strong> Krisenkommunikation<br />
- <strong>Die</strong> Veröffentlichung dieser Studie hat zu einer regelrechten<br />
wissenschaftlichen Rufmordkampagne geführt.<br />
Wissenschaftliche Akademien, die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />
(Efsa) und andere Expertengremien<br />
(darunter der deutsche Schweinezüchterverband [AdÜ])<br />
haben ihre Schmutzkübel über die Arbeit von Seralini<br />
ausgeschüttet. Kein Zweifel, dass die Studie Schwachstellen<br />
enthält und aufgrund limitierter Budgets und Probandenzahl<br />
keine endgültigen Schlussfolgerungen erlaubt.<br />
<strong>Die</strong>s heißt aber nur, dass die Untersuchung unter nicht<br />
anfechtbaren Bedingungen wiederholt werden muss.<br />
<strong>Die</strong> heftigsten Kritiker Seralinis sind diejenigen, die<br />
die Zulassung des Genmaises zu verantworten haben.<br />
Und auch das von Monsanto vorgelegte Versuchsprotokoll<br />
weist ernste Schwachstellen auf und bekanntlich schreckt<br />
Monsanto nicht davor zurück, die Daten zu manipulieren,<br />
um eine Zulassung zu erwirken. Insofern fällt die doppelzüngige<br />
Polemik eher auf ihre Urheber zurück.<br />
Ungeachtet der konkreten Ergebnisse wirft die Studie<br />
ein Schlaglicht auf die gängigen Zulassungsverfahren<br />
und deren Evaluationsmethode:<br />
• <strong>Die</strong> Studien werden unter Schweigepflicht und bar<br />
jeder Transparenz durchgeführt;<br />
• <strong>Die</strong> Versuchsprotokolle werden von der Industrie entlang<br />
ihrer Erfordernisse definiert. In diesem Zusammenhang<br />
entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, wenn<br />
den Autoren der Studie die Verwendung eines bestimmten<br />
Rattenstamms vorgeworfen wird, der übrigens genau<br />
derselbe ist wie bei Monsanto;<br />
• <strong>Die</strong> Firmen entscheiden über die Dauer der Versuche,<br />
die üblicherweise bei genmanipulierten Organismen und<br />
bei Herbiziden 90 Tage beträgt, obwohl die Folgewirkungen<br />
bekanntlich langfristig evaluiert werden müssen.<br />
Daneben gibt es gravierende Interessenskonflikte innerhalb<br />
der Zulassungsbehörden: <strong>Die</strong> vormalige Vorsitzende<br />
der Efsa arbeitete anschließend für die Biotechnologielobby<br />
und die Sachverständigen und Forscher pendeln<br />
– mitunter parallel – in ihrer Karriere zwischen öffentlichem<br />
<strong>Die</strong>nst und Privatwirtschaft.<br />
• Das Prinzip der substantiellen Äquivalenz, das bewirkt,<br />
dass die Eigenschaften genmanipulierter Pflanzen<br />
<strong>als</strong> Nahrungsmittel nicht untersucht werden, mit dem<br />
Argument, dass eine genmanipulierte Tomate auch eine<br />
Tomate ist, beruht auf keinerlei wissenschaftlichem<br />
Nachweis.<br />
SofortmaSSnahmen<br />
Genmanipulierte Pflanzen gehören nicht in eine Landwirtschaft,<br />
die verantwortlich mit der Biosphäre und der Gesundheit<br />
der Menschen umgeht. Zu deren Erhaltung bedarf es folgender<br />
Sofortmaßnahmen:<br />
• Eine unabhängige Institution muss mit einer neuen Studie<br />
auf Kosten von Monsanto und unter unanfechtbaren Bedingungen<br />
beauftragt werden.<br />
• <strong>Die</strong> europäische Gesetzgebung muss revidiert werden, sodass<br />
die Gesundheit der Menschen und die Erhaltung der Umwelt<br />
grundlegend berücksichtigt werden.<br />
•Alle bereits auf dem Markt befindlichen transgenen<br />
Pflanzen müssen unabhängigen Studien unterzogen werden, in<br />
denen sie ihre Unschädlichkeit unter Beweis stellen müssen. Dasselbe<br />
gilt für Pestizide und deren Beistoffe.<br />
• Mais der Sorte NK 603 muss sofort vom Markt genommen<br />
werden<br />
• Alle Zulassungsstudien müssen von öffentlichen Forschungsinstituten,<br />
aber auf Kosten der Auftraggeber durchgeführt<br />
werden. In Frankreich käme dafür die INRA (Nationales<br />
Institut für Agronomieforschung) infrage, was aber voraussetzen<br />
würde, dass deren Verbundenheit mit der industrialisierten<br />
Landwirtschaft und besonders der Gentechnikindustrie gelöst<br />
werden muss.<br />
• Kritiker der bestehenden Systeme wie Seralini müssen gesetzlich<br />
geschützt werden.<br />
• Lobbyisten dürfen in öffentlichen Institutionen nicht mehr<br />
vertreten sein.<br />
• Intensive Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen<br />
chemischer Produkte müssen durchgeführt werden. Es geht<br />
bspw. um die Klärung, warum in Frankreich Tumorerkrankungen<br />
des Verdauungstraktes am häufigsten vorkommen oder warum<br />
Morbus Parkinson wegen der Exposition gegenüber Pestiziden<br />
<strong>als</strong> Berufskrankheit in der Landwirtschaft anerkannt ist, während<br />
die dort Beschäftigten nicht die einzigen sind, die diesen Substanzen<br />
ausgesetzt sind.<br />
Dabei darf man nicht vergessen, dass wir – leider<br />
– auf Freilandversuche zurückgreifen können. Eine in<br />
der Viehzucht in den USA durchgeführte Studie zeigt,<br />
dass es diese substantielle Äquivalenz nicht gibt. <strong>Die</strong> mit<br />
genveränderter (gv) Luzerne gefütterten Rinder leiden<br />
unter Mangelerscheinungen und weisen eine erhöhte<br />
Tumorhäufigkeit auf. Was Glyophosat angeht, gibt es<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 51
<strong>Die</strong> Internationale<br />
menschliche Versuchskaninchen – die Argentinier. <strong>Die</strong><br />
Kritiker Seralinis, die Krokodilstränen über die angeblich<br />
nicht rechtzeitig getöteten Ratten vergießen, scheren<br />
sich keinen Deut an den dortigen Dorfbewohnern, die<br />
neben den transgenen Sojaplantagen in einem der größten<br />
Soja-Erzeugerländer leben. Das Verzeichnis der dort<br />
gehäuft auftretenden Erkrankungen lässt schaudern und<br />
reicht von bösartigen Tumoren über neurodegenerative<br />
Erkrankungen bis hin zu vorgeburtlichen Missbildungen.<br />
Der Skandal um die Gentechnik zeigt, wie es um<br />
unser vorgeblich demokratisches System bestellt ist, das<br />
in Wahrheit eine Plutokratie ist, die sich Experten <strong>als</strong> Feigenblatt<br />
halten.<br />
Sie privatisieren die lebendige Natur, um<br />
die Menschheit zu kontrollieren<br />
<strong>Die</strong> Sparte von Monsanto ist die chemische Industrie:<br />
PCB, Agent Orange, Aspartam etc. Was zählt, ist der<br />
Profit und nicht die Gesundheit. Und mit den Roundupresistenten<br />
genmanipulierten Pflanzen (Roundup Ready,<br />
RR) haben sie das große Los gezogen. Sie verdienen<br />
durch den Verkauf von Saatgut und des dazu gehörigen<br />
Herbizids im Paket. Und das auf Dauer!<br />
Aufgrund des Patentschutzes dürfen die Bauern nicht<br />
säen, was sie im Vorjahr geerntet haben. Und wer die<br />
Tantiemen nicht bezahlt, wird von Monsanto belangt, sogar<br />
wenn das eigene Feld durch die transgenen Pflanzen<br />
auf dem Nachbaracker kontaminiert worden ist.<br />
<strong>Die</strong> Diktatur der Saatgutkonzerne - Nachdem<br />
er die Arbeiter Innen ausgebeutet und die Bodenschätze<br />
ausgeschöpft hat, nimmt der Kapitalismus jetzt die<br />
Biosphäre ins Visier, die Diversität der Ökosysteme und<br />
die Artenvielfalt, die aus der Arbeit von Hunderten von<br />
Generationen von Züchtern und Bauern hervorgegangen<br />
ist. <strong>Die</strong> Saatgutkonzerne verfolgen nur ein Ziel, nämlich<br />
den Bauern jede Eigenständigkeit zu rauben und sie zu<br />
zwingen, alljährlich Saatgut, Dünger, Pflanzenschutzmittel<br />
etc. zu kaufen. Durch die Terminator-Technologie<br />
(zurzeit mit einem [rechtlich unverbindlichen] Moratorium<br />
belegt), die den Keimling im ausgereiften Samenkorn<br />
abtötet, sollen die Bauern nunmehr endgültig um ihre<br />
Unabhängigkeit und ihr Können gebracht werden.<br />
Nur vier Konzerne teilen sich 53 % des weltweiten<br />
Saatguthandels: die beiden US-Konzerne Monsanto und<br />
Dupont, die Schweizer Syngenta und die französische<br />
„Kooperative“ Limagrain. Ihr Ziel ist nicht die Entlastung<br />
der Kleinbauern, sondern deren Knechtung. Sie müssen<br />
sich verschulden, um Samen, Pestizide und Dünger zu<br />
kaufen und sind auf Gedeih und Verderb dem Unbill des<br />
Klimas ausgesetzt. Wenn sie in Zahlungsnöte geraten,<br />
ziehen sie es mitunter vor, sich umzubringen, wie dies<br />
tausende indischer Kleinbauern getan haben, indem sie<br />
die Pestizide geschluckt haben, durch die sie ins Elend<br />
gestürzt worden sind. <strong>Die</strong> versprochenen Erträge lassen<br />
meist auf sich warten, da die genmanipulierten Pflanzen<br />
für bestimmte Anbaubedingungen entwickelt wurden<br />
und nicht an die klimatischen und anbautechnischen Bedingungen<br />
der indischen oder afrikanischen Kleinbauern<br />
angepasst sind.<br />
Eine landwirtschaftliche Katastrophe - <strong>Die</strong> ökologischen<br />
und sozioökonomischen Konsequenzen sind<br />
katastrophal. <strong>Die</strong> verschiedenen Kontinente haben sich<br />
landwirtschaftlich derart spezialisiert, dass sie voneinander<br />
abhängen: Südamerika auf transgenen Soja, die USA<br />
auf transgenen Mais und Europa auf Getreide. Durch<br />
diese Spezialisierung findet kein Fruchtwechsel mehr<br />
statt. In Frankreich werden keine Leguminosen mehr <strong>als</strong><br />
Stickstofflieferanten im Wechsel angebaut, obwohl sie<br />
durchaus <strong>als</strong> Alternativen zu Soja infrage kämen: Ackerbohnen,<br />
Erbsen, Luzerne, Klee. <strong>Die</strong> Soja-Monokultur in<br />
Südamerika durch Direktsaat und ohne Bodenbearbeitung<br />
(was bei bestimmten Fruchtfolgen durchaus sinnvoll<br />
sein kann) hat zu Verkargung und Humusverlust der<br />
Ackerböden geführt. Allein in Argentinien sind davon<br />
19 Millionen Hektar und somit über 50 % des Ackerlands<br />
betroffen. Und dieses Land wurde den Pampas oder den<br />
Regenwäldern abgetrotzt, was an sich schon ein unwiederbringlicher<br />
Verlust für die Biodiversität war. Durch<br />
die großflächige Entwaldung werden Treibhausgase<br />
freigesetzt und die Böden unwiederbringlich degradiert.<br />
Ganze Volksstämme wurden mit Waffengewalt von<br />
ihrem Land vertrieben, darunter indigene Völker, die nur<br />
in den Wäldern (über)leben konnten – und alles nur, um<br />
ein paar weitere tausend Hektar ausbeuten zu können.<br />
Auf der <strong>ganze</strong>n Welt werden Bauern enteignet. <strong>Die</strong><br />
Saatgutkonzerne usurpieren die Saatrechte, die die<br />
Bauern geschaffen haben. Durch die Nichteintragung in<br />
den offiziellen Sortenkatalog verbieten sie die Nutzung<br />
der Saaten, während sie selbst schamlos davon Gebrauch<br />
machen, um ihre Gentechnikpflanzen und sterilen Hybride<br />
herzustellen. Seit Anbeginn war umstritten, ob sich<br />
diese transgenen Pflanzen von selbst ausbreiten können.<br />
Inzwischen ist dies bewiesen. Raps ist eng mit dem Senf<br />
verwandt und in den USA sind Kontaminationsfälle<br />
nachgewiesen worden. Schlimmer ist, dass in Mexiko<br />
– der Wiege aller Maissorten auf der Welt – wilder<br />
52 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
Mais kontaminiert worden ist. Dadurch ist ein Erbe der<br />
Menschheit bedroht.<br />
Monsanto und die Hungerkatastrophe<br />
<strong>Die</strong> Agrarindustrie verbreitet, dass genmanipulierte<br />
Pflanzen mit einem geringeren Verbrauch von Pestiziden<br />
einhergehen und Hungersnöte ausrotten würden.<br />
Es gibt zwei Kategorien von genmanipulierten Pflanzen<br />
und eine davon (59 %) ist resistent gegen Herbizide. Und<br />
wenn Monsanto den ersten transgenen Mais entwickelt hat,<br />
geschah dies, um den Absatz von Roundup zu mehren und<br />
nicht, um die Verkaufszahlen zu mindern. Selbst wenn sie<br />
pulverisiert werden, behalten diese Pflanzen ihre Eigenschaften<br />
und werden zu regelrechten Herbizidschwämmen.<br />
Manche gv-Pflanzen (15 %) sind in der Lage, selbst<br />
ein Insektizid zu produzieren. Ein Beispiel hierfür ist der<br />
Bt-Mais, dem ein Gen des Bacillus thuringiensis eingeschleust<br />
wurde und der dadurch gegen die Larven des<br />
Maiszünslers (Schmetterlingsart) resistent ist. Allerdings<br />
ist er dadurch auch toxisch für andere Schmetterlingsarten<br />
– sog. „Nichtzielorganismen“ – und kann dort Mutationen<br />
hervorrufen 2 .<br />
Zucht resistenter Pflanzen zur Mehrung des<br />
Herbizidabsatzes - <strong>Die</strong> statistischen Erhebungen in<br />
den USA über den Einsatz von Pestiziden sind alarmierend:<br />
Beim Anbau genmanipulierter Pflanzen werden<br />
mehr Pestizide gebraucht <strong>als</strong> bei herkömmlichen Pflanzen<br />
(2008: +12 % bei Mais und +237 % bei Soja) und die Ausbringung<br />
von Pestiziden in diesen Kulturen steigt ständig<br />
(zwischen 1996 und 2008: +21 % bei Mais und +85 % bei<br />
Soja). Der Grund dafür ist in der Selektionstheorie von<br />
Darwin zu finden. Bestimmte Unkräuter, die durch Roundup<br />
eliminiert werden sollen, entwickeln Resistenzen. In<br />
Lebenssmittel-produktion in zahlen<br />
Milliarden Menschen, <strong>als</strong>o die<br />
für 2050 vorhergesagte gesamte<br />
Weltbevölkerung könnten mit<br />
den gegenwärtig erzeugten Nah-<br />
9rungsmitteln ernährt werden.<br />
1868<br />
Millionen Menschen leiden an Unterernährung<br />
4<br />
Pflanzen decken 99 Prozent der weltweit<br />
gesamten Menge gemanipulierter Agrarprodukte:<br />
Baumwolle 15 %, Soja 47 %, Mais<br />
32 %, Raps 5 % (Zahlen von 2011.)<br />
53<br />
Prozent des weltweiten Saatguthandels teilen<br />
sich vier Konzerne: Monsanto und Dupont (USA),<br />
Syngenta (Schweiz) und Limagrain (Frankreich).<br />
MaSSnahmen gegen <strong>Die</strong> Agrarindustrie<br />
Auf dem Spiel stehen die Nahrungssouveränität und die Souveränität<br />
schlechthin, da die Menschheit kontrolliert, wer die Landwirtschaft<br />
kontrolliert. Daher<br />
• müssen diese Konzerne entschädigungslos und unwiderruflich<br />
enteignet werden;<br />
• muss die Macht der Agrarindustrie gebrochen werden, da sie<br />
für Umweltverschmutzung, Bodenerosion, Zerstörung der Subsistenzwirtschaft,<br />
Wasserverschwendung und Lebensmittelskandale<br />
verantwortlich ist und die Vielfalt der Ernährung und somit die Gesundheit<br />
bedroht;<br />
• muss demokratisch und unter Kontrolle der Beschäftigten<br />
und Bewohner über die Nahrungsmittelproduktion entschieden<br />
werden, wobei ökologische und gesundheitliche Aspekte im Vordergrund<br />
stehen müssen;<br />
• müssen genmanipulierte Organismen verboten werden;<br />
• müssen die EU-Agrarpolitik reformiert und Kleinbauern wieder<br />
gezielt gefördert und unterstützt werden;<br />
• müssen Exportsubventionen verboten werden;<br />
• desgleichen chemische Düngemittel, was eine Umstellung auf<br />
biologische Erzeugung beinhaltet.<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 53
<strong>Die</strong> Internationale<br />
den USA betrifft dies etwa 20 Pflanzen, wobei diese Zahl<br />
insofern geschönt ist, <strong>als</strong> eine Pflanze erst dann <strong>als</strong> resistent<br />
gilt, wenn sie das Vierfache der empfohlenen Dosis<br />
übersteht. Ein bekanntes Beispiel ist amaranthus palmeri, ein<br />
Fuchsschwanzgewächs, das Stickstoffdünger stark verzehrt,<br />
pro Pflanze mehrere Hunderttausend Samen produziert<br />
und große Hitze verträgt. Seine Wurzeln sind so<br />
hart, dass sich die Mäh- und Dreschmaschinen die Zähne<br />
daran ausbeißen. Angesichts der massenhaften Ausbreitung<br />
auf den Äckern haben die US-Farmer zunächst die<br />
Herbizid-Dosis erhöht, was dazu geführt hat, dass sich die<br />
überlebenden Pflanzen angesichts fehlender Konkurrenz<br />
umso stärker ausgebreitet haben.<br />
Daraufhin hat Monsanto zum Einsatz von 2,4 D geraten,<br />
einem altbekanntem Gift, das <strong>als</strong> Agent Orange<br />
im Vietnamkrieg zu traurigem Ruhm gelangt ist und<br />
an dessen Spätfolgen Vietnam noch heute leidet. Seither<br />
entwickelt der Konzern gv-Pflanzen, die gegen zwei verschiedene<br />
Herbizide resistent sind. <strong>Die</strong>se Flucht nach vorn<br />
führt zur weiteren Zunahme des Pestizid-Einsatzes. <strong>Die</strong><br />
Farmer waren letztlich gezwungen, den Amarant von Studenten<br />
oder Arbeitslosen mit mechanischem Werkzeug<br />
einzeln rausreißen zu lassen. Ähnliche Anpassungsmechanismen<br />
gab es bei den Baumwoll- und Maisschädlingen.<br />
Wem nützen die genmanipulierten Pflanzen?<br />
- Nachdem bereits die „Grüne Revolution“ daran<br />
gescheitert ist, den Hunger auszurotten, soll es nun die<br />
Gentechnik richten. Nach Angaben der Welternährungsorganisation<br />
FAO leiden 1868 Millionen Menschen<br />
an Unterernährung, soviel wie die USA, Kanada und<br />
Europa zusammen an Einwohnern haben. Und jährlich<br />
verhungern fünf Millionen Kinder.<br />
Dabei landet ein Drittel der landwirtschaftlichen<br />
Erzeugnisse auf dem Müll, durch Misswirtschaft in den<br />
reichen und durch mangelnde Infrastruktur in den armen<br />
Ländern. Mit den gegenwärtig erzeugten Nahrungsmitteln<br />
könnte die gesamte Weltbevölkerung ernährt<br />
werden und sogar die für 2050 vorhergesagten neun<br />
Milliarden. In erster Linie ist die Agrarpolitik der reichen<br />
Länder für den Hunger in der Welt verantwortlich. Sie<br />
überschwemmen den Markt in den Entwicklungsländern<br />
mit ihren Erzeugnissen und zerstören auf diese Art<br />
die dortige agrarische Subsistenzwirtschaft. Und durch<br />
die Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln wird eine<br />
künstliche Verknappung erzeugt.<br />
Wenn schon nicht die Armen, wen dann ernährt die<br />
Gentechnik? Auf lediglich vier Pflanzen entfallen 99 %<br />
(Zahlen von 2011) der weltweit gesamten Agrarproduktion.<br />
Abgesehen von der Baumwolle (15 %) ist dies<br />
an erster Stelle das Soja (47 %), das <strong>als</strong> Viehfutter den<br />
steigenden Fleischbedarf in den reichen Ländern gewährleistet<br />
und in geringem Maß <strong>als</strong> Lebensmittel und in zunehmendem<br />
Maß <strong>als</strong> Agrotreibstoff dient. Mit 32 % folgt<br />
der Maisanbau, der zu mehr <strong>als</strong> der Hälfte ebenfalls zur<br />
Biotreibstoffproduktion verwendet wird. Zuletzt mit 5 %<br />
der Raps, der in der Nahrungsindustrie oder <strong>als</strong> Biodiesel<br />
Verwendung findet.<br />
Das heißt, dass die gv-Pflanzen letztlich den Fleischverzehr<br />
in den Industrieländern und den Autoverkehr<br />
unterhalten. Nachdem man die Rinder zu Körnerfressern<br />
gemacht hat, lässt man sie jetzt ihr Futter picken. Wenn<br />
sie aber Körnerfresser wären, hätten sie nicht vier Mägen.<br />
<strong>Die</strong> Verwendung der Ernten für Agrotreibstoffe sorgt<br />
mithin für die Hungerrevolten und Hungertoten auf der<br />
Welt. Erst recht ist die CO2-Bilanz dabei katastrophal.<br />
Profitabel hingegen ist dies für die Industrie, in Frankreich<br />
bspw. für den Biodiesel-Produzenten Sofiprotéol<br />
(in dessen Vorstand der Vorsitzende der Landwirtschaftslobby<br />
FNSEA sitzt), der nebenbei ein Steuergeschenk<br />
über 54 Mio. Euro erhält. n Übersetzung: MiWe<br />
1 Tout est à nous 172 vom 29.11.2012<br />
2 Hier weicht die Übersetzung vom Original ab, da sich kein<br />
eindeutiger Beleg für die dortige Behauptung finden ließ.<br />
54 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
Motor der<br />
„europäischen Einigung“?<br />
<strong>Die</strong> Feiern zum Jahrestag des „Élysée-Vertrags“ wurden zum Werfen<br />
von Nebelkerzen genutzt. Den Herrschenden in beiden Ländern ging es 1963<br />
wie heute darum, von der tatsächlichen Motivation für diesen Vertrag, den<br />
wirtschaftlichen Interessen, abzulenken.<br />
Jakob Schäfer<br />
•<br />
Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser<br />
Élysée-Palast der nach ihm benannte Freundschaftsvertrag<br />
unterzeichnet, mit dem die deutsch-französische Zusammenarbeit<br />
beschlossen wurde. In der Öffentlichkeit<br />
wurde dabei immer die Überwindung der langjährigen<br />
Feindschaft gefeiert; von Versöhnung und „Motor für die<br />
europäische Einigung Europas“ war fortan die Rede.<br />
Im Januar dieses Jahres nun wurde mit viel offiziellem<br />
Tamtam die große Bedeutung der „deutsch-französischen<br />
Freundschaft für die Einheit Europas“ beschworen. Dabei<br />
ist die EU gerade dabei, sich auseinanderzuentwickeln. Der<br />
EU-Gipfel vom 7.8. Februar bestätigte diese Entwicklung.<br />
Das Verhältnis Frankreich – Deutschland sollte entgegen<br />
der herrschenden Propaganda vorwiegend auf der Grundlage<br />
der jeweiligen wirtschaftlichen Ziele gesehen und<br />
der aktuelle Stand vor dem Hintergrund der Euro-Krise<br />
bewertet werden.<br />
Zu keinem Zeitpunkt war die Annäherung Deutschlands<br />
und Frankreichs eine Liebeshochzeit, sondern von<br />
Anfang an eine Vernunftheirat. Dam<strong>als</strong> dominierten bei<br />
Frankreich machtpolitische (auch militärische) Überlegungen,<br />
weil die französische Regierung der US-Vorherschaft<br />
etwas entgegensetzen wollte. Schon früh standen bei allen<br />
anderen Beteiligten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
(EWG, s. Kasten) die wirtschaftlichen Interessen im<br />
Vordergrund: Das Kapital brauchte größere Absatzgebiete;<br />
Zollschranken wurden schrittweise reduziert und später<br />
abgeschafft.<br />
Vor allem der Kalte Krieg (die Konfrontation mit dem<br />
„Ostblock“), aber auch die starke Vormachtstellung der<br />
USA erforderten eine engere Kooperation westeuropäischer<br />
Staaten. Eine Handelsunion war in den Zeiten des lang<br />
anhaltenden Aufschwungs (von Ende der 1940er bis Anfang<br />
der 1970er Jahre) für alle Beteiligten außerordentlich<br />
vorteilhaft. Im Prinzip reichten aber in den Anfangsjahren<br />
der Abbau von Zollschranken und die Erleichterung von<br />
Direktinvestitionen in den beteiligten Staaten.<br />
In den 1970er Jahren änderten sich allerdings die weltwirtschaftlichen<br />
Konkurrenzbedingungen. Hintergrund<br />
war das Auslaufen der langen Welle der Prosperität nach<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 55
<strong>Die</strong> Internationale<br />
dem Zweiten Weltkrieg 1 . Es verschärfte sich die internationale<br />
Konkurrenz, vor allem zwischen den Mächten der<br />
Triade, <strong>als</strong>o der USA, Japans und Westeuropas. <strong>Die</strong> USA<br />
reagierten auf den „Sturz des Dollars“ 2 , <strong>als</strong>o die allmähliche<br />
Reduzierung ihrer absoluten Dominanz, durch zunächst<br />
die Auf hebung der Dollarbindung an das Gold (1971) und<br />
dann durch die Auf hebung der festen Wechselkurse gegenüber<br />
dem Dollar (1973). <strong>Die</strong> damit bewirkte noch stärkere<br />
Abwertung des Dollars sollte die Exportchancen der US-<br />
Industrie fördern (was teilweise auch gelang).<br />
<strong>Die</strong> Reaktion in Europa blieb nicht aus: 1978/1979 verständigten<br />
sich der französische Präsident Giscard D’Estaing<br />
und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt auf die<br />
Einführung eines Europäischen Währungssystems (EWS,<br />
s. Kasten), das bis zur Einführung der Gemeinsamen Währung,<br />
des Euro, 1998 funktionierte. In dieser Zeit, <strong>als</strong>o ab<br />
Mitte der 1970er Jahre bis Ende des vergangenen Jahrhunderts,<br />
waren dann Deutschland und Frankreich tatsächlich<br />
der Motor der kapitalistischen Integration Europas und<br />
damit der Verbesserung der Ausgangsbedingungen für das<br />
europäische Kapital im internationalen Konkurrenzkampf.<br />
Parallel dazu wurde im Rahmen der EWG, dann der<br />
EG und später der EU am Aufbau gemeinsamer militärischer<br />
Strukturen gearbeitet, auch wenn dies nicht die<br />
Dominanz der USA in der NATO infrage stellen konnte<br />
(offiziell auch nie sollte) 3 .<br />
Gravierender Funktionswandel<br />
Gravierender war die Veränderung, die sich ab Ende der<br />
1980er Jahre langsam anbahnte. Ausgelöst wurde sie durch<br />
den Mitte der 1980er Jahre eingetretenen Positionsverlust<br />
der französischen Wirtschaft gegenüber der deutschen. Mitte<br />
der 1980er Jahre rutschte die französische Wirtschaft in<br />
ein massives Außenhandelsdefizit, was zu einer Schwächung<br />
des Franc führte. Es drohte ein Ausverkauf der französischen<br />
Industrie. Der französische Präsident Mitterrand zog<br />
die Handbremse und verständigte sich schon früh mit der<br />
deutschen Regierung – nämlich noch vor dem Zusammenbruch<br />
der DDR – auf das Projekt einer gemeinsamen<br />
Währung der EG. Faktisch war dies der Startschuss für die<br />
Schaffung der späteren Währungsunion.<br />
Es mag sein – wie gerne kolportiert wurde – dass andere<br />
Regierungen in einer gemeinsamen Währung ein Mittel<br />
sahen, die seit Jahren wachsende wirtschaftliche Dominanz<br />
Deutschlands bändigen zu können. Das Hoffen auf eine<br />
Win-win-Situation war aber von vornherein unbegründet.<br />
Auf keinen Fall trifft zu, dass sich Deutschland die Zustimmung<br />
zum Euro nur zähneknirschend – angeblich <strong>als</strong><br />
„Preis für die Wiedervereinigung“ – hat abringen lassen.<br />
Längst vor der Wiedervereinigung hatten sich Frankreich<br />
und Deutschland verständigt, eine gemeinsame Währung<br />
anzusteuern.<br />
<strong>Die</strong> meisten westeuropäischen Staaten waren spätestens<br />
seit den 1980er Jahren einer gemeinsamen Währungsunion<br />
zugeneigt, weil sie darin ein adäquates Mittel sahen, im<br />
heftiger werdenden Konkurrenzkampf der Triade bessere<br />
Ausgangsbedingungen zu bekommen. <strong>Die</strong> Vorteile liegen<br />
auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen können die<br />
Konzerne bei einer gemeinsamen Währung innerhalb dieses<br />
Wirtschaftsraums besser kalkulieren. Sie müssen keine<br />
Abwertungen in dem Abnehmerland mehr befürchten und<br />
zumindest zwischen diesen Staaten gibt es dann keinen Devisenverkehr<br />
mehr, der von Markteinflüssen (oder Spekulationen)<br />
gebeutelt werden kann. Und selbst in den südeuropäischen<br />
Ländern wurden deutliche Vorteile erhofft, wenn<br />
nämlich aufgrund der Gemeinschaftswährung diese Staaten<br />
und die dortigen Unternehmen billiger an Kredite kommen<br />
(was ja anfangs auch so eintrat).<br />
Zum anderen bedeutet eine größere Masse an gemeinsamer<br />
Währung mehr Sicherheit für Anleger von außerhalb<br />
der Währungsunion. <strong>Die</strong>se Währung wird <strong>als</strong>o attraktiver,<br />
sie zieht Kapital an und kann ansatzweise die absolute Dominanz<br />
des Dollars <strong>als</strong> internationaler Leitwährung infrage<br />
stellen. Schmidt formulierte das so: „Wir wollen nicht mehr<br />
der Fußball des Dollars sein.“ Eine starke eigene Währung<br />
mit ausreichend internationaler Anerkennung ist nicht mehr<br />
so stark von den Kursschwankungen (vor allem den gezielten<br />
Verbilligungen) des Dollars abhängig 4 .<br />
Der Höhepunkt des Euro-Traums kann in der Mitte des<br />
letzten Jahrzehnts (genauer 2004-2006) angesiedelt werden.<br />
Zum damaligen Zeitpunkt war auch die Triade insgesamt<br />
noch auf dem Höhepunkt ihrer Wirkungsmöglichkeiten.<br />
<strong>Die</strong>se drei Regionen wickelten 85 % des Welthandels ab und<br />
verfügten über 75 % des Bestands an Auslandsinvestitionen.<br />
Seitdem ist die Entwicklung rückläufig, zum einen weil<br />
sich in diesen Regionen die Weltwirtschaftskrise besonders<br />
deutlich auswirkte, zum anderen weil die BRICS-Staaten 5<br />
(vor allem China) zunehmend Marktanteile erobern.<br />
Zu keinem Zeitpunkt jedoch wurde der Euro eine<br />
wirkliche Gefahr für den Dollar <strong>als</strong> Leitwährung. <strong>Die</strong><br />
Vorzüge einer immer liquiden Referenzwährung (die sich<br />
sogar weiteres massives Gelddrucken à la quantitative easing<br />
leisten kann) konnte der Euro, selbst in der Hochphase nicht<br />
erobern, obwohl die EU <strong>als</strong> Wirtschaftsraum größer <strong>als</strong> die<br />
USA ist und allein schon in der Euro-Zone mehr Menschen<br />
leben <strong>als</strong> in den USA.<br />
56 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
Eine Währungsunion ist aber in jedem Fall ein strategischer<br />
Vorteil für exportstarkes Kapital. <strong>Die</strong> deutsche Industrie<br />
hatte dabei von Anfang an die Nase vorne und konnte<br />
extrem stark von dieser Gemeinschaftswährung profitieren.<br />
Das deutsche Kapital ist in sehr vielen Bereichen deutlich<br />
produktiver (d. h. kapitalintensiver, <strong>als</strong>o auf einem höheren<br />
technologischen Stand), sodass in vielen Bereichen die sogenannten<br />
„Mitbewerber“ niederkonkurriert wurden.<br />
Der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands allein gegenüber<br />
der Eurozone beträgt heute (kumuliert) 850 Mrd.<br />
€. Für das Jahr 2011 erzielte die BRD einen Gesamtüberschuss<br />
in der Handelsbilanz (gegenüber der gesamten Welt)<br />
von 170 Mrd. € (das sind 6,6 % des BIP!).<br />
Mit jedem Überschussjahr steigen die Forderungen<br />
deutscher Unternehmen und Privatpersonen gegen das<br />
Ausland. 2000 waren es 67 Mrd. €, 2009 schon 808,9 Mrd.<br />
€. <strong>Die</strong> deutsche Regierung hält nicht zuletzt deswegen am<br />
Euro fest, weil diese Forderungen (trotz, bzw. gerade wegen<br />
Target 2; siehe Kasten) dann großenteils in den Wind zu<br />
schreiben wären.<br />
Krise<br />
Zunächst, nämlich in einer allgemeinen Phase wirtschaftlicher<br />
(Hoch)konjunktur schien die Gesamtrechnung (alle<br />
profitieren vom Euro) auch aufzugehen. Seit 2009 sieht es<br />
aber schon ganz anders aus und die Krise des Euro-Raums<br />
wird sich noch verschärfen. Hierbei ist zu beachten, dass<br />
die Krise des Euros nicht in erster Linie eine Folge der<br />
Austeritätspolitik (Sparpolitik) ist, wie sie vor allem von der<br />
deutschen Regierung hartnäckig eingefordert und auch<br />
durchgesetzt wird. Es liegt vielmehr in der Unmöglichkeit,<br />
eine Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschaft und<br />
ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik zu haben, <strong>als</strong>o an den<br />
fehlenden Möglichkeiten des Ausgleichs zu einer „nationalen“<br />
Profitrate. Der Produktivitätsvorsprung der „nordeuropäischen“<br />
Kapitale (vor allem der deutschen Industrie)<br />
kann auch mit noch so niedrigen Löhnen in Südeuropa<br />
nicht ausgeglichen werden und wird mit einer Währungsunion<br />
zwangsläufig nur ständig ausgebaut 6 .Südeuropa kann<br />
sich ja nicht mehr mit Währungsabwertungen wehren.<br />
Zweifellos verstärkt die Austeritätspolitik die Krise, aber<br />
eine andere Politik (etwa mittels Euro-Bonds) könnte lediglich<br />
Zeit kaufen. An dem grundlegenden Dilemma ließe<br />
sich auch damit nichts ändern. Spätestens seit dem Ausbruch<br />
der Weltwirtschaftskrise im Sommer 2007 ist die Konstruktion<br />
der Währungsunion in Europa zu einer zusätzlichen<br />
Belastung geworden. <strong>Die</strong> Bankenrettungsprogramme<br />
hatten die Wirtschaftskrise in den Staatssektor verlagert.<br />
Was ist Target 2?<br />
Mit „Target 2“ werden Zentralbankoperationen und Überweisungen<br />
im Interbankenverkehr verrechnet. <strong>Die</strong> EZB fungiert<br />
dabei <strong>als</strong> Clearingstelle, aber aufgrund des Exportüberschusses<br />
aus Deutschland addieren sich die Target-Forderungen<br />
Deutschlands gegenüber der EZB, die naturgemäß nur in Euro<br />
beglichen werden können. Geht <strong>als</strong>o ein südeuropäisches Land<br />
bankrott oder bricht der Euro auseinander, ist mit gewaltigen<br />
Verlusten zu rechnen. Bereits Mitte 2012 betrugen die Forderungen<br />
der BRD an die EZB über 730 Mrd. €, <strong>als</strong>o weit mehr <strong>als</strong><br />
die Fortführung der Bankrettung für südeuropäische Banken<br />
kostet. Das erklärt den Meinungsumschwung der deutschen<br />
Bourgeoisie Mitte 2012 in Sachen Griechenlandrettung. Mit<br />
Abstand die größten Schuldner gegenüber der EZB sind Spanien<br />
und Italien.<br />
Welche Rolle hat die EWG?<br />
<strong>Die</strong> Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ist der Ausgangspunkt<br />
der heutigen EU. 1957 wurde sie mit der Unterzeichnung<br />
der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich.<br />
Italien, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland gegründet.<br />
Schon dam<strong>als</strong> drängten vor allem die Beneluxstaaten,<br />
aber auch Deutschland, auf eine größere gemeinsame Wirtschaftseinheit.<br />
1993 wurde die EWG aufgrund erweiterter Funktionen in<br />
Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt. Am 1. Dezember<br />
2009 wurde sie mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in<br />
die EU überführt.<br />
Mit den dadurch vermehrt erforderlichen Staatsanleihen<br />
gibt es jetzt in diesem Bereich vermehrte Anlagemöglichkeiten<br />
für überschüssiges Geldkapital. Und wenn ein Kredit<br />
notleidend wird, springt natürlich der Staat ein – und verschuldet<br />
sich noch mehr.<br />
Das Jahr 2013 könnte zu einem Wendepunkt in der Entwicklung<br />
des Krisenverlaufs und der Politik der verschiedenen<br />
Regierungen werden. Denn bisher hatte Deutschland<br />
zwar sehr stark von der Währungsunion profitiert und<br />
konnte die Folgen der Krise von sich fernhalten. Aber je<br />
mehr Länder davon erfasst werden, desto näher rückt die<br />
Krise an Deutschland heran. Eine Schlüsselstellung dabei<br />
nimmt der Verlauf der Wirtschaftskrise in Frankreich ein,<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 57
<strong>Die</strong> Internationale<br />
das (ökonomisch gesehen) tendenziell eher zu den Südländern<br />
gehört (s. dazu auch den zitierten Beitrag von M.<br />
Husson).<br />
Seit dem Herbst 2012 wird zunehmend deutlich, dass<br />
Frankreich ein sozio-ökonomischer Abstieg droht. Damit<br />
schwindet dann auch endgültig die Basis für die besonders<br />
enge Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland.<br />
<strong>Die</strong>s wird nicht schlagartig zu einer anderen Politik<br />
führen, aber Frankreich wird die von Merkozy betriebene<br />
Politik einfach objektiv nicht mehr in dergleichen Weise<br />
fortführen können und wird sich mehr für eine Vergemeinschaftung<br />
der Schulden starkmachen.<br />
Hiergegen positioniert sich seit dem Sommer 2012 die<br />
deutsche Bundesregierung neu. Im August bereiste Wirtschaftsminister<br />
Rösler einige „nordeuropäische“ Länder<br />
(Finnland, Estland, Niederlande und Polen), um perspektivisch<br />
eine neue Allianz innerhalb der EU zu schmieden.<br />
<strong>Die</strong> Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert dazu aus den<br />
Statements von Rössler:<br />
„<strong>Die</strong> „Idee der Stabilitätsunion“, die Regeln müssten<br />
eingehalten werden, „keine Rabatte auf Reformen“, „keine<br />
Vergemeinschaftung der Haftung“, „feste Überzeugung“,<br />
„Union der Werte“. Ein Satz soll auch entschlossen<br />
klingen, gerät aber etwas defätistisch: Deutschland sei<br />
in diesen Punkten mithin „nicht gänzlich allein“, und<br />
„vor allem die Kraft der Argumente ist auf unserer Seite.“<br />
(FAZ, 18.8.2012)<br />
Das Problem für die deutsche Regierung (genauer: für<br />
das deutsche Kapital) dabei ist: Es gibt keine wirtschaftlich<br />
potenten Bündnispartner für eine Allianz gegen Südeuropa.<br />
Auch die Fortführung der bisherigen Politik wird<br />
immer schwerer zu machen sein. Egal <strong>als</strong>o ob mit Sarkozy<br />
oder mit Hollande: <strong>Die</strong> Bedingungen für eine besondere<br />
Allianz zwischen Frankreich und Deutschland – und damit<br />
eine gemeinsame Politik in Europa – laufen aus.<br />
Nicht nur in dieser Konstellation, auch generell verstärken<br />
sich mit anhaltender Krise die nationalen Interessengegensätze.<br />
<strong>Die</strong> Haltung der britischen Regierung ist<br />
nur der auffälligste Ausdruck, in den Niederlanden regen<br />
sich ähnliche Stimmungen und selbst in Finnland gewinnen<br />
die Gegner eines engeren Zusammenwachsens an<br />
Boden.<br />
Eine weitere Integration (und die Durchsetzung etwa<br />
einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik) rücken damit in<br />
weite Ferne. Daran ändert auch der Fiskalpakt nichts, der<br />
nur die Dominanzambitionen der deutschen Bourgeoisie<br />
zum Ausdruck bringt, nicht aber ein realistisches Szenario<br />
für die nächsten Jahre.<br />
Deutschland kann dies (die „europäische Einigung“)<br />
auch nicht von sich aus alleine bewerkstelligen, denn auch<br />
das starke Deutschland ist nicht in der Lage, die Krisenfolgen<br />
abzumildern. <strong>Die</strong> BRD trägt knapp 27 % zum BIP<br />
der Euro-Zone bei. Das reicht für eine relative Dominanz,<br />
aber nicht für eine absolute. Heute rücken sogar Länder<br />
wie Österreich ein wenig von Deutschland ab (Österreich<br />
favorisiert eine Banklizenz für den ESM; mittels dieser<br />
GröSSenverhältnis Euro zu Dollar<br />
4500<br />
3500<br />
2000<br />
1000<br />
4058<br />
1046<br />
2645<br />
I<br />
2009<br />
4269<br />
1147<br />
2682<br />
II<br />
2009<br />
4439<br />
1239<br />
2729<br />
III<br />
2009<br />
EWS und Euro-Zone<br />
Quart<strong>als</strong>werte in Mrd. Dollar<br />
4562<br />
1255<br />
2833<br />
IV<br />
2009<br />
4635<br />
1264<br />
2859<br />
I<br />
2010<br />
4752<br />
1259<br />
2955<br />
II<br />
2010<br />
4999<br />
1346<br />
2063<br />
III<br />
2010<br />
Das Europäische Währungssystem (EWS) existierte vom 13.<br />
März 1979 bis 31. Dezember 1998 zwischen den Ländern<br />
der Europäischen Gemeinschaft. Kernelement des EWS war<br />
der sogenannte Wechselkursmechanismus (WKM), der die<br />
Wechselkursfluktuationen innerhalb spezifisch festgelegter<br />
Bandbreiten halten sollte.<br />
Am 7.2. 1992 wurde in Maastricht offiziell die Einführung<br />
des Euro beschlossen und zwar auf der Grundlage der dam<strong>als</strong><br />
noch bestehenden Europäischen Wirtschaftsunion (EWU) und<br />
der klaren Festlegung, dass es keine Transfers innerhalb dieses<br />
Wirtschaftsraums geben sollte. D. h., ärmere Länder sollten<br />
nicht gestützt oder deren Wirtschaft geschützt werden. Im<br />
Vertrag von Lissabon (2000) wurde nochm<strong>als</strong> bestätigt, dass<br />
es keine gemeinsame Wirtschaftspolitik und keine sogenannte<br />
„Staatsfinanzierung“ geben solle Am 1.1.1999 startete der<br />
Euro <strong>als</strong> internationales Verrechnungssystem und für die BürgerInnen<br />
wurde er am 1.2.2002 eingeführt.<br />
58 <strong>Inprekorr</strong> 2/2013
<strong>Die</strong> Internationale<br />
Lizenz könnte der ESM Staatsanleihen aufkaufen und sie <strong>als</strong><br />
„Sicherheit“ bei der EZB hinterlegen).<br />
Inzwischen gehen – <strong>als</strong> Folge der anhaltenden Krise in<br />
Südeuropa – die deutschen Exporte in diese Länder zurück<br />
und können gerade noch durch wachsende Exporte in Drittländer<br />
(vor allem in die „Schwellenländer“) ausgeglichen<br />
werden.<br />
Es gibt somit in Europa keine Macht, die mit Wucht eine<br />
andere Politik (eine forcierte „Einigung Europas“ in Richtung<br />
eines Bundesstaates) durchsetzen könnte. Der Euro ist<br />
damit <strong>als</strong> Gegenprojekt zum Dollar gescheitert und damit<br />
schwindet auch die Triebkraft für die Weiterentwicklung<br />
einer besonderen Freundschaft zwischen den beiden Staaten<br />
Frankreich und Deutschland. Anfang 2013 deutet alles darauf<br />
hin, dass in absehbarer Zeit die Krise auch in Deutschland<br />
ankommen wird, einfach weil die Euro-Krise in<br />
Südeuropa nicht lösbar ist, weil sie sich ausdehnen wird und<br />
weil schließlich der Euro selbst auf der Kippe stehen wird.<br />
Scheitert allerdings der Euro, dann wird dies ein absolut<br />
verheerender Rückschlag für das deutsche Kapital und für<br />
die „deutsch-französische Freundschaft“ sein. <strong>Die</strong> deutsche<br />
Währung müsste dann um mindestens 30 % aufgewertet<br />
werden. Damit würden im internationalen Konkurrenzkampf<br />
die Karten neu gemischt, mit klaren Gewinnern, die<br />
heute schon feststehen: andere europäische Länder und vor<br />
allem die Schwellenländer (BRICS-Staaten).<br />
So oder so ist die Tendenz in Europa heute in Richtung<br />
Auseinanderlaufen (aufgrund wachsender Gegensätze der<br />
nationalen Kapitale). Sollte sich dabei die ökonomische Lage<br />
Frankreichs dramatisch verschlechtern, dann ist auch mit<br />
einer deutlichen Zuspitzung der Gegensätze zum Partner<br />
Deutschland zu rechnen.<br />
1 Am fundiertesten wurden diese erklärt in: Ernest Mandel:<br />
<strong>Die</strong> Langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung.<br />
Frankfurt (isp-Verlag, 1983), heute zu beziehen über<br />
www.neuerispverlag.de.<br />
2 Ernest Mandel: Der Sturz des Dollars, Berlin (Verlag Olle &<br />
Wolter), 1973<br />
3 1988 setzten Bundeskanzler Kohl und der französische<br />
Staatspräsident Mitterrand in Ergänzung des Vertrages<br />
Räte für die Abstimmung von Verteidigungsinteressen den<br />
Deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat ein.<br />
4 Außerhalb der 17 offiziellen Euro-Staaten haben z. B.<br />
Bosnien, Bulgarien, Lettland, Litauen, oder etwa eine <strong>ganze</strong><br />
Reihe westafrikanischer Staaten (ehem. franz. Kolonien) ihre<br />
Währung an den Euro gekoppelt.<br />
5 Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika<br />
6 Zu den Hintergründen der Auseinanderentwicklung siehe<br />
auch Michel Husson: Politische Ökonomie des „Euro-Systems“,<br />
in <strong>Inprekorr</strong> 5/2012<br />
Impressum<br />
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Schweiz und unter der politischen Verantwortung<br />
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des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der<br />
Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-<br />
Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung<br />
im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die<br />
Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich<br />
ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe<br />
der Gründe der Nichtaushändigung umgehend<br />
zurückzusenden.<br />
<strong>Inprekorr</strong> 2/2013 59
US-Hubschrauber über der Stadt Sendai (Japan) nach dem Erdbeben/Tsunami 2012 (Foto: Official U.S. Navy Imagery, flickr.com)<br />
Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet<br />
<strong>Die</strong> Vereinigung Europe solidaire sans frontières (ESSF, Solidarisches Europa ohne Grenzen)<br />
hat einen ständigen Solidaritätsfonds für Asien eingerichtet.<br />
Pierre Rousset<br />
•<br />
Seit 2004 organisiert sie Hilfskampagnen für die von<br />
humanitären Katastrophen (Tsunamis, atomarer<br />
Super-GAU) betroffene Bevölkerung. <strong>Die</strong> Gesamtbilanz<br />
dieser gezielten Initiativen ist äußerst positiv.<br />
Daher werden wir sie auch weiterführen, aber die Erfahrung<br />
zeigt, dass sie nicht ausreichen.<br />
Mit der Einrichtung eines Fonds können wir im Notfall<br />
unmittelbar helfen und intervenieren, auch wenn in<br />
unseren Medien das Ereignis nicht thematisiert und eine<br />
spezifische Kampagne daher erschwert wird. Wir können<br />
damit die Basisbewegungen, die vor Ort die Solidaritätsund<br />
Wiederaufbauarbeit leisten, dauerhaft unterstützen<br />
und sie wirksamer gegen mögliche Repressalien schützen.<br />
„Spendenpolitik“ ist auch immer politisch: <strong>Die</strong> Mächtigen<br />
nutzen sie, um ihre Klientel zu bedienen oder um<br />
Privatinteressen durchzusetzen.<br />
Gegen Repression, für autonome Organisierung<br />
Beispielsweise wurden in Nordpakistan Aktivisten, deren<br />
Schuld darin bestand, Opfern von Überschwemmungen<br />
in den Dörfern geholfen zu haben, eingekerkert und<br />
gefoltert. Freigelassen wurden sie erst nach einer langen<br />
Kampagne, die sowohl im Land selbst <strong>als</strong> auch auf internationaler<br />
Ebene geführt wurde. Zwischen 2005 und<br />
2012 hat die ESSF über 77 000 € an Spenden aus einem<br />
guten Dutzend Länder weitergeleitet. <strong>Die</strong>se Hilfe floss an<br />
die ärmste Bevölkerung, damit sie sich autonom organisieren<br />
und ihre Rechte in Notsituationen auch selbst<br />
verteidigen kann. Dabei sind dauerhafte Beziehungen<br />
mit aktiven Bewegungen vor Ort entstand. Durch einen<br />
ständigen Solidaritätsfonds können wir unsere Aktionsfähigkeit<br />
verbessern, doch dafür brauchen wir Eure<br />
Hilfe.<br />
Ein ausführlicher Beitrag findet sich auf der homepage<br />
von ESSF unter http://www.europe-solidaire.org/<br />
spip.php?article27199<br />
n Übersetzung: MiWe<br />
Spenden bitte an:<br />
ESSF<br />
IBAN: FR85 3000 2005 2500 0044 5757 C12<br />
BIC / SWIFT: CRLYFRPP<br />
Crédit lyonnais<br />
Stichwort : Fonds de solidarité Asie