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Die ganze Ausgabe als PDF (1928 K) - Inprekorr

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INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage<br />

▶ Der gegenwärtige Stand<br />

der Krise<br />

▶ Eine neue Weltordnung?<br />

▶ <strong>Die</strong> Entwicklung der<br />

Linken und der Arbeiterbewegung<br />

in Europa<br />

▶ Ein antikapitalistisches<br />

Programm<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die<br />

Zivilisationskrise<br />

Außerdem: Ökologie, Israel/Palästina,<br />

Iran, Pakistan, China ...<br />

Nr. 458/459 Januar/Februar 2010 € 4,–


IMPRESSUM<br />

<strong>Inprekorr</strong> ist das Organ der IV. Internationale<br />

in deutscher Sprache. <strong>Inprekorr</strong><br />

wird herausgegeben von der<br />

deutschen Sektion der IV. Internationale,<br />

von RSB und isl. <strong>Die</strong>s geschieht<br />

in Zusammenarbeit mit GenossInnen<br />

aus Österreich und der Schweiz und<br />

unter der politischen Verantwortung<br />

des Exekutivbüros der IV. Internationale.<br />

<strong>Inprekorr</strong> erscheint zweimonatlich<br />

(6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich<br />

gekennzeichnete Artikel geben nicht<br />

unbedingt die Meinung des herausgebenden<br />

Gremiums wieder.<br />

Konto: Neuer Kurs GmbH,<br />

Postbank Frankfurt/M.<br />

(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604<br />

Abonnements:<br />

Einzelpreis: € 4,–<br />

Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–<br />

Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–<br />

Solidarabo: ab € 30,–<br />

Sozialabo: € 12,–<br />

Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–<br />

Auslandsabo: € 40,–<br />

Website:<br />

http://inprekorr.de<br />

Ökologie<br />

COP 15: Scheitern des Gipfels, Sieg der Basis, Daniel Tanuro............................................3<br />

International<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage, François Sabado............................................................................5<br />

Frauen<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die Zivilisationskrise, IIRE-Frauen-Seminar.............................................14<br />

Israel/Palästina<br />

Ja zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel<br />

Eine Antwort auf Uri Avnery, Michel Warschawski.........................................................21<br />

Iran<br />

Wohin treibt die islamische Republik? Houshang Sepehr...................................................23<br />

Pakistan<br />

Pakistans Frauen leiden am meisten unter dem Klimawandel, Bushra Khaliq...................34<br />

China<br />

Nationalistische Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung, Au Loong-Yu .......37<br />

Nachruf<br />

André Fichaut (<strong>1928</strong>–2009), Jean-Michel Krivine..............................................................50<br />

Ökologie<br />

Systemveränderung – statt Klimawandel! Erklärung der TeilnehmerInnen des<br />

Klimaforum09 in Kopenhagen.........................................................................................52<br />

Redaktion:<br />

Michael Weis (verantw.), Birgit Althaler,<br />

Daniel Berger, Wilfried Dubois,<br />

Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul<br />

Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mertens<br />

E-Mail: Redaktion@inprekorr.de<br />

Satz: Grafikkollektiv Sputnik<br />

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:<br />

<strong>Inprekorr</strong>, Hirtenstaller Weg 34,<br />

25761 Büsum,<br />

E-Mail: vertrieb@inprekorr.de<br />

Kontaktadressen:<br />

RSB,<br />

Revolutionär Sozialistischer Bund<br />

Postfach 10 26 10,<br />

68026 Mannheim<br />

isl, internationale sozialistische linke<br />

Regentenstr. 75–59, D-51063 Köln<br />

SOAL, Sozialistische Alternative<br />

office@soal.at<br />

<strong>Inprekorr</strong>, Güterstr. 122,<br />

CH-4053 Basel<br />

Eigentumsvorbehalt: <strong>Die</strong> Zeitung bleibt<br />

Eigentum des Verlags Neuer Kurs<br />

GmbH, bis sie dem/der Gefangenen<br />

persönlich ausgehändigt ist.<br />

„Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche<br />

Aushändigung im Sinne des<br />

Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeitschrift<br />

dem/der Gefangenen nicht<br />

persönlich ausgehändigt, ist sie dem<br />

Absender unter Angabe der Gründe<br />

der Nichtaushändigung umgehend<br />

zurückzusenden.<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

in der letzten <strong>Ausgabe</strong> hat sich ein bedauerlicher Übersetzungsfehler eingeschlichen,<br />

auf den ein Leser hingewiesen hat. Auf Seite 39 muss es statt „à<br />

la Keynes wie in den ‚glorreichen 30er Jahren‘“ heißen: „die glorreichen 30<br />

Jahre von 1945 bis 1975“.<br />

Aus Platzgründen können wir einige Beiträge – darunter den Entwurf für eine<br />

Resolution des nächsten Weltkongress der IV. Internationale zum Klimawandel<br />

und weitere Nachrufe – nur online veröffentlichen, wir verweisen interessierte<br />

LeserInnen auf die Website (http://www.inprekorr.de).<br />

Eure Redaktion<br />

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:<br />

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507<br />

Postbank Köln (BLZ 370 100 50)<br />

2 inprekorr 458/459


Ökologie<br />

COP 15: Scheitern des Gipfels,<br />

Sieg der Basis<br />

Daniel Tanuro<br />

Es war davon auszugehen, dass die<br />

Gipfelkonferenz der Vereinten Nationen<br />

nicht zu einem neuen internationalen<br />

Vertrag führen würde, sondern zu<br />

einer bloßen Absichtserklärung – einer<br />

mehr. Aber der Text, der am Ende der<br />

Versammlung verabschiedet worden<br />

ist, ist schlimmer <strong>als</strong> alles, was man<br />

sich vorstellen konnte: keine bezifferten<br />

Ziele der Emissionsverringerung,<br />

kein Bezugsjahr für die Messungen,<br />

keine Frist, kein Datum!<br />

Der Text enthält ein vages Versprechen,<br />

dass die Entwicklungsländer für<br />

die Umstellung 100 Milliarden Dollar<br />

pro Jahr erhalten werden, aber die Formulierungen<br />

und verschiedene Kommentare<br />

lassen befürchten, dass es sich<br />

um Anleihen handeln soll, die von den<br />

großen Finanzinstitutionen verwaltet<br />

werden sollen, und nicht um Reparationen,<br />

die von den Verantwortlichen für<br />

die Verschmutzung bezahlt werden.<br />

Das Dokument ist völlig inkohärent.<br />

<strong>Die</strong> Staats- und Regierungschefs<br />

erkennen an, dass „der Klimawandel<br />

eine der größten Herausforderungen<br />

unserer Zeit“ darstellt, aber am Ende<br />

der 15. Konferenz dieser Art sind sie<br />

nach wie vor nicht fähig, irgendeine<br />

konkrete Maßnahme zu ergreifen, um<br />

dem gerecht zu werden. Sie geben zu<br />

(das ist eine Premiere!), dass es notwendig<br />

ist, „unter 2° C“ Temperaturerhöhung<br />

zu bleiben, und dass deshalb<br />

„drastische Verminderungen“ (deep<br />

cuts) der Emissionen „gemäß dem<br />

vierten Bericht des IPCC“ notwendig<br />

sind; sie sind jedoch nicht imstande,<br />

die mit Zahlen versehenen Schlussfolgerungen<br />

der Klimatologen zu übernehmen:<br />

mindestens 40 % Verminderung<br />

bis 2020 und 95 % Verminderung<br />

bis 2050 in den entwickelten Ländern.<br />

Emphatisch betonen sie ihren „starken<br />

politischen Willen“, an der Verwirklichung<br />

dieses Ziels“ (weniger <strong>als</strong> 2° C<br />

Temperaturerhöhung) mitzuarbeiten,<br />

sie haben jedoch nichts mehr anzubieten<br />

<strong>als</strong> ein Luftschloss: Jedes einzelne<br />

Land teilt den anderen bis zum<br />

1. Februar 2010 mit, was es zu tun gedenkt.<br />

Ein Fetzen Papier<br />

<strong>Die</strong> Großen dieser Welt, die in der Falle<br />

des Medien-Hype saßen, den sie selber<br />

angezettelt hatten, standen im Licht der<br />

Scheinwerfer und hatten nichts anderes<br />

vorzuzeigen <strong>als</strong> ihre lumpigen Rivalitäten.<br />

Also haben die Vertretungen von<br />

26 großen Ländern die NGOs hinausgeworfen,<br />

die kleinen Staaten weggeschickt<br />

und am jämmerlichen Ende einen<br />

Text in die Welt gesetzt, dessen<br />

Hauptziel es ist, glauben zu machen,<br />

es säße ein politischer Pilot im Flugzeug.<br />

Es gibt aber keinen Piloten. Oder<br />

vielmehr handelt es sich bei dem einzigen<br />

Piloten um einen automatischen:<br />

die Jagd der kapitalistischen Konzerne,<br />

die im Konkurrenzkrieg um die Weltmärkte<br />

liegen, nach Profit. Der Kandidat<br />

Obama und die Europäische Union<br />

hatten Stein und Bein geschworen,<br />

die Unternehmen würden ihre Emissionsrechte<br />

bezahlen müssen. Nichts da!<br />

<strong>Die</strong> meisten haben sie am Ende kostenlos<br />

bekommen und machen damit Gewinn,<br />

indem sie sie weiterverkaufen<br />

und dem Konsumenten in Rechnung<br />

stellen! Alles Übrige ist für später mal.<br />

Finger weg von der Kohle, so lautet die<br />

Devise.<br />

Das Unvermögen dringt aus allen<br />

Poren dieser sogenannten Vereinbarung.<br />

Unter 2° C bleiben, das geht nicht<br />

per Dekret. Sofern es überhaupt noch<br />

möglich ist, gibt es drastische Bedingungen,<br />

die eingehalten werden müssen.<br />

Dazu gehört definitiv ein geringerer<br />

Energieverbrauch, <strong>als</strong>o weniger<br />

Umwandlung und Transport von Materie.<br />

Es muss weniger für zahlungsfähige<br />

Nachfrage produziert werden. Zugleich<br />

müssen die menschlichen Bedürfnisse<br />

befriedigt werden, vor allem<br />

in den armen Ländern. Wie soll das<br />

geschehen? Das ist die zentrale Frage.<br />

Sie ist nicht so schwer zu beantworten.<br />

Man könnte die Produktion von Waffen<br />

abschaffen, die <strong>Ausgabe</strong>n für Werbung<br />

streichen, auf eine <strong>ganze</strong> Reihe<br />

von unnützen Fabrikaten, Aktivitäten<br />

und Transporten verzichten. Doch dies<br />

würde dem kapitalistischen Produktivismus<br />

und dem Wettlauf um Profit,<br />

der auf Wachstum angewiesen ist, zuwiderlaufen.<br />

Sakrileg! Tabu!<br />

Und das Ergebnis der <strong>ganze</strong>n Veranstaltung?<br />

Während die weltweiten<br />

Emissionen von jetzt bis 2050 um<br />

mindestens 80 % zurückgehen müssen<br />

und während die entwickelten Länder<br />

für über 70 % der Erderwärmung verantwortlich<br />

sind, ist die einzige konkrete<br />

Maßnahme, die in der Vereinbarung<br />

zu finden ist, ein Stopp der Abholzung<br />

…, was nur den Süden betrifft<br />

und 17 % der Emissionen ausmacht.<br />

Ein ökologischer Fortschritt? Nichts<br />

dergleichen! Der „Schutz“ der Tropenwälder<br />

(durch Vertreibung der in ihnen<br />

lebenden Bevölkerung!) ist für die<br />

Verschmutzer das billigste Mittel, um<br />

das Recht auf Weiterproduzieren (von<br />

Waffen, Werbung usw.) und Weiterverschmutzen<br />

zu kaufen …, <strong>als</strong>o durch<br />

die Erwärmung die Wälder weiter zu<br />

zerstören. Auf diese Weise lässt das<br />

Gesetz des Profits alles verderben, was<br />

mit ihm in Berührung kommt, und verwandelt<br />

alles ins Gegenteil.<br />

Sieg der Basis<br />

Glücklicherweise bedeutet Kopenhagen<br />

nicht nur das Scheitern auf der<br />

<strong>ganze</strong>n Linie, sondern auch einen großartigen<br />

Sieg der Basis. Zu der internationalen<br />

Demonstration am Samstag,<br />

den 12. Dezember, sind etwa 100 000<br />

Menschen zusammengekommen. <strong>Die</strong><br />

einzige so große Mobilisierung zu diesem<br />

Thema waren die Demonstrationszüge,<br />

an denen sich im November<br />

2007 in mehreren australischen Städten<br />

200 000 Bürger und Bürgerinnen<br />

inprekorr 458/459 3


Ökologie<br />

beteiligten. Das war aber eine Mobilisierung<br />

in einem Land, das die Auswirkungen<br />

der Erderwärmungen bereits<br />

mit voller Wucht abbekommt; das<br />

ist in den europäischen Ländern, aus<br />

denen die meisten DemonstrantInnen<br />

gekommen sind, (noch) nicht der Fall,<br />

die in der nordeuropäischen Hauptstadt<br />

unter der Losung „Planet first,<br />

people first“ auf die Straße gegangen<br />

sind. In Anbetracht der totalen Unfähigkeit<br />

der Regierungen und in Anbetracht<br />

der Wirtschafts-Lobbies, die<br />

verhindern, dass Maßnahmen zur Stabilisierung<br />

des Klimas in sozialer Gerechtigkeit<br />

ergriffen werden, verstehen<br />

immer mehr EinwohnerInnen, dass die<br />

von den SpezialistInnen angekündigten<br />

Katastrophen nur durch einen radikalen<br />

Politikwechsel verhindert werden<br />

können.<br />

Kopenhagen ist ein Symbol für<br />

diesen Wandel des Bewusstseins. Er<br />

kommt in der Beteiligung von sozialen<br />

Akteuren zum Ausdruck, die sich noch<br />

vor kurzem nicht mit ökologischen<br />

Fragen befasst bzw. ihnen misstrauisch<br />

gegenüber gestanden haben: Frauenorganisationen,<br />

Bauernbewegungen,<br />

Gewerkschaften, Nord-Süd-Solidaritätsorganisationen,<br />

Friedensbewegungen,<br />

globalisierungskritische Verbände<br />

usw. Eine zentrale Rolle spielen<br />

die indigenen Völker, die mit ihrem<br />

Kampf gegen die Zerstörung der Wälder<br />

(unter einem Kräfteverhältnis wie<br />

dem zwischen David und Goliath) sowohl<br />

den Widerstand gegen die Diktatur<br />

des Profits <strong>als</strong> auch die Möglichkeit<br />

eines anderen Verhältnisses zwischen<br />

Menschheit und Natur symbolisieren.<br />

<strong>Die</strong>sen Kräften ist gemeinsam, dass sie<br />

stärker auf kollektives Handeln <strong>als</strong> auf<br />

Lobbyarbeit, die den großen Umweltverbänden<br />

so wichtig ist, setzen. Dass<br />

diese Kräfte nun auf die Bühne treten,<br />

verschiebt den Schwerpunkt radikal.<br />

Von nun an wird sich der Kampf für<br />

einen ökologisch wirkungsvollen und<br />

sozial gerechten internationalen Vertrag<br />

auf der Straße abspielen – nicht<br />

mehr in den Fluren der Gipfelkonferenzen,<br />

und es wird eine gesellschaftliche<br />

Auseinandersetzung sein – nicht<br />

mehr eine Debatte unter Experten und<br />

Expertinnen.<br />

Während der offizielle Gipfel einen<br />

Fetzen Papier zur Welt gebracht<br />

hat, haben die gesellschaftliche Mobilisierung<br />

und der Gegengipfel die politischen<br />

Grundlagen für die Aktivitäten<br />

der nächsten Monate gelegt: „Change<br />

the system, not the climate“, „Planet<br />

not profit“, „bla bla bla Act Now“,<br />

„Nature doesn’t compromise“, „Change<br />

the Politics, not the climate“, „There<br />

is no PLANet B“. Trotz der Grenzen<br />

(vor allem in Bezug auf die Vereinten<br />

Nationen) ist die Erklärung des Klimaforum09<br />

ein gutes Dokument, in dem<br />

der Kohlenwasserstoffhandel, der Klima-Neokolonialismus<br />

und die Kompensation<br />

(„offsetting“) von Emissionen<br />

durch Anpflanzung von Bäumen<br />

oder anderer technischer Humbug<br />

abgelehnt werden. Immer mehr<br />

Menschen verstehen, dass die Beeinträchtigung<br />

des Klimas nicht auf „die<br />

menschliche Tätigkeit“ im Allgemeinen,<br />

sondern auf eine nicht haltbare<br />

Produktionsweise und Art des Konsumierens<br />

zurückgeht. Und sie ziehen<br />

daraus die logische Schlussfolgerung:<br />

<strong>Die</strong> Rettung des Klimas kann nicht<br />

nur von einer Veränderung des individuellen<br />

Verhaltens herrühren, es erfordert<br />

vielmehr tiefgehende strukturelle<br />

Änderungen. Es geht darum, die Jagd<br />

nach Profit auf den Anklagestuhl zu<br />

setzen; denn sie zieht unausweichlich<br />

das exponentielle Wachstum der Produktion,<br />

der Verschwendung und des<br />

Transports von Materie, <strong>als</strong>o Emissionen<br />

nach sich.<br />

Zwei entgegengesetzte<br />

Logiken<br />

Ist das Scheitern des Gipfels eine Katastrophe.<br />

Ganz im Gegenteil, das ist<br />

eine exzellente Nachricht. Denn es ist<br />

an der Zeit, dass die Erpressung aufhört,<br />

wonach im Gegenzug zu weniger<br />

Emissionen angeblich mehr Neoliberalismus,<br />

mehr Markt notwendig<br />

wäre. Eine exzellente Nachricht, weil<br />

der Vertrag, den die Regierungen abschließen<br />

könnten, ökologisch unzureichend,<br />

sozial kriminell und technisch<br />

gefährlich wäre: Er würde ein<br />

Ansteigen der Temperatur um zwischen<br />

3,2 und 4,9° C, ein Ansteigen<br />

des Meeresspiegels der Ozeane um<br />

(mindestens) 60 cm bis 2,9 Meter und<br />

eine Flucht nach vorn in Zauberlehrlings-Technologien<br />

(Atomkraft, Biotreibstoffe,<br />

genmanipulierte Organismen<br />

und „saubere Kohle“ mit geologischer<br />

Lagerung von Milliarden Tonnen<br />

CO 2 ) bedeuten. Hauptsächlich<br />

Hunderte Millionen von Armen wären<br />

die Opfer. Eine exzellente Nachricht,<br />

weil dieses Scheitern die Illusion<br />

verfliegen lässt, die „internationale<br />

Zivilgesellschaft“ könne auf dem Weg<br />

der „good governance“, und indem alle<br />

„stakeholders“ einbezogen werden,<br />

einen Klimakonsens unter den antagonistischen<br />

sozialen Interessen finden.<br />

Es ist höchste Zeit zu begreifen,<br />

dass es für den Ausstieg aus den fossilen<br />

Brennstoffen nur zwei entgegengesetzte<br />

Logiken gibt: eine, die einen<br />

blind von Profit und Konkurrenz gelenkten<br />

Übergang bedeutet und uns<br />

direkt vor die Wand fahren lässt, und<br />

eine, die eine bewusste und demokratische<br />

Planung entsprechend der sozialen<br />

und ökologischen Bedürfnisse,<br />

unabhängig von den Kosten, <strong>als</strong>o bei<br />

Rückgriff auf den öffentlichen Sektor<br />

und Umverteilung des Reichtums, bedeutet.<br />

<strong>Die</strong>ser alternative Weg ist der<br />

einzige, der es ermöglicht, eine Katastrophe<br />

zu vermeiden.<br />

Der König ist nackt. Das System ist<br />

unfähig, auf das gigantische Problem,<br />

das es geschaffen hat, anders zu antworten<br />

<strong>als</strong> durch irreparable Schäden,<br />

die es der Menschheit und der Natur<br />

aufbürdet. Damit das vermieden wird,<br />

stehen breiteste Mobilisierungen an.<br />

Wir alle sind betroffen. <strong>Die</strong> Erwärmung<br />

des Planeten ist weit mehr <strong>als</strong><br />

eine „Umweltfrage“: Sie ist eine enorme<br />

soziale, ökonomische, humane<br />

und ökologische Bedrohung, die objektiv<br />

eine ökosozialistische Alternative<br />

notwendig macht. Der Kapitalismus<br />

<strong>als</strong> System hat seine Grenzen<br />

überschritten. Seine Fähigkeit zu sozialer<br />

und ökologischer Zerstörung<br />

übersteigt sein Fortschrittspotential<br />

deutlich. <strong>Die</strong>se Feststellung sollte dazu<br />

beitragen, dass die Kämpfe für eine<br />

andere Gesellschaft zusammenfließen.<br />

<strong>Die</strong> Demonstranten und Demonstrantinnen<br />

in Kopenhagen haben den Weg<br />

gezeigt. Sie fordern uns auf, sich ihnen<br />

in der Aktion anzuschließen: „Act<br />

now. Planet, not profit. Nature doesn’t<br />

compromise.“<br />

19. Dezember 2009<br />

Aus dem Französischen übersetzt von<br />

Friedrich Dorn.<br />

4 inprekorr 458/459


INTERNATIONAL<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage<br />

Der folgende Bericht steht im Zusammenhang mit den beiden Berichten,<br />

die auf der Sitzung des erweiterten Exekutivbüros am 15.<br />

November 2008 und des Internationalen Komitees vom 21. bis 24.<br />

Februar 2009 gehalten wurden, 1 und wurde auf einer Sitzung des<br />

Exekutivbüros am 17.9.2009 vorgestellt und diskutiert.<br />

François Sabado<br />

1. Der gegenwärtige Stand<br />

der Krise<br />

<strong>Die</strong> internationale Lage wird weiterhin<br />

durch die globale Krise bestimmt,<br />

die <strong>als</strong> kombinierte Wirtschafts-, Gesellschafts-,<br />

Umwelt- und Nahrungsmittelkrise<br />

die kapitalistische Welt<br />

erschüttert. Ungeachtet jeden Geschwätzes<br />

vom „Ende der Rezession“<br />

oder vom „Ausstieg aus der Krise“<br />

bestimmen unverändert grundlegende<br />

Widersprüche den Alltag der<br />

Weltwirtschaft und führen zur Verstetigung<br />

der Krise, massiver Arbeitslosigkeit,<br />

wachsender Armut (mehr <strong>als</strong><br />

eine Milliarde Menschen leben unterhalb<br />

der Armutsschwelle) und drohenden<br />

Umweltkatastrophen von immer<br />

größerem Ausmaß.<br />

Für den Norden Amerikas und für<br />

Europa bedeutet eine solche „kleine<br />

Erholung“ eher eine Verlangsamung<br />

der Krise. Geschuldet ist dies in erster<br />

Linie massiven Staatsinterventionen,<br />

die das internationale Bankensystem<br />

wieder in Gang gebracht haben und<br />

damit auch das erneute Anschwellen<br />

der Spekulationsblase, und den Auswirkungen<br />

sogenannter „sozialer Stabilisatoren“,<br />

d.h. öffentlicher Hilfsund<br />

Sozi<strong>als</strong>icherungsinstrumente, die<br />

v.a. in Westeuropa zum Tragen kamen.<br />

Hinzu kamen Notlösungen wie<br />

die Beihilfen etwa für die Anschaffung<br />

von Autos.<br />

Durch diese massive und z. T. koordinierte<br />

Intervention der Staaten fiel<br />

die Krise auch bisher verhalten aus,<br />

und darin liegt auch der große Unterschied<br />

zur Weltwirtschaftskrise Anfang<br />

der 30er Jahre.<br />

1.2 Das Fortschreiten der Krise<br />

Sobald aber die stimulierende Wirkung<br />

dieser weltweiten staatlichen<br />

Stützungsmaßnahmen verpufft ist,<br />

steht die Wirtschaft erneut vor einer<br />

Reihe konjunktureller und struktureller<br />

Probleme.<br />

Auf kurze Sicht stehen die Staaten<br />

und Regierungen vor einer Explosion<br />

der öffentlichen Verschuldung, und<br />

die Banken haben noch immer keinen<br />

Überblick über den Umfang der „toxischen<br />

Papiere“ in ihren Büchern und<br />

verfügen kaum über saubere Fonds.<br />

Somit gibt es noch mehr toxische<br />

Wertpapiere <strong>als</strong> bisher abgeschrieben<br />

worden sind. Das Zusammenspiel einer<br />

neuerlichen Spekulationsspirale<br />

mit dem Aufkommen neuer toxischer<br />

Wertpapiere kann erneut zu einem<br />

Börsencrash führen mit den entsprechenden<br />

Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft.<br />

Außerdem werden Ar-<br />

1.1 „Ausstieg aus der Krise“?<br />

Analysen über die unmittelbaren konjunkturellen<br />

Entwicklungen der anhaltenden<br />

Krise des globalisierten Kapitalismus<br />

sind mit einer Reihe von<br />

Unsicherheitsfaktoren behaftet. Fest<br />

steht, dass sich die Weltwirtschaftskrise<br />

verlangsamt hat. Nach einer generellen<br />

Rezession, die in den USA und<br />

Europa zu negativen Wachstumsraten<br />

von 3–4 % und weltweit 1–1,5 % geführt<br />

hat, gehen die Vorhersagen des<br />

IWF von einer „leichten Erholung“<br />

mit Wachstumsraten von 3 % aus. <strong>Die</strong>se<br />

Vorhersagen basieren überwiegend<br />

auf einem Wiederaufschwung in<br />

den asiatischen Schwellenländern, der<br />

– freilich nicht unwidersprochen – auf<br />

7 % taxiert wird, während für die USA<br />

ein eher bescheidenes Wachstum von<br />

1,5 % und für die Eurozone gar nur<br />

0,3 % angenommen werden.<br />

1 Der erste der beiden Berichte findet sich auf<br />

Deutsch in <strong>Inprekorr</strong> 446/7 („<strong>Die</strong> Folgen der<br />

Krise“)<br />

Durch die massive Intervention der Staaten fiel die Krise bisher verhalten aus, und darin liegt<br />

auch der große Unterschied zur Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre.<br />

inprekorr 458/459 5


INTERNATIONAL<br />

beitslosigkeit und Prekarisierung mit<br />

all ihren verheerenden sozialen Konsequenzen<br />

weiter zunehmen und die<br />

sozialen Kräfteverhältnisse belasten.<br />

In struktureller Hinsicht bleibt die<br />

Lage paradox: Einerseits steckt das<br />

neoliberale System in einer ideologischen<br />

Krise, andererseits wird weiterhin<br />

in großen Zügen kapitalistische<br />

Politik betrieben und werden die gleichen<br />

Widersprüche reproduziert. Das<br />

Ausmaß der Krise zwingt die herrschenden<br />

Klassen zu einer neuen Offensive<br />

gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

von Millionen von<br />

ArbeiterInnen.<br />

1.3 <strong>Die</strong> Vertiefung der Widersprüche<br />

der neoliberalen Akkumulationsweise<br />

Ende der 70er Jahre setzte sich eine<br />

neue kapitalistische Akkumulationsweise<br />

durch, um die in den 60er und<br />

70er Jahren gefallene Profitrate wiederherzustellen.<br />

Nachdem die ArbeiterInnen<br />

eine Reihe von Niederlagen erlitten<br />

hatten, war es möglich, den Anteil<br />

der Löhne am Mehrwert zu senken,<br />

die Ausbeutungsrate unter verschärften<br />

Bedingungen zu erhöhen,<br />

die Privatisierung der öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nste zu verallgemeinern, die Deregulierung<br />

der sozialen Verhältnisse<br />

durchzusetzen, die öffentlichen <strong>Ausgabe</strong>n<br />

zu kürzen und die strukturellen<br />

Anpassungspläne in den Entwicklungsländern<br />

aufzuzwingen. All dies<br />

geschah vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />

der Märkte und der Schaffung<br />

und schrittweisen Vereinheitlichung<br />

eines internationalen Marktes<br />

der Arbeitskraft, auf dem die ArbeiterInnen<br />

untereinander konkurrieren.<br />

Dadurch wuchsen die Profite, aber<br />

nicht die Investitionen in die Produktion,<br />

wie alle Statistiken belegen. Stattdessen<br />

strebten diese Profite nach rentableren<br />

Anlagen und somit in die Finanzprodukte.<br />

Daher rührt auch der<br />

industrielle Verfall <strong>ganze</strong>r Sektoren<br />

und Regionen im Norden Amerikas<br />

und in Europa, mitunter einhergehend<br />

mit der Verlagerung vorwiegend nach<br />

Asien und besonders nach China, das<br />

inzwischen zur „Werkstatt der Welt“<br />

geworden ist. Damit verallgemeinerte<br />

sich die Hoheit des Finanzsystems in<br />

der Weltwirtschaft, und das bereits<br />

vorhandene „fiktive Kapital“ wuchs<br />

ins Unendliche. Auf diesem Wege<br />

wurden zugleich in den Zentren der<br />

Weltwirtschaft, den USA und Europa,<br />

geeignete Instrumente geschaffen, die<br />

eine wachsende öffentliche und private<br />

Verschuldung erlaubten.<br />

Und eben diese Strategie öffentlicher<br />

und privater Verschuldung<br />

konnte eine Zeit lang diese Verzerrungen<br />

kompensieren – bis zum Ausbruch<br />

der Krise. <strong>Die</strong> Verschuldung der<br />

Haushalte ermöglichte einen ungebrochenen<br />

Konsum trotz sinkender Löhne.<br />

<strong>Die</strong> Verschuldung der fortgeschrittenen<br />

kapitalistischen Länder – allen<br />

voran der USA – sicherte ihnen eine<br />

Existenz auf Pump trotz schwindender<br />

industrieller Basis. <strong>Die</strong> weltweite Krise<br />

wurde durch die Verschuldung aufgeschoben<br />

… bis 2007/8.<br />

Zuletzt hatten sich diese Instrumente<br />

verbraucht durch eine massive<br />

Entwertung der Vermögenswerte oder<br />

der produktiven Sektoren infolge von<br />

Pleiten und Umstrukturierungen von<br />

Banken, Entlassungen und Unternehmensschließungen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>ganze</strong> Entwicklung der Krise<br />

und ihrer Mechanismen bestätigt einmal<br />

mehr, dass es sich nicht um eine<br />

bloße Finanz- oder Bankenkrise handelt,<br />

sondern um eine globale Krise<br />

des kapitalistischen Systems infolge<br />

des Verfalls aller Instrumente, die Ende<br />

der 70er und Anfang der 80er Jahre<br />

zur Wiederherstellung der Profitrate<br />

geschaffen worden waren.<br />

1.4 Eine neue Offensive des Kapit<strong>als</strong>:<br />

„Alles wie gehabt, jedenfalls<br />

beinahe und vielleicht<br />

noch schlimmer“<br />

Während einer Krise spitzt sich der<br />

Konflikt zwischen Arbeit und Kapital<br />

zu. Für die herrschenden Klassen geht<br />

es darum, die Krise im Griff zu halten<br />

und dabei die Interessen des Kapit<strong>als</strong><br />

und besonders des Finanzkapit<strong>als</strong><br />

zu wahren. Obwohl das System<br />

nicht mehr wie zuvor funktionieren<br />

kann, zwingt die Wahrung der kapitalistischen<br />

Interessen die Regierungen,<br />

dieselbe Politik zu betreiben und dabei<br />

sogar noch weiter zu gehen.<br />

Sicherlich sind im Rahmen des<br />

G20-Gipfels Initiativen proklamiert<br />

worden, die die Steuerparadiese „kontrollieren“<br />

und die Funktionsweise<br />

des Bankensystems „eingrenzen“ sollen,<br />

um die Mittel des IWF zu „mehren“,<br />

bankrotte Länder wirtschaftlich<br />

wieder auf die Beine zu stellen. Insofern<br />

hat die Wirtschaftskrise zu einer<br />

Legitimationskrise des Systems geführt<br />

und Schön-Wetter-Redner auf<br />

den Plan gerufen, die den Kapitalismus<br />

auf eine „moralische Grundlage<br />

stellen“ wollen. Aber zwischen Wollen<br />

und Handeln liegen Welten.<br />

<strong>Die</strong> Banken haben von der Krise<br />

und den öffentlichen Beihilfen insofern<br />

profitiert, <strong>als</strong> sie ihre Gewinne zu<br />

Lasten der Kreditgewährung, die eigentlich<br />

Ziel der öffentlichen Hilfen<br />

war, weiter gemehrt haben. <strong>Die</strong> Banker<br />

bedienen sich dabei derselben Methoden<br />

wie zuvor (Finanzprodukte,<br />

Rohstoffe und rohstoffgebundene Devisen)<br />

und setzen damit eine neue Spekulationsspirale<br />

in Gang.<br />

Letztlich gilt das Bestreben der<br />

Kapitalisten in der gegenwärtigen Krise,<br />

die sozialen und demokratischen<br />

Rechte weiter einzuengen, um die<br />

Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu<br />

mehren und in Ruhe weiter Coupons<br />

schneiden zu können. Hierbei helfen<br />

ihnen die Regierungen der kapitalistischen<br />

Länder, deren Politik darauf<br />

ausgerichtet ist, die Lasten der Krise<br />

auf die ArbeiterInnen und (unterdrückte)<br />

Völker abzuwälzen:<br />

• <strong>Die</strong> sprunghaft gestiegene Verschuldung<br />

wird durch Steuererhöhungen<br />

und Minderung der öffentlichen<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finanziert werden.<br />

<strong>Die</strong> einfache Bevölkerung wird<br />

in beiden Fällen der Leidtragende<br />

sein.<br />

• <strong>Die</strong> Umstrukturierungen der Großkonzerne<br />

wird mit Millionen von<br />

Arbeitslosen, zunehmender Prekarisierung<br />

und Ausweitung der Flexibilisierung<br />

jedweder Form einhergehen.<br />

<strong>Die</strong> Frauen werden von<br />

der Krise besonders betroffen<br />

sein. Nach Angaben der ILO werden<br />

22 Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz<br />

verlieren. Sie sind die ersten,<br />

die von den massiven Entlassungen<br />

im <strong>Die</strong>nstleistungs-, Gesundheits-<br />

und Bekleidungsgewerbe<br />

erfasst werden. Ausschulung,<br />

Arbeitsplatzverlust und Verarmung<br />

drohen den Frauen <strong>als</strong> vordersten<br />

Opfern der weltweiten Rezession.<br />

<strong>Die</strong> Krise dient dazu, die Kosten zu<br />

senken, die Produktivität zu mehren,<br />

Arbeitsabläufe zu „optimieren“<br />

und die Märkte neu zu gestalten.<br />

Von 2006 börsennotierten europäischen<br />

Unternehmen haben 126<br />

6 inprekorr 458/459


INTERNATIONAL<br />

insgesamt 146 Sozialpläne zwischen<br />

Januar 2007 und März 2009<br />

ausgesprochen. <strong>Die</strong> Prognosen für<br />

die OECD-Länder belaufen sich<br />

auf ca. 25 Millionen Arbeitslose für<br />

2009 und 2010.<br />

• Der Druck auf die Löhne bleibt ungemein<br />

hoch. <strong>Die</strong> „Konjunkturmaßnahmen“<br />

beliefen sich überwiegend<br />

auf Banken- und Investitionsbeihilfen,<br />

d.h. zugunsten der Unternehmen<br />

und nicht der Lohnerhöhungen.<br />

In manchen Sektoren oder<br />

Ländern gibt es sogar vereinte politische<br />

Bestrebungen zur Lohnsenkung,<br />

wie im Öffentlichen <strong>Die</strong>nst<br />

in den baltischen Ländern oder in<br />

Rumänien und in Island.<br />

• <strong>Die</strong> Privatisierungen werden aufrecht<br />

erhalten, abgesehen von wenigen<br />

Ausnahmen wie der Sozialversicherung<br />

in Argentinien oder<br />

der Post in Japan.<br />

<strong>Die</strong> Steuerparadiese, die die USA und Europa in einigen Ländern und Fürstentümern sprießen<br />

lassen, müssen abgeschafft werden.<br />

Damit sind gut ein Jahr nach Ausbruch<br />

der Krise zugleich alle Diskussionen<br />

über mögliche Konjunkturprogramme<br />

à la Keynes obsolet, was eine<br />

Belebung der Nachfrage durch<br />

Lohnerhöhungen, Ausbau des Öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nstes und der sozialen Absicherung<br />

bedeutet hätte. <strong>Die</strong> Kontrolle<br />

über die englischen Banken ist<br />

weit von dem Verstaatlichungsprozess<br />

nach 1945 entfernt. Es gab wohl staatliche<br />

Interventionen – ein „neoliberaler<br />

Etatismus“ – um die Kapitalinteressen<br />

angesichts der Krise zu wahren,<br />

aber keine globale neokeynesianische<br />

Politik, die unter den aktuellen<br />

Bedingungen und Kräfteverhältnissen<br />

zwischen den Klassen für die herrschenden<br />

Klassen auch gar nicht zur<br />

Diskussion steht.<br />

<strong>Die</strong> Aussicht, die Profitraten nach<br />

der Krise wieder herzustellen, veranlasst<br />

unter den gegebenen gesellschaftlichen<br />

und politischen Kräfteverhältnissen<br />

die Industriekapitäne<br />

und die Hochfinanz dazu, den<br />

Druck auf die ArbeiterInnen zu erhöhen<br />

und die gesamte Produktion<br />

und Wirtschaftsorganisation dem<br />

Streben nach immer höheren Profiten<br />

unterzuordnen. <strong>Die</strong> Jagd nach immer<br />

höherer Rentabilität für das Kapital<br />

führt zwangsläufig zu Lohnsenkung,<br />

sprunghaftem Anstieg der Prekarität,<br />

Abbau öffentlicher <strong>Die</strong>nste<br />

und zur Ausrichtung der Wirtschaft<br />

auf Kommerzialisierung und Finanzmärkte.<br />

<strong>Die</strong>se Logik widerspricht der<br />

Befriedigung der gesellschaftlichen<br />

Bedürfnisse. Und dieser Widerspruch<br />

begründet unseren Antikapitalismus.<br />

<strong>Die</strong> Abkehr von dieser Logik erfordert<br />

nicht nur den Kampf für eine<br />

Umverteilung der Reichtümer zugunsten<br />

der einfachen Bevölkerung, sondern<br />

auch die Infragestellung des kapitalistischen<br />

Eigentums, um die Logik<br />

der Profite durch eine Logik der<br />

sozialen Bedürfnisse zu ersetzen.<br />

1.5 <strong>Die</strong> kapitalistische Antwort auf<br />

die Umweltkrise<br />

In diesem Rahmen ist auch die Umweltkrise<br />

zu betrachten. Und durch<br />

das Zusammenwirken von Wirtschafts-<br />

und Umweltkrise wird die aktuelle<br />

Krise zu einer regelrechten „Zivilisationskrise“.<br />

Hinzu kommt, dass<br />

die mit dem Klimawandel verbundenen<br />

Probleme der Umweltkrise eine<br />

besonders dringliche Brisanz verleihen.<br />

<strong>Die</strong> Wissenschaft ist sich darin<br />

einig, dass die Treibhausgase bis 2050<br />

um 50–80 % reduziert werden müssen,<br />

wenn man nicht die Gefahrenschwelle<br />

überschreiten will, die mit einer Temperaturerhöhung<br />

um 1,5 °C für dieses<br />

Jahrhundert angenommen wird. <strong>Die</strong><br />

„3 x 20 %“-Klausel, die sich die EU<br />

bis 2020 zum Ziel gesetzt hat, nämlich<br />

20 % weniger CO 2<br />

, 20 % mehr Energieeffizienz<br />

und 20 % mehr erneuerbare<br />

Energien, bleibt hinter den Erfordernissen<br />

zurück, die der Weltklimarat<br />

aufgestellt hat.<br />

• Der sog. „grüne Kapitalismus“<br />

will lediglich zwei Fliegen mit einer<br />

Klappe schlagen: die Kosten für<br />

den Umweltschutz und damit das<br />

Staatsdefizit unter dem Deckmantel<br />

der Umweltsteuer auf die kleinen<br />

Leuten durch sog. „Umweltsteuern“<br />

abwälzen und dabei die Großkonzerne<br />

aus ihrer Verantwortung<br />

entlassen; und zweitens neue Märkte<br />

kreieren, namentlich für Emissionsrechte.<br />

Aber die Umweltkrise<br />

zu lösen ist unter kapitalistischen<br />

Bedingungen nicht möglich, da die<br />

Jagd nach Profiten das Kapital immer<br />

untereinander in Konkurrenz<br />

zwingen wird und somit eine mitteloder<br />

langfristige Kooperation (zugunsten<br />

eines Ziels) nicht mit der<br />

Marktlogik vereinbar ist. Eine effizientere<br />

Nutzung der Energie setzt<br />

nicht nur einen geringeren Energie-<br />

inprekorr 458/459 7


INTERNATIONAL<br />

verbrauch, eine Konversion <strong>ganze</strong>r<br />

Industriezweige und die Ersetzung<br />

fossiler Energieträger durch erneuerbare<br />

voraus, sondern eine Neuorganisation<br />

des gesamten Produktionssystems,<br />

was nur unter koordinierten<br />

und geplanten Bedingungen<br />

machbar ist, d. h. in einem System<br />

öffentlichen und gesellschaftlichen<br />

Eigentums und nicht im Rahmen<br />

des Privatbesitzes der wichtigsten<br />

Wirtschaftszweige.<br />

• Das Zusammenfallen von Wirtschafts-<br />

und Umweltkrise wird die<br />

Nahrungsmittelkrise auf der <strong>ganze</strong>n<br />

Welt und besonders in Afrika noch<br />

weiter verschärfen. Drei Milliarden<br />

Menschen können sich heutzutage<br />

nicht satt essen, wovon zwei Milliarden<br />

an Unterernährung und eine<br />

Milliarde an Hunger leiden.<br />

<strong>Die</strong> Zerstörung der Landwirtschaft<br />

durch Agrarexporte, die Spekulation<br />

auf die Rohstoffpreise, der Aufkauf<br />

von zigtausend Hektar Land<br />

in Afrika und Lateinamerika durch<br />

Staaten wie China, Saudi-Arabien<br />

oder Südkorea erschweren zusehends<br />

die Nahrungsmittelproduktion<br />

vor Ort und verschlimmern die<br />

Lebensbedingungen von Millionen<br />

von Bauern und Menschen, die zu<br />

75 % von der Landwirtschaft leben<br />

und somit ihre Arbeit verlieren.<br />

Statt diese existentiellen Probleme<br />

anzugehen, die Ungleichgewichte<br />

zu überwinden und mehr Gleichheit<br />

zu schaffen, verschlimmert die<br />

Nahrungsmittelkrise die aktuelle<br />

Lage noch weiter.<br />

• Man kann diese Krise getrost <strong>als</strong><br />

dauerhaft bezeichnen, ohne deswegen<br />

in Katastrophismus zu verfallen.<br />

Dabei sollte man stets vor Augen<br />

haben, dass es für den Kapitalismus<br />

keine ausweglose Situation<br />

gibt, solange nicht ausreichend<br />

starke soziale und politische Kräfte<br />

vorhanden sind, die das System<br />

stürzen können. Der Kapitalismus<br />

kann weiterhin funktionieren, bloß<br />

eben unter zunehmend unerträglichen<br />

wirtschaftlichen, sozialen,<br />

ökologischen und menschlichen<br />

Kosten. Wenn wir von einer „Zivilisationskrise“<br />

sprechen, dann tragen<br />

wir nur dem Umstand Rechnung,<br />

dass das System historisch<br />

am Ende ist.<br />

2. Eine neue Weltordnung?<br />

<strong>Die</strong> Krise fällt zusammen mit einer<br />

weltweiten Umwälzung und gibt die<br />

neuen Kräfteverhältnisse zwischen<br />

den Klassen und Staaten auf globaler<br />

Ebene wieder. Zugleich zeigen sich<br />

allerorten die Bestrebungen, die „Welt<br />

der Krise“ neu aufzustellen.<br />

2.1 Der Niedergang der US-Hegemonie<br />

– Realität und Grenzen<br />

Das wichtigste Anliegen ist die Demonstration<br />

wiedergefundener Stärke<br />

der USA nach dem Sieg Obamas. Darin<br />

liegt zugleich eine(s) der Gründe und<br />

Motive für die Wahl Obamas: das Ruder<br />

der Weltpolitik wieder in die Hand<br />

zu nehmen, auch wenn dies nicht frei<br />

von Friktionen ablaufen kann, hauptsächlich<br />

in Zusammenhang mit der<br />

Wirtschaftskrise (Gesundheitsreform,<br />

industrielle Umstrukturierungen). Insofern<br />

werden die Verhältnisse wieder<br />

gerade gerückt, was den „unvermeidlichen<br />

Niedergang“ der US-Hegemonie<br />

anlangt. Durch die Krise ist deren<br />

Stand geschwächt worden. Tatsächlich<br />

jedoch war sie schon vorher angeschlagen<br />

aufgrund der schwindenden<br />

industriellen Basis und der Staatsverschuldung.<br />

Trotzdem kommt den USA<br />

weiterhin eine führende Rolle in den<br />

weltweiten Beziehungen zu:<br />

In militärpolitischer Hinsicht haben<br />

sie weiterhin eine totale Vormachtstellung<br />

trotz des Engagements<br />

westlicher Truppen in Afghanistan<br />

und Irak. Mehr denn je bildet die Nato<br />

unter Führung der USA den militärischen<br />

Arm der Westmächte zur Sicherung<br />

der Weltherrschaft. Nachdem<br />

die US-Regierung in Lateinamerika<br />

mit der Schaffung der Freihandelszone<br />

ALCA politisch gescheitert war,<br />

hat sie auf dem Gipfel von Trinidad<br />

erneut die Initiative zur Öffnung der<br />

Märkte auf dem Kontinent ergriffen.<br />

Ebenso zeugen der Putsch in Honduras<br />

und die Wiederbelebung der Militärbasen<br />

in Kolumbien von diesem<br />

Streben nach militärpolitischer Hegemonie<br />

auf dem Kontinent.<br />

Auf dem Wirtschaftssektor kommt<br />

der USA aufgrund ihres riesigen Binnenmarktes<br />

weiterhin ein erheblicher<br />

Anteil am weltweiten BIP (ca. 25 %)<br />

zu, auch wenn dieser Anteil seit einigen<br />

Jahren kontinuierlich zurückgeht.<br />

Auf dem Finanz- und Währungssektor<br />

gilt der Dollar weiterhin <strong>als</strong><br />

führende internationale Währung. Er<br />

mag schwächeln und durch andere<br />

Währungen mit entsprechenden Neigungen<br />

oder das Gold <strong>als</strong> „Fluchtwert“<br />

bedrängt werden, bleibt aber trotzdem<br />

die internationale Leitwährung. <strong>Die</strong><br />

US-Regierung steht hierin vor einem<br />

Dilemma: Stützt sie den Kurs, was besonders<br />

die chinesischen Eigner von<br />

Obligationen und Schatzbriefen in der<br />

US-Währung fordern, dann schwächt<br />

sie den US-Exportsektor; setzt sie auf<br />

eine vergleichsweise Abwertung, um<br />

die Konkurrenzfähigkeit der US-Industrie<br />

zu stützen, gehen der Dollar<br />

und damit die entsprechenden Vermögenswerte<br />

bergab. Aber trotz der Abschwächung<br />

der wirtschaftlichen Position<br />

der USA im Weltmaßstab muss<br />

man feststellen, dass der Dollar stabil<br />

ist.<br />

2.2 China und die wichtigsten<br />

Schwellenländer<br />

Trotz der Dominanz der USA darf<br />

der Aufstieg der sog. BRIC-Staaten<br />

(Brasilien, Russland, Indien und –<br />

besonders – China) <strong>als</strong> Wirtschaftsmacht<br />

nicht außer Acht gelassen werden.<br />

Gerade Chinas Anteil am weltweiten<br />

BIP steigt kontinuierlich. <strong>Die</strong><br />

dortigen Wachstumsraten liegen zwischen<br />

6 % in Zeiten der weltweiten<br />

Rezession und 10 % in Zeiten internationalen<br />

wirtschaftlichen Aufschwungs.<br />

China hat die USA nicht<br />

verdrängt. <strong>Die</strong> Entkopplungsthese,<br />

wonach Chinas Wirtschaft weiter<br />

boomt, während die imperialistischen<br />

Metropolen kriseln, hat sich nicht bestätigt.<br />

China hat die Folgen der Krise<br />

auch zu spüren bekommen, ist aber<br />

darunter nicht zusammengebrochen.<br />

<strong>Die</strong> künftige Rolle der chinesischen<br />

Wirtschaft im Weltmaßstab wird<br />

von ihrer Fähigkeit abhängen, einen<br />

Binnenmarkt zu schaffen, ein soziales<br />

Sicherungssystem zu errichten<br />

und die Nachfrage durch Lohnerhöhungen<br />

zu stimulieren. Solange diese<br />

Bedingungen nicht erfüllt sind, wird<br />

die weitere Entwicklung Chinas gebremst<br />

werden. <strong>Die</strong> Mühlen der Bürokratie,<br />

die rasant zunehmende Korruption<br />

und die ungeheure Ausbeutung<br />

der WanderarbeiterInnen lasten<br />

schwer auf der Binnennachfrage. Im<br />

Weltmaßstab sind die Beziehungen<br />

zwischen China und den USA durch<br />

den Dualismus von Kooperation und<br />

Konkurrenz geprägt, was für die an-<br />

8 inprekorr 458/459


INTERNATIONAL<br />

deren US-Partner genau so gilt. Zur<br />

Zeit überwiegt die Kooperation.<br />

In diesem multipolaren Rahmen<br />

ist auch die Beziehung zu Brasilien zu<br />

werten, das zu einer neuen imperialistischen<br />

Macht geworden ist. Bereits<br />

in den 60er Jahren wurde von einem<br />

Subimperialismus in Bezug auf Brasilien<br />

gesprochen, einem Imperialismus<br />

zwar, aber <strong>als</strong> zweitrangige und<br />

dem US-Imperialismus untergeordnete<br />

Macht. Inzwischen kann man<br />

zwar weiterhin von Zweitrangigkeit<br />

sprechen, aber nicht mehr von Unterordnung.<br />

Auf wirtschaftlichem, finanziellem,<br />

sozialem, territorialem, energiepolitischem<br />

und militärischem Gebiet<br />

ist Brasilien nicht nur zu einem<br />

angebundenen Partner, sondern auch<br />

zu einem Konkurrenten und Rivalen<br />

des US-Imperialismus – besonders innerhalb<br />

Lateinamerikas – geworden.<br />

Innerhalb dieser ambivalenten Beziehung<br />

werden die USA ihre Schwachstellen<br />

in Bezug auf den internationalen<br />

Wettbewerb durch ihre militärpolitische<br />

Hegemonie kompensieren.<br />

2.3 Afghanistan, Irak, Palästina:<br />

die Zentren militärischer Spannungen<br />

in der Welt<br />

In diesen Ländern geht es um strategische<br />

Fragen, die für die US-Regierung<br />

eminent wichtig sind, konkret um<br />

die weltweite militärische Vormachtstellung<br />

der USA. Mit einer Niederlage<br />

dort würde das gesamte internationale<br />

Kräfteverhältnis aus den Fugen<br />

geraten. Hierin liegt auch der Grund,<br />

weswegen trotz aller inter-imperialistischer<br />

Widersprüche während des<br />

Irak-Kriegs alle Westmächte auf die<br />

Position des US-Imperialismus eingeschwenkt<br />

sind. In diesem Sinn ist<br />

auch die unlängst erfolgte Reintegration<br />

Frankreichs unter das Kommando<br />

der Nato zu interpretieren. Der G20-<br />

Gipfel in Straßburg im April 2009 rundet<br />

diese Entwicklung noch ab. Zugleich<br />

versuchen die USA, Russland<br />

und China in eine neutrale Position zu<br />

bringen, indem sie die geplante Aufstellung<br />

von Raketen in Osteuropa auf<br />

Eis legen.<br />

<strong>Die</strong> seit Obamas Wahl verfolgte<br />

politische Neuausrichtung der USA<br />

lässt sich ganz gut anhand der Politik<br />

in dieser Region verfolgen. Einerseits<br />

demonstriert man nach außen hin Offenheit<br />

in politischen Fragen, lobt den<br />

Beitrag, den die arabische Zivilisation<br />

Am Anfang der Krise herrscht große Beunruhigung, und die Angst um die Arbeitsplätze lastet<br />

auf der Kampfbereitschaft der großen Masse der ArbeiterInnen.<br />

für die Welt geleistet hat, erklärt sich<br />

„gesprächsbereit“ mit dem Iran und<br />

macht Druck bei der israelischen Regierung,<br />

um die Siedlungsbauten der<br />

Zionisten auf palästinensischem Boden<br />

zu bremsen. Faktisch jedoch wird<br />

der Druck auf den Iran drastisch erhöht,<br />

zieht sich der Rückzug der US-<br />

Truppen aus dem Irak in die Länge,<br />

verdoppelt sich der Militäreinsatz<br />

beim imperialistischen Krieg in Afghanistan<br />

und lässt man der Regierung<br />

Netanyahu in Israel freie Hand.<br />

Es gibt vielfältige Gründe für die<br />

imperialistische Intervention in dieser<br />

Region: die Kontrolle über die natürlichen<br />

Ressourcen (an erster Stelle<br />

das Erdöl) oder die geostrategische<br />

Präsenz an den Grenzen zu Russland,<br />

Indien und China … .Das zentrale Anliegen<br />

bei diesen Konflikten ist jedoch,<br />

dass die USA weiterhin ihre militärische<br />

Hegemonie aufrecht erhalten<br />

und festigen wollen. Daher ist die<br />

Forderung nach einem Truppenrückzug<br />

aus dem Irak und Afghanistan<br />

grundlegend für die Wahrung der Völkerrechte<br />

und die strategische Schwächung<br />

der imperialistischen Mächte.<br />

Insofern verteidigen wir auch mehr<br />

denn je und nach den Ereignissen in<br />

Gaza erst recht die Rechte des palästinensischen<br />

Volkes – den sofortigen<br />

Siedlungsstopp, den Rückzug Israels<br />

aus den seit 1967 besetzten Gebieten,<br />

das Rückkehrrecht der PalästinenserInnen<br />

und eine „Auflösung des<br />

zionistischen Staates zugunsten einer<br />

politischen Lösung, in der alle Völker<br />

Palästinas (Palästinenser und israelische<br />

Juden) bei völliger Gleichheit<br />

der Rechte zusammenleben können“<br />

(Resolution des IK vom Februar<br />

2009). Von daher beteiligen wir uns<br />

an der internationalen Solidaritätskampagne<br />

mit dem palästinensischen<br />

Volk und an dem Aufruf zu Boykott,<br />

Desinvestition und Sanktionen (BDS).<br />

Ebenso wehren wir uns gegen die imperialistische<br />

Bedrohung des Irans,<br />

wobei wir keineswegs das Regime von<br />

Ahmadinedschad unterstützen sondern<br />

uns vielmehr aktiv solidarisieren<br />

mit den Mobilisierungen von Millionen<br />

von IranerInnen, die für Demokratie<br />

und gegen die Diktatur des Regimes<br />

kämpfen. Auch hier gilt für uns<br />

der gleiche Maßstab wie in allen Auseinandersetzungen,<br />

dass wir die Interessen<br />

und Kämpfe der Unterdrückten<br />

und ihre sozialen und demokratischen<br />

Rechte verteidigen.<br />

2.3 Neue Konfrontationen in Lateinamerika<br />

Der soziale Widerstand gegen Neoliberalismus<br />

und imperialistische Angriffe<br />

ist auf diesem Kontinent am weitesten<br />

vorangeschritten. Immer wieder<br />

kommt es dort zu sozialen Erschütterungen<br />

und Kämpfen, wie die Krise<br />

in Honduras unlängst zeigte, <strong>als</strong> dort<br />

inprekorr 458/459 9


INTERNATIONAL<br />

Morales kann sich auf auf die Massenbewegungen stützen.<br />

erstm<strong>als</strong> seit fünfzig Jahren eine breite<br />

Oppositionsbewegung in der Bevölkerung<br />

gegen den Militärputsch entstand.<br />

Der soziale und politische Widerstand<br />

in diesen Ländern ist vielfältig:<br />

streikende ArbeiterInnen in Venezuela,<br />

Argentinien und Bolivien, antiimperialistische<br />

Massenbewegungen<br />

in Ecuador und Venezuela oder die<br />

Kämpfe der Ureinwohner in den Andenländern<br />

und in Mittelamerika. Gerade<br />

in dieser Frage entsteht eine neue<br />

Dynamik. Zu Hunderten und Tausenden<br />

erheben sich die Indianer, um ihr<br />

Land, ihre natürlichen Ressourcen und<br />

ihren Lebensstil gegen die Angriffe der<br />

multinationalen Konzerne und räuberischen<br />

Staaten zu verteidigen. Gerade<br />

ihr Beharren auf der Balance zwischen<br />

Mensch und Natur kann zu einem Beispiel<br />

werden im Kampf um die Verteidigung<br />

des „Gemeinwohls“ und für ein<br />

„besseres Leben“. Andererseits bleiben<br />

die herrschenden Klassen nicht untätig<br />

angesichts dieser Ereignisse: sei es,<br />

dass sie die Konfrontation mit den sozialen<br />

Bewegungen suchen wie in Mexiko,<br />

Honduras, Kolumbien, Peru, Bolivien<br />

oder Venezuela, oder sei es durch<br />

Umarmungstaktik, wie zuerst mit der<br />

PT in Brasilien geschehen, dann mit<br />

dem Peronismus in Argentinien (hier<br />

jedoch nicht frei von Konflikten), mit<br />

der Frente Amplio in Uruguay, der chilenischen<br />

Linken unter Bachelet oder<br />

der Linken in El Salvador …<br />

Daraus entstehen drei verschiedene<br />

Regierungstypen und Situationen:<br />

• Rechte und ultrarechte Regierungen<br />

wie in Mexiko, Honduras,<br />

Kolumbien und Peru, die sich die<br />

gewaltsame Opposition von Teilen<br />

der Bourgeoisie in Bolivien, Venezuela<br />

und Ecuador und deren unveränderten<br />

Willen zum Sturz von<br />

Chávez und Evo Morales zueigen<br />

machen. <strong>Die</strong>se Kreise sind heute<br />

auf dem Vormarsch und werden darin<br />

durch die politisch-militärischen<br />

Spitzen des US-Imperialismus unterstützt.<br />

Der Staatsstreich in Honduras<br />

und v. a. die Errichtung neuer<br />

Militärbasen der USA in Kolumbien<br />

zeugen davon.<br />

• Der zweite Regierungstyp in all seinen<br />

Facetten findet sich in Brasilien,<br />

Argentinien, Nicaragua, Uruguay,<br />

Paraguay und Chile. Dort gibt<br />

es sozialliberale Regierungen, die<br />

sich in die Kriterien des Neoliberalismus<br />

im Großen und Ganzen fügen<br />

und kooperative Beziehungen<br />

zu ihrem großen Nachbarn im Norden<br />

pflegen, was durchaus nicht<br />

frei von Reibungen ist, wie im Falle<br />

Brasiliens unter Lula. Innerhalb<br />

dieses Blocks dominiert Brasilien<br />

ob seiner Größe, des Reichtums an<br />

natürlichen Ressourcen und seiner<br />

Wirtschaftsmacht. Im Unterschied<br />

übrigens zu anderen Ländern, in<br />

denen sich die sozialliberalen Parteien<br />

bei dieser Politik im Allgemeinen<br />

verschleißen und ihre soziale<br />

und politische Basis erodieren,<br />

gilt dies für Brasilien keineswegs.<br />

Lula hat mit seiner Politik der „bolsa<br />

familia“ 2 eine soziale „Auffangvorrichtung“<br />

geschaffen, die ihm<br />

wirkliche Popularität verleiht.<br />

• Den dritten Regierungstyp, der von<br />

Kuba unterstützt wird, repräsentieren<br />

Venezuela, Bolivien und Ecuador.<br />

In all diesen Ländern bestehen<br />

freilich Unterschiede in der dynamischen<br />

Entwicklung der Kräfte<br />

und Ereignisse. Gemeinsam ist<br />

ihren Regierungen, dass sie politisch<br />

mit dem US-Imperialismus<br />

zum Teil gebrochen haben, die Einkommen<br />

zugunsten von Sozialmaßnahmen<br />

und der ärmsten Bevölkerungsschichten<br />

umverteilen und die<br />

sozialen Bewegungen unterstützen.<br />

Wir stehen auf ihrer Seite gegen<br />

den US-Imperialismus und wir<br />

beziehen uns auf die Debatten um<br />

die Bedeutung des Sozialismus im<br />

21. Jahrhundert, die auf Grundlage<br />

der dortigen Erfahrungen entstehen,<br />

um unser Programm zu verteidigen.<br />

Hierbei müssen wir jedoch<br />

die jeweiligen Besonderheiten der<br />

dortigen Entwicklungen hervorheben.<br />

Während sich Chávez und Morales<br />

auf die Massenbewegungen<br />

stützen – in Bolivien unter einem<br />

stärkeren Druck der sozialen Bewegungen,<br />

in Venezuela unter eher „bonapartistischen“<br />

Verhältnissen – haben<br />

die jüngsten Ereignisse in Ecuador<br />

gezeigt, dass zwischen der Bewegung<br />

der Ureinwohner CONAIE und<br />

der Regierung Correa Gegensätze<br />

vorhanden sind. Und für die weitere<br />

Entwicklung sind die Beziehungen<br />

zwischen den jeweiligen Regierungen<br />

und den Massenbewegungen<br />

eine wichtige Scheidelinie. Grundlegend<br />

jedoch bleibt die Gretchenfrage,<br />

wie weit der Bruch mit dem Kapitalismus,<br />

seiner Profitlogik, seinem<br />

Verhältnis zur Finanzwirtschaft und<br />

seinen Eigentumsverhältnissen geht,<br />

zumal durch die Krise die Wirtschaft<br />

dieser Länder grundlegend betroffen<br />

wurde. In dieser Hinsicht jedoch haben<br />

diese Regierungen bis dato nicht<br />

die Gelegenheit beim Schopf gegriffen,<br />

um gerade anhand der Krise den<br />

2 eine Art „sozialer Grundsicherung“ [Anm. d.<br />

Übers.]<br />

10 inprekorr 458/459


INTERNATIONAL<br />

Bruch mit dem Kapitalismus und<br />

seinem Ressourcen vergeudenden<br />

wachstumsbornierten Wirtschaftsmodell<br />

voran zu treiben.<br />

2.5 Europa tief in der Krise<br />

Während die USA wieder Fuß fassen<br />

und die BRIC-Staaten einen Aufschwung<br />

erleben, verliert Europa weltweit<br />

an Boden. <strong>Die</strong> Krise hat den alten<br />

Kontinent wirtschaftlich mit voller<br />

Wucht getroffen, und hausgemachte<br />

Probleme kommen noch verschärfend<br />

hinzu.<br />

Infolge ihrer ganz besonderen politischen<br />

Funktionsweise und der divergierenden<br />

Interessen ihrer ökonomisch<br />

wichtigsten Mitgliedsstaaten – die englische<br />

Finanzwirtschaft, das französische<br />

Handelsdefizit und die deutschen<br />

Industrieexporte – reagiert die<br />

EU darauf eher punktuell und fraktionell,<br />

statt ihre Politik wirklich zu koordinieren.<br />

Durch die europäischen Verträge,<br />

in denen seit Jahren die „freie<br />

und unverfälschte Konkurrenz“ im Mittelpunkt<br />

steht, wurde die Hinwendung<br />

zur Finanzwirtschaft zu Lasten der Industriepolitik<br />

begünstigt. Insofern erlebt<br />

Europa und besonders Frankreich einen<br />

De-Industrialisierungsprozess. <strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit<br />

explodiert und zugleich<br />

wachsen die Defizite und Verschuldung<br />

der europäischen Länder ganz bedenklich.<br />

Manche Länder in Osteuropa, die<br />

wirtschaftlich stark vom internationalen<br />

Bankensystem abhängen, kommen<br />

nur mit internationaler Hilfe zurande<br />

und hängen am Tropf des IWF. <strong>Die</strong> in<br />

Ländern wie Ungarn, Rumänien und<br />

dem Baltikum getroffenen politischen<br />

Maßnahmen, die bis zur Senkung der<br />

Beamtengehälter reichen, verdeutlichen<br />

nur zu gut das Ausmaß der Krise<br />

in diesen Staaten, aber auch in ihrer<br />

Umwelt.<br />

Aus diesem Grund werden sich die<br />

inneren Widersprüche in Europa weiter<br />

zuspitzen. Es mag hier und da zu protektionistischen<br />

Maßnahmen kommen,<br />

aber im Grunde ist dies nicht die Option<br />

der kapitalistischen Klassen in Europa.<br />

Sie haben zwar auf die Globalisierung<br />

gesetzt, treten in diesem Spiel aber nicht<br />

<strong>als</strong> geschlossene europäische Mannschaft<br />

auf. Im Gegenteil werden die<br />

strategischen Ausrichtungen von widerstreitenden<br />

Interessen zwischen der eigenen<br />

und der gemeinsamen Wirtschaft<br />

bestimmt. Zur weltweiten Konkurrenz<br />

tritt <strong>als</strong>o u. U. noch die zwischen den<br />

europäischen Ländern hinzu.<br />

In dieser anhaltenden Krisensituation<br />

gibt es nicht nur eine wirtschaftliche<br />

Offensive, sondern ist die Rechte auch<br />

politisch auf dem Vormarsch, wie die<br />

letzten Europawahlen mit Ausnahme<br />

von Griechenland und Schweden gezeigt<br />

haben. <strong>Die</strong> politische Landschaft<br />

in den einzelnen Ländern wird zunehmend<br />

durch faschistische und semifaschistische<br />

Kräfte geprägt.<br />

In die gleiche Kerbe hauen auch die<br />

autoritären Tendenzen, die sich namentlich<br />

gegenüber ImmigrantInnen und illegalen<br />

Einwanderern breitmachen. Infolge<br />

der Globalisierung und der Vervielfachung<br />

des Warenverkehrs, der Aushungerung<br />

des Südens durch die Metropolen<br />

des Nordens sowie Hunger- und Umweltkatastrophen<br />

kommt es zu massiver<br />

Völkerwanderung besonders aus den armen<br />

in die reichen Länder. Zusätzlich<br />

werden durch die Krise an sich alle Formen<br />

von Ausbeutung und Unterdrückung<br />

der ImmigrantInnen verschärft. <strong>Die</strong> rassistischen<br />

Bewegungen suchen sich hier<br />

ihre Sündenböcke. Insofern muss die Arbeiterbewegung<br />

Widerstand leisten und<br />

die Rechte der ImmigrantInnen politisch<br />

offensiv verteidigen.<br />

Ganz generell wird eine regelrechte<br />

Kriminalisierungspolitik gegenüber den<br />

sozialen Kämpfen und Bewegungen betrieben<br />

und werden im Namen der Bekämpfung<br />

des „Terrorismus“ Repressionssysteme<br />

entwickelt wie Personendateien,<br />

Abhörsysteme oder schwarze<br />

Listen, ohne im geringsten die demokratischen<br />

Rechte zu respektieren.<br />

Unabhängig von den sonstigen sozialen<br />

Kämpfen können aus diesen Spannungen<br />

akute politische oder institutionelle<br />

Krisen erwachsen. Insofern zielt<br />

auch die geplante „Europäische Verfassung“<br />

in Gestalt des Lissaboner Vertrags<br />

darauf ab, die EU-Institutionen mit teils<br />

absolutistischen Vollmachten auszustatten<br />

(Stärkung des Präsidentenamtes,<br />

einheitliche internationale Vertretung<br />

...), um eine europäische Politik im internationalen<br />

Maßstab von zentraler<br />

Warte aus und ohne auch nur formaldemokratische<br />

Kontrolle durchzusetzen.<br />

<strong>Die</strong> Mitgliedsstaaten behalten in diesem<br />

Rahmen ihre formal demokratischen Institutionen,<br />

die aber zusehends sinnentleerter<br />

werden angesichts der europäischen<br />

Entscheidungen, die der nationalen<br />

Politik einen „Rahmen“ vorgeben<br />

und <strong>als</strong> Kompromisse zwischen den imperialistischen<br />

Kernmächten Europas<br />

fungieren. <strong>Die</strong> EU, so wie sie entsteht,<br />

ist ungleich (hier die „großen „ Länder,<br />

dort die subalternen „kleinen“), und die<br />

Bevölkerung ist jedweder auch nur formalen<br />

parlamentarischen Eingriffsmöglichkeit<br />

beraubt. Ein Beispiel hierfür ist<br />

das Ergebnis des zweiten irischen Referendums.<br />

Angesichts dieser Vorhaben<br />

der EU muss die antikapitalistische Linke<br />

eine internationalistische Orientierung<br />

beibehalten und die sozialen und<br />

demokratischen Rechte im Namen eines<br />

Europas im <strong>Die</strong>nste der ArbeiterInnen<br />

und Völker verteidigen.<br />

3. <strong>Die</strong> Entwicklung der Linken<br />

und der Arbeiterbewegung<br />

in Europa<br />

Um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise<br />

zu ermessen, werden oft Vergleiche<br />

mit 1929 angestellt. Auch in sozialer<br />

und politischer Hinsicht lassen sich Vergleiche<br />

zu den 30er Jahren ziehen. <strong>Die</strong><br />

Erschütterungen verlaufen hier weniger<br />

heftig, da die sozialen Abfederungsmechanismen<br />

die Konfrontationen abschwächen.<br />

Mitunter wurde die gegenwärtige<br />

Situation <strong>als</strong> Wiederholung der<br />

„30er Jahre in Zeitlupe“ bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong> Unterschiede zwischen den beiden<br />

historischen Perioden sind evident.<br />

Aber die Konfrontation zwischen den<br />

Lohnabhängigen, den sozialen Bewegungen<br />

und der Arbeiterbewegung einerseits<br />

und den populistischen, autoritären<br />

und fremdenfeindlichen Strömungen<br />

auf der Rechten andererseits<br />

vollzieht sich auch heute ungebremst,<br />

und sowohl auf der Linken wie auf der<br />

Rechten gibt es Zuspitzungen. Hingegen<br />

bestehen zwischen der Wirtschaftskrise<br />

und dem Klassenkampf<br />

keine mechanischen Beziehungen.<br />

Der Ausbruch der Krise trifft auf<br />

politische und soziale Kräfteverhältnisse,<br />

die sich seit mehr <strong>als</strong> zehn Jahren<br />

verschlechtert haben. Auf Seiten<br />

der Lohnabhängigen hat ein Umbruch<br />

stattgefunden, der zur Vereinzelung<br />

unter der arbeitenden Bevölkerung<br />

und zur strukturellen Schwächung ihrer<br />

Organisierung <strong>als</strong> Ganzes geführt<br />

hat. <strong>Die</strong> traditionelle Arbeiterbewegung<br />

hat einen unbestreitbaren Niedergang<br />

erlebt. <strong>Die</strong>se Umbrüche werden<br />

durch die Krise noch verschärft<br />

werden, und neue werden noch hinzutreten.<br />

Trotzdem gibt es in den Organisationen<br />

und Institutionen weiterhin<br />

inprekorr 458/459 11


INTERNATIONAL<br />

Es eröffnen sich Spielräume links der krisengebeutelten Sozialdemokratie. <strong>Die</strong>s erklärt den<br />

Aufschwung des Bloco de Esquerda in Portugal, der irischen Linken anlässlich der Kampagne<br />

gegen den Lissaboner Vertrag oder der NPA in Frankreich.<br />

Rückhalt, um der Krise zu trotzen. Am<br />

Anfang der Krise herrscht große Beunruhigung,<br />

und die Angst um die Arbeitsplätze<br />

lastet auf der Kampfbereitschaft<br />

der großen Masse der ArbeiterInnen.<br />

Aber keineswegs sind sie gelähmt, demoralisiert<br />

oder geschlagen. Aus den ersten<br />

Streikbewegungen gehen neue Generationen<br />

hervor und der Widerstand<br />

gegen die Krise hat sich schon geregt,<br />

wenn auch noch vereinzelt und unterschiedlich<br />

entlang der jeweiligen Situation<br />

und Kräfteverhältnisse der einzelnen<br />

Länder. Aber die generelle Entwicklungstendenz<br />

konnte durch die sozialen<br />

und politischen Auswirkungen<br />

der Krise in ihren Anfängen nicht<br />

grundlegend geändert werden. In etlichen<br />

Unternehmen gab es Rückschläge<br />

mit hundert- oder tausendfachen Entlassungen.<br />

Trotz vorhandener sozialer<br />

Gegenwehr in vielen Fällen sind die kapitalistischen<br />

Umstrukturierungspläne<br />

umgesetzt worden, und neue, sehr harte<br />

Angriffe zeichnen sich ab.<br />

<strong>Die</strong> Lage ist umso schwieriger <strong>als</strong><br />

die Führungen der traditionellen Arbeiterbewegung<br />

hohe Verantwortung an<br />

der Demobilisierung und Desorientierung<br />

<strong>ganze</strong>r Sektoren der Lohnabhängigen<br />

tragen. Insofern ist für die ArbeiterInnen<br />

schwer ersichtlich, wie sie ihre<br />

Bosse und die Regierung in die Schranken<br />

weisen sollen. <strong>Die</strong> traditionellen<br />

Apparate der Gewerkschaftsbewegung<br />

und der Sozialdemokratie setzen darauf,<br />

die Antikrisenpolitik der herrschenden<br />

Klassen und der Staaten mitzumachen.<br />

Es mag Diskussionen über Umfang und<br />

Angemessenheit der Konjunkturpläne<br />

oder einzelne Maßnahmen zur Umstrukturierung<br />

der Banken gegeben haben,<br />

aber in der generellen Linie bejahte<br />

die europäische Sozialdemokratie<br />

die Pläne aus Brüssel, wofür das<br />

Manifest der SPE ein beredtes Zeugnis<br />

liefert. Es gab noch nicht einmal etwa<br />

ein ernsthaftes Eintreten für eine reformistische<br />

Alternative nach Vorbild<br />

von Keynes. In der Krise beschleunigt<br />

sich noch der Prozess der Einbindung<br />

der Arbeiterbürokratie – der privilegierten<br />

sozialen Schichten in der Arbeiterbewegung<br />

– in die Institutionen des kapitalistischen<br />

Systems.<br />

Daher vertieft sich in dieser Situation<br />

auch die Krise der Sozialdemokratie.<br />

<strong>Die</strong> Hinwendung der sozialdemokratischen<br />

Parteien zum Liberalismus<br />

hatte bereits zu erheblicher Erosion der<br />

sozialen und politischen Basis in der<br />

Bevölkerung geführt. Aber es kommt<br />

noch schlimmer. Bei den letzten Europawahlen<br />

erlitt die Sozialdemokratie eine<br />

deutliche Schlappe. Auch die Parlamentswahlen<br />

in Deutschland und Portugal<br />

gerieten zum Desaster: die SPD<br />

verlor zwischen 2005 und 2009 fast<br />

4,5 Millionen WählerInnen; die portugiesische<br />

SP 9,5 % gegenüber den<br />

Vorwahlen. Es mag ein paar taktische<br />

Linkswendungen geben, um diese Verluste<br />

aufzufangen, aber in der generellen<br />

Orientierung wird sich die Anpassung<br />

der bürokratischen Apparate in<br />

Gewerkschaften und Sozialdemokratie<br />

an die Anforderungen des kapitalistischen<br />

Krisenmanagements noch weiter<br />

vertiefen. Nach dem Beispiel der<br />

Großen Koalition der SPD mit CDU/<br />

CSU rüstet sich in Frankreich die SP<br />

für eine Koalition mit der rechten Mitte.<br />

<strong>Die</strong>s passt zu der allgemeinen Entwicklung,<br />

wo zunehmend Stimmen innerhalb<br />

eben dieser Sozialdemokratie<br />

laut werden, die „alten sozialdemokratischen/sozialistischen<br />

Parteien“ hinter<br />

sich zu lassen und mit den Überbleibseln<br />

der Tradition der Arbeiterbewegung<br />

in diesen Parteien zu brechen. <strong>Die</strong>se<br />

Dynamik hat die italienische Linke<br />

erlebt, indem große Teile der Ex-KPI<br />

sich dahin entwickelt haben, eine Demokratische<br />

Partei nach dem Muster<br />

der USA aufbauen zu wollen.<br />

Auch die Grünen und Öko-Parteien<br />

mischen in diesem Prozess aktiv mit.<br />

Als Nutznießer der legitimen Ängste in<br />

der Bevölkerung vor der Umweltkrise<br />

sehen sie sich besonders in Frankreich<br />

und Deutschland politisch im Aufwind.<br />

Dabei verfolgen sie die Perspektive einer<br />

großen Koalition aus den Parteien<br />

der traditionellen Linken, der Mitte und<br />

der Grünen.<br />

In dieser Konstellation eröffnen<br />

sich Spielräume links der krisengebeutelten<br />

Sozialdemokratie. <strong>Die</strong>s erklärt<br />

den Aufschwung des Bloco de Esquerda<br />

in Portugal und der Partei <strong>Die</strong> Linke<br />

in Deutschland bei den jüngsten Wahlen<br />

und ebenso den Einfluss von Formationen<br />

wie der Rot-Grünen Allianz<br />

in Dänemark, der irischen Linken anlässlich<br />

der Kampagne gegen den Lissaboner<br />

Vertrag oder der NPA in Frankreich.<br />

Das Phänomen <strong>als</strong> solches ist universell,<br />

aber in den einzelnen Ländern<br />

ist die Lage der radikalen Linken unterschiedlich<br />

je nach Geschichte, Kräfteverhältnissen<br />

und Wahlsystem. Auch<br />

gibt es grundlegende politische Unterschiede<br />

zwischen den Parteien, die für<br />

einen Bruch mit dem kapitalistischen<br />

System und eindeutige Unabhängigkeit<br />

gegenüber der Sozialdemokratie eintreten,<br />

und denen, die sich <strong>als</strong> die besseren<br />

Sachwalter des neoliberalen Kapitalismus<br />

und seiner Institutionen sehen.<br />

Um die soziale Bewegung zu reorganisieren<br />

und wieder aufzubauen, bedarf es<br />

einer Perspektive, die absolut unabhängig<br />

von den alten Apparaten der traditionellen<br />

Linken ist, und insofern einer kla-<br />

12 inprekorr 458/459


INTERNATIONAL<br />

ren Abgrenzung gegenüber einer Beteiligung<br />

an sozialliberalen Regierungen<br />

auf regionaler oder nationaler Ebene. In<br />

allen Ländern, in denen sich die radikale<br />

Linke an einer sozialdemokratischen<br />

oder Mitte-Links-Regierung beteiligt<br />

hat, verkam sie zum Anhängsel der sozialliberalen<br />

Linken. <strong>Die</strong> Anziehungskraft<br />

der bürgerlichen Institutionen war stärker<br />

<strong>als</strong> alle anti-neoliberalen Absichtserklärungen.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung der Partei<br />

<strong>Die</strong> Linke ist für die deutsche Linke ein<br />

Fortschritt, aber die Orientierung ihrer<br />

Führung sowohl in programmatischer<br />

(Rückkehr zum „Sozial- und Versorgungsstaat“)<br />

<strong>als</strong> auch in bündnispolitischer<br />

(Koalitionen mit der SPD) Hinsicht<br />

bildet eine erhebliche Gefahr bei<br />

der Reorganisierung der deutschen Arbeiterbewegung.<br />

Der Aufbau einer antikapitalistischen<br />

linken Alternative innerhalb<br />

Der Linken aber auch innerhalb<br />

der sozialen und politischen deutschen<br />

Linken <strong>als</strong> Ganzes bleibt eine Schlüsselfrage<br />

für Europa.<br />

<strong>Die</strong> Wirklichkeit zwingt die radikale<br />

Linke in Europa mehr denn je, sich<br />

für ein Zusammengehen der antikapitalistischen<br />

Linken zu engagieren, besonders<br />

durch die Organisierung von gemeinsamen<br />

Konferenzen, Diskussionen<br />

und Kampagnen.<br />

4. Ein antikapitalistisches<br />

Programm<br />

<strong>Die</strong> Tiefe der Krise verleiht den antikapitalistischen<br />

Antworten neue Aktualität.<br />

„Es ist nicht Sache der Bevölkerung<br />

und der Arbeiter, für die Krise zu zahlen,<br />

sondern die der Kapitalisten!“ ertönte<br />

es auf allen Demonstrationen 3 gegen<br />

die Folgen der kapitalistischen Krise.<br />

Wie kann man diese Forderung der<br />

Bevölkerung mit Inhalt füllen?<br />

Zunächst müssen wir soziale und<br />

ökologische Sofortmaßnahmen fordern:<br />

• Verbot von Entlassungen und Arbeitsplatzabbau!<br />

• Verbot von Entlassungen durch Arbeitsplatz-<br />

und Lohngarantien seitens<br />

der Unternehmen, Branchenverbände<br />

oder des Staates bei Kurzarbeit<br />

oder Schließung!<br />

• Arbeitszeitverkürzung bei vollem<br />

Lohnausgleich!<br />

• Erhöhung der Löhne und der Kauf-<br />

3 Auf Deutsch bekannter unter der Parole „Wir<br />

zahlen nicht für eure Krise“ [Anm. d. Red.]<br />

kraft, sowie der Renten und Pensionen!<br />

• Beibehaltung und Ausbau der öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nste!<br />

• Verteidigung der Rechte der Frauen<br />

durch Verbot jedweder Diskriminierung,<br />

Kampf gegen sämtliche<br />

Formen von Gewalt gegen Frauen,<br />

Recht auf Abtreibung und Gleichstellung<br />

im Beruf!<br />

• Großaufträge der öffentlichen Hand<br />

mit Priorität für den Umweltschutz<br />

– Energiesparmaßnahmen, erneuerbare<br />

Energien, Kampf der Umweltverschmutzung,<br />

öffentliches<br />

Verkehrswesen, Sozialwohnungen,<br />

Schaffung sozial nützlicher Arbeitsplätze<br />

im Umweltschutz!<br />

<strong>Die</strong> Erfüllung dieser Forderungen setzt<br />

eine andere Verteilung der Reichtümer<br />

voraus. Wenn über Nacht Hunderte von<br />

Milliarden aufgebracht werden können,<br />

dann können auch die Profite der Finanzwirtschaft,<br />

der Industrie und Banken<br />

und die Großvermögen so besteuert<br />

werden, um Arbeitsplätze, Löhne,<br />

öffentliche <strong>Die</strong>nste und soziale Absicherung<br />

zu finanzieren. <strong>Die</strong> Steuerparadiese,<br />

die die USA und Europa in einigen<br />

Ländern und Fürstentümern sprießen<br />

lassen, müssen abgeschafft werden.<br />

Einfache Maßnahmen müssen umgesetzt<br />

werden zur Beendigung des Steuerdumpings<br />

und zur Vereinheitlichung<br />

der Steuersätze auf Unternehmensgewinne.<br />

<strong>Die</strong> Krise wirft aber eine weitere<br />

Frage auf: Wer kontrolliert, wer entscheidet<br />

und wer besitzt? Hier geht es<br />

um die öffentliche und gesellschaftliche<br />

Aneignung. Als generelles Gesetz<br />

muss gelten, dass die öffentlichen <strong>Die</strong>nste<br />

von den Konkurrenzprinzipien ausgenommen<br />

werden und ein öffentliches<br />

Monopol über strategische öffentliche<br />

<strong>Die</strong>nste errichtet wird. An die Stelle<br />

des Privateigentums der wirtschaftlichen<br />

Schlüsselsektoren setzen wir das<br />

öffentliche und gesellschaftliche Eigentum<br />

dieser Sektoren. Das Bankensystem<br />

muss von Grund auf umstrukturiert<br />

werden. Der Banken- und Finanzsektor<br />

muss zusammengeschlossen und<br />

unter Kontrolle der Bevölkerung verstaatlicht<br />

werden.<br />

Das Zusammentreffen von Wirtschafts-<br />

und Umweltkrise machen einen<br />

Paradigmenwechsel und eine Ersetzung<br />

des Profitstrebens und des Wachstumsfetischismus<br />

durch die Logik der<br />

sozialen Bedürfnisse zwingend erforderlich.<br />

<strong>Die</strong>s setzt voraus, dass <strong>ganze</strong><br />

Wirtschaftssektoren wie etwa die Automobil-,<br />

Rüstungs- und Nuklearproduktion<br />

konvertiert werden, um das soziale<br />

und ökologische Gleichgewicht zu<br />

wahren. Das „Gemeinwohl“ gerät zum<br />

Ziel eines ausgewogenen Wachstums<br />

auf ökosozialistischer Grundlage, was<br />

eine demokratische Planung unerlässlich<br />

macht.<br />

Einige dieser Ziele erscheinen unter<br />

den gegenwärtigen sozialen Kräfteverhältnissen<br />

unerreichbar. Aber die<br />

Krise erfordert radikale Lösungen und<br />

somit eine Konfrontation mit den herrschenden<br />

Klassen. Für diesen Kampf<br />

bedarf es außergewöhnlicher sozialer<br />

und politischer Mobilisierungen. <strong>Die</strong><br />

Diskussionen über den Zusammenhang<br />

von Teilkämpfen, Massenbewegungen<br />

und Gener<strong>als</strong>treik werden wieder auf<br />

der Tagesordnung stehen. In diesem Zusammenhang<br />

müssen die RevolutionärInnen<br />

die Integration in die reale Massenbewegung,<br />

Aktionseinheit, kämpferische<br />

Initiativen und globale sozialistische<br />

Antworten miteinander verbinden.<br />

Der Kampf für Teilreformen und<br />

Veränderung der Gesellschaft stellt die<br />

Machtfrage. <strong>Die</strong> sozialdemokratischen<br />

Führer kritisieren oft an der radikalen<br />

Linken, dass sie sich vor Verantwortung<br />

und Regierungsübernahme drücke. Um<br />

diese Anschuldigung zu widerlegen,<br />

müssen die AntikapitalistInnen beweisen,<br />

dass sie aktiv die Bedingungen herstellen<br />

wollen, dass eine breite, selbstorganisierte<br />

Massenbewegung die politische<br />

Szene betritt und eine Regierung<br />

des Volkes durchsetzt, die ein soziales,<br />

demokratisches und antikapitalistisches<br />

Programm umsetzt. <strong>Die</strong>se Perspektive<br />

einer Regierung, die mit dem Kapitalismus<br />

bricht, ist nicht vereinbar mit einer<br />

Beteiligung an sozialliberalen Regierungen<br />

mit den sozialdemokratischen<br />

oder Mitte-Links-Parteien.<br />

All diese Kämpfe müssen letztlich<br />

zusammenfallen mit einer sozialistischen<br />

oder ökosozialistischen Perspektive,<br />

die die Grundzüge einer alternativen<br />

Gesellschaft, einer neuen Produktions-<br />

und Konsumptionsweise, eines<br />

neuen Demokratieverständnisses – einer<br />

sozialistischen Demokratie liefert.<br />

François Sabado ist leitendes Mitglied der<br />

NPA und der IV. Internationale<br />

Übersetzung: MiWe<br />

inprekorr 458/459 13


FRAUEN<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die Zivilisationskrise<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, dass die verschiedenen Aspekte der globalen Krise des<br />

Kapitalismus heute zusammenfallen, bestärkt uns in unserer Ansicht,<br />

dass wir uns in wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Systemkrisen<br />

befinden, die wegen ihrer Gleichzeitigkeit zu einer Zivilisationskrise<br />

führen.<br />

In diesem Artikel wollen wir aufzeigen, inwiefern diese Krise die<br />

Frauen besonders trifft.<br />

<strong>Die</strong>ser Beitrag ist aus dem Frauen-Seminar am IIRE vom Juli 2009<br />

hervorgegangen und wird dem im Februar 2010 stattfindenden Weltkongress<br />

zur Diskussion unterbreitet.<br />

Bereits vor der Krise hatten die Frauen<br />

das schlechteste Los gezogen. Es ist<br />

deshalb nicht überraschend, wenn sie<br />

die Folgen dieser Katastrophen stärker<br />

zu spüren bekommen. Trotz der<br />

mit den Frauenkämpfen erzielten Fortschritte<br />

bleibt ihre Schlechterstellung<br />

auf dem Arbeitsmarkt der Spiegel der<br />

geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />

und der Schlechterstellung der Frauen<br />

innerhalb der patriarchalen kapitalistischen<br />

Familie. Familie und Schule<br />

halten weiterhin die Vorstellung am Leben,<br />

wonach die Frauen gegenüber den<br />

Männern im Grunde genommen minderwertig<br />

sind oder dass sie im besten<br />

Fall <strong>als</strong> Betreuerinnen von Kindern und<br />

betagten Menschen eine andere Berufung<br />

haben. Auf diese Vorstellung stützt<br />

sich dann der Staat ab, um beim öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst abzubauen. <strong>Die</strong> Familie<br />

bleibt der Ort, wo Frauen am meisten<br />

Gewalt und Repression ausgesetzt sind.<br />

Macht euch nichts vor: Das was<br />

heute an ihnen ausprobiert wird, damit<br />

nicht die Kapitalisten für die Krise<br />

bezahlen müssen, wird morgen der<br />

<strong>ganze</strong>n Arbeiterklasse aufgezwungen,<br />

wie wir dies an vielen anderen Beispielen<br />

gesehen haben, insbesondere bei<br />

der Teilzeitarbeit.<br />

Als politische Organisation und bei<br />

Mobilisierungen müssen wir bei der<br />

Formulierung von Forderungen auf die<br />

spezifische Unterdrückung der Frauen<br />

hinweisen. Das heißt, dass wir in bestimmten<br />

Fällen spezifische Frauenforderungen<br />

aufstellen (zum Beispiel das<br />

Recht auf Abtreibung und das Recht<br />

auf eine Altersrente), dass wir aber<br />

auch in allem, was wir sonst sagen, ihren<br />

Standpunkt miteinbringen.<br />

<strong>Die</strong> Forderung nach Verkürzung<br />

der Tages- oder Wochenarbeitszeit zum<br />

Beispiel ist im Interesse der Lohnabhängigen.<br />

Sie ist aber besonders wichtig<br />

für Frauen mit einem doppelten Arbeitstag.<br />

Ein anderes Beispiel: Infolge<br />

der Finanzkrise fordern wir die Verstaatlichung<br />

der Banken, obwohl wir<br />

wissen, dass die Wirtschaftskrise keine<br />

bloße Bankenkrise ist. Aber die Frauen<br />

<strong>als</strong> einer der ärmsten Teile der Arbeiterklasse<br />

leiden besonders unter höheren<br />

Zinsen und erschwertem Zugang<br />

zu Krediten.<br />

Das Umfeld, in dem wir diese Forderungen<br />

aufstellen, ist selbstverständlich<br />

je nach Land unterschiedlich, und<br />

sie müssen der konkreten Realität angepasst<br />

sein, in welcher wir tätig sind.<br />

Das von den belgischen GenossInnen<br />

erarbeitete Programm zu den Europawahlen<br />

2009 „Ein ökosozialistisches<br />

Europa wird feministisch sein oder es<br />

wird nicht sein“ ist dafür ein gutes Beispiel.<br />

<strong>Die</strong> Frauen beteiligen sich am<br />

Widerstand gegen die Abbaupolitik<br />

und am Kampf für eine ökosozialistische<br />

und feministische Welt, die in<br />

unserem Alltag immer notwendiger<br />

wird. Dafür müssen sie sich unbedingt<br />

selber organisieren. Der Erfolg<br />

der Frauen in Ecuador mit der Verfassunggebenden<br />

Versammlung und der<br />

Kampagne gegen die öffentliche Verschuldung<br />

waren keine Geschenke<br />

von Correa sondern das Ergebnis der<br />

Selbstorganisierung der Frauen. Damit<br />

konnten sie ein Kräfteverhältnis<br />

aufbauen, das den Sieg erst möglich<br />

machte.<br />

<strong>Die</strong> Frauen und der Klimawandel<br />

<strong>Die</strong> meisten Frauen in den Ländern des<br />

Südens leben in Armut und Ungleichheit.<br />

Sie sind zuerst von der Klimakrise<br />

betroffen, die wegen der Abgase entstanden<br />

ist, die hauptsächlich von den<br />

Ländern des Nordens produziert werden.<br />

80 % der 1,3 Milliarden Menschen,<br />

die unter der Armutsgrenze leben,<br />

sind Frauen.<br />

Im Süden stellen die Frauen 80 %<br />

der Nahrungsmittel her. Das Voranschreiten<br />

der Wüste, der Wassermangel<br />

usw. beeinflussen ihr tägliches Leben<br />

enorm. Wenn Menschen ihren angestammten<br />

Lebensraum verlassen müssen,<br />

weil sie wegen des Klimawandels<br />

keine Lebensmittel mehr anbauen können,<br />

sind die meisten von ihnen Frauen<br />

und Kinder.<br />

Laut einem von Oxfam im Juni<br />

2009 veröffentlichten Bericht „The<br />

Winds of Change: Climate change,<br />

poverty and the environment in<br />

Malawi“ (Strömungen der Veränderung:<br />

Klimawandel, Armut und Umwelt<br />

in Malawi) sind die Frauen die<br />

ersten Opfer des Klimawandels wegen<br />

der vielen Rollen, die sie übernehmen<br />

müssen: Bäuerinnen, Beschafferinnen<br />

von Nahrungsmitteln, Wasser,<br />

Brennholz und Betreuerinnen der Kinder.<br />

Der Bericht weist darauf hin, dass<br />

Malawis Frauen keinerlei Einfluss auf<br />

die im Land gefällten Entscheidungen<br />

haben und dass der Klimawandel die<br />

Ungleichheiten noch verstärkt. Weiter<br />

heißt es in dem Bericht, dass mit einer<br />

weiteren Zunahme der Armut der<br />

Druck auf die Frauen zunehmen wird,<br />

sich zu prostituieren, um so zu Nahrungsmitteln<br />

zu kommen, womit wiederum<br />

das Risiko steigt, dass sie sich<br />

mit dem HIV-Virus anstecken. Mit der<br />

Zunahme der Ansteckungen wiederum<br />

wird die Widerstandskraft der Bevölkerung<br />

gegenüber dem Klimachaos<br />

weiter geschwächt.<br />

Im Jahr 2008 ist die Zahl der unterernährten<br />

Menschen um 800 000 gewachsen<br />

und hat weltweit die Zahl von<br />

14 inprekorr 458/459


FRAUEN<br />

einer Milliarde überschritten. Gleichzeitig<br />

sind in dieser Zivilisationskrise<br />

wieder Krankheiten im Vormarsch wie<br />

die Cholera, die vermeidbar wären.<br />

Der Kampf der Frauen für den Zutritt<br />

zu öffentlichen Schulen und zu<br />

einem kostenlosen Gesundheitswesen,<br />

zu Abtreibung, Verhütung und sexueller<br />

Aufklärung ist ein wesentliches Element<br />

im Kampf gegen die Klimakrise<br />

im Süden. In Kampagnen zur Verteidigung<br />

und für den Ausbau dieser wichtigen<br />

Rechte stehen sie oft in den ersten<br />

Reihen.<br />

<strong>Die</strong> Ne0-Malthusianer behaupten,<br />

der Planet sei überbevölkert. Sie versuchen,<br />

das Recht der Frauen, über ihren<br />

Körper selber zu bestimmen, einzuschränken.<br />

<strong>Die</strong>se Herangehensweise<br />

ist rassistisch, da das Bevölkerungswachstum<br />

in den Ländern des Südens<br />

größer ist <strong>als</strong> im Norden. Wir kämpfen<br />

für mehr Rechte der Frauen bei der Geburtenkontrolle.<br />

Gleichzeitig kämpfen<br />

wir für die Ausrottung der Armut. Nur<br />

so kann der Bevölkerungsdruck reduziert<br />

werden. Ebenso bekämpfen wir<br />

den kapitalistischen Konsumwahn, den<br />

Konsum von Produkten ohne jeden Gebrauchswert,<br />

die noch dazu umweltbelastend<br />

sind.<br />

Der wachsende Einfluss des Agrobusiness,<br />

die Herstellung von Äthanol<br />

(Kraftstoff aus Pflanzen) und der<br />

Verkauf von Boden an multinationale<br />

Konzerne zur Gewinnung von Erdöl<br />

und anderen Rohstoffen führen dazu,<br />

dass die Kleinbauern immer mehr<br />

Anbaufläche und immer mehr von ihrer<br />

Selbständigkeit verlieren. <strong>Die</strong> Mehrheit<br />

von ihnen sind Frauen, oft Angehörige<br />

indigener Völker. <strong>Die</strong> Pestizide<br />

zerstören die Bioproduktion der Kleinbauern/bäuerinnen.<br />

<strong>Die</strong> indigenen Frauen und landlosen<br />

Bäuerinnen spielen bei der Verteidigung<br />

der Ökosysteme des Urwalds<br />

die Hauptrolle. Sie versuchen zu verhindern,<br />

dass die Regierungen sie zur<br />

Äthanolproduktion, zur Gewinnung<br />

von Wasser, tropischen Hölzern (die<br />

sehr langsam wachsen), Erdöl und verschiedenen<br />

Erzen an die Meistbietenden<br />

und an multinationale Konzerne<br />

verschachern. <strong>Die</strong> Aktionen der Frauen<br />

von Via Campesina in Brasilien, die<br />

die Eukalyptus-Plantagen der Aracruz<br />

Celulosa zerstört haben, sind ein siegreiches<br />

Beispiel ihrer führenden Rolle<br />

bei der Verteidigung der Biosphäre.<br />

In vielen indigenen Dörfern spielen sie<br />

Im Süden stellen die Frauen 80 % der Nahrungsmittel her.<br />

auch die Hauptrolle bei der Verteidigung<br />

des Bodens ihrer Ahnen.<br />

• Senkung des Energieverbrauchs<br />

durch die Einstellung energieintensiver<br />

Produktionen wie die Waffenindustrie,<br />

die Atomindustrie, die<br />

Werbung, die Ausdehnung des Luftverkehrs!<br />

• Förderung der lokalen Produktion<br />

und der lokalen Landwirtschaft!<br />

• Stopp der Verwendung gefährlicher<br />

Energiequellen und Förderung erneuerbarer<br />

Energien!<br />

• Qualitativ hochstehender kostenloser<br />

öffentlicher Verkehr!<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die Wirtschaftskrise<br />

Als Folge der neoliberalen Globalisierung<br />

hat die prekarisierte Arbeit mit<br />

Kurzzeitverträgen und die Teilzeitarbeit<br />

stark zugenommen. Gleichzeitig<br />

hat sich der informelle Sektor vom Süden<br />

in Regionen des Nordens ausgedehnt<br />

sowie auf Sektoren übergegriffen,<br />

die früher zur formellen Wirtschaft<br />

gehörten.<br />

<strong>Die</strong> Mehrheit jener, die im informellen<br />

Sektor arbeiten, sind Frauen<br />

und Kinder. 1 – 2 % der Weltbevölkerung<br />

zum Beispiel, die in Städten leben,<br />

versuchen mit dem Sortieren von<br />

Abfall auf den Abfallhalden zu überleben.<br />

<strong>Die</strong> Mehrheit von ihnen sind<br />

Frauen und Kinder. <strong>Die</strong> Nachfrage der<br />

Industrie nach Papier, das aus Altpapier<br />

gewonnen wird, ist vor allem in China<br />

wegen der Rezession bereits rückläufig.<br />

Das heißt, die Preise für diese Produkte<br />

sinken stark. Jener Teil der Bevölkerung,<br />

der vom Einsammeln und<br />

vom Verkauf von Altpapier lebt, befindet<br />

sich folglich in einer viel schwierigeren<br />

Überlebenslage.<br />

Man sieht: In einer Rezession geht<br />

im informellen Sektor Arbeit verloren<br />

und gleichzeitig verlagern sich Arbeitsplätze<br />

vom formellen zum informellen<br />

Sektor. Exportindustrien des<br />

Südens wie die Textilindustrie, in der<br />

viele Frauen beschäftigt waren, sind<br />

schnell gewachsen: In den letzten sieben<br />

Jahren wurden z. B. in Afrika über<br />

100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.<br />

Doch mit der Krise ist die Nachfrage<br />

eingebrochen. Auf den Philippinen<br />

sind in der Textilindustrie, in der<br />

Halbleiter- und in der Elektronikindustrie,<br />

wo die Mehrheit der Lohnabhängigen<br />

Frauen sind, an einem einzigen<br />

Tag 42 000 Arbeitsplätze verschwunden.<br />

(Oxfam Report, Paying the Price<br />

for the Economic Crisis, März 2009).<br />

Im Kleingewerbe, wo für den Export<br />

produziert wird, sind die Lohnabhängigen<br />

praktisch rechtlos. Das heißt,<br />

die meisten Frauen, die in diesem Bereich<br />

ihre Arbeit verloren haben, haben<br />

weder Abfindungen noch Arbeitslosengeld<br />

erhalten. Dort, wo es gesetzlich<br />

festgelegte Rechte gibt, werden sie<br />

von den Unternehmern missachtet, da<br />

es keine Angestelltenverbände gibt, die<br />

dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten<br />

werden.<br />

Mikrokredite haben sich stark verbreitet,<br />

so dass eine wachsende Anzahl<br />

Frauen des Südens eine gewisse wirtschaftliche<br />

Unabhängigkeit erlangten.<br />

Aber mit der Rezession wurden viel<br />

weniger Kredite zugesprochen, was<br />

inprekorr 458/459 15


FRAUEN<br />

sich auf die wirtschaftliche und folglich<br />

soziale und politische Unabhängigkeit<br />

der Frauen negativ ausgewirkt<br />

hat.<br />

Der Verlust von Arbeitsplätzen im<br />

formellen Sektor <strong>als</strong> Folge der Krise<br />

hat sich in den verschiedenen Ländern<br />

unterschiedlich ausgewirkt. In der Autoindustrie<br />

– einer der am härtesten getroffenen<br />

Sektoren – arbeiten mehrheitlich<br />

männliche Lohnabhängige. In den<br />

hochindustrialisierten kapitalistischen<br />

Ländern, wo die Krise bereits hart<br />

zugeschlagen hat, gingen im <strong>Die</strong>nstleistungssektor<br />

viele Arbeitsplätze verloren<br />

– ein Bereich, in dem die Mehrheit<br />

der Lohnabhängigen Frauen sind.<br />

Es ist zu erwarten, dass dieser Sektor<br />

bald in weiteren Ländern betroffen sein<br />

wird.<br />

Obwohl nach Geschlecht getrennte<br />

Erwerbslosenzahlen schwer zu finden<br />

sind, scheint es, dass der bisherige Unterschied<br />

sich nicht vergrößert hat. <strong>Die</strong>s<br />

wird sich jedoch schlagartig ändern,<br />

sobald die Krise im <strong>Die</strong>nstleistungsbereich<br />

stärker spürbar wird. Nach Oxfam<br />

werden die Frauen im Süden von der<br />

Mehrheit der verlorenen Arbeitsplätze<br />

betroffen sein. In den USA hat die<br />

Arbeitslosigkeit im Mai 2009 bei den<br />

Frauen stärker zugenommen <strong>als</strong> bei den<br />

Männern (5,6 % bei den Frauen, 4,1 %<br />

bei den Männern – Womenstake.org).<br />

<strong>Die</strong> lohnabhängigen Frauen sind<br />

bei Schwangerschaft nach wie vor benachteiligt,<br />

trotz Gesetzen in den hochentwickelten<br />

kapitalistischen Ländern,<br />

die sie davor schützen sollten. Hinter<br />

den Diskriminierungen gegenüber<br />

Frauen im gebärfähigen Alter steckt<br />

die Tatsache, dass sie schwanger werden<br />

könnten. In Großbritannien scheint<br />

sich dies in der Rezession noch verstärkt<br />

zu haben. Dazu schreibt das „Bündnis<br />

gegen die Diskriminierung bei<br />

Schwangerschaft“, ein Bündnis mehrerer<br />

Gruppen, das gegen dieses Problem<br />

eine Kampagne macht:<br />

„<strong>Die</strong> Entlassungen schwangerer<br />

Frauen und jünger Mütter haben extrem<br />

stark zugenommen. Einige Unternehmer<br />

scheinen die Rezession dazu zu<br />

benutzen, das Antidiskriminierungsgesetz<br />

zu umgehen. Seitdem sich die Wirtschaft<br />

verlangsamt hat, werden unsere<br />

Organisationen von viel mehr schwangeren<br />

Frauen oder jungen Müttern angerufen,<br />

die diskriminiert werden. Wir<br />

kennen konkrete Fälle von Frauen, die<br />

entlassen wurden, weil sie schwanger<br />

waren, oder von Müttern, die nach<br />

dem Mutterschaftsurlaub an ihren Arbeitsplatz<br />

zurückkehrten und feststellen<br />

mussten, dass ihre Stelle weg war.<br />

Schon vor der Rezession schätzte<br />

die Kommission für Chancengleichheit<br />

die Zahl entlassener schwangerer<br />

Frauen auf 30 000 pro Jahr, und diese<br />

Zahl wird wahrscheinlich ansteigen.<br />

<strong>Die</strong>se schockierende Folge der Rezession<br />

ist nicht nur unmoralisch und schadet<br />

der Gleichstellung der Geschlechter<br />

am Arbeitsplatz enorm – sie ist auch<br />

gesetzeswidrig.“ (www.fawcettsociety.<br />

org.uk/documents/AllianceAgainstPregnancyDiscrimination.pdf)<br />

Das erste sichtbare Zeichen der gegenwärtigen<br />

Krise, die Subprime-Krise<br />

in den USA, hat die Frauen besonders<br />

hart getroffen – vor allem die farbigen<br />

Frauen. Zweiunddreißig Prozent<br />

der Frauen mit einem Hypothekarkredit<br />

haben einen Subprime-Kredit gegen<br />

24 % der Männer. <strong>Die</strong> HausbesitzerInnen<br />

afroamerikanischer Herkunft<br />

oder Latinos/as haben ein um zusätzliche<br />

30 % höheres Risiko, ein Hochrisiko-Darlehen<br />

(Subprime) zu bekommen<br />

(Ms Foundation for Women).<br />

Während einer verlangsamten Wirtschaftsentwicklung<br />

steigt die Armutsrate<br />

selbstverständlich an. <strong>Die</strong> Preise<br />

für Güter des Grundbedarfs wie Nahrungsmittel,<br />

Transport und Energie steigen,<br />

ebenso die Zahl der armen Familien.<br />

Ist eine Familie einmal in Armut,<br />

kommt sie nur sehr schwer dort wieder<br />

heraus. Man nimmt an, dass 60 % der<br />

Familien, die zu den 20 % tiefsten Einkommen<br />

gehören, auch noch 10 Jahre<br />

später in der gleichen Lage sind (Ms<br />

Foundation for Women).<br />

Wenn die Frauen weder heute noch<br />

in der Zukunft Aussicht auf eine bezahlte<br />

Arbeit haben, selbst im ständig<br />

wachsenden informellen Sektor<br />

nicht mehr, dann – so lehrt uns die Geschichte<br />

– wenden sie sich <strong>als</strong> einziger<br />

annehmbaren Alternative wieder vermehrt<br />

der Heirat und der Kinderbetreuung<br />

zu. Andere werden ihren Körper<br />

verkaufen, um ihren Kindern ein Dach<br />

über dem Kopf bezahlen zu können.<br />

• Verstaatlichung der Banken unter<br />

der Kontrolle der Bevölkerung, Gewährung<br />

von mehr Kleinkrediten<br />

und verstärkte staatliche Hilfe speziell<br />

an die Frauen!<br />

• Verkürzung der Tages/Wochenarbeitszeit<br />

ohne Lohneinbuße!<br />

• Abschaffung der befristeten Arbeitsverträge,<br />

unbefristete Anstellung mit<br />

allen Rechten für alle!<br />

• Gegen jede Benachteiligung am<br />

Arbeitsplatz auch wegen des Geschlechts,<br />

des Zivilstandes, des Alters<br />

oder der geschlechtlichen Orientierung!<br />

• Schaffung neuer Arbeitsplätze für<br />

Männer und Frauen!<br />

• Keine Benachteiligungen bei den<br />

Altersrenten und den Sozialhilfebeiträgen!<br />

<strong>Die</strong> Frauen und der öffentliche<br />

<strong>Die</strong>nst<br />

Das Grundangebot an <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

muss unbedingt verteidigt werden –<br />

an erster Stelle das Wasser aber auch<br />

Strom, Wohnen und Transport – und<br />

es muss unter öffentlicher Kontrolle<br />

stehen und zahlbar sein – wenn möglich<br />

kostenlos. <strong>Die</strong> Frauen haben in den<br />

Kämpfen für ein Grundangebot und für<br />

dessen Ausweitung eine führende Rolle<br />

gespielt, vom siegreichen Kampf gegen<br />

die Privatisierung des Wassers in<br />

Cochabamba (Bolivien) im Jahr 2000<br />

bis zu den Kämpfen gegen die Privatisierung<br />

der Bahnen, des Reis- und<br />

Baumwollanbaus in Mali.<br />

In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise<br />

werden die neoliberale Privatisierungspolitik<br />

und der Abbau der öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nste ununterbrochen weitergehen.<br />

Davon werden besonders die<br />

Frauen betroffen sein, da sie die Mehrheit<br />

der Lohnabhängigen im öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst stellen und am meisten<br />

davon abhängig sind. <strong>Die</strong> Angriffe auf<br />

die Gesundheitswesen in Europa sind<br />

dafür ein ständiges Beispiel. In Frankreich<br />

werden die öffentlichen und kostenlosen<br />

Krippen für Kinder ab zwei<br />

Jahren geschlossen zugunsten privater<br />

und zu bezahlender Kindergärten, was<br />

zum Verlust von Arbeitsplätzen im öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst und zur Verteuerung<br />

der Kinderbetreuung führt. In Mexiko<br />

hat die Auslagerung einer wachsenden<br />

Zahl staatlicher Kleinkinderzentren<br />

an Manager-Eigentümer zu einer drastischen<br />

qualitativen Verschlechterung<br />

des Angebots geführt. <strong>Die</strong> grausamste<br />

Folge davon war der Tod von 48 Kindern<br />

im Juni 2009 bei einem Brand in<br />

einem Kinderzentrum in Hermosillo,<br />

Sonora. Das Zentrum gehörte Familienangehörigen<br />

hochgestellter Regierungsmitglieder<br />

und befand sich im gleichen<br />

16 inprekorr 458/459


FRAUEN<br />

Gebäude wie ein Warenlagerhaus. Wegen<br />

der Korruption und Straffreiheit der<br />

Verantwortlichen hat das Entsetzen zu<br />

einer Bewegung geführt, in deren Folge<br />

die Regierungspartei den Gouverneursposten<br />

verlor, aber die Schuldigen<br />

sind immer noch auf freiem Fuß.<br />

In jenen Ländern, in denen die Abtreibung<br />

unter bestimmten Voraussetzungen<br />

gesetzlich erlaubt ist, sind Abtreibungen<br />

und Empfängnisverhütung<br />

wegen der Abbaumaßnahmen im Gesundheitswesen<br />

schwieriger geworden.<br />

<strong>Die</strong> Frauenhäuser (für Opfer von Vergewaltigungen<br />

und von Gewalt) und<br />

andere Fraueneinrichtungen erhalten<br />

weniger Subventionen. Unter dem Vorwand<br />

„notwendiger Sparmaßnahmen“<br />

kürzen die einen gern solche Subventionen,<br />

weil sie solche Einrichtungen<br />

für Zusatzeinrichtungen halten, andere,<br />

weil sie immer dagegen waren.<br />

Soziale <strong>Die</strong>nste werden in ganz Europa<br />

zunehmend privatisiert. Zumindest<br />

trifft das zu auf Frankreich, Schweden,<br />

Belgien und Großbritannien. Es geht<br />

um Frauen, die für Arbeiten in Privathaushalten<br />

bessergestellter Familien<br />

angestellt werden (Putzen, Wäsche,<br />

Zubereitung von Mahlzeiten, Kinderbetreuung,<br />

manchmal auch für die Betreuung<br />

Behinderter oder älterer Menschen).<br />

Sie sind beim Staat angestellt<br />

oder bei Privatunternehmen. <strong>Die</strong>se<br />

Frauen arbeiten manchmal an fünf verschiedenen<br />

Orten, an jedem Ort lediglich<br />

eine begrenzte Stundenzahl. <strong>Die</strong><br />

Zeit für den Weg zwischen den Einsatzorten<br />

ist oft gleich lang wie die<br />

Einsatzzeit. <strong>Die</strong>se Arbeitsstellen haben<br />

einen sehr tiefen Status ohne große soziale<br />

Absicherung. Der Ausbau dieser<br />

<strong>Die</strong>nste dient dann <strong>als</strong> Argument, um<br />

im öffentlichen <strong>Die</strong>nst abzubauen, insbesondere<br />

in den Altersheimen.<br />

<strong>Die</strong> Niedriglöhne in diesem Bereich<br />

führen zur Armut der betroffenen<br />

Frauen. Nach den „Reformen“ bei den<br />

Sozialversicherungen in vielen Ländern<br />

müssen Erwerbslose heute jede Arbeit<br />

annehmen, sonst verlieren sie ihr Recht<br />

auf Unterstützung. <strong>Die</strong> Lohnabhängigen<br />

können solche Arbeiten immer weniger<br />

verweigern und die Unternehmer<br />

verfügen immer mehr über immer billigere<br />

Arbeitskräfte. <strong>Die</strong>se Entwicklung<br />

führt dazu, dass die Unterschiede<br />

zwischen den wirtschaftlich und sozial<br />

besser gestellten Frauen und jenen<br />

Frauen immer größer werden, die sie<br />

für sich arbeiten lassen, die wirtschaftlich<br />

und sozial schlecht gestellt und oft<br />

Schwarze oder Migrantinnen sind.<br />

• Für die Verteidigung und den Ausbau<br />

des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes unter<br />

Kontrolle der Lohnabhängigen und<br />

der NutzerInnen!<br />

• Für den Ausbau öffentlicher Einrichtungen<br />

zur Kleinkinderbetreuung<br />

von hoher Qualität!<br />

<strong>Die</strong> Frauen und die Migration<br />

In den letzten 40 Jahren hat sich die<br />

Zahl der MigrantInnen weltweit mehr<br />

<strong>als</strong> verdoppelt, während der prozentuale<br />

Anteil an der Weltbevölkerung ziemlich<br />

stabil geblieben ist. Es sind dies<br />

heute 175 Millionen, das sind ca. 3,5 %<br />

der Weltbevölkerung. Beinahe die<br />

Hälfte davon sind Frauen, obwohl sich<br />

die Meinung hartnäckig hält, dass die<br />

Mehrheit der MigrantInnen aus Männern<br />

besteht. <strong>Die</strong> Migration erfolgt in<br />

den meisten Fällen in ein Nachbarland,<br />

in einigen Ländern gibt es auch eine<br />

Binnenmigration, und es gibt die Migration<br />

auf andere Kontinente.<br />

Das von den MigrantInnen nach<br />

Hause geschickte Geld spielt in mehreren<br />

Ländern des Südens eine wirtschaftlich<br />

ausschlaggebende Rolle. 2008 beliefen<br />

sich diese Überweisungen auf<br />

den Philippinen auf 16,4 Milliarden<br />

US$. Im März 2009 waren es allein bereits<br />

1,47 Milliarden US$. In sieben<br />

Ländern Lateinamerikas und der Karibik<br />

machen diese Überweisungen über<br />

10 % des Bruttoinlandprodukts aus und<br />

übersteigen die Einnahmen in US$ aus<br />

den wichtigsten Exporten.<br />

Mit der sich vertiefenden Krise<br />

wird die Frauenmigration noch zunehmen.<br />

Aus folgenden Gründen:<br />

Sie wandern aus, weil sie keine Arbeit<br />

mehr finden oder weil die Arbeit so<br />

unterbezahlt ist, dass sie für den Unterhalt<br />

einer Familie nicht ausreicht. Auf<br />

den Philippinen gibt es 4,5 Mio. Familien,<br />

die sich nicht einmal das Minimum<br />

an Lebensmitteln leisten können.<br />

In einigen Fällen sind die Frauen<br />

unter den MigrantInnen tatsächlich in<br />

der Mehrheit: Von den philippinischen<br />

MigrantInnen sind 70 % Frauen. Meistens<br />

arbeiten sie schwarz <strong>als</strong> Hausangestellte.<br />

<strong>Die</strong> Revolutionäre Arbeiterpartei<br />

der Philippinen (RPMP 1 , philip-<br />

1 <strong>Die</strong> Abk. ergibt sich aus Rebolusyonaryng Partido<br />

ng Maggaqawa ng Pilipinos.<br />

pinische Sektion der IV. Internationale)<br />

entwickelt eine politische Arbeit in Europa,<br />

um die philippinischen Migrantinnen<br />

zu organisieren und um ihnen<br />

mehr Rechte zu verschaffen.<br />

Wie viele Frauen in Asien, Afrika,<br />

Lateinamerika und Osteuropa arbeiten<br />

die Philippinas <strong>als</strong> Hausangestellte. Sie<br />

sind ein Glied im weltweiten System<br />

der Hausarbeit. <strong>Die</strong> Frauen der ersten<br />

Welt wollen sich von der Hausarbeit<br />

befreien und im öffentlichen Leben<br />

Karriere machen. Für die Hausarbeit<br />

suchen sie sich eine andere Frau. <strong>Die</strong><br />

Migration der Hausangestellten entsteht<br />

<strong>als</strong>o aus einer Nachfrage, die ihrerseits<br />

die Folge der geschlechtsspezifischen<br />

Aufteilung des Arbeitsmarktes<br />

in jenen Ländern ist, die diese Migrantinnen<br />

brauchen. <strong>Die</strong> Philippinas, die<br />

dieser Nachfrage Folge leisten, haben<br />

ebenfalls Kinder zu Hause. Wegen der<br />

Arbeitsteilung in den Privathaushalten<br />

können sie von ihren Männern nicht<br />

verlangen, dass sie die Hausarbeiten<br />

übernehmen. Hinzu kommt, dass ihre<br />

Männer ebenfalls oft Migranten sind,<br />

und zwar auf dem Bau.<br />

<strong>Die</strong> Migrantinnen lösen ihr Problem<br />

damit, dass sie ihrerseits eine<br />

Frau für die Hausarbeit anstellen. In<br />

der Familie, die nicht emigriert, in der<br />

die Mutter aber abwesend ist (außer<br />

Haus arbeitet), besteht folglich ebenfalls<br />

eine Nachfrage nach Kinderbetreuung.<br />

Da sich diese Familie keine<br />

Hausangestellte leisten kann, wird<br />

diese Arbeit von der ältesten Tochter<br />

übernommen.<br />

Am Schluss dieser weltweiten Kette<br />

betreut die älteste Tochter ihre Geschwister,<br />

sie hat <strong>als</strong>o weniger Zeit<br />

zum Spielen, zum Lernen oder für eine<br />

Arbeit außer Haus. Oft kümmert<br />

sich auch die Großmutter um die Kinder<br />

der emigrierten Frau. <strong>Die</strong>s mindert<br />

den Druck auf die älteren Kinder, bedeutet<br />

aber, dass sich die Großmütter<br />

40 bis 50 Jahre lang um Kinder kümmern.<br />

Jede Frau in dieser Kette hat<br />

das Gefühl, ihre Pflicht zu erfüllen, jede<br />

gibt die versteckten Kosten an die<br />

nächste weiter und am Schluss befindet<br />

sich die älteste Tochter der Familie, die<br />

nicht emigriert. In dieser Kette nimmt<br />

der Wert der Kinderbetreuung laufend<br />

ab und am Schluss ist sie kostenlos.<br />

Den Migrantinnen-Familien fehlen<br />

die Zuneigung und die persönliche<br />

Betreuung durch ihre Mütter. <strong>Die</strong>se<br />

sind eine Ware auf dem Weltmarkt.<br />

inprekorr 458/459 17


FRAUEN<br />

<strong>Die</strong>se „neue Ware“ wird vom Staat<br />

gefördert und unterstützt. <strong>Die</strong> beiden<br />

Staatspräsidentinnen der Philippinen,<br />

Aquino und Arroyo, haben diese Migrantinnen<br />

zu „Heldinnen“ erklärt wegen<br />

der Opfer, die sie für ihre Familien<br />

erbringen und wegen der Fortschritte,<br />

die das Land dank ihrer Geldüberweisungen<br />

machen kann. Präsidentin<br />

Arroyo hat den Ländern im Nahen<br />

Osten versprochen, ihnen fleißige<br />

und ehrliche Hausangestellte zu schicken.<br />

<strong>Die</strong> Staatspräsidentinnen sprechen<br />

von diesen Migrantinnen <strong>als</strong> den<br />

„neuen Heldinnen“, um von deren Not<br />

infolge von Trennung und Ausbeutung<br />

abzulenken.<br />

<strong>Die</strong> Migrantinnen und ihre Familien<br />

werden auf dem Altar der neoliberalen<br />

Globalisierung geopfert. Jene, die<br />

<strong>als</strong> Hausangestellte arbeiten, sind direkte<br />

Opfer der globalen Finanzkrise.<br />

Sie können nicht einmal eine Abfindung<br />

verlangen, wenn sie entlassen werden,<br />

weil sie fast immer schwarz arbeiten.<br />

Eine Regierung wie die philippinische<br />

ignoriert ihre eigenen Gesetze<br />

zum Schutz der eigenen Migranten<br />

(Republic act 8042 – Migrant Workers<br />

and Overseas Filipino Act von<br />

1995). Seit 2002 wurden zum Beispiel<br />

in Saudiarabien sechs philippinische<br />

Arbeiter, darunter eine Frau, ermordet,<br />

andere wurden zum Tode verurteilt<br />

für Verbrechen, die sie nicht begangen<br />

hatten. <strong>Die</strong> Gewalt an Migrantinnen<br />

aus Asien, Afrika und Lateinamerika,<br />

die in anderen Ländern <strong>als</strong><br />

Hausangestellte arbeiten (Schläge,<br />

Vergewaltigung, Freiheitsberaubung),<br />

ist hinlänglich bekannt.<br />

Nicht alle Vertriebenen werden zu<br />

lohnabhängigen MigrantInnen. Zahlreiche<br />

Männer, Frauen und Kinder<br />

werden von Kriegen – auch von Bürgerkriegen<br />

– und vom Klimawandel<br />

vertrieben, weil ihr angestammter Lebensraum<br />

nicht mehr bewohnbar ist.<br />

Es gibt Leute, die ihre Heimat verlassen,<br />

um politischer Verfolgung zu entgehen.<br />

Frauen fliehen vor der Gewalt<br />

in der Familie oder vor einer Zwangsheirat.<br />

Viele Migranten fliehen <strong>als</strong> politische<br />

Flüchtlinge in der Hoffnung,<br />

im Land ihrer Wahl in Sicherheit leben<br />

zu können. Leider werden die meisten<br />

von ihnen ausgestoßen oder wie Profiteure<br />

behandelt.<br />

Auch der Frauenhandel hat zugenommen.<br />

<strong>Die</strong> am weitesten verbreitete<br />

Art ist der Frauenhandel für sexuelle<br />

Ausbeutung. <strong>Die</strong>se Frauen kommen<br />

vor allem aus Osteuropa, aus Lateinamerika<br />

und Asien nach Westeuropa.<br />

Dadurch ist ein weites Netz von<br />

Frauen entstanden, die zur Sexarbeit<br />

gezwungen werden. Auch die Zahl<br />

der Frauen, die in ihrem Herkunftsland<br />

wie Haussklavinnen gehalten<br />

werden, ist im Steigen begriffen. Eine<br />

Untersuchung peruanischer Feministinnen<br />

hat kürzlich gezeigt, dass<br />

die meisten Frauen, die in Peru selbst<br />

Opfer von Frauenhandel werden, indigene<br />

Frauen sind, die entführt und <strong>als</strong><br />

Arbeiterinnen in die Stadt geschickt<br />

werden. <strong>Die</strong>s zeigt klar die wachsende<br />

Ungleichheit im Land.<br />

Flüchtlingsfrauen oder Opfer von<br />

Frauenhandel haben noch weniger<br />

Rechte <strong>als</strong> lohnabhängige Migrantinnen.<br />

<strong>Die</strong> meisten Flüchtlingsfrauen<br />

bleiben in einem anderen Land des<br />

Südens. <strong>Die</strong> Lebensbedingungen der<br />

Flüchtlinge in den fortgeschrittenen<br />

kapitalistischen Ländern haben sich<br />

in den letzten Jahren mit dem Erlass<br />

strengerer Gesetze in den USA, Europa<br />

und Australien zum Zweck der Abschreckung<br />

verschlechtert. <strong>Die</strong>s hat<br />

unterschiedliche Formen angenommen:<br />

angefangen von erschwerten<br />

Grenzübertritten, Inhaftierung vieler<br />

Flüchtlinge – schwangere Frauen und<br />

Kinder jeder Altersstufe inbegriffen –<br />

bis zu unmenschlichen Bedingungen<br />

und erschwertem Zugang zu sozialen<br />

Rechten im „Gast“-Land.<br />

Es ist nicht mehr nur die extreme<br />

Rechte, die Flüchtlinge zu Sündenböcken<br />

für die Krise macht, sondern<br />

mehr und mehr tun dies auch Politiker<br />

von Mehrheitsparteien. Im Februar<br />

2009 hat Berlusconi mit der Abstimmung<br />

über ein Dringlichkeitsgesetz<br />

zynisch versucht, den Flüchtlingen<br />

und speziell den Roma Gewalt an<br />

Frauen anzulasten, gleichzeitig hat er<br />

aber die Staatsmacht ausgebaut.<br />

• Gegen die informelle Wirtschaft!<br />

• Für einen klar geregelten, normalisierten<br />

MigrantInnen-Status!<br />

Ideologie<br />

<strong>Die</strong> Zivilisationskrise ist auch der<br />

Motor für die Zunahme reaktionärer<br />

Ideen. Berlusconis Politik, den ImmigrantInnen<br />

die volle Schuld an der<br />

Krise zuzuschieben und dies <strong>als</strong> Vorwand<br />

zu benutzen, um harte Sicherheitsgesetze<br />

– folglich immigrantInnenfeindliche<br />

Gesetze – zu erlassen,<br />

ist dafür ein extremes Beispiel.<br />

Der zunehmende Einfluss der Religion<br />

auf wachsende Teile der Bevölkerung<br />

und der Fundamentalismus bei<br />

allen großen Religionen stellen eine<br />

Bedrohung dar. Der Frauenkörper ist<br />

ein Kampffeld für alle Fundamentalisten.<br />

Ein besonders krasses Beispiel ist<br />

Irland, wo die reaktionären Elemente<br />

der katholischen Kirche Irlands behauptet<br />

hatten, der Lissabonner Vertrag<br />

zwinge Irland zur Zulassung der<br />

Abtreibung, um so die reaktionäre<br />

Opposition gegen diesen Vertrag zu<br />

unterstützen, obwohl dieser Vertrag<br />

nichts über Abtreibung sagt. Dadurch<br />

wurde die EU dazu gezwungen, formelle<br />

Garantien abzugeben, wonach<br />

Irland bei Annahme des Vertrages die<br />

Abtreibung nicht legalisieren müsste,<br />

wie sie auch garantieren musste, dass<br />

die Neutralität Irlands gewahrt bleibe.<br />

Geheime Absprachen zwischen<br />

Rechtsregierungen und religiösen Hierarchien<br />

funktionieren von Italien bis<br />

zum Iran trotz der kürzlichen Veränderungen<br />

in den USA. Eine Folge dieser<br />

Veränderungen ist der Sturz der Bush-Regierung,<br />

die sich weigerte, Kurse<br />

über Verhütungsmittel und selbst<br />

Abtreibungen zu finanzieren. <strong>Die</strong>s hat<br />

eventuell einen positiven Einfluss auf<br />

die Rechte der Frauen insbesondere in<br />

Afrika. Doch die Ermordung von Dr.<br />

Tiller, einer der wenigen Ärzte in den<br />

USA, die auch Abtreibungen im fortgeschrittenen<br />

Stadium vornahmen,<br />

muss uns daran erinnern, dass der<br />

Fundamentalismus dort noch sehr lebendig<br />

ist.<br />

Der Fundamentalismus der Bush-<br />

Regierung hatte auch einen sehr negativen<br />

Einfluss auf die Aids-Bekämpfung<br />

in Afrika. Dadurch wurden viele<br />

Frauenleben zerstört. 61 % der Aids-<br />

Kranken in Afrika südlich der Sahara<br />

sind Frauen. In einigen Ländern stecken<br />

sich viel mehr junge Frauen an<br />

<strong>als</strong> junge Männer. In Swaziland zum<br />

Beispiel haben sich viermal mehr<br />

Frauen zwischen 15 und 24 Jahren<br />

mit dem HIV-Virus infiziert <strong>als</strong> Männer<br />

gleichen Alters. Fehlende Aufklärung<br />

über die Übertragung der Krankheit<br />

und die Geldgier der Arztneimittel-Unternehmen,<br />

was den Zugang zu<br />

Medikamenten bzw. Impfstoffen gegen<br />

die Retroviren in jenen Dörfern<br />

mit dem größten Bedarf massiv behin-<br />

18 inprekorr 458/459


FRAUEN<br />

derte, sind die Hauptursachen dieser<br />

katastrophalen Folgen.<br />

2008 haben die Sandinisten in Nicaragua<br />

in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch<br />

ihre politischen Überzeugungen<br />

über Bord geworfen, um<br />

die Wahlen zu gewinnen, obwohl<br />

nichts darauf hinwies, dass ihnen das<br />

mehr Stimmen bringen würde. Sie haben<br />

nicht nur ihre frühere Haltung aufgegeben,<br />

sondern auch die Frauenbewegung<br />

aktiv verfolgt, indem sie gegen<br />

neun Feministinnen Anklage erhoben,<br />

die einem neunjährigen Mädchen<br />

zur Abtreibung verholfen hatten,<br />

das Opfer einer Vergewaltigung geworden<br />

war. Ist es Zufall, dass es sich<br />

dabei um die gleichen Frauen handelte,<br />

die die Schwiegertochter des Präsidenten<br />

Daniel Ortega bei deren Klage<br />

gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs<br />

unterstützten?<br />

Dank geheimer Absprache in Mexiko<br />

zwischen der Rechtsregierung<br />

PAN und der PRI wurde in 13 Staaten<br />

ein Gesetz für das „Recht auf Leben“<br />

erlassen. Dadurch wurde die Ausweitung<br />

des Rechts auf Abtreibung in den<br />

ersten 12 Wochen, wie es von der PRD<br />

im Distrikt Mexiko-Stadt erlassen<br />

wurde, extrem erschwert. <strong>Die</strong>s wurde<br />

dadurch möglich, dass der Fortschritt<br />

im Distrikt Mexiko-Stadt auf höherer<br />

Regierungsebene erzielt wurde und<br />

nicht dank Massenmobilisierungen,<br />

die das Bewusstsein grundlegend hätten<br />

verändern können.<br />

<strong>Die</strong> Regierung Lula in Brasilien<br />

hat soweit an einem Kompromiss mit<br />

dem Vatikan gearbeitet, bis sogar die<br />

mögliche Einführung von Religionsunterricht<br />

an den Schulen geplant war.<br />

Ende 2008 hat der Präsident des Kongresses,<br />

Arlindo Chinaglia, eine parlamentarische<br />

Untersuchungskommission<br />

zur Abtreibung eingesetzt.<br />

Sie sollte prüfen, wie Frauen kriminalisiert<br />

werden können, die ein Gesetz<br />

für das Recht auf Abtreibung fordern,<br />

und jene, die von einem solchen<br />

Recht Gebrauch machen müssten. <strong>Die</strong><br />

staatliche Justiz des Mato Grosso do<br />

Sul hat in der Stadt Campo Grande<br />

über 10 000 Frauen wegen Schwangerschaftsabbruchs<br />

angeklagt. Dabei<br />

hat sie sich auf Ärzteregister einer<br />

geheimen Klinik gestützt. Ca. 1200<br />

Frauen droht nun eine Verurteilung.<br />

In Afghanistan, eines von drei Ländern<br />

weltweit, wo die Lebenserwartung<br />

der Frauen niedriger ist <strong>als</strong> die<br />

der Männer, wurde ein Gesetz erlassen,<br />

das die Vergewaltigung in der Ehe<br />

für legal erklärt. Zudem wurde eine<br />

Klausel diskutiert, wonach Männer ihre<br />

Frauen verhungern lassen könnten,<br />

wenn sie ihnen den sexuellen Kontakt<br />

verweigern. <strong>Die</strong>s geschieht in dem<br />

Land, von dem jene zynisch behauptet<br />

haben, die am 11. September 2001 in<br />

diesem Land den Krieg begannen, sie<br />

täten es zur Verteidigung der Rechte<br />

der Frauen. Doch die Regierung, die<br />

sie eingesetzt haben, ist ebenso reaktionär<br />

und hängt ebenso von den islamistischen<br />

Fundamentalisten ab wie ihre<br />

Vorgängerinnen (die ebenfalls vom<br />

US-amerikanischen Imperialismus<br />

eingesetzt worden waren).<br />

<strong>Die</strong> neue afghanische Verfassung<br />

lässt für die schiitischen Bevölkerungsgruppen<br />

ein separates „Familiengesetz“<br />

zu. Im Rahmen dieser Gesetze<br />

finden nun im Vorfeld der Wahlen<br />

vom Herbst 2009 die oben genannten<br />

Diskussionen statt. Wie in vielen<br />

anderen Fällen werden das Leben und<br />

der Körper der Frauen instrumentalisiert.<br />

<strong>Die</strong> afghanischen Frauen wehren<br />

sich – mit moralischer Unterstützung<br />

von Feministinnen anderer Länder<br />

–, aber ihre Proteste werden von<br />

den Fundamentalisten heftig angegriffen.<br />

Als Feministinnen werden wir<br />

noch von anderer Seite angegriffen:<br />

vom Postfeminismus und vom Männlichkeitswahn.<br />

<strong>Die</strong>se Strömungen sind<br />

der Meinung, dass der Feminismus<br />

„zu weit“ gegangen sei, und sie setzen<br />

die Theorie der Unterschiede ein, um<br />

das Recht der Frauen auf Abtreibung,<br />

auf Scheidung und auf Schutz vor Gewalt<br />

anzugreifen.<br />

• Vollständige Trennung von Staat<br />

und Religionen, gegen den Einfluss<br />

der Religionen bei der Ausarbeitung<br />

von Gesetzen, in der Rechtsprechung,<br />

im Gesundheitswesen<br />

und in der Bildung!<br />

• Für das Recht auf Abtreibung, Ver-<br />

hütung und Aufklärung!<br />

<strong>Die</strong> Gewalt<br />

<strong>Die</strong> Zivilisationskrise wird begleitet<br />

von einer wachsenden Entfremdung<br />

und folglich von einer Zunahme der<br />

Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft.<br />

Im privaten und im öffentlichen<br />

Raum fallen die Frauen dieser Gewalt<br />

zum Opfer: In Frankreich stirbt jeden<br />

dritten Tag eine Frau an ehelicher Gewalt.<br />

<strong>Die</strong> Vorherrschaft der Männer<br />

am Arbeitsplatz führt zu weit verbreiteter<br />

physischer, psychischer und sexueller<br />

Gewalt und dieses Phänomen<br />

verstärkt sich noch mit der sich vertiefenden<br />

Krise.<br />

Krieg ist die klarste, brut<strong>als</strong>te und<br />

brutalisierendste Form dieser Gewalt.<br />

Seit dem Ende des 20. Jh. und dem Beginn<br />

des 21. Jh. ist es normal geworden,<br />

dass die Zivilbevölkerung stark<br />

von Gewalt betroffen ist und folglich<br />

auch viele Frauen und Kinder.<br />

Seit dem Balkan-Krieg und während<br />

der Kriege in der Gegend der<br />

Großen Seen in Afrika stellen wir fest,<br />

dass die Vergewaltigung zunehmend<br />

<strong>als</strong> Kriegswaffe eingesetzt wird.<br />

Wegen der erdrückenden Beweise<br />

für das Ausmaß der zwischen 1992<br />

und 1995 von Serben in Bosnien verübten<br />

Vergewaltigungen musste der<br />

Internationale Gerichtshof für Ex-Jugoslawien<br />

diese Verbrechen offen diskutieren.<br />

<strong>Die</strong>s hat dazu geführt, dass<br />

1996 Vergewaltigung zum ersten Mal<br />

<strong>als</strong> Kriegsverbrechen anerkannt wurde.<br />

Nach Angaben der Frauengruppe<br />

von Tresjevka wurden über 35 000<br />

Frauen und Kinder von den Serben in<br />

„Vergewaltigungslagern“ gefangengehalten.<br />

<strong>Die</strong> gefangenen Muslimfrauen<br />

und die Kroatinnen wurden dort bewusst<br />

vergewaltigt und geschwängert.<br />

Im Rahmen einer patriarchalen Gesellschaft,<br />

in der die Kinder die ethnische<br />

Herkunft des Vaters erben,<br />

sollte in den „Vergewaltigungslagern“<br />

eine neue Generation serbischer Kinder<br />

geboren werden. Es handelte sich<br />

um eine ethnische Säuberung mit anderen<br />

Mitteln.<br />

Das gleiche Schreckensregime erlebten<br />

die Frauen in der Gegend der<br />

Großen Seen in Afrika. Ihre Körper<br />

wurden zum Kampfmittel, denn<br />

mit ihm werden die neuen Generationen<br />

gezeugt und in einem ethnischen<br />

Krieg geht es in letzter Instanz darum<br />

zu verhindern, dass sich der Feind<br />

fortpflanzen kann. <strong>Die</strong> sexuelle Gewalt<br />

ist in dieser Region zu einer offensichtlichen<br />

und wirksamen Kriegsstrategie<br />

geworden.<br />

Mit den gewaltsamen Geschlechtsakten<br />

sollen die Opfer und die Bevölkerung<br />

generell gequält und verängstigt<br />

werden. Es gibt keine Benachteiligung<br />

nach Alter. Einige Monate alte<br />

inprekorr 458/459 19


FRAUEN<br />

Babys und 84-jährige Frauen erlitten<br />

die gleiche Gewalt. Nach Schätzungen<br />

der UNO-Agenturen, die im Osten der<br />

Demokratischen Republik Kongo arbeiten,<br />

wurden dort von 1996 bis 2002<br />

ca. 50 000 Frauen vergewaltigt, und im<br />

Konflikt südlich von Kivu haben 55 %<br />

der Frauen sexuelle Gewalt erlebt. Man<br />

schätzt, dass beim Völkermord in Ruanda<br />

250 000 Frauen vergewaltigt wurden.<br />

Ein Bericht über Haïti von Amnesty<br />

International vom November 2008<br />

spricht davon, dass neu festzustellen<br />

ist, dass Gruppen bewaffneter Männer<br />

junge Frauen angreifen. <strong>Die</strong> Vergewaltigungs-Tradition<br />

ist bei der Rebellion,<br />

die 2004 zur Verjagung von Aristide<br />

geführt hat, <strong>als</strong> eine politische Waffe in<br />

Erscheinung getreten. <strong>Die</strong> bewaffneten<br />

Rebellen begannen sie einzusetzen, um<br />

Angst zu verbreiten und die Frauen zu<br />

bestrafen, die die demokratische Regierung<br />

unterstützt hatten. „Bei den<br />

kriminellen Banden wurde die Vergewaltigung<br />

zu einer geläufigen Praxis“<br />

heißt es im Bericht. Unter den im November<br />

2008 geschilderten 105 Fällen<br />

befanden sich 55 % Mädchen unter 18<br />

Jahren. 2007 wurden 238 Vergewaltigungen<br />

aktenkundig. In 140 Fällen waren<br />

Mädchen im Alter von 19 Monaten<br />

bis 18 Jahren betroffen. All dies geschah,<br />

obwohl seit 2004 UNO-Truppen<br />

dort stationiert sind.<br />

<strong>Die</strong> Frauen in Palästina und besonders<br />

in Gaza leiden weiterhin unter der<br />

israelischen Besatzung. Schwangeren<br />

Frauen kurz vor der Niederkunft<br />

oder die gegen Ende der Schwangerschaft<br />

ärztliche Hilfe benötigen, wird<br />

an den Checkpoints oft die Durchreise<br />

nach Israel verweigert. <strong>Die</strong> Spitäler<br />

in Gaza erhalten nicht die notwendigen<br />

medizinischen Einrichtungen, selbst<br />

dann nicht, wenn humanitäre Hilfskonvois<br />

sie bringen. Viele Frauen hatten<br />

Fehlgeburten oder starben in dieser<br />

Barbarei. Während der Bombardierungen<br />

von Gaza Anfang 2009 starben<br />

192 Frauen. Und der Belagerungszustand<br />

wirkt sich weiterhin sehr negativ<br />

auf die <strong>ganze</strong> Gesellschaft aus, auch<br />

auf die physische und mentale Gesundheit<br />

von Frauen und Kindern.<br />

An anderen Orten sehen wir die Folgen<br />

der zunehmenden Militarisierung<br />

der Gesellschaft, was zu einer wachsenden<br />

Kriminalisierung der Zivilgesellschaft<br />

und zur gewaltsamen Repression<br />

durch die Staatsgewalt führt.<br />

Sexuelle Gewalt, die Vergewaltigung<br />

eingeschlossen, wird immer mehr eingesetzt.<br />

2006 lancierte die Polizei von<br />

Atenco in Mexiko einen gewaltsamen<br />

Angriff auf die sozialen Bewegungen,<br />

was zu zwei Toten und zu sexuellen<br />

Übergriffen auf 26 Frauen führte. Der<br />

Drogenkrieg in Lateinamerika und der<br />

Krieg gegen den Terror sind die zwei<br />

Seiten derselben Medaille.<br />

Auch die US-Truppen haben in<br />

Abu Graib und Guantánamo fürchterliche<br />

sexuelle Folterungen begangen –<br />

auch Frauen. Mit solchen Übergriffen<br />

an männlichen Gefangenen, von denen<br />

angenommen wurde, dass sie gläubig<br />

sind, sollen die Opfer gedemütigt und<br />

körperlich verletzt werden.<br />

<strong>Die</strong> Vorurteile – Rassismus, Antisemitismus,<br />

Sexismus und Ablehnung<br />

gleichgeschlechtlicher Liebe – die<br />

dank der Errungenschaften der Frauenbewegungen<br />

zurückgedrängt wurden,<br />

breiten sich wieder stärker aus. Neu<br />

dazu gekommen ist der Hass gegen<br />

Muslime. <strong>Die</strong> steigenden Zahlen von<br />

Tötungen aus diesen Gründen zeigen,<br />

dass diese Vorurteile zu zunehmender<br />

Gewalt führen.<br />

Frauenmorde sind zum ersten Mal<br />

zu Beginn der 1990er Jahre in Ciudad<br />

Juárez (im Staat Chihuahua, Mexiko)<br />

verübt worden und dauern bis<br />

heute an. Als sich die Frauen organisierten<br />

und begannen, sich dagegen zu<br />

wehren, zeigte es sich, dass hunderte<br />

von Frauen getötet werden, bloß weil<br />

sie Frauen sind. <strong>Die</strong>ses Phänomen beschränkt<br />

sich keineswegs nur auf diese<br />

mexikanische Stadt. Frauenmorde<br />

gibt es in ganz Mexiko und in anderen<br />

lateinamerikanischen Staaten wie Guatemala,<br />

El Salvador, Honduras, Costa<br />

Rica, Chile, Argentinien und auch<br />

im spanischen Staat. Der Frauenmord<br />

ist die (un)logische Ausweitung und<br />

Normalisierung aller anderen Formen<br />

von Gewalt an Frauen. Wie bei anderen<br />

ähnlichen Verbrechen werden sie von<br />

Männern verübt, die in der einen oder<br />

anderen Form eine Beziehung zum Opfer<br />

unterhielten.<br />

• Für Einrichtungen zur Unterstützung<br />

und Hilfe für Frauen, die Opfer oder<br />

mögliche Opfer von Gewalttaten<br />

sind: Frauenzentren, das Recht auf<br />

eine eigene Wohnung und Sozialhilfe,<br />

geeignete Ausbildung für SozialarbeiterInnen,<br />

Polizei und Justiz!<br />

Übersetzung: Ursi Urech<br />

20 inprekorr 458/459


Israel/Palästina<br />

Ja zu Boykott, Desinvestition und<br />

Sanktionen (BDS) gegen Israel<br />

Eine Antwort auf Uri Avnery von Michel Warschawski<br />

Der BDS-Aufruf – BDS steht für Boykott,<br />

Desinvestition und Sanktionen –<br />

hat die öffentliche Meinung in Israel erreicht.<br />

Entscheidend dafür war der Beschluss<br />

Norwegens, seine Fonds aus israelischen<br />

Unternehmen abzuziehen,<br />

die am Bau von Siedlungen [in den besetzten<br />

Gebieten] beteiligt sind. Es ist<br />

der erste große Erfolg dieser wichtigen<br />

Kampagne. Nachdem Uri Avnery die<br />

BDS-Kampagne jahrelang ignorierte,<br />

fand er es schließlich nötig, zweimalig<br />

in seinen Blog darauf einzugehen. Wie<br />

Uri Avnery reagiere auch ich in meinem<br />

eigenen Blog nur selten auf die Meinung<br />

anderer. Wie Avnery feinfühlig<br />

ausführt: „Ich möchte meine Ansichten<br />

niemandem aufzwingen; ich möchte nur<br />

zur Reflexion beitragen und überlasse<br />

es den LeserInnen, sich selbst ihre Meinung<br />

zu bilden.“ Manche der von Avnery<br />

vorgebrachten Argumente rufen dennoch<br />

nach Antwort, denn sie könnten<br />

die LeserInnen fehlleiten.<br />

Ungeachtet meiner Meinungsverschiedenheiten<br />

mit Avnery – auch wenn<br />

diese gegenüber früher wesentlich seltener<br />

sind –, zolle ich ihm <strong>als</strong> Journalisten,<br />

Aktivisten und politischen Kommentator<br />

großen Respekt. Seit dem<br />

Bankrott von Peace Now im Verlauf<br />

des Oslo-Prozesses standen wir im politischen<br />

Engagement oft Seite an Seite,<br />

und ich wage zu behaupten, wir sind<br />

Freunde geworden. Deshalb fühle ich<br />

mich verpflichtet, auf Avnerys Kritik an<br />

der BDS-Kampagne zu reagieren.<br />

Ich möchte mit einer Binsenweisheit<br />

beginnen, die meines Erachtens an<br />

der Diskussion vorbeizielt. „Hass ist ein<br />

schlechter Ratgeber“, schreibt Uri, und<br />

ich bin der Letzte, der dem widersprechen<br />

möchte. Im Übrigen würde er mir<br />

zweifellos zustimmen, wenn ich ergänze,<br />

dass in unserem Kontext Hass dennoch<br />

verständlich ist.<br />

Vergleich mit Südafrika<br />

„Israel ist nicht Südafrika“, schreibt<br />

Uri. Natürlich ist es das nicht, und jede<br />

konkrete Realität hat ihre Besonderheiten.<br />

Dennoch gibt es zwischen den<br />

beiden Ländern einige Ähnlichkeiten:<br />

Beide sind rassistische Staaten, mit (unterschiedlichen)<br />

Apartheidsystemen (im<br />

wörtlichen Sinn, denn Apartheid bedeutet<br />

„strukturelle Segregation“). <strong>Die</strong><br />

beiden Länder sind <strong>als</strong> „europäische<br />

Staaten“ in einem aus Nichteuropäern<br />

bestehenden nationalen/ethnischen<br />

Umfeld entstanden, das zu Recht <strong>als</strong><br />

feindlich wahrgenommen wird. Ebenso<br />

müssen wir – und das ist bereits ein<br />

wichtiger Punkt – eingestehen, dass<br />

wir, wenn wir in unserem Kampf substanzielle<br />

Erfolge erzielen wollen, eine<br />

auf Einheit bedachte Dynamik erzeugen<br />

müssen, die auch den nationalen palästinensischen<br />

Widerstand, die israelischen<br />

BesatzungsgegnerInnen und die internationale<br />

Solidaritätsbewegung mit einbezieht,<br />

was ich vor zehn Jahren das „siegreiche<br />

Dreieck“ genannt habe.<br />

Vieles verbindet uns mit Uri, bis zu<br />

dem Punkt, wo er seine politischen GegenerInnen<br />

f<strong>als</strong>ch einschätzt. Im seinem<br />

auf den Artikel von Neve Gordan in der<br />

Los Angeles Times eingehenden Beitrag<br />

schreibt Avnery: „Neve Gordon und seine<br />

BDS-Partner haben die Hoffnung in<br />

die Israelis verloren.“ Wäre dies wahr,<br />

warum würden dann Neve, ich selbst<br />

und so viele andere Israelis, die sich in<br />

der BDS-Kampagne engagieren, so viel<br />

Zeit damit verbringen, gemeinsam mit<br />

Uri Avnery eine israelische Bewegung<br />

gegen Krieg, Besatzung und Kolonialisierung<br />

aufzubauen? <strong>Die</strong> wahre Frage<br />

lautet nicht: „Muss die israelische Gesellschaft<br />

verändert werden?“, sondern<br />

vielmehr, wie dies geschehen soll.<br />

Frieden oder Gerechtigkeit?<br />

Uri Avnerys politisches Ziel ist, wie er<br />

selbst sagt, „Frieden zwischen Israelis<br />

und Palästinensern“, <strong>als</strong>o ein Kompromiss,<br />

der von einer Mehrheit auf beiden<br />

Seiten auf symmetrischer Grundlage<br />

angenommen würde. In einem wichtigen<br />

Beitrag nannte Avnery das „Wahrheit<br />

gegen Wahrheit“. Eine solche Symmetrie<br />

stützt sich auf eine andere Vorannahme<br />

Avnerys, dass nämlich der Palästina-Konflikt<br />

ein Konflikt zwischen<br />

zwei gleichermaßen legitimen Nationalbewegungen<br />

sei.<br />

Neve und viele andere UnterstützerInnen<br />

der BDS-Kampagne widersprechen<br />

diesen beiden Ansichten. Unser<br />

Ziel ist nicht Frieden gegen Frieden,<br />

denn Frieden an sich bedeutet noch<br />

nichts (praktisch jeder Krieg in der modernen<br />

Geschichte wurde unter dem<br />

Vorwand begonnen, Frieden herzustellen).<br />

Frieden ist immer ein Ergebnis<br />

eines Kräfteverhältnisses, in dem ein<br />

Lager dem anderen alles aufzwingen<br />

kann, was es <strong>als</strong> seine legitimen Rechte<br />

ansieht.<br />

Entgegen Uris Ansicht ist unser Ziel<br />

die Entfaltung gewisser Werte wie der<br />

individuellen und kollektiven Grundrechte,<br />

des Endes von Vorherrschaft<br />

und Unterdrückung, der Entkolonialisierung,<br />

der Gleichheit und möglichst<br />

umfassender Gerechtigkeit. In einem<br />

solchen Rahmen können wir zweifellos<br />

„Friedensinitiativen“ unterstützen,<br />

die das Niveau an Gewalt reduzieren<br />

und/oder ein gewisses Maß an Rechten<br />

durchsetzen. Dennoch ist die Unterstützung<br />

von Friedensinitiativen kein Ziel<br />

an sich, sondern nur ein Mittel, um Fortschritte<br />

im Hinblick auf die Verwirklichung<br />

der genannten Werte und Rechte<br />

zu erzielen.<br />

<strong>Die</strong>se Unterscheidung von „Frieden“<br />

und „Gerechtigkeit“ hängt mit der<br />

Meinungsdifferenz bezüglich der zweiten<br />

Annahme Avnerys zusammen: der<br />

Symmetrie zwischen den beiden Nationalbewegungen<br />

und zwei gleich legitimen<br />

Ansprüchen.<br />

Der Zionismus ist für uns keine nationale<br />

Befreiungsbewegung, sondern eine<br />

kolonialistische Bewegung, und der<br />

Staat Israel war immer ein Koloni<strong>als</strong>taat.<br />

inprekorr 458/459 21


Israel/Palästina<br />

Frieden oder besser noch Gerechtigkeit<br />

kann nur unter den Bedingungen völliger<br />

Entkolonialisierung (man könnte<br />

sagen: Entzionisierung) des Staates Israel<br />

hergestellt werden. Es handelt sich<br />

um eine Vorbedingung für die Realisierung<br />

der legitimen Rechte der PalästinenserInnen<br />

– der Flüchtlinge ebenso<br />

wie der BewohnerInnen des Westjordanlands<br />

und Gazastreifens, die unter<br />

israelischer Besatzung leben, oder der<br />

PalästinenserInnen, die <strong>als</strong> BürgerInnen<br />

zweiter Klasse in Israel leben. Ob am<br />

Ende dieser Entkolonialisierung eine<br />

Einstaatenlösung steht oder zwei demokratische<br />

Staaten – die somit kein „jüdischer<br />

Staat“ sein können–, eine Föderation<br />

oder ein anderes institutionelles<br />

System, ist zweitrangig. Das wird sich<br />

letztlich, wenn es so weit ist, im Kampf<br />

selbst und je nach Beteiligung der Israelis<br />

entscheiden.<br />

In diesem Sinn irrt Uri Avnery, wenn<br />

er behauptet, unsere Differenz beträfe<br />

die Frage der Einstaaten- oder Zweistaatenlösung.<br />

Wie bereits ausgeführt,<br />

betrifft sie die Frage von Rechten, von<br />

Entkolonialisierung und vollständigem<br />

Gleichheitsprinzip. Welche Form sich<br />

dann durchsetzt, ist meiner Ansicht nach<br />

nicht entscheidend, solange wir von einer<br />

Lösung sprechen, in der beide Völker<br />

in Freiheit (<strong>als</strong>o nicht in einer Art<br />

Kolonialverhältnis) und Gleichheit leben.<br />

Eine andere wichtige Meinungsdifferenz<br />

gegenüber Uri Avnery betrifft<br />

die Dialektik zwischen dem Terminplan<br />

der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung<br />

und der Rolle des sogenannten<br />

israelischen Friedenslagers.<br />

Auch wenn die palästinensische Nationalbewegung<br />

klarerweise möglichst<br />

viele Bündnispartner auf israelischer<br />

Seite braucht, um ihre Befreiung so<br />

schnell wie möglich und mit möglichst<br />

wenig Leiden durchzusetzen, kann man<br />

von der palästinensischen Bewegung<br />

nicht erwarten, dass sie sich geduldet,<br />

bis Uri, Neve und andere israelische<br />

Antikolonialisten die Mehrheit der israelischen<br />

Öffentlichkeit überzeugt haben.<br />

Aus zwei Gründen: erstens, weil<br />

nationale Befreiungsbewegungen mit<br />

ihrem Kampf gegen Unterdrückung<br />

und Kolonialismus nicht abwarten; und<br />

zweitens, weil die Geschichte uns gelehrt<br />

hat, dass Veränderungen aus dem<br />

Inneren einer Kolonialgesellschaft immer<br />

das Ergebnis eines Befreiungskampfs<br />

waren und nicht umgekehrt.<br />

Wenn der Preis der Besatzung zu hoch<br />

wird, verstehen immer mehr Menschen,<br />

dass man so nicht weitermachen kann.<br />

Der Preis für die Kolonialisierung<br />

Ja, man muss die Hand ausstrecken<br />

zum Zusammenleben, aber verbunden<br />

mit einer harten Hand, die entschlossen<br />

für Recht und Freiheit kämpft. Das<br />

Scheitern des Oslo-Prozesses bestätigt<br />

die alte Lehre aus der Geschichte: Jeder<br />

Versuch der Versöhnung vor Durchsetzung<br />

von Rechten festigt nur den Fortbestand<br />

des kolonialen Herrschaftsverhältnisses.<br />

Warum sollten die Israelis<br />

die Besatzung beenden und damit eine<br />

tiefgehende innere Krise provozieren,<br />

wenn sie keinen Preis für die anhaltende<br />

Besatzung zahlen müssen?<br />

Deshalb ist die BDS-Kampagne so<br />

treffend: Sie bietet einen internationalen<br />

Rahmen, um das palästinensische<br />

Volk darin zu unterstützten, seine legitimen<br />

Rechte sowohl auf institutioneller<br />

Ebene (der Staaten und internationalen<br />

Institutionen) <strong>als</strong> auch auf Ebene<br />

der Zivilgesellschaft durchzusetzen.<br />

Sie richtet sich einerseits an die internationale<br />

Gemeinschaft, die aufgefordert<br />

wird, einen Staat zu bestrafen, der<br />

systematisch das Völkerrecht, die Genfer<br />

Konventionen und verschiedene Abkommen<br />

verletzt ; andererseits ruft sie<br />

die Zivilgesellschaft weltweit auf, einzeln<br />

und in sozialen Bewegungen (Gewerkschaften,<br />

Parteien, Gemeinderäte,<br />

Vereine etc.) Produkte, offizielle Vertreter,<br />

Institutionen etc. zu boykottieren,<br />

die den israelischen Koloni<strong>als</strong>taat<br />

vertreten.<br />

<strong>Die</strong> beiden Aufgaben (Boykott und<br />

Sanktionen) werden letztlich Druck auf<br />

das israelische Volk ausüben und ihm<br />

zu verstehen geben, dass Besatzung<br />

und Kolonialisierung ihren Preis haben,<br />

dass die Missachtung der Regeln<br />

des Völkerrechts den Staat Israel früher<br />

oder später zu einem sich selbst isolierenden<br />

Land macht, das in der Gemeinschaft<br />

der zivilisierten Nationen nicht<br />

geduldet wird. Genauso wie Südafrika<br />

in den letzten Jahren der Apartheid.<br />

In diesem Sinn richtet sich die BDS-<br />

Kampagne entgegen der Aussage von<br />

Uri sehr wohl an die israelische Öffentlichkeit<br />

und ist mittlerweile die einzige<br />

Möglichkeit, die Israelis zur Änderung<br />

ihrer Haltung gegenüber der Besatzung<br />

und Kolonialisierung zu bewegen. Vergleicht<br />

man die BDS-Kampagne mit<br />

der Boykott-Kampagne zur Zeit der<br />

Anti-Apartheid-Bewegung, die zwanzig<br />

Jahre brauchte, bevor sie Früchte<br />

trug, kann man nur über ihre Effizienz<br />

staunen, die für uns in Israel bereits<br />

spürbar ist.<br />

<strong>Die</strong> BDS-Kampagne wurde von<br />

einem breiten Bündnis palästinensischer<br />

politischer und sozialer Bewegungen<br />

lanciert. Kein Israeli, der behauptet, für<br />

die Rechte des palästinensischen Volks<br />

einzutreten, kann sich diskret von dieser<br />

Kampagne abwenden: Nachdem<br />

jahrelang betont wurde, dass „der bewaffnete<br />

Kampf keine gute Wahl ist“,<br />

wäre es vermessen, wenn dieselben israelischen<br />

AktivistInnen die BDS-Strategie<br />

disqualifizieren wollten. Wir müssen<br />

uns im Gegenteil gemeinsam der<br />

Kampagne „Boykott from Within“ anschließen,<br />

um diese palästinensische<br />

Initiative von israelischer Seite zu unterstützen.<br />

Das ist das Mindeste, was<br />

wir tun können, und das Mindeste, was<br />

wir tun sollten.<br />

8. Oktober 2009<br />

Michael Warschawski, Begründer des Alternative<br />

Information Center (AIC) in Israel, ist<br />

Journalist und Schriftsteller. Publikationen in<br />

deutscher Sprache: Mit Höllentempo. <strong>Die</strong> Krise<br />

der israelischen Gesellschaft, Hamburg 2004.<br />

An der Grenze. Mit einem Vorwort von Moshe<br />

Zuckermann. Hamburg 2004. Mit Sophia Deeg<br />

und Michèle Sibony: Stimmen israelischer<br />

Dissidenten, Köln 2005. Mit Gilbert Achcar:<br />

Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen Hisbollah<br />

im Libanon und seine Konsequenzen, Hamburg<br />

2007.<br />

Auf Französisch: Israël-Palestine, le défi binational<br />

(Textuel, Paris 2003), Programmer le désastre.<br />

La politique israélienne à l’œuvre (La<br />

Fabrique, Paris 2008), Destins croisés. Israéliens-Palestiniens,<br />

l’histoire en partage (Riveneuve,<br />

Paris 2009).<br />

Uri Avnery ist israelischer Schriftsteller und<br />

Journalist. Zwischen 1949 und 1950 Mitarbeiter<br />

der Tageszeitung Haaretz, danach Gründer<br />

der Wochenzeitung Haolam Hazeh (1950–<br />

1993), ehemaliger Knesset-Abgeordneter<br />

(1965–1973 und 1979–1981), Gründer von<br />

Gush Shalom (Friedensblock). Eine Auswahl<br />

seiner Artikel auf Deutsch unter www.uri-avnery.de<br />

Französische Quelle: http://www.france-palestine.org/imprimersans.php3?id_article=12878<br />

Übersetzung: Tigrib<br />

22 inprekorr 458/459


Iran<br />

Wohin treibt die islamische<br />

Republik?<br />

Houshang Sepehr<br />

Im Iran ereignete sich eine spontane,<br />

erfinderische und unabhängige Revolte<br />

eines von dreißig Jahren Tyrannei eines<br />

obskurantistischen religiösen Regimes<br />

frustrierten Volkes, die durch den Wahlbetrug<br />

ausgelöst wurde. <strong>Die</strong> gegenwärtige<br />

Situation stellt nur das Ende eines<br />

langen und komplexen Weges dar, der<br />

sich im Innern des Regimes entwickelte,<br />

eine tiefe Krise in der Spitze des<br />

Staates und innerhalb der herrschenden<br />

Klasse einerseits, in der iranischen Gesellschaft<br />

andererseits. <strong>Die</strong>se Konjunktur<br />

hat einen Raum für eine wirkliche<br />

Massenbewegung eröffnet, um die islamische<br />

Republik durch eine laizistische,<br />

demokratische, soziale und moderne<br />

Republik zu ersetzen.<br />

Der Charakter der Bewegung<br />

Abgesehen von einem Teil der Fraktion,<br />

die sich an der Macht befindet, von<br />

einigen Zynikern und Verschwörungstheoretikern,<br />

zu denen sich leider auch<br />

einige Gruppen und Personen einer<br />

verwirrten radikalen Linken gesellten,<br />

zweifelt niemand daran, dass die überwiegende<br />

Mehrheit der iranischen Völker<br />

klar und eindeutig ihre Sehnsucht<br />

bekundet hat, mit dem gegenwärtigen<br />

politischen System Schluss zu machen.<br />

Weil die sogenannte „reformistische“<br />

Fraktion wertvolle Zeit vergeudet und<br />

ihre einzigartige Gelegenheit verpasst<br />

hat, ist es das <strong>ganze</strong> islamistische System<br />

und nicht nur die Konservativen,<br />

das nun in Frage gestellt wird.<br />

Im Iran glaubt niemand der Regierungspropaganda,<br />

die behauptet, dass<br />

die auf die Bekanntgabe der Wahlergebnisse<br />

folgenden Protestmärsche das<br />

Werk ausländischer Organisatoren gewesen<br />

seien, auch nur ein Wort. <strong>Die</strong>se<br />

Krise hat alle Anzeichen eines totalen<br />

Scheiterns der islamischen Republik.<br />

Im Verlauf der letzten dreißig Jahre<br />

hat das Regime, um seine Krisen zu<br />

überleben und seinen Niedergang zu<br />

verhüllen, fortwährend von den äußeren<br />

Gefahren – den realen und eingebildeten<br />

– geredet.<br />

Im Westen haben einige Analysten<br />

der „Linken“ erklärt, die DemonstrantInnen<br />

auf den Straßen von Teheran<br />

und in den anderen Großstädten entstammten<br />

den begütertsten Schichten<br />

der städtischen Mittelklasse, und Mussawi<br />

sei ihr politischer Repräsentant.<br />

Ihnen zufolge habe Ahmadinedschad<br />

weiterhin eine starke Unterstützung bei<br />

der überwiegenden Bevölkerung in den<br />

städtischen und ländlichen Regionen<br />

der Armen. <strong>Die</strong>se angeblichen Analysten<br />

kennen sich weder in der Klassenstruktur<br />

der iranischen Gesellschaft<br />

noch der der islamischen Republik einigermaßen<br />

aus, weder kennen sie den<br />

Hintergrund der Wahlen noch die Konsequenzen<br />

für die Zukunft des Landes<br />

und nicht einmal der genauen Wahlergebnisse.<br />

Bevor wir zu den Einzelheiten des<br />

Wahlkampfes, zur Wahl des Präsidenten<br />

und den Massenprotesten kommen,<br />

scheint es uns nötig, einen Überblick<br />

über die iranische Gesellschaft<br />

und das herrschende Regime zu geben.<br />

Strukturelles Paradox<br />

des politischen Systems<br />

Soziologisch betrachtet ist der Iran eine<br />

der gebildetsten Gesellschaften der<br />

Region: <strong>Die</strong> Analphabetenrate liegt<br />

bei unter 10 Prozent, es gibt 2,5 Mio.<br />

Studierende (von denen 51 % Studentinnen<br />

sind) bei einer Gesamtbevölkerung<br />

von 70 Mio., die insgesamt sehr<br />

jung ist (über 60 % sind unter 30 Jahre<br />

alt). Das Land wird von einem mittelalterlichen,<br />

diktatorischen politischen<br />

und juristischen System beherrscht.<br />

Bei ihrem Ziel, das private und öffentliche<br />

Leben der BürgerInnen zu reglementieren,<br />

werden die Verfassung und<br />

diverse Gesetze von einer rigiden Interpretation<br />

des Islams geleitet, die<br />

nicht den geringsten Platz für Demokratie<br />

im Allgemeinen lässt und besonders<br />

Frauen und Jugendlichen gegenüber<br />

kaum zu Zugeständnissen bereit<br />

ist.<br />

Auf politischer Ebene handelt es<br />

sich um einen Doppelstaat ohne Vergleich,<br />

um ein theokratisches Regime<br />

unter der Maske einer Republik. Der<br />

Autor dieses Artikels hat im Übrigen<br />

eine detaillierte Beschreibung des politischen<br />

Systems der islamischen Republik<br />

abgeliefert. 1<br />

Kurz erklärt gibt es auf der einen<br />

Seite eine Theokratie, die ohne Wahlen<br />

regiert und in allen Bereichen die<br />

Macht hält, bestehend aus:<br />

• dem obersten Führer (der Vertreter<br />

Gottes auf Erden, der von der<br />

Expertenversammlung, einer Versammlung<br />

von Würdenträgern bestimmt<br />

wird, die selbst wiederum<br />

ausgewählt und in einer komplexen<br />

Prozedur ernannt werden, in der das<br />

Volk wenig zu sagen hat);<br />

• dem Wächterrat der Verfassung (12<br />

vom obersten Führer ausgesuchte<br />

Kleriker): Sie sind der Wachhund des<br />

Regimes, der überwacht, ob die Gesetze<br />

des Parlamentes und die Auswahl<br />

von Kandidaten für das Parlament<br />

und die Präsidentschaft auch<br />

mit dem Islam konform gehen;<br />

• der Expertenversammlung, die den<br />

obersten Führer wählt;<br />

• dem Entscheidungsrat, der bei Streitigkeiten<br />

zwischen dem islamischen<br />

Parlament und dem Wächterrat zu<br />

vermitteln hat;<br />

• dem Justizsystem, das darüber<br />

wacht, dass die islamischen Gesetze<br />

angewandt werden; es wird von ultrakonservativen<br />

Klerikern kontrolliert.<br />

Der Vorsitzende wird vom<br />

obersten Führer ernannt und ist ihm<br />

persönlich rechenschaftspflichtig;<br />

1 Vgl. Houshang Sepehr, „Iran: Un califat déguisé<br />

en République“, (Als Republik verkleidetes<br />

Kalifat) in : Inprecor Nr. 520, September/Oktober<br />

2006, http://orta.dynalias.org/inprecor/<br />

article-inprecor?id=140<br />

inprekorr 458/459 23


Iran<br />

• den Streitkräften. Sie umfassen die<br />

Wächter der islamischen Revolution<br />

(WIR oder Pasdaran, die ideologische<br />

Armee des Regimes), sowie<br />

die klassischen Armeen. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />

Befehlshaber der Armeen<br />

und der Revolutionswächter werden<br />

vom obersten Führer ernannt<br />

und sind nur diesem rechenschaftspflichtig.<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe der Revolutionswächter<br />

ist es, die Gegner der<br />

islamischen Revolution zu bekämpfen.<br />

Sie kontrollieren die paramilitärischen<br />

Milizen (Bassidschi) und<br />

operieren in allen Städten.<br />

Auf der anderen Seite gibt es durch<br />

Wahlen bestimmte Funktionen: <strong>Die</strong> des<br />

Präsidenten der Republik und der Mitglieder<br />

des islamischen Parlamentes<br />

(Majles). Alle vom Parlament angenommenen<br />

Gesetze müssen durch den<br />

sehr konservativen Wächterrat auf ihre<br />

Vereinbarkeit sowohl im Hinblick auf<br />

die Verfassung wie den Islam beurteilt<br />

werden. <strong>Die</strong> Mitglieder der Regierung<br />

werden vom Präsidenten ernannt. Der<br />

oberste Führer hat erhebliche Befugnisse<br />

in der Durchführung aller Handlungen,<br />

die mit der Verteidigung, der<br />

Sicherheit und der Außenpolitik zu tun<br />

haben.<br />

Es ist offensichtlich, dass dieses<br />

System keiner Republik ähnelt. Wir<br />

möchten es <strong>als</strong> Kalifat (zu 90 %) bezeichnen,<br />

das sich <strong>als</strong> Republik (zu<br />

10 %) verkleidet.<br />

Seit Beginn der islamischen Revolution<br />

lagen diese beiden offensichtlich<br />

widersprüchlichen Aspekte (der<br />

theokratische und der auf Wahlen beruhende)<br />

des Systems miteinander in<br />

Spannung. Der erste Präsident der Republik,<br />

Bani-Sadr, wurde 1981 von<br />

Ayatollah Khomeini abgesetzt, weil es<br />

zwischen beiden große Meinungsverschiedenheiten<br />

gab. 1997 wurde der<br />

„islamische Reformist“ Khatami, der<br />

die Zivilgesellschaft öffnen und eine<br />

gut kontrollierte Beteiligung einiger<br />

Schichten der Gesellschaft an zweitrangigen<br />

politischen Entscheidungen<br />

des Landes durchsetzen wollte, ins Präsidentenamt<br />

gewählt. Der oberste Führer<br />

wie auch die Hierarchie der Pasdaran<br />

sahen darin eine Bedrohung ihrer<br />

Interessen. <strong>Die</strong> auf Wahlen beruhende<br />

Dimension des Systems kam während<br />

der achtjährigen Präsidentschaft<br />

von Khatami in Konflikt mit der theokratischen<br />

Dimension. <strong>Die</strong> Mehrzahl<br />

der vom Parlament, in dem die „islamischen<br />

Reformisten“ in der Mehrheit<br />

waren, angenommenen Gesetze wurde<br />

vom von den Konservativen dominierten<br />

Wächterrat abgelehnt.<br />

Seit der Übernahme des Präsidentenamtes<br />

durch Ahmadinedschad<br />

2005 war es die wesentliche Aufgabe<br />

des vom obersten Führer und der Armee<br />

der Pasdaran (die von Ahmadinedschad<br />

vertreten wurde) gebildeten Tandems,<br />

die Wahldimension zu neutralisieren,<br />

indem sie gleichzeitig an drei<br />

Fronten angriff. Zunächst manipulierte<br />

sie einige wichtige Teile des Staatsapparates,<br />

um ihre Autonomie zugunsten<br />

der Macht des Präsidenten zu reduzieren.<br />

Unter anderem ging es dabei<br />

um die Auflösung der Planbehörde (die<br />

für die Verteilung des staatlichen Budgets<br />

zuständig war), um den Abbau der<br />

Zentralbank (die die Geldpolitik bestimmte)<br />

und den Umbau der Exekutive<br />

und der Staatsverwaltung, um so die<br />

Autonomie der Ministerien abzubauen.<br />

Eine andere keineswegs weniger wichtige<br />

Maßnahme bestand in der Sicherung<br />

und Konsolidierung der absoluten<br />

Hegemonie der Armee der Pasdaran<br />

in politischen und wirtschaftlichen<br />

Bereichen. Heute stammen 30 % der<br />

Mitglieder des Parlaments, ein Drittel<br />

der Minister, die Chefs in den Schlüsselorganisationen<br />

des Staates wie auch<br />

bei Radio oder Fernsehen, der Mehrzahl<br />

der Bürgermeister, der Präfekten<br />

der Gouverneure der Regionen usw.<br />

aus der Armee der Pasdaran.<br />

Das dritte Ziel bestand darin, nach<br />

und nach die Überreste des auf Wahlen<br />

beruhenden Teils des Systems zu zerstören,<br />

damit aus dem islamischen Regime<br />

eine totale Theokratie würde, ein<br />

„islamischer Staat“ ohne jede republikanische<br />

Dimension.<br />

Im Verlauf seiner ersten Amtszeit<br />

ist es Ahmadinedschad teilweise gelungen,<br />

dieses dreifache Vorhaben in<br />

die Tat umzusetzen, indem er die sozialen<br />

Bewegungen unterdrückte (besonders<br />

die der Frauen, der Arbeitenden,<br />

der nicht-persischen Völker, aber auch<br />

die der StudentInnnen, die bereits unter<br />

Khatami geschwächt worden waren).<br />

Zu Ende seiner ersten Amtszeit gelang<br />

es Ahmadinedschad, den Staatsapparat<br />

zu bändigen und die Grundlagen<br />

für eine völlige Hegemonie des<br />

Blocks an der Macht zu legen, der aus<br />

dem obersten Führer und einer Frakti-<br />

24 inprekorr 458/459


Iran<br />

on der Pasdaran-Armee gebildet wurde.<br />

<strong>Die</strong> Präsidentschaftswahlen von<br />

2009 sollten das Werk des neuerlich<br />

kandidierenden Präsidenten krönen<br />

und das Gespenst einer hinsichtlich der<br />

Theokratie, die vom obersten Führer<br />

vertreten wird, autonomen Präsidentschaft<br />

endgültig bannen. Doch gab es<br />

im Rahmen der neuen Wahlen massive<br />

Differenzen, die die Pläne des Duos<br />

an der Macht durchkreuzt haben, Pläne<br />

die eigentlich nicht mehr und nichts<br />

weniger waren <strong>als</strong> ein schleichender<br />

Staatsstreich. 2 <strong>Die</strong> Pläne bestanden darin,<br />

dem neuerlich für das Präsidentenamt<br />

kandidieren Ahmadinedschad einen<br />

triumphalen Wahlsieg zu besorgen,<br />

um angesichts des neuen US-amerikanischen<br />

Präsidenten eine internationale<br />

Legitimität zu sichern und Ahmadinedschad<br />

mit einer Statur zu versehen,<br />

die die Unzufriedenheit im Innern<br />

der Machtelite (das Lager des Pragmatikers<br />

Rafsandschani und die Minderheit<br />

der Reformkräfte) im Zaum halten<br />

sollte. Und dies umso mehr, <strong>als</strong> in<br />

den Augen der herrschenden Fraktion<br />

des Regimes ein Sieg des „Reformkandidaten“<br />

Mussawi mit der neuen Präsidentschaft<br />

in den USA einhergehen<br />

würde, was zumindest zeitweilig die<br />

Spannungen im Verhältnis zu den USA<br />

zurückgefahren hätte und damit das islamische<br />

Regime seines bequemen äußeren<br />

Sündenbocks beraubt hätte. <strong>Die</strong>s<br />

war inakzeptabel.<br />

Ahmadinedschad ist nicht<br />

Chávez!<br />

Ahmadinedschad ist ein Führer der extremen<br />

Rechten, der nach dem Vorbild<br />

des Klerus in der Revolution von 1979<br />

versucht, die Unterstützung der Massen<br />

zu bekommen, indem er zu einer<br />

nationalistisch-populistischen und auf<br />

die Dritte Welt bezogenen Demagogie<br />

Zuflucht nimmt. Einige Teile der Linken<br />

im Westen verwechseln das in ihrer<br />

Naivität und Dummheit mit Antiimperialismus<br />

und einer Politik zugunsten<br />

der Habenichtse.<br />

<strong>Die</strong> Unterstützung durch den Präsidenten<br />

Venezuelas, Chávez, ist in ihren<br />

Augen der Beweis; sie vergessen<br />

aber diejenige von Moskau, von Peking<br />

oder von Nordkorea für Ahma-<br />

2 Vgl. Houshang Sepehr, „Fuite en avant du régime<br />

iranien“, in: Inprecor, Nr. 520, September/<br />

Oktober 2006, http://orta.dynalias.org/inprecor/article-inprecor?id=139<br />

dinedschad. Doch die diplomatische<br />

Unterstützung durch Chávez kann für<br />

uns kein Kriterium unserer Analyse<br />

der Regierung Ahmadinedschad sein.<br />

<strong>Die</strong> Beziehungen zwischen den beiden<br />

Ländern <strong>als</strong> Öl exportierenden Staaten<br />

sind von der Suche nach einem Bündnis<br />

in der OPEC geprägt. Ein kurzer<br />

Vergleich der Lage von Venezuela mit<br />

den realen Lebensbedingungen des<br />

Volkes im Iran unter Ahmadinedschad<br />

zeigt die grundverschiedene Natur der<br />

beiden Regierungen. Unter der Regierung<br />

Chávez in Venezuela entwickeln<br />

sich die Gewerkschaften und die militanten<br />

Kämpfe der Arbeitenden, die<br />

Lohnabhängigen können aufgegebene<br />

Fabriken besetzen und sie unter Arbeiterkontrolle<br />

verwalten. Ganz im Gegensatz<br />

zum Iran, wo die Arbeitenden<br />

keinerlei Recht auf gewerkschaftliche<br />

Organisierung oder Streiks haben –<br />

und wenn sie sich über diese antidemokratischen<br />

Gesetze hinwegsetzen,<br />

riskieren sie eine äußerst brutale Repression.<br />

Während der ersten Amtszeit von<br />

Ahmadinedschad wurden die Arbeitenden<br />

aus allen Richtungen von den<br />

Kapitalisten und der Regierung angegriffen.<br />

Unter diesen Angriffen befand<br />

sich das neue Arbeitsrecht von Ahmadinedschad,<br />

das ganz und gar gegen<br />

die Arbeitenden gerichtet ist. Es vergeht<br />

keine Woche ohne Protestaktionen<br />

wie Streiks, Demonstrationen,<br />

Versammlungen und sit-ins von Arbeitenden,<br />

LehrerInnen, Krankenschwestern<br />

usw. So haben 2006 in Teheran<br />

3000 Busfahrer die Initiative ergriffen<br />

und eine Gewerkschaft gegründet; darauf<br />

hat die Regierung mit brutaler Repression<br />

und massiven Entlassungen<br />

geantwortet. <strong>Die</strong> Gewerkschaftsführer<br />

wurden ebenfalls von der Polizei angegriffen<br />

– sogar der Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

der Gewerkschaft, M Ossalu. Zunächst<br />

haben sie ihn brutal gefoltert und dann<br />

zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er<br />

sitzt seit 2007 im Gefängnis.<br />

Nach dem Spektakel der Fernsehdebatten<br />

in der letzten Phase des<br />

Wahlkampfes hat das Regime ab dem<br />

2. August ein ganz anderes Schauspiel<br />

geboten: Es war dies der Beginn der<br />

Prozesse gegen diejenigen, die das<br />

Regime <strong>als</strong> „Krawallmacher und Beteiligte<br />

an einer samtenen Revolution“<br />

bezeichnete, die angeblich die Sicherheit<br />

des Staates in Gefahr bringen<br />

usw. Unter den Beschuldigten befand<br />

sich neuerlich M Ossalu in der Rolle<br />

eines Agenten des Imperialismus, der<br />

angeklagt wurde, die Absicht zu haben,<br />

eine Revolution zum Vorteil ausländischer<br />

Mächte organisieren zu<br />

wollen – und dies aus dem Gefängnis<br />

heraus!<br />

Als am 1. Mai 2007 Gewerkschafter<br />

in Sanandadsch eine Demonstration<br />

zu organisieren versuchten, wurden sie<br />

von der Polizei brutal niedergeschlagen.<br />

Elf Gewerkschafter wurden zu unzähligen<br />

Peitschenhieben und Strafzahlungen<br />

verurteilt. Als 2000 ArbeiterInnen<br />

am 1. Mai jenes Jahres in Teheran<br />

eine Demonstration zu organisieren<br />

versuchten, wurden sie von der Polizei<br />

brutal unterdrückt. Hundertfünfzig<br />

AktivistInnen wurden verhaftet (einige<br />

sitzen noch immer im Gefängnis).<br />

Millionen iranischer ArbeiterInnen haben<br />

seit Monaten keinen Lohn gesehen.<br />

Wenn sie sich zu organisieren<br />

versuchen, kommt es zu polizeilichen<br />

Übergriffen.<br />

Einschüchterung, Entlassungen,<br />

Verhaftungen, Gefängnis und Folter<br />

von kämpferischen ArbeiterInnen und<br />

Gewerkschaftern sind übliche Praxis<br />

in der islamischen Republik. Doch seit<br />

der Präsidentschaft von Ahmadinedschad<br />

haben solche Praktiken zugenommen.<br />

Sein Regime und der Präsident<br />

sind nicht nur Gegner der Frauen<br />

und der Jugendlichen, sie sind vor<br />

allem Gegner der Arbeitenden. In den<br />

Jahren 2008 und 2009 gab es in vielen<br />

Ländern Solidaritätstage mit den Arbeitenden<br />

im Iran, die von vielen Gewerkschaften<br />

auf internationaler Ebene<br />

organisiert wurden.<br />

In Venezuela hat die Regierung<br />

Chávez den Prozess der Privatisierung<br />

von öffentlichen Betrieben gestoppt<br />

und eine Reihe von Privatunternehmen<br />

verstaatlicht. Im Gegensatz<br />

dazu hat Ahmadinedschad im Iran die<br />

Privatisierung von staatlichen Unternehmen<br />

beschleunigt. Seit 2007 hat er<br />

in weniger <strong>als</strong> zwei Jahren 400 wichtige<br />

Unternehmen privatisiert, darunter<br />

die Telekommunikation, das Stahlwerk<br />

Mobarakeh in Isfahan, das Kurdistan-Zementwerk<br />

usw. Dazu gehören<br />

auch die meisten Banken, die Versicherungen,<br />

die Öl- und Gasunternehmen<br />

usw. Ahmadinedschad wurde vom<br />

Internationalen Währungsfond, der Organisation,<br />

die die Geschäfte des weltweiten<br />

Kapitalismus führt, belobigt,<br />

weil sich seine Regierung so gut auf-<br />

inprekorr 458/459 25


Iran<br />

geführt habe. Es handelt sich um etwas<br />

Unerhörtes, was man weder unter dem<br />

bisherigen Regime noch unter dem des<br />

Schahs erlebt hat.<br />

<strong>Die</strong> Bilanz von Ahmadinedschad<br />

Der programmierte Zusammenbruch<br />

der landwirtschaftlichen Produktion<br />

hat den Iran gezwungen, zwischen<br />

2008 und 2009 in den USA 1,18 Mio.<br />

Tonnen Weizen zu kaufen und große<br />

Mengen Zucker zu importieren, die<br />

dem Verbrauch des Landes von zehn<br />

Jahren entsprechen. Und dies, obwohl<br />

der Iran bis vor kurzem der drittgrößte<br />

Exporteur von Zucker war und das<br />

Land sich selbst mit Weizen versorgen<br />

konnte. Doch dies hat der Steigerung<br />

der Einfuhren gedient, was den<br />

mit dem Import verbundenen Mullahs<br />

genützt hat.<br />

Der Iran ist der zweitgrößte Ölproduzent<br />

und hält 10 Prozent der weltweit<br />

bestätigten Reserven an Erdöl. Das<br />

Land verfügt auch über die weltweit<br />

zweitgrößten Erdgasreserven. Nachdem<br />

der Iran die erste und die größte<br />

Raffinerie gebaut hatte, konnte er Benzin<br />

exportieren. Heute zwingt der Mangel<br />

an Raffinerien das Land, 40 % seines<br />

Verbrauchs zu importieren, was das<br />

Land jährlich 4 Mrd. Dollar kostet.<br />

<strong>Die</strong> ausländischen Direktinvestitionen<br />

im Iran haben 2007 mit 10,2 Mrd.<br />

Dollar einen Rekord erreicht – verglichen<br />

mit den 4,2 Mrd. 2005 und 2 Mrd.<br />

1994. Zwischen 2000 und 2007 beliefen<br />

sich die ausländischen Transaktionen<br />

mit dem Iran auf 150 Mrd. Dollar.<br />

Zwanzig europäische Länder, besonders<br />

Deutschland, Frankreich, Großbritannien,<br />

Italien, die Niederlande und<br />

Spanien, haben über 10,9 Mrd. Dollar<br />

im Iran investiert. <strong>Die</strong> kanadischen und<br />

US-Unternehmen haben sich ebenfalls<br />

an Wirtschaftsprojekten im Iran mit<br />

einem Wert von 1,4 Mrd. Dollar beteiligt.<br />

Unter den US-Unternehmen findet<br />

man Haliburton (einer der wichtigsten<br />

Aktionäre ist der frühere Vizepräsident<br />

der USA, Dick Cheney, der den Iran<br />

angreifen wollte!). Trotz des Handelsembargos<br />

gegen den Iran hat Haliburton<br />

dieses Jahr für über 40 Mio. Dollar<br />

Ausrüstungsgegenstände für die Ölförderung<br />

geliefert. Ein weiteres Beispiel:<br />

2008 betrug der Wert der Ausfuhren<br />

aus den USA in den Iran das Doppelte<br />

im Vergleich zum Vorjahr. All dies geschah<br />

während der ersten Amtszeit von<br />

Ahmadinedschad.<br />

Unter seiner Präsidentschaft haben<br />

die Pasdaran auf wirtschaftlichem<br />

Gebiet ihr immenses Finanzimperium,<br />

das von der Regierung unabhängig ist,<br />

ausgebaut. Sie haben die Hand auch in<br />

den Produktionsbereich, die Verteilung<br />

und den Handel ausgestreckt. Mittels<br />

diverser Stiftungen – wirtschaftliche<br />

Hände, die juristisch nicht von der Regierung<br />

kontrolliert werden können<br />

und nur dem obersten Führer rechenschaftspflichtig<br />

sind, ohne die gesetzlich<br />

vorgeschriebenen Prozeduren zu<br />

durchlaufen, etwa Angebote einholen<br />

zu müssen – erhalten sie Konzessionen<br />

in Höhe mehrerer Milliarden Dollar, etwa<br />

für den Bau von Ölleitungen, aber<br />

auch, um über Petro-Pars einen Teil der<br />

Einkünfte aus dem iranischen Öl einsacken<br />

zu können. Kein finanziell interessanter<br />

Bereich entgeht ihnen, weder<br />

der Drogenhandel (2006 ein Markt<br />

von 10 Mrd. Dollar) noch der Sexhandel<br />

und die Prostitutionsnetze zugunsten<br />

der Ölmonarchien am Golf.<br />

Zweites Beispiel: Vor einigen Monaten,<br />

in der großen Krise des weltweiten<br />

kapitalistischen Systems, hat<br />

der Saipa-Komplex, der zweite Autobauer<br />

des Iran, dessen Mehrheitsaktionär<br />

eben die Pasdaran-Armee ist, bei<br />

Chrysler 55 000 Autos bestellt, die im<br />

Iran zusammengebaut werden sollen.<br />

Der Leiter dieses riesigen Industriekomplexes<br />

ist erst 25 Jahre alt und von<br />

Ahmadinedschad höchstpersönlich ernannt<br />

worden. Das Ziel der Operation<br />

war es, an der von George Bush gestarteten<br />

Rettungsaktion für Chrysler teilzunehmen<br />

und vor allem ein Zeichen<br />

des Wohlwollens von Seiten des Irans<br />

auszusenden.<br />

Nach offiziellen Angaben liegt die<br />

Armutsrate im Iran bei 21 %, <strong>als</strong>o bei<br />

etwa 16,5 Millionen Menschen, die unter<br />

der Armutsschwelle leben müssen.<br />

Aber laut einem Bericht der UNO müssen<br />

550 000 Kinder von weniger <strong>als</strong><br />

einem Dollar pro Tag leben und 35,5 %<br />

der Bevölkerung verdienen zwei Dollar<br />

am Tag, während die Armutsgrenze<br />

auf 650 Dollar im Monat festgelegt<br />

ist. Somit kommen wir auf 40 und nicht<br />

21 Prozent Arme. Und diese Statistiken<br />

stammen auch noch aus der Zeit, <strong>als</strong><br />

sich der Ölpreis verdreifacht hatte.<br />

<strong>Die</strong> Wirtschaftspolitik von Ahmadinedschad<br />

während seiner ersten<br />

Amtszeit war eine Katastrophe: <strong>Die</strong> Inflation<br />

lag bei über 25 % im Jahr, die<br />

Arbeitslosigkeit bei etwa 40 % der aktiven<br />

Bevölkerung, es kam zu einem<br />

Abbau des Produktionssystems, und<br />

die Armut suchte die gebrechlichen<br />

Schichten der Bevölkerung vermehrt<br />

heim. Eine offizielle Studie von 2006<br />

zeigte, dass es im Iran 3,2 Millionen<br />

Drogenabhängige gibt, von denen 40 %<br />

zwischen 14 und 16 Jahre alt sind.<br />

Auch wenn die Regierung Ahmadinedschad<br />

den amerikanischen Imperialismus<br />

und das zionistische Regime<br />

in Israel kritisiert, mit der Absicht, die<br />

Aufmerksamkeit der Massen von den<br />

inneren Problemen abzulenken, dann<br />

ist es noch nicht einmal im Kampf gegen<br />

diesen Feind konsequent. <strong>Die</strong> Abkommen<br />

über die Zusammenarbeit der<br />

iranischen Regierung mit der US-Besatzungsmacht<br />

im Irak und in Afghanistan<br />

sind inzwischen wohlbekannte<br />

Tatsachen. Im Irak spielte das iranische<br />

Regime, statt einen vereinigten nationalen<br />

Befreiungskampf zu befördern,<br />

eine Schlüsselrolle bei den Spaltungen<br />

der irakischen Bevölkerung.<br />

Sicherlich handelt es sich bei Rafsandschani<br />

und Khatami um Vertreter<br />

eines prowestlichen und pro-imperialistischen<br />

liberalen Kapitalismus. Doch<br />

auf diesem Pfad haben Ahmadinedschad<br />

und die Fraktion des Regimes,<br />

die er vertritt, sie längst hinter sich gelassen.<br />

Der Unterschied zwischen den<br />

beiden Mafiabanden ist, dass die einen<br />

in ihrer Position der Schwäche sich an<br />

die Sprache der „Demokratie“ halten,<br />

während die anderen die des „Antiimperialismus“<br />

benutzen.<br />

Der iranische Frühling<br />

mitten im Winter des<br />

Mittelalters<br />

In diesem gespannten politischen und<br />

wirtschaftlich verheerenden Kontext<br />

war das iranische Volk aufgerufen,<br />

sich an jener Farce zu beteiligen,<br />

die das islamische Regime <strong>als</strong> „Präsidentschaftswahl“<br />

bezeichnet hat. Der<br />

Begriff „Wahlen“ scheint uns unangebracht,<br />

weil die Kandidaten durch einen<br />

Rat im Voraus ausgewählt wurden,<br />

der seine Meinung über ihre Kompetenz<br />

und religiösen Tugenden abgab.<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Rolle dieser Wahlen<br />

besteht in der Legitimierung der nicht<br />

gewählten Strukturen, die die Staatsmacht<br />

halten. Daher unternimmt das<br />

Regime bei jeder Wahl größte Anstren-<br />

26 inprekorr 458/459


Iran<br />

gungen, möglichst viele Stimmzettel<br />

in die Urnen zu bekommen. Hierin<br />

liegt ein Schlüssel zum Verständnis<br />

des durch die Wahlen unternommenen<br />

Staatsstreichs, wie er von Ahmadinedschad<br />

und dem obersten Führer inszeniert<br />

worden ist.<br />

<strong>Die</strong> Wahlen haben den verschiedenen<br />

Fraktionen des Klerus und des<br />

Serail des Regimes ermöglicht, die Legitimität<br />

ihrer Lösungsvorschläge zu<br />

überprüfen, indem sie dank der Wahlergebnisse<br />

ihr Gewicht in der Hierarchie<br />

verstärken. Während die Wahlen<br />

für das Volk ganz und gar undemokratisch<br />

waren, haben sie dem gesamten<br />

Klerus an der Macht aus diesem Grund<br />

eine große Freiheit ermöglicht. Es handelt<br />

sich eigentlich um eine Form innerer<br />

Demokratie innerhalb der herrschenden<br />

Klasse. 3<br />

Aufgrund der Heftigkeit der Repression<br />

haben die Völker des Irans, die<br />

der Meinungsfreiheit beraubt sind, die<br />

Rivalität zwischen den Fraktionen genützt,<br />

um zu manövrieren und einen gewissen<br />

Freiraum zu erhalten. Sie haben<br />

dies sowohl mittels ihrer Stimmen <strong>als</strong><br />

auch des Wahlboykotts getan: <strong>Die</strong> massive<br />

Beteiligung bei der Wahl von Khatami<br />

1997 (sein Gegenkandidat war der<br />

offizielle Vertreter des Regimes, womit<br />

die Sache eigentlich ein Referendum<br />

gegen das Regime war) und der massive<br />

Boykott der Wahlen zur Madschlis<br />

(Parlament) 2004 (fast alle Reformkandidaten<br />

wurden nicht gewählt) sind dafür<br />

Beispiele.<br />

Während dieser Wahlen hat Ahmadinedschad<br />

im Bündnis mit einem Teil<br />

der iranischen Revolutionsgarden und<br />

einer Handvoll Mullahs vor allem versucht,<br />

den Klerus seiner Fähigkeit zu<br />

berauben, die Wahlen <strong>als</strong> Instrument zu<br />

verwenden, um die Machtbasis seiner<br />

besonderen Fraktionen im Innern des<br />

Regimes zu vergrößern. Das war keineswegs<br />

ein Blitz aus heiterem Himmel.<br />

Im Verlauf der vergangenen 15<br />

Jahre, nach dem Ende des Krieges gegen<br />

den Irak, wurden die Wahlen immer<br />

sorgfältig inszeniert, um alle Organe<br />

– ob wählbar oder auch nicht –<br />

unter Kontrolle zu bekommen. Parallel<br />

dazu wurde der militärische und<br />

3 Wir möchten anmerken, dass die Hundert<br />

wichtigsten iranischen Kapitalisten ... Mullahs<br />

sind. Sie gehören fast zu gleichen Teilen<br />

zu den beiden Fraktionen des Klerus, die daher<br />

in Wirklichkeit die Spaltungen der iranischen<br />

Bourgeoisie verkörpern.<br />

Iran: Wahlbetrüger Ahmadinedschad<br />

Sicherheitsapparat zu einer wichtigen<br />

wirtschaftlichen Kraft im Land.<br />

Von den 475 Leuten, die sich um die<br />

Präsidentschaft bewarben, wurden vom<br />

Wächterrat nur vier ausgesucht: Mussawi,<br />

der frühere Ministerpräsident (zwischen<br />

1981 und 1988) und Kandidat<br />

der Reformer; Ahmadinedschad, der<br />

amtierende Präsident, der ein zweites<br />

Mandat anstrebte; Karrubi, der frühere<br />

Präsident des islamischen Parlamentes<br />

und Resa’i, ein früherer Kommandant<br />

der Pasdaran. Ahmadinedschad und<br />

Mussawi repräsentierten jeweils eine<br />

Fraktion des Regimes und waren die<br />

Hauptdarsteller im großen Spektakel.<br />

Der „reformerische“ Kandidat Mussawi<br />

ist keineswegs besser <strong>als</strong> seine Gegenspieler.<br />

Er war in den 1980er Jahren<br />

Ministerpräsident, in einer Zeit, <strong>als</strong><br />

30 000 AktivistInnen der Linken umgebracht<br />

wurden. Plötzlich hatte er entdeckt,<br />

dass die islamische Republik –<br />

gegen die er eigentlich nichts hat – „reformiert“<br />

werden muss, dass <strong>als</strong>o einige<br />

kleinere Veränderungen vorgenommen<br />

werden müssen, damit alles so bleiben<br />

kann wie zuvor. <strong>Die</strong> Gegnerschaft zwischen<br />

Mussawi und Ahmadinedschad<br />

ist eine Gegnerschaft zwischen zwei<br />

Fraktionen eines reaktionären Staates,<br />

die unterschiedliche Strategien verfolgen,<br />

um das gegenwärtige Regime zu<br />

retten: Der eine möchte von oben Reformen<br />

durchführen, um eine Revolution<br />

von unten zu verhindern; der andere<br />

fürchtet, dass die Reformen von oben<br />

zu einer Revolution von unten führen<br />

könnten.<br />

Um die Strategie des Regimes während<br />

der Wahlen 2009 besser verstehen<br />

zu können, muss man betonen, dass die<br />

Wahlen von 2005 die Massen keineswegs<br />

angezogen haben, weil das iranische<br />

Volk von den acht Jahren der<br />

Präsidentschaft von Khatami, dem „Reformer“<br />

(1997-2005) stark enttäuscht<br />

war. In einem sehr populistischen und<br />

demagogischen Diskurs versprach der<br />

Kandidat Ahmadinedschad das Blaue<br />

vom Himmel herunter, um WählerInnen<br />

auf sich zu ziehen. Durch mäßigen<br />

Wahlbetrug (ein paar Millionen<br />

Stimmen!) gelang es ihm, die Wahlen<br />

zu gewinnen, und zwar ebenfalls gegen<br />

vier Kandidaten, die unter über Tausend<br />

ausgesucht worden waren.<br />

<strong>Die</strong> Maskerade der Wahlen<br />

<strong>Die</strong> Maskerade der Präsidentschaftswahlen<br />

2009 war von ganz anderem<br />

Charakter. Man setzte alles daran, um<br />

den Anschein einer demokratischen<br />

Wahl zwischen den vier Kandidaten<br />

des Serail zu wahren, die das Sieb des<br />

Wächterrates passiert hatten. Um Vertrauen<br />

wiederzugewinnen oder vielmehr<br />

die bereits verlorenen Stimmen,<br />

veränderte die Fraktion oberster Führer-Ahmadinedschad<br />

die Taktik und<br />

änderte einfach die Spielregeln. In der<br />

Zeit des Wahlkampfes wurden relativ<br />

freie Debatten im Fernsehen organisiert<br />

und neuen Zeitungen wurde das<br />

Erscheinen erlaubt.<br />

Während des Konfliktes um das<br />

Atomprogramm musste das Regime<br />

der „internationalen Gemeinschaft“ seine<br />

Legitimität zeigen. Weil es das Ni-<br />

inprekorr 458/459 27


Iran<br />

veau der Unzufriedenheit und der Gegnerschaft<br />

im Land nicht kannte, wurde<br />

zwei Wochen vor den Wahlen eine<br />

spektakuläre Show von Fernsehauftritten<br />

gesendet, was es in den dreißig Jahren<br />

des Bestehens des Regimes noch<br />

nie gegeben hatte. <strong>Die</strong> Presse und die<br />

Medien der reformerischen Fraktion<br />

profitierten von dieser kurzzeitigen relativen<br />

Freiheit. Im Rahmen der bestehenden<br />

Ordnung erlaubte man es jedem<br />

der vier Kandidaten, auf die Schwachpunkte<br />

der jeweiligen Gegner einzugehen.<br />

Korruption, Inkompetenz, Lügen<br />

und Täuschungen waren noch die vorsichtigsten<br />

Anschuldigungen und sogar<br />

Ahmadinedschad, der sich der Unterstützung<br />

von Khameini sicher war,<br />

überschritt die üblichen roten Linien.<br />

Sein Angriff ging gegen Rafsandschani,<br />

der frühere Präsident und Rivale<br />

des obersten Führers, der über ein riesiges<br />

Vermögen verfügt. Aber die Elite<br />

des Regimes in beiden Fraktionen<br />

unterschätzte den Umfang des Hasses<br />

und Zornes unter den jungen Leuten,<br />

den Frauen, den Arbeitenden, die über<br />

80 % der Bevölkerung ausmachen. <strong>Die</strong>se<br />

Debatten der Kandidaten waren der<br />

Tropfen, der das Fass des Zornes des<br />

Volkes zum überlaufen brachte, der<br />

sich in den vergangenen 30 Jahren aufgestaut<br />

hatte.<br />

<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben eine wesentliche<br />

Rolle bei der Unterstützung<br />

von Mussawi gegen den Präsidenten<br />

gespielt. Während Ahmadinedschad<br />

ganz einfach das Ausmaß der Inflation,<br />

der Arbeitslosigkeit, des Niedergangs<br />

der Wirtschaft und der Korruption bestritt,<br />

betonte Mussawi das Ausmaß der<br />

Desaster, die sich im Verlauf der ersten<br />

Amtszeit des wieder kandidierenden<br />

Präsidenten ereignet hatte. Von der<br />

übergroßen Mehrheit der FernsehzuschauerInnen<br />

wurde Ahmadinedschad<br />

<strong>als</strong> zynisch, arrogant und verlogen angesehen,<br />

während sein Gegner, der in<br />

den vergangenen zwanzig Jahren keine<br />

politische Funktion im Regime bekleidet<br />

hat, <strong>als</strong> der am wenigsten schlechte<br />

der vier erschien. Ahmadinedschad<br />

ging sogar so weit, die Frau von Mussawi<br />

anzugreifen, was bei den FernsehzuschauerInnen<br />

auf breite Ablehnung<br />

stieß. Er klagte auch wichtige Vertreter<br />

der politischen Elite, darunter Rafsandschani,<br />

der Korruption an, wobei<br />

er während seiner <strong>ganze</strong>n Amtszeit der<br />

Justiz nicht einen ernstzunehmenden<br />

Hinweis gegen die beschuldigten Personen<br />

geliefert hatte.<br />

<strong>Die</strong> Maskerade der Präsidentschaftswahlen<br />

von 2009 ist von ganz<br />

anderer Natur. Alles wurde getan, damit<br />

der Anschein einer demokratischen<br />

Wahl unter den vier Kandidaten des engeren<br />

Machtzirkels, die vom Wächterrat<br />

ausgesiebt worden waren, aufrechterhalten<br />

wurde. Um das Vertrauen oder<br />

vielmehr die von vornherein verlorenen<br />

Stimmen wiederzugewinnen, hat<br />

die Fraktion Oberster Führer/Ahmadinedschad<br />

die Taktik geändert und die<br />

Spielregeln modifiziert. Während des<br />

Wahlkampfs wurden relativ freie Debatten<br />

im Fernsehen organisiert, das<br />

Erscheinen neuer Zeitungen wurde genehmigt.<br />

Während des Konflikts um das Nuklearprogramm<br />

musste das Regime gegenüber<br />

der „internationalen Gemeinschaft“<br />

seine Legitimität demonstrieren.<br />

Während der Grad der Unzufriedenheit<br />

und das Ausmaß der im Land<br />

existierenden Opposition ignoriert wurde,<br />

brachte das Fernsehen zwei Wochen<br />

vor dem Urnengang eine spektakuläre<br />

Debatte, etwas, was es während<br />

der dreißigjährigen Existenz des Regimes<br />

nicht gegeben hatte. <strong>Die</strong> Presse<br />

und die Medien der Reformerfraktion<br />

wahren Nutznießer einer relativen Freiheit<br />

von kurzer Dauer. Im Rahmen der<br />

bestehenden Ordnung war es jedem der<br />

vier Kandidaten erlaubt, die Schwachpunkte<br />

ihrer Kontrahenten bloßzustellen.<br />

Korruption, Inkompetenz, Lügen<br />

und Betrug waren die nobelsten Beschuldigungen,<br />

und selbst Ahmadinedschad,<br />

der Unterstützung durch Khamenei<br />

gewiss, hat die üblichen roten<br />

Linien überschritten. Seine Zielscheibe<br />

war Rafsandschani, Ex-Präsident und<br />

Rivale des Obersten Führers, dessen<br />

Vermögen kolossal ist. Aber die Elite<br />

des Regimes, die zu beiden Fraktionen<br />

gehört, hat den Grad des Hasses<br />

und der Wut unter der Jugend, den<br />

Frauen und den Lohnabhängigen, die<br />

mehr <strong>als</strong> 80 Prozent der Bevölkerung<br />

ausmachen, unterschätzt. <strong>Die</strong>se Debatte<br />

der Kandidaten war der Tropfen, der<br />

das Fass des in den letzten dreißig Jahren<br />

angesammelten Volkszorns überlaufen<br />

ließ.<br />

<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben eine entscheidende<br />

Rolle in der Stärkung Mussawis<br />

gegen den scheidenden Präsidenten<br />

gespielt. Während Ahmadinedschad<br />

das Ausmaß der Inflation, der<br />

Arbeitslosigkeit, der Korruption und<br />

des Niedergangs der Wirtschaft einfach<br />

leugnete, unterstrich Mussawi den Umfang<br />

der Katastrophen während der ersten<br />

Amtszeit des scheidenden Präsidenten.<br />

Letzterer wurde von der großen<br />

Mehrheit der Fernsehzuschauer <strong>als</strong><br />

arroganter Zyniker und Lügner wahrgenommen,<br />

während sein Kontrahent,<br />

der in den letzten zwanzig Jahren keine<br />

politische Verantwortung innerhalb des<br />

Regimes übernommen hatte, <strong>als</strong> der am<br />

wenigsten schlechte der vier Kandidaten<br />

erschien. Ahmadinedschad ging<br />

sogar so weit, die Frau Mussawis anzugreifen,<br />

für die Zuschauer ein intolerabler<br />

Akt. Er beschuldigte einige prominente<br />

Mitglieder der politischen Elite,<br />

darunter Rafsandschani, der Korruption,<br />

während er während seiner gesamten<br />

Präsidentschaft gegen die beschuldigten<br />

Personen keinerlei für die Justiz<br />

brauchbare Indizien geliefert hatte.<br />

In Wirklichkeit war die Mehrheit<br />

der iranischen Bevölkerung bereits<br />

über den durch Korruption angehäuften<br />

enormen Reichtum Rafsandschanis<br />

und seiner Familie auf dem Laufenden.<br />

Es waren die Auslandskonten von Mitgliedern<br />

der Familie Khamenei (darunter<br />

sein Sohn, dessen persönliches<br />

Konto von 1,6 Milliarden Pfund Sterling<br />

in London blockiert wurde) und<br />

Diagramme, die Schlüsselstellen im<br />

Finanzwesen zeigen, die von Ahmadinedschads<br />

Entourage besetzt werden,<br />

die die Glaubwürdigkeit dieses konservativen<br />

Kandidaten, Demagogen, Lügners<br />

und Favoriten der herrschenden<br />

Fraktion des Regimes zerstörten.<br />

<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben somit<br />

eine grundlegende Rolle gespielt,<br />

nicht nur für die massive Beteiligung<br />

der Bevölkerung, vor allem der Jugend<br />

und der Frauen, die gegen Ahmadinedschad<br />

zur Wahl gegangen sind, sondern<br />

auch für das Zerbrechen der Mauer<br />

der Angst, die in der iranischen Gesellschaft<br />

in den vorangegangenen Jahren<br />

geherrscht hat. <strong>Die</strong>ser sekundäre<br />

Effekt war viel wichtiger <strong>als</strong> die Debatten<br />

selbst.<br />

<strong>Die</strong>se neue Situation von kapitaler<br />

Bedeutung kam zu den außerordentlichen<br />

Bedingungen dieser Vorwahlperiode<br />

hinzu. Einige Wochen lang fand<br />

auf den Straßen ein intensives gesellschaftliches<br />

Ereignis von festlichem,<br />

überschwänglichem, gefühlsbetontem,<br />

in einem Wort revolutionärem Cha-<br />

28 inprekorr 458/459


Iran<br />

rakter statt. Es ist interessant, dass seit<br />

diesen Tagen eine Tageszeitung namens<br />

„<strong>Die</strong> Straße“ im Untergrund von<br />

jungen revolutionären Marxisten herausgegeben<br />

wird. Gruppen von jungen<br />

Menschen haben angefangen, durstig<br />

nach Freiheit, auf die Straße zu gehen<br />

und ihre Stimmen vernehmen lassen.<br />

Sie blieben dort bis spät in der<br />

Nacht, um untereinander zu diskutieren.<br />

Gruppen von Ökonomen, Soziologen,<br />

Künstlern, Universitätsdozenten<br />

und bekannten Intellektuellen sowie<br />

auch Arbeiter wurden in dieser Vorwahlperiode<br />

aktiv und denunzierten die<br />

populistische Demagogie Ahmadinedschads.<br />

Ohne eine andere Wahl zu haben,<br />

war die große Mehrheit der Bevölkerung<br />

gezwungen, Mussawi zu wählen,<br />

in dem sie die Negation des <strong>ganze</strong>n<br />

Regimes sah.<br />

Am 12. Juni, dem Tag der Wahlen,<br />

kam es zu einer massiven Beteiligung,<br />

die die Erwartungen der Vertreter des<br />

Regimes überstieg (mehr <strong>als</strong> 39 Millionen,<br />

bei 46 Millionen Wahlberechtigten).<br />

Aber am Tag nach den Wahlen<br />

war der Schock enorm: der scheidende<br />

Präsident soll von mehr <strong>als</strong> 63<br />

Prozent der Bevölkerung gewählt worden<br />

sein, während Mussawi nur halb<br />

soviel Stimmen bekommen haben soll.<br />

Alles deutete in den Augen eines großen<br />

Teils der öffentlichen Meinung auf<br />

einen massiven und plumpen Betrug<br />

hin, der auf die Spitze des Staates zurückgeht,<br />

die nicht einmal die elementaren<br />

Regeln der Überprüfung respektierte<br />

(zehn Tage für die Einreichung<br />

einer Beschwerde).<br />

Drei Stunden nach Schließung der<br />

Wahllokale hat das iranische Innenministerium<br />

das Hauptquartier Mussawis<br />

angerufen, um ihm zu gratulieren und<br />

ihn aufzufordern, eine Erklärung zum<br />

Wahlsieg vorzubereiten. Dann, plötzlich,<br />

war alles anders. Mehrere Kommandanten<br />

der Revolutionswächter<br />

besetzen und konfiszieren das Wahlkampfbüro<br />

Mussawis. Anschließend<br />

werden die gefälschten Wahlresultate<br />

verkündet, was eine Welle von Demonstrationen<br />

auslöst.<br />

Es ist offensichtlich, dass Khamenei,<br />

umgeben von seinen subalternen Beratern,<br />

den Volkszorn unterschätzt hat,<br />

den das gefälschte Wahlergebnis ausgelöst<br />

hatte. Andernfalls hätte er einen<br />

maßvolleren Prozentsatz für den<br />

„Sieg“ Ahmadinedschads gewählt. Aber<br />

um Ahmadinedschad <strong>als</strong> wirklich legitimes<br />

Oberhaupt des Iran zu etablieren,<br />

brauchte Khamenei eine höhere Stimmenzahl<br />

<strong>als</strong> die von Khatami 1997 erzielten<br />

20 Millionen. Mit dem Rückgang<br />

kann man vielleicht denken, dass es vielleicht<br />

möglich war, dass das islamische<br />

System gerettet sei, wenn das Regime<br />

sich mit einem Sieg Ahmadinedschads<br />

mit einem geringeren Vorstoß oder gar<br />

einem zweiten Wahlgang begnügt hätte.<br />

Alternativ hätte eine Präsidentschaft<br />

Mussawis – trotz der Probleme infolge<br />

seiner übertriebenen Versprechen bezüglich<br />

der individuellen Freiheit im<br />

Rahmen eines religiösen Staates – gewiss<br />

das Leben des islamischen Regimes<br />

für mehrere Jahre verlängert, bis<br />

eine andere Generation der iranischen<br />

Jugend sich von den vagen Reformversprechen<br />

abwendet und gegen die Feigheit<br />

und das Zögern der „islamistischen<br />

Modernisierer“ rebelliert.<br />

<strong>Die</strong> drei Wochen, die den Wahlen<br />

vorangingen, werden von einigen<br />

<strong>als</strong> „iranischer Frühling“ bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong> Menschen – vor allem die Jugend<br />

und die Frauen – haben eine Periode<br />

des Bruchs mit der Repression, mit<br />

der islamistischen Ideologie, der theokratischen<br />

Phraseologie und der Scharia<br />

durchlebt. In einem Wort, ein Bruch<br />

mit allem, was Ahmadinedschad verkörpert.<br />

Sie konnten die Ausdrucksfreiheit<br />

genießen und die demokratischen<br />

Demonstrationen entdecken. In diesen<br />

Tagen sind die symbolischen Fundamente<br />

der islamistischen Macht erschüttert<br />

worden, die Angst wurde ersetzt<br />

durch Kühnheit, die Trauer durch<br />

den Festtag und der Individualismus<br />

durch die Solidarität. <strong>Die</strong> Macht hat<br />

die Büchse der Pandora geöffnet, das<br />

vom Regime organisierte Spiel wandte<br />

sich gegen es selbst. <strong>Die</strong>se Wahlinszenierung<br />

wurde dem Volk gewährt,<br />

und die Macht glaubte zu Unrecht, dass<br />

es sich um eine provisorische Periode<br />

handeln werde. In Wirklichkeit war die<br />

Bevölkerung, nachdem sie einmal mit<br />

dem Segen des Regimes von der verbotenen<br />

Frucht genascht hatte, bereit dafür<br />

zu kämpfen, um dies dauerhaft einzufordern.<br />

<strong>Die</strong>s ist dem islamistischen<br />

Staat vollständig entgangen, und zwar<br />

all seinen Fraktionen, einschließlich<br />

der „Reformer“, die glaubten, dass die<br />

neuen Generationen passiv und gefügig<br />

wären. Es zeigte sich jedoch das<br />

Gegenteil.<br />

Nach der Verkündigung der Wahlresultate<br />

ist sehr schnell klar geworden,<br />

dass Mussawi ein schwacher Charakter<br />

ist, und seine Popularität hat nicht<br />

aufgehört zu sinken, denn er versuchte<br />

sich an die Massenbewegung anzuhängen,<br />

um sie zu kontrollieren, damit<br />

sie den legalen Rahmen des Systems<br />

nicht überschreitet. Mussawi (tatsächlich<br />

die Fraktion des Regimes, die er<br />

repräsentiert) findet sich, ohne es zu<br />

wollen, im Auge eines Zyklons von<br />

historischer Dimension wieder. Und<br />

wenn diese Fraktion ihre Privilegien<br />

nicht verlieren will, hat sie keine andere<br />

Wahl <strong>als</strong> von nun an dieser menschlichen<br />

Flut zu folgen. <strong>Die</strong>se weist darauf<br />

hin, dass der Oberste Führer illegitim<br />

ist. Seine Glaubwürdigkeit <strong>als</strong><br />

religiöse Autorität ist schwach gewesen<br />

und bleibt schwach. Von nun an ist<br />

auch seine Glaubwürdigkeit <strong>als</strong> Oberster<br />

Führer zerbrechlich geworden.<br />

Mussawi ist zweifellos nicht Khomeini.<br />

Aber Khamenei erinnert zunehmend<br />

an den Schah oder vielmehr an<br />

einen Kalifen. Aber was ist die reale<br />

Macht hinter dieser gefälschten Präsidentschaftswahl,<br />

die vom Lager Mussawis<br />

<strong>als</strong> „Staatsstreich per Wahlen“<br />

eingeschätzt wird? Allgemein besteht<br />

die Ansicht, dass der Oberste Führer,<br />

der Ayatollah Khamenei, <strong>als</strong> Oberkommandierender<br />

der Streitkräfte der Chef<br />

dieses Staatsstreichs ist. Aber die Wirklichkeit<br />

ist komplexer.<br />

Seit dem Machtantritt Ahmadinedschads<br />

2005 versäumen die Chefs der<br />

Islamischen Revolutionsgarden (IRG)<br />

keine Gelegenheit, von der „internen<br />

Bedrohung“ gegen sie zu sprechen.<br />

Darüber hinaus hat der Chef der politischen<br />

Abteilung der IRG einige Tage<br />

vor den Wahlen vom 12. Juni Mussawi<br />

und andere Reformer beschuldigt, eine<br />

„farbige“ Revolution zu versuchen<br />

(Mussawi hat Grün, die Farbe des schiitischen<br />

Islam, <strong>als</strong> Symbol für seinen<br />

Wahlkampf verwendet), und angekündigt,<br />

dass die Pasdaran „sie ersticken<br />

würden, bevor sie das Licht der Welt<br />

erblickt“. <strong>Die</strong> Urheber dieses „Staatsstreichs“<br />

sind tatsächlich die Mitglieder<br />

des Oberkommandos der IRG.<br />

Wer sind die Pasdaran?<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtigen Mitglieder der Pasdaran<br />

waren in der Epoche der iranischen<br />

Revolution von 1978/1979 etwa<br />

20 Jahre alt. Sie traten den IRG nahezu<br />

unmittelbar nach der Revolution<br />

bei und führten in den 80er Jahren<br />

inprekorr 458/459 29


Iran<br />

Iran: militanter Protest<br />

zwei schreckliche Kriege: gegen die<br />

Armee Saddam Husseins, die im September<br />

1980 den Iran überfallen hatte,<br />

und gegen Oppositionelle – wie linke<br />

Gruppen und die Volksmudschahedin<br />

– im Innern des Landes. Im Juni<br />

1981 führten die IRG einen blutigen<br />

Kampf gegen sie, bei dem sie Zehntausende<br />

töteten und weitere Zehntausende<br />

Oppositionelle zwangen, ins Exil zu<br />

gehen.<br />

Während des Krieges mit dem Irak<br />

(1981–1988) wurden die IRG auch<br />

vom Regime <strong>als</strong> Schlüsselelement für<br />

die Durchsetzung einer harten politischen<br />

Repression benutzt, deren Resultat<br />

die physische Beseitigung aller<br />

laizistischen politischen Gruppen von<br />

der iranischen Bühne war. <strong>Die</strong>s erlaubte<br />

die Errichtung einer religiös-kapitalistischen<br />

Diktatur. Sogleich nach dem<br />

Ende des Krieges mit dem Irak wurden<br />

mit Zustimmung der Pasdaran Tausende<br />

politische Gefangene hingerichtet.<br />

Ayatollah Khomeini starb im Juni 1989<br />

und diese jungen Pasdaran haben sich<br />

darauf in zwei Lager gespalten.<br />

Im Lager der sog. „islamischen Linken“<br />

war man der Auffassung, dass das<br />

Regime zur Vermeidung einer Revolution<br />

eine politische Öffnung benötigte<br />

und die grausame Repression der 80er<br />

Jahre beendigen sollte. Zahlreiche Mitglieder<br />

dieser Gruppe waren aus dem<br />

Apparat des Nachrichtendienstes hervorgegangen;<br />

sie waren entsprechend<br />

perfekt über das auf dem Laufenden,<br />

was in der Gesellschaft geschah, und<br />

spürten die Gefahr einer Revolution<br />

und einer sozialen Explosion. Ihre Vision<br />

war die Reform des Systems im<br />

Rahmen des Islams, um das Regime zu<br />

retten. Sie wurden zu „islamistischen<br />

Reformern“. Auf diese Weise entstand<br />

die Fraktion der Reformer, und Khatami,<br />

der Sprecher ihres gemäßigten Flügels,<br />

wurde 1995 Präsident der Republik.<br />

<strong>Die</strong> Pasdaran des entgegengesetzten<br />

Lagers waren sehr konservativ und<br />

sind nach dem Krieg in den IRG geblieben.<br />

Ahmadinedschad und sein Regierungsteam<br />

gehören zu diesem Lager.<br />

Parallel dazu entwickelte sich ein<br />

anderes Phänomen. Nach Khomeinis<br />

Tod tauchte ein anderes Konzept des<br />

„islamischen Staates“ auf, das noch reaktionärer<br />

<strong>als</strong> das von Khomeini begonnene<br />

war, und zwar mit dem Auftauchen<br />

einer ultrareaktionären islamistischen<br />

Gruppe namens „Hodschatiyeh-Gesellschaft“.<br />

Sie war in den<br />

1950er Jahren gegründet worden und<br />

war eine erbitterte Gegnerin des sunnitischen<br />

Islam und der Bahai-Religion.<br />

Sie hatte sogar mit dem Geheimdienst<br />

des Schahs zusammengearbeitet, um<br />

die Propagierung des Kommunismus<br />

zu bekämpfen. Sie war auch gegen die<br />

Revolution von 1979 und das Konzept<br />

des von Khomeini entwickelten „Welayat-e<br />

Faqih“ (der Herrschaft der islamischen<br />

Rechtsgelehrten), das die<br />

Grundlage der Verfassung der Islamischen<br />

Republik Iran und seines politischen<br />

Systems bildet. Khomeini hatte<br />

die „Hodschatiyeh-Gesellschaft“<br />

1983 verboten. Ihr aktueller Führer ist<br />

der Ayatollah Mesbah, ein ultrareaktionärer<br />

Kleriker der harten Linie, die<br />

sich offen der Abhaltung von Wahlen<br />

widersetzt. <strong>Die</strong>s ist das geistige Vorbild<br />

für Ahmadinedschad. Unter den Jüngern<br />

des Ayatollah Mesbah findet sich<br />

die Mehrheit der Minister der aktuellen<br />

Regierung, eine große Zahl von hohen<br />

Kommandanten der IRG und ihres paramilitärischen<br />

Arms, der Bassidschi-<br />

Milizen, sowie des juristischen Apparats.<br />

Seit seiner Wahl zum Präsidenten im<br />

Jahr 2005 hat Ahmadinedschad mehrfach<br />

die Worte des Ayatollah Mesbah<br />

gebraucht, wenn er vom „islamischen<br />

Staat Iran“ sprach statt von der „Islamischen<br />

Republik Iran“. Zwei Wochen<br />

vor den Wahlen hatte Mesbah eine Fatwa<br />

ausgegeben – ihr Inhalt wurde von<br />

einigen Mitgliedern des Innenministeriums<br />

enthüllt –, die den Gebrauch aller<br />

Mittel für die Wiederwahl Ahmadinedschads<br />

erlaubte und somit für die<br />

Fälschung der Wahlen grünes Licht<br />

gab. <strong>Die</strong> von der Hodschatiyeh-Gesellschaft<br />

propagierte theokratische Vision<br />

des „islamischen Staates“ entspricht<br />

den politischen Ambitionen der IRG.<br />

Heute stützt sich die konservative und<br />

herrschende Fraktion des Regimes auf<br />

die Allianz einer Handvoll Mullahs der<br />

Hodschatiyeh-Gesellschaft mit Mitgliedern<br />

des Oberkommandos der IRG. Es<br />

trifft zu, dass die politische Rolle der Islamischen<br />

Revolutionsgarden bei weitem<br />

nicht so bedeutend ist, wie das bei<br />

der Armee in der Türkei oder in Pakistan<br />

der Fall ist. Aber die Entwicklungen auf<br />

der politischen Bühne und das zunehmend<br />

größere Gewicht der IRG zeugen<br />

von ihrem beschleunigten Aufstieg zulasten<br />

des Klerus. Ein kapitalistisches<br />

Regime, das extrem nationalistische,<br />

populistische Losungen verwendet, über<br />

das Land durch den Terror von <strong>als</strong> Miliz<br />

organisierten Banden herrscht, den Applaus<br />

einer Öffentlichkeit erheischt, der<br />

nicht erlaubt wird, sich in einer anderen<br />

Form <strong>als</strong> der von oben angeordneten zu<br />

organisieren, und obendrein noch militärische<br />

Ambitionen hat – wo haben wir<br />

dies vorher gesehen?<br />

Wer sind die Millionen, die<br />

demonstriert haben?<br />

Unmittelbar nach der Wahl, am 13. Juni,<br />

<strong>als</strong> das Lager Mussawis mit der Reaktion<br />

auf die Wahlresultate zögerte,<br />

waren Studierende und AktivistInnen<br />

der Linken die ersten, die in Teheran<br />

auf die Straße gingen. Ihnen schlossen<br />

sich Demonstranten aus den Arbeitervierteln<br />

der Teheraner Vororte an, die<br />

Ahmadinedschad verabscheuen.<br />

30 inprekorr 458/459


Iran<br />

Tatsächlich standen von Beginn<br />

dieses Sommers an die Lohnabhängigen<br />

(deren Lebensstandard in den letzten<br />

drei Jahren beträchtlich gesunken<br />

ist), die erwerbslose Jugend und die<br />

Studierenden (die seit vier Jahren die<br />

Anwesenheit der Polizei in den Unis<br />

ertragen mussten) an der Spitze der<br />

Proteste. Besonders die jungen Frauen<br />

verabscheuen das Regime wegen seiner<br />

ständigen Einmischung in ihr alltägliches<br />

Leben. Sie haben durch ihre<br />

frühzeitige Präsenz auf den Straßen<br />

Teherans am 15. Juni Hunderttausende<br />

Teheraner (darunter Personen aus<br />

den Mittelschichten) ermutigt, sich den<br />

Demonstrationen anzuschließen. <strong>Die</strong>s<br />

alles hat Mussawi dazu gebracht, am<br />

späten Nachmittag selbst an der Demonstration<br />

teilzunehmen. Sie haben<br />

sogar weiter demonstriert, nachdem<br />

die Repression intensiver geworden<br />

war. Mangels klarer Direktiven seitens<br />

Mussawis oder des anderen sog. Reformkandidaten,<br />

Mehdi Karrubi, waren<br />

sie es, die einen Aufruf für die Demonstrationen<br />

des 9. Juli, des Jahrestags<br />

der blutigen Repression gegen die<br />

Studentenbewegung von 1999, lanciert<br />

haben.<br />

Niemand kann an der Bedeutung<br />

des 15. Juni zweifeln. Jahrelang waren<br />

die Iraner gegenüber dem Regime isoliert,<br />

demoralisiert und voller Furcht.<br />

An diesem Montag befanden sich nach<br />

Angaben des Teheraner Bürgermeisters<br />

etwa 3 Millionen Menschen auf<br />

den Straßen der Hauptstadt. In Isfahan<br />

war der historische Schah-Dschehan-Platz<br />

(einer der größten Plätze<br />

der Welt) schwarz von protestierenden<br />

Menschen. <strong>Die</strong> Städte Schiras und Täbris<br />

erlebten Demonstrationen nie gesehenen<br />

Ausmaßes. <strong>Die</strong> Iraner haben<br />

endlich gesprochen und die Solidarität,<br />

die sie auf diesen Protestaktionen<br />

gefunden haben, hat ihnen ein beispielloses<br />

Vertrauen und das Gefühl des<br />

Sieges verliehen.<br />

Wie 1979 ist es dieses Vertrauen,<br />

das ihnen Mut macht, sich den brut<strong>als</strong>ten<br />

Formen der Repression kühn<br />

und entschlossen entgegenzustellen.<br />

<strong>Die</strong> waffenlosen Protestierer standen<br />

den Bassidschi gegenüber und hatten<br />

dabei augenscheinlich keine Angst um<br />

ihr Leben. Bei einem Protest in einem<br />

Elendsviertel eines Vororts von Teheran,<br />

wo infolge regelmäßiger Zusammenstöße<br />

zwischen Bewohnern und<br />

Behörden Bassidschi-Einheiten stationiert<br />

worden waren, rief die Menge<br />

„Tod dem Diktator!“, griff die Bassidschi<br />

an und konnte sie aus dem Ort jagen.<br />

Dasselbe geschah auch in Teheraner<br />

Arbeitervierteln. Wenn die Viertel<br />

der Teheraner Bourgeoisie tagsüber<br />

ruhig blieben (in der Nacht stiegen die<br />

Leute in der <strong>ganze</strong>n Stadt auf die Dächer<br />

und skandierten Parolen gegen das<br />

Regime), so waren dagegen die Viertel<br />

der Arbeiterklasse, die Fabriken, die<br />

Bergwerke und die Elendsquartiere<br />

Schauplatz improvisierter und bedeutender<br />

Aktionen.<br />

An der Spitze derjenigen, die der<br />

Furcht und der Repression trotzten und<br />

auf die Straßen Teherans strömten, finden<br />

wir Frauen (ein guter Teil von ihnen<br />

jünger <strong>als</strong> 30 Jahre), die niem<strong>als</strong><br />

vergessen werden, wie die Pasdaran sie<br />

festgenommen und ausgepeitscht haben<br />

(vielfach mit 60-80 Schlägen), weil sie<br />

eine Haarsträhne gezeigt haben, sowie<br />

junge Menschen beiderlei Geschlechts,<br />

die in den letzten Jahren festgenommen,<br />

gedemütigt und eingesperrt wurden<br />

– nicht bloß weil sie eine politische<br />

Meinung geäußert haben, sondern in<br />

Hunderttausenden von Fällen, weil sie<br />

sich nicht an die strengen Auslegungen<br />

der islamischen Kleidungsvorschriften<br />

oder Verhaltensregeln gehalten haben.<br />

Sie werden nie die Brigaden der Sittenwächter<br />

vergessen.<br />

Dann sind da noch die Studentinnen<br />

und Studenten, die genug haben<br />

von der Einmischung des Staates<br />

in jeden Aspekt ihres privaten und öffentlichen<br />

Lebens; die Werktätigen, die<br />

mit Armut, unbezahlten Löhnen, Arbeitslosigkeit<br />

konfrontiert sind; die Bewohner<br />

der Elendsviertel, die mit den<br />

Behörden im Dauerstreit liegen wegen<br />

Mangels an Wasser oder Elektrizität;<br />

die Eltern derjenigen, die vom Regime<br />

getötet wurden – nicht bloß während<br />

der jüngsten Proteste, bei denen mindestens<br />

350 Personen ihr Leben verloren,<br />

sondern es geht um die Familien<br />

der über 30 000 AktivistInnen, die wegen<br />

ihrer politischen Ideen in den 80er<br />

und 90er Jahren hingerichtet wurden<br />

(und vergessen wir nicht, dass die Henker<br />

der über 6000 in den Gefängnissen<br />

ermordeten politischen Gefangenen sowohl<br />

im Lager der Reformer wie auch<br />

im Lager der Konservativen zu finden<br />

sind).<br />

<strong>Die</strong> Spaltungen an der Spitze haben<br />

einen Raum für eine authentische Massenbewegung<br />

eröffnet.<br />

Schauen wir uns, um unsere antiimperialistischen<br />

Skeptiker aufzuklären,<br />

an, welche Haltung die iranische<br />

Arbeitervorhut einnimmt. Während des<br />

Wahlkampfs hat die Mehrheit der gewerkschaftlichen<br />

und Arbeiterorganisationen<br />

(die illegal sind) dazu aufgerufen,<br />

keinen der zur Wahl stehenden<br />

Kandidaten zu wählen, denn, erklären<br />

sie, keiner der Kandidaten repräsentiert<br />

die Interessen der Werktätigen. <strong>Die</strong>se<br />

Haltung ist vollkommen korrekt. Jedoch<br />

<strong>als</strong> die Massenbewegung auf den<br />

Plan trat, drückte die Gewerkschaft der<br />

Teheraner Busfahrer (Vahed) ihre entschiedene<br />

Unterstützung für diese Bewegung<br />

aus. Und die Beschäftigten<br />

von Iran Khodro organisierten einen<br />

halbstündigen Streik zur Unterstützung<br />

der Bewegung.<br />

Am 18. Juni veröffentlichte die Gewerkschaft<br />

der Teheraner Busfahrer ein<br />

Kommuniqué. Dabei handelt es sich<br />

um einen der kämpferischsten Teile der<br />

iranischen Arbeiterklasse, der vor zwei<br />

Jahren zur Verteidigung seiner gewerkschaftlichen<br />

Rechte einer brutalen Repression<br />

getrotzt hat. Vor den Wahlen<br />

hatte die Gewerkschaft zu Recht erklärt,<br />

dass kein Kandidat die Interessen<br />

der iranischen Werktätigen verteidigt.<br />

Aber gleichermaßen zu Recht begrüßt<br />

sie heute „die großartige Bewegung<br />

von Millionen Menschen jeden Alters,<br />

Geschlechts, religiösen Bekenntnisses<br />

und aller Nationalitäten“. Das Kommuniqué<br />

fährt fort: „Wir unterstützen<br />

diese Bewegung des iranischen Volkes<br />

für den Aufbau einer freien und unabhängigen<br />

zivilen Gesellschaft – und<br />

wir verurteilen jede Gewalt und jede<br />

Repression.“ Was für ein Unterschied<br />

zwischen dieser Erklärung und dem<br />

Diskurs von Mussawi und seinen Reformern,<br />

selbst der radik<strong>als</strong>ten! Noch<br />

bezeichnender ist die Mobilisierung<br />

der Beschäftigten der Fabrik Iran Khodro,<br />

des größten Betriebs des Automobilsektors<br />

im gesamten Nahen Osten<br />

(100 000 Beschäftigte, davon 30 000<br />

in einem einzigen Werk). Am Donnerstag,<br />

dem 18. Juni, organisierten sie eine<br />

Streikaktion zur Unterstützung der<br />

Volksbewegung. Hier das vollständige<br />

Kommuniqué, das den Streik ankündigte:<br />

„Wir erklären unsere Solidarität mit<br />

der Bewegung des iranischen Volkes.<br />

Was wir heute erleben, ist eine Beleidigung<br />

der Intelligenz des Volkes und<br />

seiner Stimmabgabe. <strong>Die</strong> Regierung<br />

inprekorr 458/459 31


Iran<br />

Demonstration in Teheran gegen das Wahlergebnis<br />

verhöhnt die Prinzipien der Verfassung.<br />

Wir sind verpflichtet, uns der Volksbewegung<br />

anzuschließen. Heute, am 18.<br />

Juni, werden wir, die Arbeiter von Iran<br />

Khodro, die Arbeit für eine halbe Stunde<br />

niederlegen, um gegen die Repression<br />

gegen die StudentInnen, die ArbeiterInnen<br />

und die Frauen zu protestieren.<br />

Wir erklären unsere Solidarität mit<br />

der Bewegung des iranischen Volkes.<br />

Am Tag: von 10 Uhr bis 10.30 Uhr; in<br />

der Nacht: von 3 Uhr bis 3.30 Uhr. <strong>Die</strong><br />

Arbeiter von Iran Khodro.“<br />

<strong>Die</strong>se beiden Erklärungen und die<br />

Streikaktion der Beschäftigten von Iran<br />

Khodro sind sehr bedeutend. Es handelt<br />

sich um die beiden kämpferischsten<br />

Sektoren der iranischen Arbeiterklasse<br />

und um die Vorhut der Gewerkschaftsbewegung,<br />

die anfängt, sich wieder zu<br />

erheben. <strong>Die</strong> Idee eines Gener<strong>als</strong>treiks<br />

ist aufgeworfen, aber noch nicht angewandt<br />

worden. Das ist die entscheidende<br />

Frage. Im Jahr 1979 war es der<br />

Streik der Erdölarbeiter, der beim Sturz<br />

des Schah-Regimes, diesem den endgültigen,<br />

tödlichen Schlag versetzte.<br />

Am 1. Juli begannen Tausende Arbeiter<br />

eines Bergwerks in der Provinz<br />

Chusistan einen Streik, und <strong>als</strong> die Sicherheitskräfte<br />

anrückten, um sie auseinanderzujagen,<br />

riefen die Arbeiter:<br />

„Tod dem Diktator!“<br />

Am 5. Juli sind die Beschäftigten<br />

der Zuckerrohrfabrik von Haft Tapeh<br />

erneut in den Streik getreten; sie beschuldigen<br />

die Behörden, ihre früher<br />

schon vorgebrachten Forderungen<br />

nicht zu erfüllen.<br />

<strong>Die</strong> Diskussionen zum Thema<br />

Streik gehen weiter, und drei Wochen<br />

nach dem Beginn der Proteste hat eine<br />

Organisation namens „Arbeiterkomitee<br />

zur Verteidigung der Proteste des<br />

Volkes“ eine Anzahl von Kommuniqués<br />

veröffentlicht, deren Themen die<br />

Organisation der Demonstrationen, die<br />

Sicherheitsmaßnahmen, die Ratschläge<br />

zur Selbstverteidigung gegen die Angriffe<br />

der Bassidschi und detaillierte<br />

Anregungen zum zivilen Ungehorsam<br />

sind.<br />

Jeden weiteren Tag, der vergeht,<br />

verlieren die beiden Reformkandidaten<br />

stets mehr die Unterstützung des<br />

Volkes. Nachdem sie zwei Wochen gewartet<br />

hatten – in der Hoffnung auf einen<br />

Durchbruch beim Wächterrat –,<br />

veröffentlichten Karrubi, Mussawi<br />

und der frühere Präsident Khatami eine<br />

gemeinsame Erklärung, die das gefälschte<br />

Wahlergebnis anprangert. Sie<br />

weigern sich, die neue Regierung anzuerkennen.<br />

Doch die gewöhnlichen<br />

IranerInnen sind sehr wütend in Bezug<br />

auf Mussawi, der einen „gewöhnlichen<br />

Streit innerhalb der Mitglieder einer islamischen<br />

Familie“ führt. Währenddessen<br />

versuchte Rafsandschani, der Verbündete<br />

der Reformer innerhalb einer<br />

Expertenversammlung, ein Maximum<br />

an Stimmen zu bekommen, um den<br />

Obersten Führer abzusetzen oder wenigstens<br />

Druck auf ihn auszuüben.<br />

Wie immer sind sich die „Reformer“<br />

klar darüber, dass ihr Schicksal<br />

mit der Existenz des Regimes verbunden<br />

ist. Dennoch schaufeln sie sich ihr<br />

eigenes Grab, indem sie Lösungen im<br />

Zirkel der Macht suchen und dabei den<br />

Massen auf der Straße das Unmögliche<br />

versprechen. Sie wissen nur, dass sie im<br />

Juni 2009 die Unterstützung vieler IranerInnen<br />

erhalten haben, weil die Bevölkerung<br />

für das kleinere Übel optiert<br />

hat. Hatte sich das Regime erst einmal<br />

entschlossen, diese begrenzte Gelegenheit<br />

aus- und die Tür zuzuschlagen, waren<br />

die Tage der Unterstützung Mussawis<br />

und Karrubis gezählt. Doch sollte<br />

niemand die Auswirkungen unterschätzen,<br />

die dieses beispiellose Schisma an<br />

der Spitze des islamischen Regimes haben<br />

wird.<br />

Wie bereits oben erwähnt hat die<br />

Islamische Republik eine einzigartige,<br />

sehr komplizierte Machtstruktur. <strong>Die</strong><br />

Macht ist in den Händen komplizierter<br />

Netzwerke klerikaler, exekutiver, juristischer,<br />

militärischer und paramilitärischer<br />

Kreise. Bislang haben all diese<br />

Kräfte, trotz ihrer Differenzen und<br />

fraktionellen Loyalitäten, dem Obersten<br />

Führer gehorcht. Tatsächlich war<br />

die Rolle des allmächtigen Schiedsrichters<br />

zwischen den verschiedenen Fraktionen<br />

des Regimes die wichtigste Rolle,<br />

die Khomeini und sein Nachfolger<br />

Khamenei in ihrer Funktion <strong>als</strong> Oberste<br />

Führer in den letzten dreißig Jahren<br />

gespielt haben. Am 19. Juni dieses Jahres<br />

endete dies, <strong>als</strong> Khamenei eindeutig<br />

die Gültigkeit des Resultats der Präsidentschaftswahl<br />

erklärte und Partei für<br />

Ahmadinedschad ergriff. Es ist somit<br />

gerechtfertigt, den Obersten Führer <strong>als</strong><br />

Hauptverlierer in der aktuellen Situation<br />

auszumachen.<br />

<strong>Die</strong> Reformer sind gleichfalls Verlierer.<br />

Von Tag zu Tag geht ihre Unterstützung<br />

in der Bevölkerung zurück.<br />

Beim Versuch, eine islamische Ordnung<br />

zu retten, sind sie in die Klemme<br />

geraten.<br />

Aber es gibt auch Gewinner: die<br />

Völker des Iran, die DemonstrantInnen,<br />

diejenigen, die jeden Tag gegen das Regime<br />

und seine militärischen und paramilitärischen<br />

Kräfte ihr Leben riskieren.<br />

<strong>Die</strong> Repression ist grausam. Doch<br />

so zeigt das Regime seine Verzweiflung.<br />

<strong>Die</strong> innovative Weise, in der die<br />

IranerInnen bei jeder Gelegenheit ihren<br />

Hass auf das Regime ausdrücken, hat<br />

ihnen Hoffnung und Vertrauen verliehen,<br />

was ihnen im Verlauf des Konflikts<br />

die Versicherung gibt, dass er mit dem<br />

Sturz des Regimes enden wird. Das Regime<br />

hat sich zu viele Feinde geschaf-<br />

32 inprekorr 458/459


Iran<br />

fen, besonders unter der Jugend, den<br />

Frauen, den Werktätigen und den Armen,<br />

sodass es keine Rolle spielt, wer<br />

sein Überleben akzeptieren kann.<br />

<strong>Die</strong> Eltern der bei den jüngsten Demonstrationen<br />

Verhafteten versammeln<br />

sich jeden Mittag vor den Gefängnissen<br />

und fordern die Freilassung ihrer<br />

Kinder und der anderen Gefangenen<br />

sowie Gerechtigkeit für die von den<br />

Bassidschi auf den Straßen und im Gefängnis<br />

unter der Folter Getöteten. <strong>Die</strong><br />

Mehrheit der Bevölkerung lehnt nicht<br />

nur weitere vier Jahre mit Ahmadinedschad<br />

ab, sondern das Regime in seiner<br />

Gesamtheit, das in ihren Augen unerträglich<br />

geworden ist. Sie werden<br />

mit ihren Protestaktionen nicht aufhören,<br />

ob nun mit oder ohne Mussawi und<br />

Karrubi.<br />

Solidarität<br />

<strong>Die</strong> Bilder der brutalen Repression gegen<br />

die Jugend, die Werktätigen und<br />

die Frauen des Iran haben in der <strong>ganze</strong>n<br />

Welt eine Welle der Empörung hervorgerufen.<br />

Das Regime hat seine letzte Chance<br />

gehabt, das iranische Volk, unter<br />

dem Deckmantel einer Präsidentschaft<br />

Mussawis, mit Versprechungen einer<br />

geringfügig weniger repressiven Ordnung<br />

zu ködern. <strong>Die</strong>se Gelegenheit<br />

hat es versäumt. Konfrontiert mit einer<br />

brutalen Repression im Innern und einer<br />

permanenten Drohung eines militärischen<br />

Angriffs ist diejenige Art der<br />

Solidarität, derer das iranische Volk<br />

gewiss nicht bedarf, der von den imperialistischen<br />

Staaten und ihren Verbündeten<br />

angebotene „Regimewechsel“<br />

im Innern. <strong>Die</strong> Feinde der Werktätigen<br />

– im Lager Mussawis, unter den<br />

Monarchisten oder der konfusen Linken<br />

– werden bestrebt sein, die Unterstützung<br />

der europäischen Staaten<br />

oder der US-Regierung zu erhalten,<br />

während die Verteidiger der iranischen<br />

Arbeiterklasse bei der Wahl ihrer Verbündeten<br />

wachsam bleiben werden.<br />

Für den Augenblick hat die religiösmilitärische<br />

Oligarchie, die ihre Macht<br />

und ihre Privilegien gefestigt hat, sehr<br />

deutlich zu verstehen gegeben, dass sie<br />

eine islamische Regierung wünscht,<br />

unter der die Volkssouveränität auf ein<br />

Nichts reduziert ist. <strong>Die</strong> aus der göttlichen<br />

Allmacht gezogene Legitimität<br />

genügt ihr. Das ist der Sinn von Khameneis<br />

Rede am 19. Juni 2009. <strong>Die</strong>se<br />

Oligarchie wird sich ihre Macht nicht<br />

einfach wegnehmen lassen.<br />

Aber inmitten all dieser Ereignisse,<br />

die den Iran erschüttern, ist eines sicher:<br />

Von nun an ist es zu spät für eine<br />

Umkehr. Alle Elemente zeigen,<br />

dass die Volksbewegung sich langfristig<br />

etabliert, welche Gewalt die Milizen<br />

der Bassidschi, die aus der Arbeiterklasse<br />

stammen und von den gebildeten<br />

Mittel- und Oberschichten verachtet<br />

werden, auch anwenden mögen.<br />

Und an der Spitze werden Risse auftreten.<br />

Früher oder später wird sich die brutale<br />

Militärdiktatur einer gespaltenen<br />

„Mullahrchie“ versuchen zu etablieren,<br />

dabei unterstützt von den Bassidschi-Milizen.<br />

Aber diese Lösung kann<br />

nicht lange dauern.<br />

<strong>Die</strong>ser Staatsstreich per Wahlen<br />

hat zwei irreversible Folgen für das<br />

iranische Volk. Erstens das Ende der<br />

Angst des von der Brutalität des Regimes<br />

terrorisierten Volkes, die jahrelang<br />

im Iran herrschte. Zweitens die<br />

endgültige Befreiung der iranischen<br />

Bevölkerung von allen Illusionen bezüglich<br />

der Reformierbarkeit des Regimes.<br />

Wenn Mussawi die Leute auffordert,<br />

in ihren Häusern zu bleiben,<br />

und stattdessen die Bevölkerung<br />

zu Millionen demonstrieren geht, ist<br />

das für die Reformer eine schallende<br />

Ohrfeige. Tatsächlich haben wir ein<br />

Schauspiel erlebt, bei dem die „Reformer“<br />

dem Volk hinterherlaufen, um<br />

nicht beiseite gedrängt zu werden, und<br />

das ist nicht das erste Mal! Anschließend<br />

sahen sich Mussawi und Karrubi<br />

gezwungen, auf den folgenden Demonstrationen<br />

aufzutauchen, klar bestrebt,<br />

die Initiative wiederzuerlangen<br />

und die Protestbewegung zu kontrollieren,<br />

damit sie nicht die grüne Linie<br />

überschreitet. Und bei jeder Etappe<br />

haben sie sich bemüht, dem Volkszorn<br />

hinterherzulaufen.<br />

<strong>Die</strong> blutige Repression gegen die<br />

Demonstrierenden, die Feigheit der reformerischen<br />

Bourgeoisie werden die<br />

Führer der Reformer weiter von den<br />

Massen entfernen und sie marginalisieren.<br />

Der Weg ist jetzt frei, das System<br />

in seiner Gesamtheit von unten<br />

in Frage zu stellen. Der Weg wird lang<br />

und beschwerlich sein. Es ist nicht<br />

schwer, die Gründe dafür auszumachen.<br />

Das Regime hat bewiesen, dass<br />

es keine Schwierigkeit damit hat, eine<br />

wütende Repression zu entfesseln. Es<br />

ist ein ideologisches Regime, organisiert<br />

auf faschistischen Linien, und es<br />

wird um sein Überleben kämpfen. Es<br />

verfügt über eine militärische Streitmacht<br />

und eine sehr gut organisierte<br />

paramilitärische Miliz mit sehr bedeutenden<br />

finanziellen Interessen.<br />

Es ist schwierig vorauszusehen,<br />

was geschehen wird. Doch können wir<br />

uns sicher sein, dass nichts mehr so<br />

sein wird wie zuvor. Niemand wird die<br />

Tatsache vergessen, dass die beiden<br />

Fraktionen viele „rote Linien“ überschritten<br />

haben, indem sie die Korruption,<br />

den Betrug und den Bankrott der<br />

jeweils anderen bloßgestellt haben. Es<br />

handelt sich somit um eine sehr wichtige,<br />

heikle und langwierige Konfrontation.<br />

Wesentlich ist, dass diejenigen,<br />

die im Iran kämpfen, die breite und<br />

wirksame Unterstützung der Linken<br />

und der fortschrittlichen Kräfte erhalten,<br />

damit sie nicht in die f<strong>als</strong>che Vorstellung<br />

derjenigen Linken verfallen,<br />

die sich nicht um die Demokratie und<br />

die bürgerlichen Freiheiten scheren.<br />

Unsere Vereinigung „Sozialistische<br />

Solidarität mit den Werktätigen im<br />

Iran“ ist, indem sie die Interessen der<br />

Arbeitenden im Iran verteidigt und dabei<br />

gleichzeitig eine entschiedene und<br />

konsequente antiimperialistische Position<br />

und Opposition gegen das Regime<br />

aufrechterhält, in einer guten Lage,<br />

eine große Kampagne zur Unterstützung<br />

der Kämpfe des iranischen<br />

Volkes zu verbreiten. Auf diese Weise<br />

sind wir bereit zur Zusammenarbeit<br />

mit allen iranischen und internationalen<br />

Kräften, die diese Prinzipien teilen.<br />

Wir können uns nicht mit den Verteidigern<br />

Mussawis zusammentun oder mit<br />

denjenigen, die den Krieg oder Sanktionen<br />

wollen, um eine Änderung von<br />

unten zu verhindern. Wir werden nicht<br />

aufhören, diejenigen zu kritisieren, die<br />

den imperialistischen Krieg oder Wirtschaftssanktionen<br />

tolerieren – Maßnahmen,<br />

die in erster Linie den iranischen<br />

Werktätigen schaden.<br />

August 2009<br />

Hushang Sepehr ist ein iranischer revolutionärmarxistischer<br />

Aktivist im Exil, Mitbegründer<br />

von „Solidarité avec les travailleurs en Iran“<br />

(STI, 266 avenue Daumesnil, F-75012 Paris)<br />

und Mitglied der IV. Internationale.<br />

Übersetzung: Paul B. Kleiser und<br />

HGM<br />

inprekorr 458/459 33


PAKISTAN<br />

Pakistans Frauen leiden am<br />

meisten unter dem Klimawandel<br />

Bushra Khaliq<br />

Obwohl Pakistan sehr wenig zu der<br />

globalen Erwärmung beiträgt, steht<br />

es weit oben auf der Liste der Länder,<br />

die bald am stärksten unter den Folgen<br />

des Klimawandels zu leiden haben<br />

werden. Erst kürzlich wies der pakistanische<br />

Premierminister warnend<br />

darauf hin, wie sehr Umwelt und natürliche<br />

Ressourcen des Landes bedroht<br />

sind.<br />

Mit der Enthüllung, dass Pakistan<br />

weltweit an zwölfter Stelle der gefährdeten<br />

Länder stehe, was Umweltschäden<br />

anbelangt, alarmierte er seine<br />

Landsleute. <strong>Die</strong>s würde alljährlich 5 %<br />

des BIP verschlingen.<br />

Jedoch nehmen nur sehr wenige<br />

Pakistani solche Warnungen ernst. Es<br />

gibt keinen Aufschrei der Medien, keine<br />

Volksbewegung und keine politische<br />

Protest zu diesem Thema. Traurig!<br />

<strong>Die</strong> Mehrheit der pakistanischen<br />

Politiker findet einfach keine Zeit,<br />

über das Horrorszenario nachzudenken,<br />

das in der Zukunft droht, wenn<br />

sich die klimatischen Bedingungen<br />

weiter verschlechtern. Das Land ist<br />

vielmehr damit beschäftigt, den USamerikanischen<br />

„Krieg gegen den Terror“<br />

zu führen und steckt nahezu ausweglos<br />

in einer komplexen politischen<br />

Gemengelage, in dem es Krieg gegen<br />

sich selbst führt. Daher stoßen die Folgen<br />

des Klimawandels auf wenig Resonanz<br />

in der pakistanischen Bevölkerung.<br />

<strong>Die</strong> Klimaexperten des Landes warnen<br />

eindringlich vor einer drohenden<br />

Wasserknappheit, wobei die Wasserversorgung<br />

in großen Teilen des Landes<br />

ohnehin schon prekär ist, was sich aber<br />

noch dramatisch zuspitzen würde. Betroffen<br />

davon sind die Nahrungsmittelproduktion,<br />

aber auch die Exportindustrien<br />

in Landwirtschaft, Textilproduktion<br />

und Fischfang. Zur gleichen<br />

Zeit wären Küstenregionen von Überschwemmungen<br />

bedroht, was Millionen<br />

von Menschen in den tief gelegenen<br />

Regionen obdachlos machen<br />

würde.<br />

Im Nordosten Pakistans herrschten<br />

bereits 1999 und 2000 Dürren, die zu einer<br />

drastischen Absenkung des Grundwasserspiegels<br />

und zur Austrocknung<br />

der Feuchtgebiete führten, was<br />

das Ökosystem bereits nachhaltig geschädigt<br />

hat. Obwohl Pakistan am wenigsten<br />

zu der weltweiten Klimaerwärmung<br />

beiträgt – ein 35stel der weltweit<br />

durchschnittlichen Kohlendioxidemissionen<br />

– sind die Temperaturen in den<br />

Küstenregionen um 0,6 bis 1 Grad Celsius<br />

seit Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

gestiegen. Der Niederschlag hat im<br />

Küsten- und Extremtrockengürtel um<br />

10 bis 15 % in den letzten 40 Jahren<br />

abgenommen, während er in Nordpakistan<br />

in den Sommer- und Wintermonaten<br />

zugenommen hat.<br />

Obwohl Pakistan minimal FCKW<br />

produziert und kaum Schwefeldioxid<br />

ausstößt und somit in einer vernachlässigbaren<br />

Größenordnung zu Ozonloch<br />

und saurem Regen beiträgt, wird es unverhältnismäßig<br />

unter dem Klimawandel<br />

und den anderen globalen Umweltproblemen<br />

zu leiden haben. Auch die<br />

Gesundheit von Millionen wird in Mitleidenschaft<br />

gezogen durch Durchfallerkrankungen<br />

im Gefolge der immer<br />

häufigeren Überschwemmungen und<br />

Dürren. <strong>Die</strong> zunehmende Verarmung<br />

der Landbevölkerung wird die Migration<br />

innerhalb des Landes und in andere<br />

Länder voraussichtlich ansteigen lassen.<br />

Angesichts der enormen Tragweite<br />

sind Anpassungs- und Linderungsmaßnahmen<br />

von existentieller Bedeutung.<br />

Pakistans Ökosystem leidet bereits<br />

erheblich unter dem Klimawandel, wie<br />

man am Beispiel von Keti Bandar sehen<br />

kann: einer der reichsten Häfen in<br />

der Küstenregion von Pakistan, der seine<br />

Privilegien verlor, da er zur f<strong>als</strong>chen<br />

Zeit am f<strong>als</strong>chen Ort war. <strong>Die</strong> ehemaligen<br />

Hafenanlagen grenzten an beide<br />

Ufer des Indus-Deltas, stehen jetzt jedoch<br />

unter Wasser durch die Küstenerosion,<br />

die nur noch eine dünne, 2 km<br />

lange Landenge <strong>als</strong> Brücke zum Festland<br />

übrig ließ.<br />

Es gab eine Zeit, <strong>als</strong> diese Gegend<br />

bekannt war für ihre blühenden Mangrovenwälder,<br />

reich an Landwirtschaft<br />

und voller Stolz auf den florierenden<br />

Seehafen. Jetzt gibt es dort nur noch<br />

Ödland mit strohgedeckten Häusern,<br />

die auf Schlamm gebaut sind. Das eindringende<br />

Wasser und die Versalzung<br />

sind die Hauptprobleme, und die See<br />

hat schon fast die Dörfer verschlungen.<br />

Tausende von Bauernfamilien und die<br />

Fischergemeinde mussten bereits auf<br />

ihrer Suche in andere Gegenden auswandern,<br />

um ihren Lebensunterhalt zu<br />

fristen.<br />

<strong>Die</strong> ohnehin schon gravierende Situation<br />

in dieser Region wird noch verschlimmert<br />

durch die häufigen Zyklone<br />

an der Küste und ihre um ein Mehrfaches<br />

gewachsene Intensität. <strong>Die</strong> armen<br />

Bauern und Fischer werden davon<br />

immer besonders hart getroffen.<br />

Schuld an dieser Situation ist der globale<br />

Klimawandel, der die Gemeinschaft<br />

in Keti Bandar bedroht. <strong>Die</strong> Küstenregionen<br />

sind bekanntlich am meisten<br />

durch den Klimawandel bedroht,<br />

da durch die steigenden Oberflächentemperaturen<br />

des Meeres und die Verdunstung<br />

des Wassers in die Atmosphäre<br />

die Intensität der Zyklone und<br />

der Niederschlag zunehmen.<br />

Wenn der Klimawandel kommt,<br />

wird die Bevölkerung an sich zum Problem,<br />

vor allem in Ländern wie Pakistan<br />

mit einer jährlichen Wachstumsrate<br />

von 2,69 % und somit an sechster<br />

Stelle stehend, was die Bevölkerungszahl<br />

angeht. Da arme Familien täglich<br />

um das Überleben kämpfen müssen, ist<br />

die Vernachlässigung der Umwelt weit<br />

verbreitet. Langfristige und nachhaltige<br />

Entwicklungsziele werden zugunsten<br />

der unmittelbaren Alltagsbedürfnisse<br />

vernachlässigt. <strong>Die</strong>s lässt jedoch leicht<br />

34 inprekorr 458/459


PAKISTAN<br />

anfällige Gruppen der Gesellschaft,<br />

vor allem Frauen, zurück, die dem Klima<br />

auf Gedeih und Verderb ausgesetzt<br />

sind. Zunehmende Nutzung des Holzes<br />

für Treibstoff, Raubbau des Landes und<br />

Verschwendung von Wasserressourcen<br />

durch Überweidung, Überfischung, Erschöpfung<br />

der Wasservorräte und Versteppung<br />

sind in den ländlichen Regionen<br />

Pakistans Normalität.<br />

In Pakistan erscheint es so gut wie<br />

unmöglich, das ausufernde Wachstum<br />

der Bevölkerung zu stoppen, da Geburtenkontrolle<br />

oft <strong>als</strong> volksfeindlich angeprangert<br />

wird. <strong>Die</strong> Verantwortung<br />

dafür müssen sich die Politiker und religiösen<br />

Führer der Nation, die es besser<br />

wissen müssten, zurechnen lassen. Das<br />

explodierende Bevölkerungswachstum<br />

wurde komplett ignoriert und Geburtenkontrolle<br />

ist ein Tabu in Pakistan. In<br />

unserer Kultur gilt: Je mehr Kinder, desto<br />

stärker fühlt sich die Familie. Armut<br />

scheint hier keine Rolle zu spielen.<br />

<strong>Die</strong> Mullahs könnten Anstoß nehmen<br />

– so die gängige Sorge.<br />

<strong>Die</strong> LandbewohnerInnen Pakistans<br />

sind seit jeher Analphabeten. „Anstatt<br />

Schulen zu bauen, rüsten wir lieber die<br />

Armee auf.“ <strong>Die</strong> feudalen Landeigentümer<br />

achteten darauf, dass die Landbevölkerung<br />

keinen Zutritt zur Bildung<br />

hatte. <strong>Die</strong> Mullahs erklären Schulbildung<br />

für Mädchen <strong>als</strong> unislamisch. <strong>Die</strong><br />

Realität sieht so aus, dass sogar für diejenigen<br />

Frauen, die Geburtenplanung<br />

praktizieren wollen, der Zugang zu den<br />

Familienberatungsstellen erschwert ist.<br />

Sie stoßen bereits zuhause auf keinerlei<br />

Unterstützung und begegnen f<strong>als</strong>chen<br />

Vorstellungen und Fehlinformationen<br />

über den Nutzen der Familienplanung.<br />

Nach Meinung der Experten wird<br />

der indische Subkontinent im Jahr<br />

2050 in Pakistan 350 Millionen, in Indien<br />

1,65 Milliarden, in Nepal 40 Millionen,<br />

in Bangladech 300 Millionen<br />

und in Sri Lanka 30 Millionen Menschen<br />

ernähren müssen. Insgesamt<br />

werden es etwa 2,4 Milliarden Menschen<br />

sein – soviel wie die <strong>ganze</strong> Welt<br />

um 1950 herum zählte. <strong>Die</strong> Beanspruchung<br />

der Ressourcen in dieser Region<br />

wird enorm sein und die Folgen davon<br />

katastrophal. Zu diesem Zeitpunkt werden<br />

die Gletscher des Himalaja bereits<br />

verschwunden sein, der Monsun wird<br />

unberechenbar sein, mit manchmal zu<br />

viel und manchmal zu wenig Regen;<br />

neue, unkontrollierbare Krankheiten<br />

werden sich ausbreiten. <strong>Die</strong>s wird von<br />

einem auf den anderen Tag eintreffen.<br />

Wir werden aufwachen und feststellen,<br />

dass alles, was wir gestern hatten (Essen,<br />

Wasser, Elektrizität), verschwunden<br />

sein wird.<br />

<strong>Die</strong>ses Horrorszenario betrifft ohne<br />

Zweifel die <strong>ganze</strong> Bevölkerung,<br />

die in diesem Teil der Welt lebt, existentiell<br />

jedoch wird es die Randgruppen<br />

der Gesellschaft treffen, besonders<br />

die Frauen, die eindeutig am schlimmsten<br />

und <strong>als</strong> erste von der Klimabombe<br />

getroffen werden. Es ist das Gebot der<br />

Stunde, die Tragweite des Problems<br />

zu vermitteln und für eine Politik einzutreten,<br />

die dem Klimawandel Rechnung<br />

trägt und die Rechte der Armen<br />

und der Marginalisierten in den Mittelpunkt<br />

stellt.<br />

In Entwicklungsländern wie Pakistan<br />

leiden Frauen von jeher unverhältnismäßig<br />

unter den Folgen des Klimawandels.<br />

Einheimische Umweltaktivisten<br />

schätzen, dass 70 % der Armen,<br />

die viel anfälliger für Umweltschäden<br />

sind, Frauen sind. Insofern liegt es auf<br />

der Hand, dass sie die unsichtbaren Opfer<br />

des Krieges um die Ressourcen und<br />

der Gewalt infolge des Klimawandels<br />

sein werden. <strong>Die</strong>ses Phänomen war bereits<br />

in den Jahren 1999 und 2000 zu<br />

beobachten, <strong>als</strong> Tausende von armen<br />

Familien aus dem dürregeplagten Belutschistan<br />

– der rückständigsten Region<br />

Pakistans – fliehen mussten. Frauen<br />

wie Kinder litten darunter am meisten.<br />

Wie auch in anderen armen Ländern,<br />

leiden besonders die Mütter in<br />

Pakistan unter dem Klimawandel, da<br />

sie in Gegenden leben müssen, die von<br />

den Dürren, Entwaldung oder Missernten<br />

betroffen sind. Viele der Umweltfrevel<br />

treffen sie unverhältnismäßig,<br />

da meistens Frauen in Pakistan von<br />

den primären natürlichen Ressourcen<br />

abhängig sind: Land, Wald und Wasser.<br />

In Fällen von Dürre, sind sie unmittelbar<br />

betroffen, und Frauen wie Kinder<br />

inprekorr 458/459 35


PAKISTAN<br />

Egal ob Entwaldung, Dürren oder Missernten – immer sind es die Frauen und Kinder, die am<br />

härtesten betroffen sind.<br />

können in der Regel nicht einfach davor<br />

fliehen. Männer können auf der Suche<br />

nach fruchtbarerer Erde in andere<br />

Teile des Landes ziehen und manchmal<br />

sogar in andere Länder … aber Frauen<br />

müssen meistens zurückbleiben und<br />

sich den Konsequenzen stellen. Egal ob<br />

Entwaldung, Dürren oder Missernten –<br />

immer sind es die Frauen und Kinder,<br />

die am härtesten betroffen sind.<br />

Doch weil Frauen in Pakistan die<br />

Hauptnahrungsbeschaffer sind, sind sie<br />

auch mit den Hindernissen konfrontiert,<br />

die sich in Zusammenhang mit<br />

Besitz und Zugang zu Land ergeben.<br />

67 % der Frauen sind in landwirtschaftlichen<br />

Bereichen tätig, aber nur 1 % ist<br />

auch im Besitz des Landes. Wenn sie<br />

nun den negativen Folgen des Klimawandels<br />

ausgesetzt sind, verlieren die<br />

Frauen zugleich ihre Mittel zum Erwerb<br />

des Lebensunterhalts und ihre<br />

Fähigkeit, mit der Katastrophe zurechtzukommen.<br />

Als Folge ders Klimawandels<br />

werden typische Haushaltstätigkeiten<br />

wie Wasser- und Holzsammeln<br />

schwerer und zeitaufwändiger. Da die<br />

Töchter in der Regel ihren Müttern im<br />

Haushalt helfen, bleibt auch ihnen weniger<br />

Zeit für Schule und jegliche Erwerbstätigkeit.<br />

<strong>Die</strong> neusten Fakten zeigen, dass der<br />

Bodenertrag der wichtigsten Sorten<br />

aufgrund des Klimawandels um 30 %<br />

zurückgegangen ist. Experten glauben,<br />

dass der Klimawandel die Anfälligkeit<br />

der Landwirtschaft für Fluten, Dürren<br />

und Stürme erhöht. In diesem Zusammenhang<br />

ist es wichtig, dass die Landwirtschaft<br />

der einzige wirklich bedeutende<br />

Sektor in der pakistanischen<br />

Wirtschaft ist, 21 % des BIP ausmacht<br />

und 43 % der Beschäftigten des Landes<br />

aufnimmt, mehrheitlich Frauen.<br />

Nach landläufiger Meinung sind<br />

die Landwirte Männer. Im Gegensatz<br />

zu dieser Ansicht steht, dass in Pakistan<br />

die Frauen 60 bis 80 % der Nahrungsmittel<br />

produzieren, die im Haushalt<br />

konsumiert werden. In Pakistan<br />

wandern Männer, besonders aus den<br />

Bergregionen, auf der Suche nach<br />

einem besseren Auskommen (zwischen<br />

50 und 63 % der Haushalte) und<br />

es sind die Frauen, die sich neben den<br />

vielen anderen Aufgaben um das Stück<br />

Ackerland der Familie kümmern. Es ist<br />

sicher von Interesse, wie viel Arbeit die<br />

weiblichen Mitglieder des Haushalts<br />

noch außerhalb leisten. Aber ihre Arbeit<br />

ist generell weniger sichtbar und<br />

bekommt weniger öffentliche Anerkennung.<br />

Der Temperaturanstieg wird<br />

die bäuerlichen Gemeinden in Pakistan<br />

insgesamt stark treffen, aber er wird<br />

noch viel gravierender sein für den Einzelnen<br />

und die Haushalte und hier besonders<br />

die Frauen, die sozial, politisch<br />

und ökonomisch anfälliger sind.<br />

In diesem Zusammenhang ist interessant,<br />

dass Pakistan zwar der UN-<br />

Klimarahmenkonvention 1994 sowie<br />

vergleichbaren Protokollen (wie Kyoto<br />

und Montreal) zugestimmt hat,<br />

aber seine Klimapolitik immer noch<br />

Stückwerk ist. ExpertInnen meinen,<br />

dass man nicht sehr viel in Sachen Geschlechtergleichstellung<br />

innerhalb der<br />

nationalen Klimapolitik erwarten dürfe,<br />

da eine entsprechende Politik nur<br />

zustande kommen kann, wenn in den<br />

Entscheidungsgremien die Geschlechter<br />

gleichermaßen vertreten sind und<br />

die notwendige Sensibilität für diese<br />

Fragen besteht.<br />

<strong>Die</strong> nationale Behörde zur Katastrophenbewältigung<br />

(National Disaster<br />

Management Authority, ND-<br />

MA) ist ein neues Instrument der pakistanischen<br />

Regierung, mit dem versucht<br />

wird, die Katastrophenanfälligkeit<br />

der Kommunen in den gefährlichen<br />

Regionen des Landes anzugehen<br />

und zugleich die Frage der Geschlechtergleichstellung<br />

im Auge zu behalten.<br />

Da die NDMA erst kurz existiert,<br />

kann man noch nicht sehr viel über die<br />

Tauglichkeit sagen, aber wenn Frauen<br />

sind in Entwicklung und Überwachung<br />

wichtiger politischer und gesetzgeberischer<br />

Fragen nicht integriert, wird die<br />

Geschlechterfrage untergehen.<br />

Zusammenfassend kann gesagt werden,<br />

dass der Klimawandel die Umsetzung<br />

vieler UN-Milleniumsziele erschweren<br />

könnte, wie z. B. Ausrottung<br />

der Armut, Kindersterblichkeit, Malaria<br />

und andere Krankheiten und ökologische<br />

Nachhaltigkeit. Große Katastrophen<br />

werden im Gewand von starken<br />

Wirtschaftskrisen kommen. Zusätzlich<br />

wird der Klimawandel die bereits existierenden<br />

sozialen und ökologischen<br />

Probleme verschärfen und zu Migration<br />

inner- und außerhalb der Grenzen<br />

Pakistans führen.<br />

Bushra Khaliq ist Gener<strong>als</strong>ekretärin der von<br />

„Women Workers Help Line“ in Lahore.<br />

Übersetzung: Ana<br />

36 inprekorr 458/459


CHINA<br />

Nationalistische Antwort auf die<br />

Herausforderung der Globalisierung<br />

Au Loong-Yu<br />

Als koreanische Bauern zwischen dem<br />

11. und 18. Dezember 2005 den Hauptsitz<br />

der Hongkonger Polizei stürmten,<br />

um gegen die sechste WTO-Ministerkonferenz<br />

zu protestieren, fand die<br />

„Antiglobalisierungsbewegung“ weltweit<br />

Beachtung. Auf dem Höhepunkt<br />

der Aktionswoche nahmen 7000 Menschen<br />

an den Protesten teil. <strong>Die</strong> Beteiligung<br />

der lokalen Kräfte aus Hongkong<br />

war schwach und beschränkte<br />

sich auf maximal 2000 Personen. Noch<br />

auffallender war, dass kaum Festlandchinesen<br />

beteiligt waren. Es war das<br />

erste Mal, dass unmittelbar vor den<br />

Toren des chinesischen Festlands ein<br />

größeres globalisierungskritisches Ereignis<br />

stattfand. Aus Südkorea mit einer<br />

Bevölkerung von 50 Millionen kamen<br />

1600 DemonstrantInnen, während<br />

aus China mit seinen 1,3 Milliarden<br />

Einwohnern nur eine Handvoll<br />

AktivistInnen anwesend war und auch<br />

darunter kaum aus dem ländlichen<br />

Raum. Liegt das daran, dass China im<br />

Zeitalter der Globalisierung eine unbedeutende<br />

Rolle spielt? Ganz offensichtlich<br />

nicht. China ist mittlerweile<br />

bekanntlich ein wichtiges Importund<br />

Exportland und der bedeutendste<br />

Empfänger von ausländischen Direktinvestitionen.<br />

Ebenso ist China ein<br />

wichtiger Global Player, der auf den<br />

Freihandel pocht. Doch entgegen den<br />

Erwartungen oder Hoffnungen vieler<br />

asiatischer Nichtregierungsorganisationen<br />

schloss sich China an der letzten<br />

WTO-Ministerkonferenz Indien<br />

und Brasilien an, die mit den USA und<br />

der EU einen Deal eingingen, womit<br />

die Verhandlungen abgeschlossen und<br />

die Doha-Runde vor einem erneuten<br />

Scheitern bewahrt werden konnte.<br />

<strong>Die</strong> Volksrepublik China verfolgt<br />

auf der einen Seite eine entschiedene<br />

Freihandelspolitik und einen unternehmerfreundlichen<br />

Kurs, führt aber<br />

gleichzeitig eine Politik der eisernen<br />

Faust gegen jede autonome Organisation<br />

und jeden sozialen Widerstand gegen<br />

den Neoliberalismus. Das repressive<br />

Regime generell und das Verbot<br />

von unabhängigen Gewerkschaften,<br />

Streiks und Demonstrationen halfen<br />

China, sich <strong>als</strong> verlängerte Werkbank<br />

der Welt zu etablieren – eine riesige<br />

Maschinerie, die den globalen Wettbewerb<br />

nach unten antreibt und damit<br />

ein wichtiger Handelspartner der<br />

USA ist. Ironischerweise wurde damit<br />

auch der Boden für eine nationalistische<br />

Antwort auf die Globalisierung<br />

gelegt.<br />

Obwohl die <strong>als</strong> Massenkampagne<br />

von unten gegen den Neoliberalismus<br />

verstandene Antiglobalisierungsbewegung<br />

auf dem Festland gegenwärtig<br />

nicht existiert, wird sie mittelfristige<br />

zweifellos entstehen, aus dem<br />

einfachen Grund, weil Chinas vollständige<br />

Reintegration in den globalen<br />

Kapitalismus immer mehr Missstände<br />

mit sich bringt. Nach über 20<br />

Jahren hoher Wachstumsraten auf<br />

dem Rücken der werktätigen Massen<br />

ist in den letzten Jahren eine kontinuierliche<br />

Zunahme von spontanen sozialen<br />

Protesten gegen die Angriffe<br />

durch Privatisierung, Ausbeutung und<br />

Arbeitslosigkeit feststellbar. China hat<br />

sich verpflichtet, bis zum Ablauf der<br />

Übergangszeit für den WTO-Beitritt<br />

2007 seine Märkte nahezu vollständig<br />

zu öffnen. Selbst wenn die heimische<br />

Industrie und Landwirtschaft in China<br />

letztlich vielleicht überleben kann<br />

oder sogar ein höheres Wachstum verzeichnet,<br />

steht eine Phase von zunehmender<br />

Umstrukturierung und Krise<br />

bevor. Kurzum, China steht eine neue<br />

Krisenzeit bevor. <strong>Die</strong> Frage ist nicht<br />

so sehr, ob der Widerstand von selbst<br />

erliegen wird, <strong>als</strong> vielmehr, welche<br />

Richtung er nehmen wird.<br />

Während die Entstehung sozialer<br />

Bewegungen nicht geduldet wird, gab<br />

es in den letzten zehn Jahren unter Intellektuellen<br />

eine hitzige Debatte über<br />

die Globalisierung. Berücksichtigt<br />

man auch die theoretische Diskussion,<br />

besteht eine Antiglobalisierungsbewegung<br />

im weiteren Sinn eigentlich<br />

schon seit über einem Jahrzehnt. Während<br />

die neuen Liberalen die Globalisierung<br />

akzeptieren, hat sich die sogenannte<br />

neue Linke ablehnend geäußert.<br />

Das Ergebnis der Diskussion<br />

wird starken Einfluss auf die zukünftige<br />

Entwicklung Chinas und den sozialen<br />

Widerstand gegen die Globalisierung<br />

im Land haben. Der vorliegende<br />

Beitrag versucht, einen Überblick<br />

über diese Diskussion zu geben,<br />

benennt den wachsenden Nationalismus<br />

<strong>als</strong> schwierigste Herausforderung<br />

für die Linke und analysiert die Stärken<br />

und Schwachpunkte der Argumentation<br />

der neuen Linken.<br />

<strong>Die</strong> nationalistische Version<br />

der Globalisierungskritik<br />

Im Zuge der Globalisierung von Unternehmen<br />

wurden weltweit sehr erfolgreich<br />

die Löhne und die Sozialleistungen<br />

der ArbeiterInnen gedrückt.<br />

<strong>Die</strong> Globalisierung <strong>als</strong> solche provoziert<br />

zwangsläufig Widerstand; es entstand<br />

die sogenannte globalisierungskritische<br />

Bewegung oder Antiglobalisierungsbewegung.<br />

<strong>Die</strong>se Bewegung<br />

ist sehr heterogen, weist aber deutlich<br />

internationalistische Züge auf.<br />

<strong>Die</strong>se Feststellung ist allerdings<br />

insofern zu relativieren, <strong>als</strong> sich auch<br />

im Antiglobalisierungsdiskurs nationalistische<br />

Gefühle und sogar extrem<br />

rechtes Denken finden.<br />

Ray Kiely schreibt dazu: „Einer<br />

der bekanntesten Populisten in den<br />

Vereinigten Staaten, Pat Buchanan,<br />

hat die Globalisierung wegen des Verlusts<br />

von Arbeitsplätzen in der verarbeitenden<br />

Industrie, des Zerfalls<br />

der nationalen Souveränität, zunehmender<br />

Einwanderung und des Hangs<br />

zu einem globalen Sozialismus, vertreten<br />

durch Institutionen wie den<br />

IWF und die Weltbank, kritisiert …<br />

inprekorr 458/459 37


CHINA<br />

folgt, dass der Begriff „nationales Kapital“,<br />

verstanden <strong>als</strong> Gegenpol zum<br />

ausländischen Kapital, irreführender<br />

ist denn je. Wenn die Linke und<br />

die Arbeiterbewegung gemeinsam mit<br />

dem nationalen Kapital die vom westlichen<br />

Imperialismus getragene Globalisierung<br />

ablehnen, könnte das zur<br />

Folge haben, dass die ArbeiterInnen<br />

dem nationalen Kapital nur helfen, die<br />

Logik der Globalisierung zu festigen,<br />

wenn auch in einer Version der Globalisierung,<br />

die den Bedürfnissen des<br />

„nationalen Kapit<strong>als</strong>“ stärker entgegenkommen<br />

mag. <strong>Die</strong> nationalistische<br />

Antwort auf die Globalisierung unterwirft<br />

die ArbeiterInnen zwangsläufig<br />

den Interessen der herrschenden<br />

Eliten im Kampf für das oberste Ziel<br />

eines oft fiktiven „nationalen“ Interesses.<br />

3<br />

<strong>Die</strong>ses Appellieren an die Tradition<br />

teilen auch andere rechte Globalisierungskritiker<br />

wie der Hindu-Nationalismus<br />

in Indien, der islamische Nationalismus<br />

im Nahen Osten und Asien<br />

sowie der wiederaufkommende Faschismus<br />

in Europa. Der rechte Nationalismus<br />

appelliert an ‚das Volk‘ und<br />

die Nation <strong>als</strong> defensive Antwort auf<br />

die mit der Globalisierung einhergehende<br />

Verunsicherung.“ 1<br />

Gerard Greenfield zeigt sich in seinem<br />

Essay „Bandung redux: Anti-Globalization<br />

Nationalisms in Southeast<br />

Asia“ tief besorgt über das Aufkommen<br />

eines asiatischen Nationalismus:<br />

„Während die Massenmobilisierungen<br />

in Reaktion auf die asiatische Wirtschaftskrise<br />

1997–1998 die Basis für<br />

Antiglobalisierungsbewegungen verbreiterten,<br />

sind das revolutionäre Potenzial<br />

dieser Proteste und ihre Grenzen<br />

unter AktivistInnen stark umstritten.<br />

Was diese Bewegungen gezeigt<br />

haben, war das Primat des Nationalismus<br />

<strong>als</strong> Referenzpunkt für die Unzufriedenheit<br />

der Bevölkerung mit der<br />

Globalisierung im Sinn der Unternehmensglobalisierung<br />

im liberalen Sinn<br />

oder radikaler <strong>als</strong> kapitalistische oder<br />

imperialistische Globalisierung. Für<br />

ein breites politisches Spektrum gilt<br />

der IWF <strong>als</strong> Symbol und Urheber von<br />

1 The Clash of Globalizations. Neo-liberalism,<br />

the Third Way and Anti-Globalization, Historical<br />

Materialism Book Series, S.177.<br />

Ungerechtigkeit und sozialer Zerstörung,<br />

verursacht durch die Krise und<br />

ihre Folgen.<br />

Das Bedürfnis nach einer aus einer<br />

korrekten Reihe von politischen Entscheiden<br />

abgeleiteten unabhängigen<br />

Strategie, die in keinem Zusammenhang<br />

zur strukturellen Macht und den<br />

Interessen des Kapit<strong>als</strong> steht, ist ein<br />

wiederkehrender Schwachpunkt des<br />

(Thai) Visionspapiers. Sofern Kapital<br />

überhaupt in die Analyse einbezogen<br />

wird, wird ein Gegensatz von inländischem<br />

und ausländischem Kapital<br />

konstruiert und das nationale Kapital<br />

praktisch <strong>als</strong> Synonym für die Nation<br />

gesetzt … Einer der bemerkenswertesten<br />

Aspekte des Machtaufstiegs<br />

der Thai-Rak-Thai-Partei 2001 bestand<br />

darin, dass es ihr gelungen war,<br />

prominente VertreterInnen von NGOs<br />

und sozialen Bewegungen für sich zu<br />

gewinnen … Dank diesem breiten politischen<br />

Bündnis konnte Thai Rak<br />

Thai die nationalistischen Gefühle in<br />

einen umfassenden politischen Plan<br />

kanalisieren, um den Staat radikal umzuorganisieren,<br />

damit er den Interessen<br />

der ‚fortschrittlichen Kapitalisten‘<br />

besser dient.“ 2<br />

Auf dem globalisierten Markt sind<br />

heute das große und selbst das mittlere<br />

inländische Kapital in den globalen<br />

Wettbewerb eingebunden. Daraus<br />

2 Socialist Register 2005, Merlin Press, S.170f.<br />

und 175.<br />

Ein neues Banner für die<br />

KP Chinas<br />

Der erste bekannte chinesische Nationalist<br />

ist He Xin, der in den frühen<br />

Neunzigerjahren die Erlaubnis hatte,<br />

vor dem Hintergrund der Nachwehen<br />

des Tiananmen-Massakers und der daraufhin<br />

vom Westen auferlegten Sanktionen<br />

antiwestliche Bücher herauszugeben.<br />

Interessant ist nicht He Xins<br />

nationalistische Antwort auf die damalige<br />

Feindseligkeit des Westens,<br />

sondern die Tatsache, dass sein Buch<br />

kaum Diskussionen auslöste. Selbst<br />

nachdem die USA das chinesische<br />

Schiff The Milky Way in internationalen<br />

Gewässern gestoppt und durchsucht<br />

hatten, war wenig öffentlicher<br />

Protest zu hören. Als 1996 der Nationalist<br />

Wang Xiaodong sein Buch<br />

„China Can Say No“ herausbrachte,<br />

das die USA <strong>als</strong> Hauptfeind ins Visier<br />

nahm, erregte das ein wenig Aufsehen,<br />

das sich aber schnell beruhigte.<br />

Erst im Mai 1999, <strong>als</strong> die Bombardierung<br />

der chinesischen Botschaft in Jugoslawien<br />

Massenproteste gegen die<br />

USA auslöste, kehrte der Nationalismus<br />

definitiv zurück. Ich definiere<br />

das <strong>als</strong> „neuen chinesischen Nationalismus“.<br />

Während der alte chinesische<br />

Nationalismus zwischen 1840<br />

3 Es gilt zwischen nationaler Identität und Bindung<br />

an nationale Kultur einerseits und Nationalismus<br />

andererseits zu unterscheiden. Ebenso<br />

muss ein keynesianisches Wirtschaftsprogramm<br />

oder der Wohlfahrtsstaat vom Nationalismus<br />

unterschieden werden.<br />

38 inprekorr 458/459


CHINA<br />

und 1949 weitgehend eine legitime<br />

Antwort auf ausländische Aggression<br />

und die Hoffnungen der Bevölkerung<br />

auf nationale Unabhängigkeit war,<br />

hat der neue chinesische Nationalismus<br />

einen völlig anderen Charakter.<br />

Es ist einerseits eine Antwort der herrschenden<br />

Elite und wichtiger Teile der<br />

Intelligenz auf innere und äußere Probleme,<br />

die im Zug der Reintegration<br />

in den weltweiten Kapitalismus aufgetaucht<br />

sind, und steht andererseits im<br />

Kontext der Befürwortung einer Modernisierung<br />

Chinas durch Stärkung<br />

des Einparteienstaats. Letztlich ist das<br />

Ziel des neuen chinesischen Nationalismus<br />

die Wiederherstellung der einstigen<br />

Größe der Ära des chinesischen<br />

Kaiserreichs, wofür die Losung vom<br />

„Aufstieg Chinas“ steht. 4 <strong>Die</strong>ser hat<br />

nichts Fortschrittliches an sich.<br />

Zheng Yongnian von der Nationaluniversität<br />

Singapur behauptet in<br />

seinem Buch „Globalization and State<br />

Transformation in China“, die Wiederbelebung<br />

des Nationalismus lasse sich<br />

mit neuen Erfordernissen der KP Chinas<br />

erklären: „In der Post-Mao-Ära ist<br />

an die Stelle äußerer Bedrohung die<br />

Suche nach politischer Legitimität getreten<br />

und zu einem zentralen Aspekt<br />

der Untermauerung der Wiederbelebung<br />

des chinesischen Nationalismus<br />

geworden. <strong>Die</strong> Hauptursache des Nationalismus<br />

in der Post-Mao-Ära ist,<br />

mit anderen Worten, eher innenpolitischer<br />

denn außenpolitischer Natur.“ 5<br />

An anderer Stelle führt Zheng aus,<br />

was er unter „Suche nach politischer<br />

Legitimität“ versteht:<br />

„Der Nationalismus wurde von der<br />

Kommunistischen Partei Chinas <strong>als</strong><br />

Antwort auf den Niedergang des maoistischen<br />

Glaubens eingesetzt und<br />

könnte demnächst die neue Vision der<br />

Parteiideologie werden.“ 6<br />

Zhengs Gegensatz von inländisch<br />

vs. ausländisch befriedigt nicht ganz.<br />

Dennoch stimmt seine Behauptung,<br />

dass die KP Chinas den Nationalismus<br />

<strong>als</strong> neue Legitimitätsquelle benutzt.<br />

Anstelle der Vision einer kommunistischen<br />

Welt unter der führenden<br />

Rolle Chinas (eine Vision, die in<br />

4 Zu diesem Thema siehe Au Loong-Yu, The<br />

Post MFA era and the rise of China auf der<br />

Website des Globalization Monitor: http://globalmon.org.hk<br />

5 Globalization and State Transformation in China,<br />

Cambridge University Press, 2004, S. 51.<br />

6 Ibid, S. 41.<br />

den frühen 80er-Jahren obsolet wurde)<br />

scheint der Plan, eine große chinesische<br />

Nation aufzubauen und deren<br />

Führungsrolle wiederzuerlangen, die<br />

China bis 1840 gespielt hatte, plausibler.<br />

Zudem liegt es im Interesse des<br />

Einparteienstaates, die Unzufriedenheit<br />

der Bevölkerung, etwa die demokratische<br />

Bewegung von 1989, auf äußere<br />

Feinde umzulenken. Folglich begann<br />

die KP Chinas, in Sachen Nationalismus<br />

den Kurs zu ändern und dessen<br />

Wiedererwachen praktisch zu fördern.<br />

<strong>Die</strong> frühere Position der KP Chinas<br />

zum Nationalismus besagte, dass<br />

er <strong>als</strong> „bürgerlicher Standpunkt zu<br />

Nationen“ abzulehnen sei. 7 Faktisch<br />

fand sich während der gesamten Herrschaft<br />

der KP immer ein nationalistisches<br />

Element in ihrer Politik gegenüber<br />

ethnischen Minderheiten, in der<br />

öffentlichen Erziehung und in Kulturprogrammen,<br />

wenn auch unter dem<br />

Deckmantel des Patriotismus. Dennoch<br />

wurde Nationalismus nicht ausdrücklich<br />

unterstützt und schon gar<br />

nicht die Veröffentlichung von nationalistischen<br />

Schriften erlaubt. <strong>Die</strong>se<br />

Politik änderte sich in den 80er-<br />

Jahren, <strong>als</strong> sich die KP Chinas schrittweise<br />

dazu entschloss, den weltweiten<br />

Kapitalismus auf der <strong>ganze</strong>n Linie zu<br />

übernehmen.<br />

<strong>Die</strong> KP mag einen Teil der Kontrolle<br />

über die Wirtschaft und sogar<br />

den Finanzsektor zugunsten privater<br />

Unternehmer und ausländischen Kapit<strong>als</strong><br />

lockern, sie ist aber nicht bereit,<br />

ihre Kontrolle über die Produktion<br />

und Verteilung von Information<br />

zu lockern, da sie keine Macht darüber<br />

abtreten will, was und wie das<br />

Volk denkt. Da alle Verlage, Medien,<br />

Filmgesellschaften etc. nach wie<br />

vor in staatlicher Hand sind und von<br />

der großen Privatisierungswelle unberührt<br />

geblieben sind, ist das, was<br />

mit Erlaubnis der KP erscheinen darf<br />

oder verboten wird, maßgeblich für<br />

die Herausbildung der „öffentlichen<br />

7 „Nationalismus ist die Ansicht der Bourgeoisie<br />

über Nationen; deren Programm und Grundsätze<br />

im Umgang mit nationalen Angelegenheiten<br />

… Bei kolonialen und halbkolonialen Ländern<br />

sowie unabhängigen Nationen, die gegen den<br />

Imperialismus kämpfen, ist Nationalismus bis<br />

zu einem gewissen Grad fortschrittlich, aber<br />

nur insofern, <strong>als</strong> er den Interessen der Bourgeoisie<br />

entspricht … <strong>Die</strong> Weltsicht der proletarischen<br />

Parteien ist der Internationalismus<br />

und nicht der Nationalismus.“ Ci Hai (Wörterbuch),<br />

Shanghai Dictionary Press, 1980,<br />

S. 1805.<br />

Meinung“ und Diskussion. Kein Buch<br />

erscheint und kein Film wird gedreht,<br />

ohne vorher von der Partei genehmigt<br />

zu werden. Hier sind die Haltung oder<br />

der „Geschmack“ des Staats entscheidend.<br />

Alle abweichenden Stimmen<br />

werden zensiert: demokratische Aufrufe,<br />

Verteidigung von Arbeitsrechten<br />

und sogar vorsichtige Kritik an der<br />

Umweltpolitik. Als beispielsweise<br />

ein chinesischer Verleger eine chinesische<br />

Auflage von „Blue Gold“ von<br />

Tony Clark und Maude Barlow vorbereitete,<br />

das einige wenige Absätze<br />

enthielt, die leise Kritik an der chinesischen<br />

Wasser- und Flusspolitik anbrachten,<br />

wurde das Material <strong>als</strong> Angriff<br />

bewertet und zensiert. <strong>Die</strong> Partei<br />

erlaubt auch umgekehrt die Herstellung<br />

und weite Verbreitung von nationalistischen<br />

Arbeiten auf allen Gebieten.<br />

In den letzten zehn Jahren sind<br />

laufend neue Bücher und Fernsehprogramme<br />

entstanden, die bedeutende<br />

frühere Herrscher glorifizieren, einen<br />

chinesischen Chauvinismus und antiwestliches<br />

Denken, wenn nicht regelrechten<br />

Sozialdarwinismus und<br />

Faschismus propagieren. Zwischen<br />

2004 und 2006 druckte ein Staatsverlag<br />

900 000 Exemplare des Romans<br />

„Wolves Totem“, der die Geschichte<br />

der kämpferischen, mutigen mongolischen<br />

Wölfe erzählt. Aus Sorge,<br />

die Leser könnten ihn missverstehen,<br />

schrieb der Autor ein langes Nachwort,<br />

in dem er seine Motivation erklärt.<br />

<strong>Die</strong> Chinesen müssten seiner<br />

Meinung nach von den mongolischen<br />

Wölfen lernen, um im Dschungel der<br />

Globalisierung überleben zu können;<br />

die chinesische Zivilisation sei einst<br />

nur deshalb so hochstehend gewesen,<br />

weil sie über Jahrtausende die Verehrung<br />

der Wölfe von nördlichen Nomaden<br />

übernommen habe, was den Eliten<br />

half, ein großes Reich zu erhalten.<br />

Das ist unverblümter Sozialdarwinismus<br />

und chinesischer Messianismus.<br />

Obwohl das Buch in persönlicher Eigenschaft<br />

veröffentlicht wurde, kann<br />

die KP Chinas ihren Anteil an der<br />

Verantwortung nicht leugnen oder<br />

sich unter Verweis auf das Recht auf<br />

freie Meinungsäußerung verteidigen,<br />

da es so etwas in China nicht gibt.<br />

In den 80er-Jahren waren die Themen<br />

von Fernsehprogrammen und<br />

Büchern oft geprägt von einem tiefen<br />

Gefühl nationaler Unterlegenheit,<br />

der Angst, im globalen Wettbe-<br />

inprekorr 458/459 39


CHINA<br />

werb marginalisiert zu werden, 8 und<br />

einem Verlangen nach Sozialreform.<br />

<strong>Die</strong>se Stimmung ist seit Mitte der<br />

90er-Jahre völlig verflogen, <strong>als</strong> sich<br />

die KP bewusst wurde, dass der Westen<br />

der Verlockung des riesigen chinesischen<br />

Marktes nicht würde widerstehen<br />

können und westliche Regierungen<br />

und Kapitalisten bereit waren,<br />

das Massaker von 1989 zu vergessen,<br />

um Anteile an diesem Markt zu<br />

ergattern. <strong>Die</strong> Tatsache, dass China in<br />

der Lage war, das tragische Schicksal<br />

der Sowjetunion zu vermeiden und im<br />

Gegenteil hohe Wachstumsraten erzielen<br />

konnte, beflügelte das Selbstvertrauen<br />

der KP Chinas weiter. Der<br />

neue Tonfall in der „öffentlichen Meinung“,<br />

in Fernsehprogrammen, Zeitschriften<br />

und Büchern etc. ist vor diesem<br />

Hintergrund zu verstehen. An die<br />

Stelle des Gefühls nationaler Unterlegenheit<br />

trat jenes nationaler Selbstbestätigung<br />

und das Bedürfnis, den vergangenen<br />

Ruhm des Königreichs der<br />

Mitte wieder zu erlangen. <strong>Die</strong> Bombardierung<br />

der chinesischen Botschaft<br />

1999 durch die USA erinnerte die KP<br />

Chinas und die Durchschnittschinesen<br />

zudem daran, dass die USA trotz allem<br />

kein verlässlicher Partner sind, und<br />

das Gefühl von äußerer Bedrohung<br />

verlieh den nationalistischen Gefühlen<br />

weiteren Auftrieb. Es fiel zudem in<br />

eine Phase intensiver Verhandlungen<br />

mit den USA über den Beitritt Chinas<br />

zur WTO, in denen die USA China<br />

mehr Konzessionen abverlangten,<br />

<strong>als</strong> von den meisten Industriestaaten<br />

erwartet wird. Schließlich fand auch<br />

ein rascher Aufkauf chinesischer Firmen<br />

durch ausländisches Kapital statt,<br />

was viele <strong>als</strong> Bedrohung der ökonomischen<br />

Sicherheit Chinas ansahen.<br />

Neue Liberale, Nationalisten<br />

und neue Linke<br />

Wie wir gesehen haben, sieht Zheng<br />

„die Hauptursache für den Nationalismus<br />

der Post-Mao-Ära eher im Inneren<br />

<strong>als</strong> in äußeren Gründen“. <strong>Die</strong>se<br />

Ansicht ist zwischen neuen Liberalen<br />

und der „neuen Linken“ heiß umstritten.<br />

Unter neuen Liberalen verstehen<br />

wir chinesische Liberale und Neoliberale.<br />

Wenn hier beide unter densel-<br />

8 Dam<strong>als</strong> bestand über Klassengrenzen hinweg<br />

die starke Befürchtung, China könne wegen<br />

des langsamen Tempos der Reformen seine<br />

qiu-ji (Weltbürgerschaft) einbüßen.<br />

ben Begriff zusammengefasst werden,<br />

dann deshalb, weil sie im chinesischen<br />

Kontext schwer unterscheidbar sind.<br />

Obwohl im Westen die Trennlinie<br />

zwischen beiden verwischt ist, gibt es<br />

in China Liberale wie Yu Jie, die überschwänglich<br />

für die Privatisierung, die<br />

WTO, die Ausbeutung der ArbeiterInnen<br />

in Staatsbetrieben oder den US-<br />

Angriff gegen den Irak etc. plädieren,<br />

so dass ihnen kaum fortschrittliche<br />

moralische Werte unterstellt werden<br />

können. Den „neuen Linken“ können<br />

laut Dale Wen, einem Gastdozenten in<br />

den USA, der selbst der neuen Linken<br />

angehört, von „Sozialdemokraten über<br />

nationalistische Ökonomen bis zu Maoisten“<br />

verschiedene Personen zugerechnet<br />

werden. 9 <strong>Die</strong> neuen Liberalen<br />

neigen zur Ansicht, der größte Feind<br />

Chinas seien seine eigenen obsoleten<br />

Institutionen, während die Globalisierung<br />

die Hauptströmung der Modernisierung<br />

und Zivilisation verkörpere.<br />

Das Schlimmste für China wäre daher,<br />

auf halben Weg zur Vollintegration in<br />

die Globalisierung stehen zu bleiben.<br />

Wenn es einen Aufschwung des Nationalismus<br />

gebe, sei dies <strong>als</strong>o nur den<br />

inländischen Institutionen zuzuschreiben.<br />

Zhengs Kommentar gibt die Argumente<br />

wieder, die die neuen Liberalen<br />

in ihrer Diskussion mit den neuen<br />

Linken vorgebracht haben. Unterdessen<br />

neigen die neuen Linken oder<br />

zumindest führende Sprecher dieser<br />

Richtung dazu, in die entgegengesetzte<br />

Richtung zu argumentieren. Wenn<br />

etwas in China schiefläuft, sei dies den<br />

äußeren Feinden und namentlich der<br />

Globalisierung und dem Imperialismus<br />

zuzuschreiben. Falls prominente<br />

Linke je Vorwürfe an die Adresse der<br />

KP richten, dann jenen, dass die Partei<br />

zu nachgiebig gegenüber äußeren Herausforderern<br />

sei. 10 In der Dichotomie<br />

von Markt vs. Staat, ausländisch vs.<br />

national, Westen vs. Osten neigen die<br />

Liberalen dazu, jeweils Ersteres zu bevorzugen,<br />

während die neuen Linken<br />

eher zum Zweiten tendieren.<br />

2004 fassten die neuen Liberalen<br />

ihre Polemik gegen die Nationalisten<br />

und die neue Linke in einem Buch mit<br />

9 China copes with globalization. A mixed review,<br />

veröffentlicht vom International Forum<br />

On Globalization, S. 39.<br />

10 Selbstverständlich gibt es VertreterInnen der<br />

neuen Linken, die weniger regierungstreu<br />

sind, aber meist sind sie weniger bekannt. Eine<br />

wichtige Ausnahme ist Wang Hui.<br />

dem Titel „Qian Liu“ (Unter Strom –<br />

Kritik und Überdenken des engen Nationalismus)<br />

zusammen. Einer der Autoren,<br />

Xiao Xuehui, greift darin die<br />

Nationalisten an, weil sie glaubten,<br />

„das ,Macht-geht-vor-Recht-Gesetz<br />

sei noch immer das Grundprinzip dieser<br />

Welt‘ … <strong>Die</strong> Nationalisten sind unfähig,<br />

zu erkennen, dass viele Länder<br />

weltweit einschließlich der USA die<br />

Gesetze (die Weltherrschaft) im Umgang<br />

mit internationalen Angelegenheiten<br />

gerechter, fairer und vernünftiger<br />

gestalten“. 11<br />

Der besser bekannte Liberale Qin<br />

Hu schreibt: „Letztlich bedeutet Liberalismus<br />

Universalismus. Denn wirtschaftliche<br />

Liberalisierung und deren<br />

Unparteilichkeit erfordern, dass alle<br />

Produktionsfaktoren weltweit frei<br />

zirkulieren können … Unter den Bedingungen<br />

des fairen Wettbewerbs<br />

gleicht sich der Ertrag der Produktionsfaktoren<br />

tendenziell aus … Für arme<br />

Länder lohnt es sich mehr, für die<br />

Zirkulationsfreiheit aller Produktionsfaktoren<br />

zu kämpfen <strong>als</strong> gegen den<br />

Freihandel. Der universelle Liberalismus<br />

ist zwangsläufig effizienter in der<br />

Verteidigung nationaler Interessen <strong>als</strong><br />

der Nationalismus.“ 12<br />

<strong>Die</strong> neuen Liberalen unterstützen<br />

aktiv Chinas Beitritt zur WTO. Liu<br />

Junning, ein anderer bekannter liberaler<br />

Professor, schreibt: „Chinas Beitritt<br />

zur WTO wird die chinesischen<br />

Institutionen für Wirtschaftsmanagement<br />

zur Reform zwingen … Wenn<br />

westliche Firmen in großem Stil nach<br />

China kommen, werden sie eine offenere,<br />

fairere Marktwirtschaft fordern<br />

… Der Beitritt zur WTO zwingt<br />

die chinesische Regierung zu mehr<br />

Offenheit in ihrer Strategie und ihrem<br />

Handeln … bedingt durch die marktwirtschaftlichen<br />

Prinzipien der Offenheit<br />

und der Rechenschaftspflicht …<br />

Der WTO-Beitritt setzt ein China voraus,<br />

das nun offiziell in das kapitalistische<br />

Weltsystem integriert ist und<br />

dessen wirtschaftliche und politische<br />

Institutionen vollständig durch Marktwirtschaft<br />

und Demokratie gekennzeichnet<br />

sind.“ 13<br />

Hier handelt es sich um die krudeste<br />

Version von Marktdeterminismus, die<br />

11 Veröffentlicht durch Huadong Shifan Daxue<br />

Chubanshe, 2004, S. 16.<br />

12 Ibid, S. 316f.<br />

13 Beijing Spring, Januar 2000, Hong Kong.<br />

40 inprekorr 458/459


CHINA<br />

man sich vorstellen kann. Aber sehen<br />

wir uns an, was die beiden Autoren zu<br />

Politik und Kriegen schreiben. Der berühmte<br />

Yu Jie verurteilte die neue Linke<br />

dafür, den Angriff der USA gegen<br />

den Irak 2003 kritisiert zu haben,<br />

und setzte das mit Unterstützung für<br />

Saddam gleich. „Es gibt eine Art von<br />

Krieg, der geführt wird, um die höchsten<br />

Werte der Freiheit und Menschlichkeit<br />

zu verteidigen. Wir betrachten<br />

den Krieg der USA gegen das Regime<br />

von Saddam im Irak <strong>als</strong> einen<br />

solchen Krieg … Vor ein paar Tagen<br />

hat eine Gruppe chinesischer Intellektueller<br />

eine sogenannte Stellungnahme<br />

gegen den Krieg veröffentlicht.<br />

Wir denken, dass diese Stellungnahme<br />

von der zunehmenden Degenerierung<br />

chinesischer Intellektueller zeugt. <strong>Die</strong><br />

Verfasser dieser Stellungnahme missachten<br />

die moralischen Werte der<br />

Menschheit und bringen einen tief sitzenden<br />

Hass gegen die USA zum Ausdruck,<br />

die für die Zivilisation und den<br />

Fortschritt der Menschheit stehen.“ 14<br />

Man kann sich fragen, ob ein ernsthafter<br />

Liberaler solche Zeilen verfasst<br />

haben könnte. Im Fall von Yu Jie mag<br />

man sogar vermuten, dass er ein bloßer<br />

Komplize des US-Imperiums ist.<br />

<strong>Die</strong> Begeisterung der neuen Liberalen<br />

für die Privatisierung, die zur Entlassung<br />

von 40 Millionen ArbeiterInnen<br />

geführt hat, brachte ihnen den Spitznamen<br />

„Teilhaber“ (an Staatsaktien)<br />

ein.<br />

Während die neuen Liberalen dazu<br />

tendieren, alles an der Globalisierung<br />

zu begrüßen, tun Nationalisten<br />

wie Wang Xiaodong genau das Gegenteil.<br />

Nach der Bombardierung der<br />

chinesischen Botschaft in Jugoslawien<br />

durch die USA veröffentlichte<br />

Wang sein Buch „The Chinese Road<br />

under the Shadow of Globalization“ 15 ,<br />

das die Welt nach dem Kalten Krieg<br />

<strong>als</strong> bloße Fortsetzung des alten Lieds<br />

der „Macht geht vor Recht“ verspottet,<br />

im Gegensatz zu dem von Bush<br />

Senior propagierten Konzept der<br />

neuen Weltordnung. Er sieht in den<br />

US-freundlichen Liberalen nichts anderes<br />

<strong>als</strong> Leute, die ihre eigene kulturelle<br />

Identität und Tradition verleugnen,<br />

was er „Rassismus unter umgekehrten<br />

Vorzeichen“ nennt. Wieder-<br />

14 http://www.wtyzy.net/<br />

15 Veröffentlicht durch China Social Science<br />

Press, 1999.<br />

Arbeiterin in der<br />

chinesischen<br />

Schuhfabrik<br />

von Adidas-<br />

Salomon<br />

holt argumentiert er, dass Nationalismus<br />

nach wie vor ein wichtiger Wert<br />

sei, da die Nation für die Sicherheit<br />

nach wie vor entscheidend sei. Statt<br />

einer unkritischen Integration in die<br />

Globalisierung solle China die „splendid<br />

isolation“ wählen, keine Hoffnung<br />

in irgendein Bündnis mit einem anderen<br />

Staat setzen und einzig auf die eigene<br />

Verteidigungsfähigkeit setzen.<br />

Im Jahr 2000 veröffentlichte er „Über<br />

den zeitgenössischen Nationalismus“,<br />

in dem er sich positiv auf die nation<strong>als</strong>ozialistische<br />

Theorie des „Lebensraums“<br />

bezieht und den Sozialdarwinismus<br />

offen begrüßt.<br />

Wichtiger <strong>als</strong> die Arbeiten alter<br />

Nationalisten ist allerdings das Aufkommen<br />

der „neuen Linken“ und in<br />

der Folge die Befürwortung des Nationalismus<br />

durch manche ihre WortführerInnen<br />

seit der Jahrtausendwende.<br />

Denn im Gegensatz zu den alten Nationalisten<br />

ziehen bedeutende VertreterInnen<br />

der neuen Linken die Aufmerksamkeit<br />

der KP-Führung auf sich.<br />

Nichtchinesische LeserInnen mögen<br />

beim Begriff neue Linke vielleicht<br />

versucht sein, an die neuen Linken der<br />

60er-Jahre zu denken. Zwischen beiden<br />

besteht jedoch kein ideologischer<br />

Zusammenhang. Der Begriff neue chinesische<br />

Linke wird benutzt, um sie<br />

von der alten Linken, den Konservativen<br />

oder den stalinistischen Hardlinern<br />

abzugrenzen. <strong>Die</strong> neue Linke ist<br />

im Gegensatz dazu sehr vielschichtig.<br />

Zwischen ihren VertreterInnen bestehen<br />

große Meinungsverschiedenheiten.<br />

Ihre wichtigste Gemeinsamkeit<br />

ist die Kritik an Globalisierung,<br />

Markt, Privatisierung und liberaler<br />

Demokratie. Weniger Übereinstimmung<br />

besteht in Bezug auf Alternativen<br />

zum liberalen oder neoliberalen<br />

Diskurs. Eine Gemeinsamkeit mag in<br />

der Betonung der Rolle des Einparteienstaates,<br />

dem Wert des Kollektivismus,<br />

der Bedeutung des Zusammenhaltens<br />

des multiethnischen chinesischen<br />

Staates, einem autonomeren<br />

Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung<br />

inprekorr 458/459 41


CHINA<br />

und dem Bezug zum maoistischen Erbe<br />

liegen, auch wenn nicht alle ExponentInnen<br />

alle genannten Punkte teilen.<br />

Wichtige WortführerInnen der<br />

neuen Linken zeigen starke dirigistische<br />

Tendenzen und haben bereits<br />

im Anschluss an das Tiananmen-Massaker<br />

den Einparteienstaat unterstützt,<br />

obwohl es die neue Linke zu diesem<br />

Zeitpunkt noch nicht gab. Während<br />

die neuen Liberalen den Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion begrüßten, betrachtet<br />

die neue Linke diesen <strong>als</strong> eine<br />

Katastrophe, ein Schicksal, das China<br />

um jeden Preis zu vermeiden suchen<br />

muss. Ihre Sorge darüber, den multiethnischen<br />

chinesischen Staat mit den<br />

Han <strong>als</strong> dominierender Ethnie zu erhalten,<br />

ist tatsächlich so groß, dass<br />

man sie <strong>als</strong> Hauptanliegen noch vor<br />

allen anderen Werten wie Demokratie<br />

oder Gleichheit bezeichnen könnte.<br />

Ihre Skepsis gegenüber dem Neoliberalismus<br />

und der liberalen Demokratie<br />

leitet sich hauptsächlich aus ihrer<br />

Sorge um „Stabilität“ ab, die sie durch<br />

die Marktreformen, den WTO-Beitritt,<br />

die Einführung von Parlamentswahlen<br />

etc. bedroht sehen. All dies ist<br />

nicht erwünscht, weil es zum Zusammenbruch<br />

des chinesischen Staates<br />

führen könnte. <strong>Die</strong>se Denkweise greift<br />

den unter den Regierungen von Deng<br />

und Jiang ständig wiederholten Slogan<br />

„Stabilität über alles!“ auf. Damit<br />

reagieren sie auf alle Bestrebungen,<br />

die Bewegung des Jahres 1989 zu rehabilitieren,<br />

demokratische Wahlen<br />

oder die Redefreiheit einzuführen. So<br />

lag es auf der Hand, dass sich die ersten<br />

VertreterInnen der neuen Linken<br />

schlicht mit den Behörden verbündeten.<br />

<strong>Die</strong> ersten bekannten Exponenten<br />

der neuen Linken, die darüber geschrieben<br />

haben, waren Wang Shaoguang<br />

und Hu Angang. Während die<br />

Liberalen der Ansicht sind, der Staat<br />

müsse schrumpfen, um das Wachsen<br />

der Marktwirtschaft zu ermöglichen,<br />

behaupten Hu und Wang das Gegenteil.<br />

1993 veröffentlichten sie eine<br />

Studie über die „Kapazitäten des chinesischen<br />

Staates“ 16 , in der sie argumentieren,<br />

für die Marktreformen bedürfe<br />

es eines starken Staates. Sie betonen,<br />

die Einnahmen der Zentralregierung<br />

seien viel zu gering, was<br />

16 Zhongguo guojia nengli baogao, Liaoning People’s<br />

publisher, 1993.<br />

China anfällig für zentrifugale Kräfte<br />

mache, sodass es wie Jugoslawien<br />

enden könne. Während der spezifische<br />

Aspekt der zentralen Einnahmen<br />

ein Punkt ist, auf den einzugehen<br />

sich lohnen könnte, geht es den Autoren<br />

vor allem um etwas anderes. Zwei<br />

Jahre später brachte Hu sein Buch<br />

„Eine Herausforderung für China“ heraus,<br />

in dem er seine Sorge über den<br />

möglichen Kollaps nach Dengs Tod<br />

zum Ausdruck bringt: „<strong>Die</strong> Hauptfrage<br />

ist, ob es China gelingen wird, einen<br />

friedlichen, stabilen Übergang zur<br />

Post-Deng-Ära zu bewerkstelligen …<br />

Mao Zedong wusste, dass die von ihm<br />

initiierte Kulturrevolution sehr unpopulär<br />

war; Deng Xiaoping dagegen<br />

weiß, dass die von ihm initiierte Reform<br />

und Öffnung sehr populär ist …<br />

Doch er weiß, dass es ungesund und<br />

gefährlich ist, wenn das Schicksal<br />

eines Landes von der Autorität einer<br />

oder zweier Einzelpersonen abhängt<br />

… was es noch dringender und wichtiger<br />

macht, den institutionellen Wiederaufbau<br />

zu stärken.“ 17<br />

Seine wichtigste Empfehlung für<br />

den „institutionellen Wiederaufbau“<br />

ist nicht nur die Stärkung der Zentralgewalt<br />

durch eine Steuerreform und<br />

die Ausrottung der Korruption, sondern<br />

auch die Stärkung des gegenwärtigen<br />

Einparteienstaates. Ein anderer<br />

Vertreter der neuen Linken, Cui<br />

Zhiyuan, bezieht sich auf das maoistische<br />

Erbe und fordert „Massenbeteiligung“<br />

und „Wirtschaftsdemokratie“.<br />

Er ist zutiefst skeptisch gegenüber<br />

der liberalen Demokratie und Parlamentswahlen,<br />

die er <strong>als</strong> anfällig für<br />

Manipulationen der Reichen sieht. Er<br />

wirbt für Maos Idee einer AnGang-<br />

Charta <strong>als</strong> bester Alternative. AnGang<br />

ist ein Stahlwerk, das in den 60er-Jahren<br />

die Idee der Arbeiterbeteiligung in<br />

der Unternehmensführung aufbrachte,<br />

bei der die Kader abwechselnd in den<br />

Werkstätten arbeiteten. Das Experiment<br />

wurde von Mao unterstützt, da er<br />

darin einen Ausdruck von wirtschaftlicher<br />

Demokratie sah. Für Cui ist die<br />

AnGang-Charta „der beste Teil an<br />

Maos Denken. Lässt man die Fehler<br />

beiseite, die während der Einführung<br />

der AnGang-Charta gemacht wurden,<br />

ist die Idee der Wirtschaftsdemokratie<br />

noch immer ein Fundus an spiritu-<br />

17 Tao Zhan Zhongguo, 1995, Xin Xinwen Cultural<br />

Ltd. Company, Taipei, Taiwan, S. 248,<br />

272f.<br />

ellen Ressourcen für das China im bevorstehenden<br />

21. Jahrhunderts.“ <strong>Die</strong><br />

AnGang-Charta ist im heutigen China<br />

weitgehend in Vergessenheit geraten,<br />

doch gemäß Cui erlebt sie in Japan<br />

eine Blüte und wurde vom Toyota-Konzern<br />

übernommen, der dank<br />

seiner post-fordistischen Organisation<br />

Elemente von Wirtschaftsdemokratie<br />

zulasse. 18<br />

Toyota <strong>als</strong> Modell von Wirtschaftsdemokratie?<br />

Cui befürwortet Wahlen,<br />

solange Parteipolitik ausgeschlossen<br />

wird, denn durch dieses Verbot „wird<br />

ein Szenario vermieden, in dem Oppositionsparteien<br />

der herrschenden Partei<br />

entgegentreten … <strong>Die</strong> Kommunistische<br />

Partei Chinas hat seit 1943 eine<br />

monistische Parteiführung durchgesetzt.<br />

Das hat zweierlei zur Folge:<br />

Erstens stärkt es die Kontrolle der Partei<br />

(über die Gesellschaft), zweitens<br />

hat es zur Folge, dass die Interessen<br />

der Partei und jene des Landes miteinander<br />

verschmelzen.“ 19<br />

„Verschmelzen“ durch die Ermordung<br />

Hunderter, wenn nicht Tausender<br />

Unschuldiger wie 1989? Aber zurück<br />

zum AnGang-Modell. Zu erwähnen<br />

ist, dass es in AnGang Arbeiterbeteiligung<br />

durch demokratische Wahlen<br />

auf Ebene des obersten Managements,<br />

der Fabrik oder der Werkstätten<br />

nie gegeben hat, sondern nur auf<br />

Ebene der Arbeitsteams. Verglichen<br />

mit den Arbeiterselbstverwaltungsmodellen<br />

im ehemaligen Jugoslawien,<br />

das den ArbeiterInnen die Macht garantierte,<br />

die Unternehmensführung<br />

zu wählen, nimmt sich AnGang sehr<br />

bescheiden aus. Von der Wirtschaftsdemokratie<br />

des AnGang-Experiments<br />

allzuviel Aufhebens zu machen, ist<br />

schlicht lächerlich. Das Experiment,<br />

in dem führende Kader an vorderster<br />

Front arbeiten müssen, ist eine Neuauflage<br />

der alten Vision von Xu You,<br />

der vor mehr <strong>als</strong> 2000 Jahren lebte. Er<br />

befürwortete eine gleichberechtigte<br />

Gesellschaft, in der Könige Seite an<br />

Seite mit einfachen Bauern arbeiten<br />

sollten, um das Land zu bestellen. <strong>Die</strong>se<br />

Vorstellung hat aber nichts mit einer<br />

modernen sozialistischen Vision<br />

zu tun. Letztere sieht eine gleich-<br />

18 The AnGang Charter and Post-Fordism, Dushu,<br />

3 (1996), S. 11−21.<br />

19 The balance sheet of Mao Zedong’s theory of<br />

cultural revolution and the reconstruction of<br />

modernity, HuaXia Wenze, April 1997, http://<br />

www.cnd.org/CR/ZK97/zk117.hz…<br />

42 inprekorr 458/459


CHINA<br />

berechtigte Gesellschaft vor, die sich<br />

nicht dadurch auszeichnet, dass Kopfarbeiter<br />

gezwungen werden, körperliche<br />

Arbeit zu verrichten, sondern<br />

eher durch die Abschaffung der sozialen<br />

Trennung dieser zwei Arbeitsformen<br />

durch technologische Innovation,<br />

Verkürzung der Arbeitszeit und<br />

Abschaffung der Ausbeutung. Maos<br />

Unterstützung für das AnGang-Experiment<br />

belegt nur, dass seine Vision<br />

dem entsprach, was Marx „kruden<br />

Kommunismus“ nannte. Leider ist eine<br />

solche Nostalgie für Maos kruden<br />

Kommunismus kennzeichnend für die<br />

heutige neue Linke. Sie betrachtet Maos<br />

Erbe <strong>als</strong> die alleinige ideologische<br />

Alternative zum neoliberalen Diskurs,<br />

ohne zu bemerken, dass es in erster<br />

Linie Maos übertriebener Staatssozialismus<br />

ist, der heute Dengs „sozialistische<br />

Marktwirtschaft“ und den<br />

liberalen Diskurs für viele Teile der<br />

Bürokratie und der Intellektuellen so<br />

überzeugend erscheinen lässt. Heikler<br />

noch <strong>als</strong> die f<strong>als</strong>che Beurteilung des<br />

AnGang-Modells ist aber Cuis Versuch,<br />

das AnGang-Modell demokratischen<br />

Reformen gegenüberzustellen.<br />

Indem die AnGang-Mücke zum<br />

Elefanten „Wirtschaftsdemokratie“<br />

gemacht wird, weist Cui die demokratischen<br />

Hoffnungen der Bevölkerung<br />

zurück und stellt sich auf die Seite der<br />

Einparteiendiktatur. Dank Unterstützung<br />

wichtiger Wortführer der neuen<br />

Linken gestaltete sich der Übergang<br />

zur Post-Deng-Ära allzu glatt.<br />

<strong>Die</strong> Verschmelzung von<br />

neuen Linken und Nationalisten<br />

Ende der 90er-Jahre gewann die neue<br />

Linke während einer im Land verbreiteten<br />

großen Sorge über „äußere“<br />

Bedrohungen stark an Einfluss.<br />

Chinas Öffnung zur Welt trat in eine<br />

neue Phase. <strong>Die</strong> Befürchtung, Chinas<br />

nationale Industrie könne angesichts<br />

des direkten Konkurrenzdrucks auf<br />

den Binnenmarkt untergehen, schien<br />

sehr real. 2003 entfielen 31 Prozent<br />

der Erzeugnisse der verarbeitenden<br />

Industrie in China auf ausländische<br />

Unternehmen, gegenüber 9,5 Prozent<br />

1992. Der auf Kosten der staatlichen<br />

Unternehmen steigende Anteil ausländischen<br />

Kapit<strong>als</strong> und der enorme<br />

Druck, die Staatsbetriebe umzustrukturieren,<br />

damit sie wettbewerbsfähig<br />

China: Gabelstaplerfahrerin in Shanghai<br />

bleiben, hatte zur Folge, dass 40 Millionen<br />

ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben<br />

entlassen wurden. Transnationale<br />

Konzerne und die WTO <strong>als</strong> Agenten<br />

der Globalisierung wurden von manchen<br />

<strong>als</strong> „äußere Bedrohung“ der wirtschaftlichen<br />

Sicherheit Chinas angesehen,<br />

und diese Beobachtung enthält<br />

einen wahren Kern. Mittlerweile<br />

hatte die Bombardierung der chinesischen<br />

Botschaft in Belgrad 1999<br />

eine neue Welle nationalistischer Gefühle<br />

ausgelöst. Ungeachtet der Tatsache,<br />

dass die USA und China wirtschaftlich<br />

stark voneinander abhängig<br />

sind, herrscht in den USA die Ansicht<br />

vor, China sei einer der Hauptkonkurrenten<br />

und müsse daher eingedämmt<br />

werden. Vor diesem Hintergrund<br />

ist die Aussage Zhengs, die entscheidenden<br />

Ursachen für den Nationalismus<br />

der Post-Mao-Ära seien innenpolitischer<br />

und nicht äußenpolitischer<br />

Natur, problematisch.<br />

Den neuen Linken positiv anzurechnen<br />

ist, dass sie <strong>als</strong> Erste in dieser<br />

neuen Phase die neuen Liberalen kritisiert<br />

haben, denn anderenfalls wären<br />

Letztere möglicherweise noch dominanter<br />

geworden. Zwei wichtigte Wissenschaftler,<br />

Han Deqiang und Yang<br />

Fan, wurden um die Jahrtausendwende<br />

zu den bekanntesten Wortführern<br />

der neuen Linken. Sie haben zahlreiche<br />

Publikationen gegen die Globalisierung<br />

und Chinas WTO-Beitritt<br />

verfasst. Han veröffentlichte im Jahr<br />

2000 „The Crash. The Global Trap<br />

and China’s Realistic Choice“. 20 Er<br />

beschreibt die enormen Hoffnungen,<br />

die viele Chinesen mit dem WTO-<br />

Beitritt und der erwarteten Effizienz<br />

des Markts <strong>als</strong> „Marktromantizismus“<br />

verbinden. Im Gegensatz zu der neoliberalen<br />

Behauptung, Chinas WTO-<br />

Beitritt gefährde unter den gegenwärtigen<br />

Bedingungen nur die junge nationale<br />

Industrie, hielt er fest: „Der Effekt<br />

der Globalisierung ist die rasche<br />

Aneignung von Branchen der chinesischen<br />

Wirtschaft, die einen hohen<br />

Mehrwert hervorbringen, durch ausländisches<br />

Kapital und Importgüter.<br />

Manche sind unterdessen vollständig<br />

von ausländischem Kapital beherrscht.<br />

<strong>Die</strong> Gewinnmöglichkeiten<br />

von Staatsbetrieben und anderen (heimischen<br />

Unternehmen) trocknen aus,<br />

es gibt Hinweise auf Verluste, wachsende<br />

faule Schulden, Betriebe stehen<br />

vor dem Konkurs und die faktische<br />

Arbeitslosigkeit steigt rasant an. All<br />

dies stellt eine ernsthafte Bedrohung<br />

für die Verbesserung des Lebensstandards<br />

und die soziale Stabilität der Bevölkerung<br />

dar.“ 21<br />

Dem „Marktromantizismus” stellt<br />

Han den „Marktrealismus” gegenüber,<br />

der für die Entwicklungsländer Protektionismus<br />

statt Freihandel <strong>als</strong> nötig<br />

erachtet. Han spricht sich in seinem<br />

Buch nie direkt gegen Chinas WTO-<br />

Beitritt aus, sondern schaut einfach<br />

20 Pengzhuang, published by Economic Management<br />

Press, 2000.<br />

21 Ibid, S. 5f.<br />

inprekorr 458/459 43


CHINA<br />

die Bedingungen, denen China zugestimmt<br />

hat, <strong>als</strong> zu weitreichend an.<br />

Er plädiert lediglich für einen verbesserten<br />

Beitrittsvertrag, der den chinesischen<br />

Markt besser schützt und China<br />

gleichzeitig erlaubt, einen größeren<br />

Anteil am Weltmarkt zu halten. <strong>Die</strong><br />

Frage ist, wie man dieses Ziel erreicht.<br />

Hans Antwort lautet: „Der Marktrealismus<br />

erfordert, dass wir im Staat die<br />

höchste Verkörperung unserer Interessen<br />

sehen und ein klares Verständnis<br />

vom Markt <strong>als</strong> Schlachtfeld des Wettbewerbs<br />

haben. Unter Anleitung des<br />

Marktrealismus wird unsere gesamte<br />

junge Industrie miteinander verbunden<br />

und in eine einzige Einheit unter Aufsicht<br />

des Staates umgeformt, die dann<br />

auf dem Weltmarkt die Konkurrenz<br />

aufnehmen, einen anhaltenden Kampf<br />

der Schwachen gegen die Starken führen<br />

und letztlich den wahren Aufstieg<br />

Chinas erreichen kann.“ 22 „Wenn wir<br />

diesen Wirtschaftskrieg am Ende gewinnen,<br />

wird sich China nicht nur<br />

vollständig im Rahmen der WTO-Ordnung<br />

entwickeln, sondern sogar in der<br />

Lage sein, diese zu dominieren.“ 23<br />

In den 90er-Jahren gab es ein beliebtes<br />

Fernsehprogramm, in dem in einer<br />

Szene eine Mutter einen Brief an<br />

ihren in den USA studierenden Sohn<br />

schreibt, der in Teilzeit <strong>als</strong> Tellerwäscher<br />

arbeitet. Sie fordert ihren Sohn<br />

auf: „Studiere fleißig, und wenn unser<br />

Land in Zukunft einmal stark und mächtig<br />

ist, werden wir diese Laowai (Westler)<br />

unsere Teller waschen lassen.“<br />

Hans Globalisierungs- und WTO-<br />

Kritik entspricht im Wesentlichen den<br />

Empfehlungen dieser Mutter an ihren<br />

Sohn. Er spricht sich nicht wirklich<br />

gegen die von den Konzernen gesteuerte<br />

Globalisierung aus, sondern plädiert<br />

einfach für eine chinesische Version<br />

der Globalisierung, die mehr Gewicht<br />

auf protektionistische Elemente<br />

legt, gegenüber dem von den USA und<br />

der EU diktierten Weg aber im Wesentlichen<br />

nur für einen anderen Weg<br />

für Chinas Integration in den weltweiten<br />

Kapitalismus plädiert. Statt einer<br />

Amerikanisierung der Welt will Han<br />

die „Chinisierung“. Er ist nicht vollständig<br />

überzeugt davon, dass China<br />

das erreichen kann, aber es ist sein<br />

Ziel. Daher ist immer ein Aspekt von<br />

Messianismus in den Schriften von<br />

22 Ibid, S.160.<br />

23 Ibid, S. 8.<br />

Han und anderen (Autoren der neuen<br />

Linken). „Wenn der chinesische Weg<br />

lösen kann, was zu lösen die westliche<br />

Zivilisation nicht in der Lage ist,<br />

wird die chinesische Nation in der Lage<br />

sein, das Zentrum der Welt zu erobern,<br />

und China wird <strong>als</strong> reiche, demokratische,<br />

zivilisierte Nation im<br />

Osten dastehen.“ 24<br />

Ein anderer bekannter Vertreter<br />

der neuen Linken, Yang Fan, stellt in<br />

einem Artikel mit dem Titel „Ideologischer<br />

und theoretischer Kampf in<br />

der chinesischen Gesellschaft“ sein<br />

Programm vor. „In Bezug auf die Entwicklung<br />

(müssen wir) unsere Grundlagenforschung<br />

auf die Theorie der<br />

Grande Nation stützen, mit der wir<br />

den Weg hin zum Erwachen Chinas<br />

<strong>als</strong> einer Grande Nation der besonderen<br />

Art finden können. In Bezug auf<br />

die Öffnung zur Welt vor dem Hintergrund<br />

der Globalisierung müssen wir<br />

den Weg zu unserer nationalen Sicherheit<br />

und dem Aufstieg unserer Nation<br />

erforschen. Wir müssen mit der Logik<br />

des Kapit<strong>als</strong> brechen, die Annahme<br />

aufgeben, es gäbe keine äußeren<br />

Feinde, und die nationale Sicherheit<br />

zu einem Kernanliegen unserer strategischen<br />

Anpassung machen. In Bezug<br />

auf die Reform verteidigen wir eine<br />

Reform, die fair ist, und streben die<br />

Überwindung des rechten wie des linken<br />

Diskurses und die Aufhebung des<br />

Dogmas und des Fundamentalismus<br />

der Planwirtschaft wie des Marktes<br />

an. An deren Stelle schlagen wir neue<br />

ideologische Richtlinien für Reformen<br />

vor … das Konzept der ‚strategischen<br />

nationalen Industrie‘. Besonderes Augenmerk<br />

ist darauf zu legen, private<br />

Unternehmer und private Geschäfte<br />

in die nationale Industrie zu führen.<br />

Im Hinblick auf die Theorie vertreten<br />

wir eine Art von Mitte-Links-Position,<br />

die Sozialismus und Patriotismus miteinander<br />

verbindet. Wir sind für ein<br />

Bündnis aus Mitte-Rechts, Mitte und<br />

linken Liberalen und sogar für einen<br />

Block mit den Planwirtschaftsfundamentalisten<br />

– der alten Linken –, um<br />

gegen die chinesischen Neoliberalen<br />

und die rechtsradikalen ‚Teilhaber‘ eine<br />

gemeinsame Front aufzubauen.” 25<br />

Das obige Programm bringt nichts<br />

Neues. Es ist die altbekannte Ge-<br />

24 Ibid, S. 264.<br />

25 2005/06: Zhongguo de shehui sichao yu lilun<br />

douzheng, http://www.blogchina.com/new/<br />

displa...<br />

schichte vom staatlich gelenkten<br />

Wachstum. Han und Yang begrüßen<br />

den Nationalismus der Groß-Han so<br />

sehr, dass sie die Regierung gedrängt<br />

haben, Taiwan anzugreifen und es so<br />

schnell wie möglich einzuverleiben.<br />

„Wenn wir diesen Krieg gewinnen,<br />

werden wir all die jahrelangen Beleidigungen<br />

seitens der USA hinter uns<br />

lassen, das chinesische Volk wird sich<br />

einmal mehr um die KP Chinas einen<br />

und die Entwicklung der chinesischen<br />

Wirtschaft und Gesellschaft<br />

des 21. Jahrhunderts wird gewährleistet<br />

sein”, schreibt Han. 26 Han, Yang<br />

und viele andere VertreterInnen der<br />

neuen Linken sowie die KP Chinas<br />

sind so sehr in den Groß-Han-Nationalismus<br />

verstrickt, dass sie sich niem<strong>als</strong><br />

vorstellen können, das taiwanesische<br />

Volk könne das demokratische<br />

Recht haben, selbst zu entscheiden, ob<br />

es die Vereinigung mit Festlandchina<br />

will und unter welchen Bedingungen.<br />

Es überrascht nicht, dass sie genauso<br />

blind für die Tatsache sind, dass den<br />

ethnischen Minderheiten im Tibet und<br />

Xinjiang grundlegende demokratische<br />

Rechte verweigert werden. Wenn<br />

„Stabilität Vorrang vor allem anderen“<br />

hat, steht sie logischerweise auch über<br />

den demokratischen und Minderheitenrechten.<br />

27<br />

Innenpolitische Faktoren<br />

sind auch externe Faktoren<br />

Han und Yang argumentieren im Wesentlichen<br />

weder mit Marktprotektionismus<br />

noch mit Keynesianismus,<br />

sondern mit der Stärkung des Einparteienstaats<br />

zur Rettung Chinas vor äußeren<br />

Bedrohungen durch die Globalisierung<br />

und <strong>als</strong> Werkzeug, um letztlich<br />

die Konkurrenz auf dem Welt-<br />

26 Meiguo zenyang zhizao he zhichi liangguolun<br />

(How US manufacture and support the<br />

Two States Theory), 1999, http://www.edu.<br />

cn/20030127/3076681_...<br />

27 Tragischerweise, aber nicht überraschend fördert<br />

der Groß-Han-Nationalismus unausweichlich<br />

einen taiwanesischen Nationalismus oder<br />

sogar Chauvinismus, der sich gerne schriller<br />

Slogans bedient wie „Chinesenschweine, zum<br />

Teufel!“ Eine andere Ursache für die Zunahme<br />

des taiwanesischen Nationalismus könnte der<br />

ostasiatischen Sicht auf die Globalisierung zuzuschreiben<br />

sein, da die chinesische Reintergration<br />

in den globalen Kapitalismus in erster<br />

Linie Taiwan mitzieht, so dass heute die wirtschaftliche<br />

Integration zwischen beiden Ländern<br />

unumkehrbar ist, was zu einer steigenden<br />

Arbeitslosigkeit führt.<br />

44 inprekorr 458/459


CHINA<br />

markt aus dem Feld zu schlagen. Unterdessen<br />

argumentieren die neuen Liberalen<br />

genau umgekehrt. Beide begehen<br />

aber denselben Fehler, interne<br />

Faktoren den externen entgegenzuhalten,<br />

ohne zu berücksichtigen, dass<br />

sie sich gegenseitig ergänzen und zu<br />

einem gewissen Grad dasselbe sind.<br />

Wenn Han und Yang betonen, die Globalisierung<br />

sei eine äußere Bedrohung,<br />

sind sie blind gegenüber der Tatsache,<br />

dass es ihr eigener Einparteienstaat ist,<br />

der China nicht nur für den weltweiten<br />

Kapitalismus geöffnet, sondern sich<br />

auch für eine Strategie entschieden<br />

hat, die stärker von ausländischem Kapital<br />

und dem Markt abhängt <strong>als</strong> viele<br />

Entwicklungsländer. All dies tut China<br />

bewusst aus eigenen Stücken. Während<br />

es in seinen politischen Entscheiden<br />

nicht völlig frei ist (wer ist das<br />

schon?), kann schwerlich behauptet<br />

werden, diese Politik wäre China vom<br />

US-Imperium oder dem Imperialismus<br />

im Allgemeinen aufgezwungen<br />

worden. Angesichts der Größe Chinas<br />

und des hohen Grads an staatlicher<br />

Kontrolle über alle gesellschaftlichen<br />

und wirtschaftlichen Schichten steht<br />

das Land bezüglich Konkurrenzfähigkeit<br />

zu den Industriestaaten viel besser<br />

da <strong>als</strong> so manches Entwicklungsland.<br />

Das Privileg der „überstaatlichen Behandlung“<br />

ausländischer Unternehmen,<br />

die nur halb so viel Gewinnsteuer<br />

abführen müssen wie chinesische<br />

Staatsbetriebe, sowie Steuervergünstigungen<br />

und Entgegenkommen auf<br />

weiteren Gebieten sind bewusste Entscheidungen<br />

der obersten Staatsführung,<br />

um so viel ausländische Direktinvestitionen<br />

wir nur möglich anzulocken.<br />

Dasselbe gilt für die entwürdigenden<br />

Konzessionen, die China während<br />

des WTO-Beitrittsverfahrens gemacht<br />

hat. <strong>Die</strong>se Wahl wird nicht nur<br />

durch wirtschaftliche Vernunft bestimmt,<br />

wie sie die herrschenden Eliten<br />

verstehen, sondern ist in erster Linie<br />

durch Eigeninteressen motiviert.<br />

<strong>Die</strong> Verwaltungsbürokratie der Mao-<br />

Ära hat sich zu jener Form von „bürokratischen<br />

Kapitalisten“ gewandelt,<br />

die vor 1949 während der Herrschaft<br />

der Kuomintang vorherrschte. In Peking<br />

sind ebenso wie auf dem Land<br />

offizielle Vertreter oft (durch Familienangehörige<br />

und Kumpanen) in Geschäfte<br />

verwickelt. Sie sind daran interessiert,<br />

ein breites Bündnis mit dem<br />

globalen Kapitalismus fortzuführen,<br />

und sie profitieren enorm davon.<br />

Peter Nolan beschreibt ausführlich<br />

die wechselseitige Abhängigkeit von<br />

China und den USA, wenn er schreibt:<br />

„China ist ein ‚Angebotsmotor‘ der<br />

Weltwirtschaft geworden, die USA<br />

dagegen der ‚Nachfragemotor‘. Beide<br />

weisen ein zutiefst unausgeglichenes<br />

Wachstum aus (Roach, 2005) … <strong>Die</strong><br />

USA absorbieren heute rund zwei<br />

Fünftel der chinesischen Exporte, und<br />

China hält die meisten ausländischen<br />

Reserven in Dollar … <strong>Die</strong> chinesische<br />

und die US-Wirtschaft sind zutiefst<br />

miteinander verflochten.“ 28<br />

Das große Wirtschaftsbündnis zwischen<br />

den herrschenden Eliten Chinas<br />

und jenen des Westens ist natürlich<br />

nicht völlig stabil, insbesondere<br />

im Kontext des scheinbaren aktuellen<br />

„Aufstiegs Chinas“. Nach 20<br />

Jahren Integration in den Weltkapitalismus<br />

sind chinesische Unternehmen<br />

so sehr gewachsen, dass sie genügend<br />

Selbstvertrauen besitzen, einen größeren<br />

Anteil am Mehrwert der weltweiten<br />

Versorgungskette einzufordern.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklung wird im Westen<br />

und Japan natürlich gar nicht goutiert.<br />

Der Wettlauf um Erdöl zwischen China<br />

und den reichen Ländern hat die<br />

Angst vor der „gelben Gefahr“ weiter<br />

geschürt. Trotz dieser Reibungen<br />

ist nicht zu leugnen, dass zwischen<br />

beiden gemeinsame Interessen bestehen.<br />

<strong>Die</strong>se spiegeln eine globalisierte<br />

Welt wider, in der die Dichotomie<br />

von inländisch vs. ausländisch obsolet<br />

geworden ist. Das lässt sich an einem<br />

einfachen Beispiel zeigen: Große chinesische<br />

Unternehmen, oft Staatsbetriebe,<br />

verlieren heute im Bezug auf<br />

die Eigentumsstruktur immer mehr<br />

den nationalen Charakter, da sie entweder<br />

in Hongkong oder in New York<br />

börsennotiert sind oder Aktienanteile<br />

direkt an westliche oder japanische<br />

Multis verkauft werden. Das trifft<br />

selbst auf die Staatsbanken zu, die eigentlich<br />

das Kommando über die Wirtschaft<br />

führen sollten. Noch viel mehr<br />

Staatsbetriebe sind in den letzten 20<br />

Jahren Joint Ventures mit westlichen,<br />

japanischen oder koreanischen Unternehmen<br />

eingegangen. Leslie Sklair<br />

spricht davon, dass eine „transnationale<br />

Kapitalistenklasse auf der Basis<br />

von transnationalen Unternehmen ent-<br />

28 Peaceful Rise or Yellow Peril?, Peter Nolan,<br />

CITIC pacific research advance, 7. April 2006,<br />

S. 19−24.<br />

steht, die mehr oder weniger den Globalisierungsprozess<br />

kontrolliert.“ 29<br />

Während Sklairs Formulierung noch<br />

lange nicht überzeugt, steht dennoch<br />

fest: In der Ära der Globalisierung<br />

müssen Begriffe wie „nationale Bourgeoisie“,<br />

„nationale Industrie“ etc. genau<br />

beurteilt werden, bevor sie einen<br />

sinnvollen analytischen Wert haben.<br />

In Wirklichkeit sind in „nationalen“<br />

Elementen oft selbst ausländische<br />

Elemente enthalten und umgekehrt.<br />

Es bedarf eines wissenschaftlicheren<br />

Ansatzes, um die Dichotomie von inländisch<br />

vs. ausländisch zu überwinden<br />

und die internationalen Mechanismen<br />

der globalen Kapitalistenklasse<br />

und des globalen Kapitalismus an der<br />

Arbeit zu erforschen.<br />

Repräsentiert die neue<br />

Linke die Arbeiterschaft?<br />

Der nationalistische Diskurs ist nicht<br />

einfach das Ergebnis einer f<strong>als</strong>chen<br />

Theorie. Aus Sicht der chinesischen<br />

Elite, die danach strebt, mithilfe des<br />

Staats einen größeren Anteil am Weltmarkt<br />

zu ergattern, ist er richtig. Aus<br />

dieser Sicht sind die anderen Nation<strong>als</strong>taaten<br />

und Multis jeweils äußere<br />

Herausforderer. <strong>Die</strong> chinesischen ArbeiterInnen<br />

und Bauern/Bäuerinnen<br />

erscheinen nur deshalb <strong>als</strong> „inländisch/einheimisch“,<br />

weil sie die Welt<br />

von der verlängerten Werkbank China<br />

aus mit billigen Arbeitskräften und<br />

billigem Essen versorgen, wodurch<br />

chinesische Unternehmen auf dem<br />

Weltmarkt wettbewerbsfähiger werden.<br />

Hier ergibt die Dichotomie von<br />

ausländisch vs. inländisch Sinn. Anstatt<br />

ein gemeinsames nationales Interesse<br />

vorwärtszubringen, verteidigt<br />

der nationalistische Diskurs in Wirklichkeit<br />

nur die engen Interessen der<br />

herrschenden Eliten.<br />

Einen anderen Standpunkt vertritt<br />

allerdings Zheng: „Neue Liberale vertreten<br />

die Interessen der neu aufkommenden<br />

Reichen, während die neuen<br />

Linken die Interessen der ArbeiterInnen<br />

und der Bauern/Bäuerinnen<br />

vertreten.“ 30 Zhengs Einschätzung der<br />

Liberalen ist korrekt, seine Einschätzung<br />

der neuen Linken aber völlig<br />

f<strong>als</strong>ch, was deren Wortführer betrifft.<br />

29 The Transnational Capitalist Class, Blackwell<br />

Publishers Ltd, 2001, S. 5.<br />

30 Globalization and State Transformation in China,<br />

Cambridge University Press, 2004, S. 186.<br />

inprekorr 458/459 45


CHINA<br />

Hu Jintao – Gener<strong>als</strong>ekretär der KP, Staatspräsident der Volksrepublik China<br />

So meinte Han Deqiang in einem<br />

NGO-Workshop während der sechsten<br />

WTO-Ministerkonferenz offen: „<strong>Die</strong><br />

neue Linke vertritt nicht die Meinung<br />

der Arbeiter oder Bauern. Wir hoffen,<br />

eine Anpassung (der Regierungspolitik)<br />

zu erreichen. Wir genießen breite<br />

Unterstützung unter den mittleren<br />

und höheren Rängen (der Regierungsbeamten).<br />

In den Augen der Arbeiter<br />

und Bauern könnten wir <strong>als</strong> Lakaien<br />

der Kapitalisten gesehen werden. Wir<br />

wollen keine Instabilität. Wir sind<br />

Reformer.“ 31<br />

Später führte Han seine Überlegungen<br />

in einem Artikel aus: „<strong>Die</strong><br />

neue Führung der Zentralregierung<br />

hat das Problem (des sich vertiefenden<br />

Grabens zwischen Reichen und<br />

Armen, der Arbeitslosigkeit etc.) bereits<br />

erkannt. Deshalb treten sie für<br />

nachhaltige Entwicklung, eine harmonische<br />

Gesellschaft, autonome Innovation<br />

etc. ein. Ihre Ideen sind in<br />

gewissem Maß von der neuen Linken<br />

beeinflusst. Zur Frage, ob wir nicht<br />

etwas für die Arbeiter tun sollten,<br />

31 Shi gongnong de wuhui, haishi xinzuopai de<br />

wuhui? (Wer unterliegt einem Missverständnis:<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterschaft oder die neue Linke?),<br />

ein Bericht über den Workshop zu China, organisiert<br />

vom Focus of the Global South, International<br />

Forum on Globalization, Globalization<br />

Monitor. See http://xinmiao.hk.st<br />

lautet meine Antwort, dass mir soziale<br />

Krisen und eine mögliche Katastrophe<br />

mehr Sorgen bereiten. Für<br />

meine Haltung könnten mich die Arbeiter<br />

und Bauern <strong>als</strong> Lakai der Kapitalisten<br />

betrachten. Was ich vorschlage<br />

ist, die exzessive Ausbeutung<br />

durch eine erträgliche Ausbeutung zu<br />

ersetzen.“ 32<br />

Das ist nicht nur ein verbaler Ausrutscher,<br />

sondern bewusstes Denken.<br />

In einem anderen Artikel schreibt<br />

Han: „In der heutigen chinesischen<br />

Wirtschaft geht es nicht darum, ob<br />

wir Ausbeutung wollen oder nicht,<br />

sondern ob wir eine Art von Ausbeutung<br />

wollen, die bis zum Äußersten<br />

geht, oder ob wir eine nachhaltige<br />

Form wollen.“ 33 „<strong>Die</strong> Grubenunglücke<br />

sind die Folge der exzessiven<br />

Ausbeutung, da Arbeiter umkommen.<br />

Wenn Arbeiter (so behandelt werden,<br />

dass sie) überleben können oder sogar<br />

in der Lage sind, ihre Familien zu<br />

unterstützen, sollten die Bergarbeiter<br />

meiner Ansicht nach dankbar sein, ei-<br />

32 Zai Tuopai yanzhong shui bushi zibenjia de<br />

zougou. Huida yixie pengyou de yiwen, (Wer<br />

ist in den Augen der Trotzkisten kein Lakai<br />

der Kapitalisten?, https://host378.ipowerweb.<br />

com/ gong...<br />

33 Lianhe qilai fandui xinziyouzhuyi (Vereint gegen<br />

Neoliberalismus), http://www.snzg.net/<br />

shownews.asp?ne...<br />

ne Art von Ausbeutung zu haben, die<br />

nachhaltig ist.“ 34<br />

Auch Yang Fan hat seinen LeserInnen<br />

ausdrücklich verraten, welche<br />

Klasse er bevorzugt: „Wir sind dafür,<br />

das Banner des Patriotismus hochzuhalten.<br />

Nationales chinesisches Kapital<br />

und Staatskapital brauchen staatlichen<br />

Schutz. Ohne staatlichen Schutz<br />

wären wir nach dem WTO-Beitritt<br />

nicht in der Lage, gegen Multis zu<br />

konkurrieren … Ich denke, die meisten<br />

Staatsbetriebe sollen aufgelöst<br />

werden. Wir brauchen nicht so viele<br />

Staatsunternehmen. Der Staat muss<br />

aber in der Unterstützung von staatlichem<br />

und privatem Kapital eine Rolle<br />

spielen, indem gemeinsame Regeln<br />

erlassen werden, die unser geistiges<br />

Eigentum und unsere Markennamen<br />

schützen.“ 35<br />

Der Unterschied zwischen neuen<br />

Liberalen und so manchen bekannten<br />

Wissenschaftlern der neuen Linken<br />

(natürlich nicht allen) liegt nicht darin,<br />

dass sie gegensätzliche Klassen<br />

vertreten, sondern eher darin, dass sie<br />

einen unterschiedlichen Kurs für ein<br />

und dieselbe Klasse verfolgen, die neu<br />

aufsteigende Kapitalistenklasse. Der<br />

größere Einfluss der neuen Liberalen<br />

in den 90er-Jahren fiel mit dem damaligen<br />

Trend zusammen, <strong>als</strong> die Regierung<br />

einen großen Sprung in Richtung<br />

auf eine Politik machte, die völlig auf<br />

ausländisches Kapital setzt. Ende des<br />

20. Jahrhunderts hatte sich der Trend<br />

wieder gewendet, <strong>als</strong> nach zehn Jahren<br />

abhängigen Wachstums die Gefahr<br />

einer wirtschaftlichen Rekolonialisierung<br />

real wurde. Hier nun wurde<br />

der Diskurs der neuen Linken von nationaler<br />

Wiedergeburt und Selbstkräftigung<br />

für sie attraktiv. Offensichtlich<br />

sind weder die bürokratischen noch<br />

die privaten Kapitalisten in ihren Interessen<br />

homogen. Ein Teil sucht aufgrund<br />

seiner spezifischen Stellung in<br />

der Wirtschaft vorrangig die enge Partnerschaft<br />

mit ausländischem Kapital<br />

und sieht eine verstärkte Intervention<br />

des Staates eher <strong>als</strong> Fluch denn <strong>als</strong><br />

Segen. Daher ist dieser Teil empfänglicher<br />

für den Diskurs der neuen Li-<br />

34 Ke chixu fazhan he shehui gongping (Nachhaltige<br />

Entwicklung und soziale Gerechtigkeit),<br />

http://www.edu.org.cn/Article/epedu...<br />

35 Zhongguo minying jingji yinggai shangshen<br />

wei minzu jingji (<strong>Die</strong> chinesische Privatwirtschaft<br />

sollte sich zur nationalen Wirtschaft<br />

weiterentwickeln), http://www.blogchina.com/<br />

new/displa...<br />

46 inprekorr 458/459


CHINA<br />

beralen. Statt jeweils für die Reichen<br />

bzw. für die Armen zu stehen, vertreten<br />

neue Liberale und wichtige ExponentInnen<br />

der neuen Linken in Wirklichkeit<br />

<strong>als</strong>o nur einen unterschiedlichen,<br />

mehr oder weniger stark von<br />

ausländischem Kapital oder dem Staat<br />

abhängigen Kurs der kapitalistischen<br />

Entwicklung.<br />

Es erklärt auch, warum wichtige<br />

Vertreter der neuen Linken außerordentlich<br />

nachsichtig gegenüber staatlicher<br />

Repression sind, auch wenn sich<br />

das Schwert gegen die alte Linke oder<br />

MaoistInnen richtet. Han und Yang<br />

weichen der Frage staatlicher Repression<br />

aus. Dale Wen antwortet auf die<br />

Frage, warum der chinesische Widerstand<br />

gegen den Neoliberalismus erst<br />

jetzt, viel später <strong>als</strong> in anderen Ländern,<br />

erwacht, das liege „daran, dass<br />

erstens in den Jahren vor der Reform<br />

bedeutende politische Fortschritte erzielt<br />

wurden; und zweitens die Reform<br />

erfolgreich verschleiert wurde.“ 36<br />

Besonders auffallend an dieser<br />

Antwort ist, dass Dale die staatliche<br />

Repression gegenüber diversen sozialen<br />

Bewegungen in ihrem 47 Seiten<br />

umfassenden Bericht mit keinem Wort<br />

erwähnt. <strong>Die</strong> neuen Linken sehen den<br />

Staat im Allgemeinen und den Sonderstatus<br />

der KP im Besonderen angesichts<br />

der ausländischen Aggression<br />

und der internen Unterentwicklung<br />

<strong>als</strong> einzige Rettung für China. Während<br />

sie ausgesprochen feindselig auf<br />

die neuen Liberalen reagieren (und<br />

umgekehrt) 37 , zeigen sie sich übermäßig<br />

nachsichtig gegenüber der staatlichen<br />

Repression. Obwohl die neue<br />

Führung unter Hu Jintao die Repression<br />

fortführt und sogar verschärft hat,<br />

um eine mögliche „bunte Revolution“<br />

in China zu verhindern, weigern sich<br />

Dale Wen (wie auch Han und Yang),<br />

den Einparteienstaat auch nur ansatzweise<br />

zu kritisieren. Gegen Ende der<br />

chinesischen Version ihres Berichts<br />

äußert sich Dale zuversichtlich über<br />

Hu: „Erfreulicherweise greift die Regierung<br />

die Mahnung des Volks (bezüglich<br />

Sozial- und Umweltkrise) auf.<br />

Seit 2003 hat die neue Regierungsführung<br />

viele Anpassungen vorgenommen,<br />

um die Probleme zu lösen, die<br />

36 China copes with globalization. A mixed review,<br />

veröffentlicht von International Forum<br />

On Globalization, S. 41.<br />

37 Manchmal führt das so weit, die Unterdrückung<br />

der Gegner durch den Staat zu begrüßen.<br />

durch die in den vergangenen Jahren<br />

vorangetriebene neoliberale Politik<br />

verursacht wurden … Wird die chinesische<br />

Regierung sich für ein gründlicheres<br />

Überdenken ihrer Politik und<br />

die weitere Abkehr vom Neoliberalismus<br />

entscheiden? Wir sind diesbezüglich<br />

optimistisch.“ 38<br />

Weiter erfahren wir, wie die Führung<br />

unter Hu „fortschrittliche Maßnahmen“<br />

ergriffen hat wie die Senkung<br />

der Landsteuer, Versprechen auf<br />

zusätzliche Bildungsgelder etc. Das<br />

sind im besten Fall wirtschaftliche<br />

Verbesserungen und vorerst Bruchstücke.<br />

Dagegen gibt es nichts in Hus<br />

Paket, das die Bevölkerung mit größeren<br />

politischen Grundrechten wie<br />

Versammlungs- oder Pressefreiheit<br />

stärkt. Würde die Bevölkerung diese<br />

Rechte genießen, wäre sie den in<br />

erster Linie von Staatsbeamten betriebenen<br />

Enteignungen nicht völlig<br />

schutzlos ausgeliefert. <strong>Die</strong> KP Chinas<br />

kann immer wieder episodisch wirtschaftliche<br />

Konzessionen einräumen,<br />

doch sie wird nie auch nur die geringsten<br />

politischen Konzessionen machen,<br />

selbst wenn sie so grundlegend<br />

sind wie das Demonstrationsrecht. Sie<br />

vertritt die politische Philosophie aller<br />

herrschenden Eliten, die sie buchstabengetreu<br />

durchzieht: „Man muss<br />

sich für das Wohl des Volkes einsetzen,<br />

aber das Volk darf nichts für sich<br />

selbst tun.“ 39<br />

Zudem kommt es nicht wirklich<br />

darauf an, ob Hu sich vom Neoliberalismus<br />

abwenden wird, sondern eher,<br />

welche Alternative die Regierung<br />

wählen wird. Es gibt viele Alternativen<br />

zum Neoliberalismus. Das Problem<br />

ist nur, dass es sich aus der Perspektive<br />

werktätiger Menschen nicht<br />

unbedingt lohnt, sie zu unterstützen.<br />

Sie bräuchten eine besondere Alternative,<br />

in der Demokratie, Gleichberech-<br />

38 Shi shaoshuren fuqilai de gaige. Zhongguo<br />

yu tongwang jingji quanqiuhua zhi lu (Reform,<br />

die einige wenige bereichert. China auf<br />

dem Weg zur wirtschaftlichen Globalisierung),<br />

S. 50. Das Zitat in der chinesischen Version<br />

weicht von der englischen Version „China copes<br />

with globalization. A mixed review“ etwas<br />

ab. Während die chinesische Version ,optimistisch‘<br />

in Bezug auf Hus Bruch mit dem Neoliberalismus<br />

ist, fehlt in der englischen Fassung<br />

diese Einschätzung.<br />

39 Aussage eines französischen Konservativen<br />

gegen die Demokratie während der Französischen<br />

Revolution 1797, zitiert in Democracy<br />

and Revolution, George Novack, Pathfinder<br />

Press, S. 73.<br />

tigung und politische Freiheiten im<br />

Zentrum stehen. Was uns am meisten<br />

irritiert, ist gerade die Tatsache, dass<br />

im Diskurs von Vertretern der neuen<br />

Linken wie Han und Yang diese Werte<br />

nie vorkommen. Sie befürworten eher<br />

eine Alternative des Staatsinterventionismus<br />

und Nationalismus, von denen<br />

die neue KP-Führung nur zu gern<br />

einige Aspekte aufgreifen könnte, um<br />

den „Aufstieg Chinas“ voranzubringen.<br />

Dale Wen ist in ihrem Bericht<br />

weniger nationalistisch, doch das Fehlen<br />

jeglicher demokratischen Forderung<br />

und der nötigen Kritik am Einparteienregime<br />

ist ausgeprägt. <strong>Die</strong>ses<br />

Fehlen ist alles andere <strong>als</strong> zufällig.<br />

Es hängt mit dem Thema der meisten<br />

VertreterInnen der neuen Linken zusammen,<br />

nämlich dem Vertrauen auf<br />

den Einparteienstaat, der ein modernisiertes<br />

China aufbauen soll. Man kritisiert<br />

nicht jene, die einen retten sollen.<br />

Dennoch sind sich diese Autoren des<br />

Dilemmas ihres Vorschlags bewusst.<br />

Während ihnen der Staat <strong>als</strong> Lösung<br />

erscheint, stellt er in Wirklichkeit<br />

auch ein riesiges Problem dar. <strong>Die</strong> Degeneriertheit<br />

und Korruption des Einparteienstaates<br />

hat ein solches Ausmaß<br />

angenommen, dass Chen Yun, ein<br />

hochrangiger KP-Führer, vor seinem<br />

Tod 1995 vor einem wangdang wangguo,<br />

dem Sturz von Partei und Staat,<br />

warnte. Mehr <strong>als</strong> zehn Jahre sind verstrichen,<br />

und die damalige Korruption<br />

nimmt sich harmlos aus im Vergleich<br />

zur heutigen. Weitreichende<br />

Korruption und rücksichtslose Privatisierung<br />

fördern zunehmend zentrifugale<br />

Kräfte innerhalb der KP Chinas.<br />

Vor den Reformen beschränkte<br />

sich die Korruption hauptsächlich auf<br />

den <strong>Die</strong>bstahl von öffentlichem Eigentum<br />

in Form von Konsumgütern.<br />

Mitte der 90er-Jahre begannen Beamte<br />

dann, mit Spekulationen auf dem<br />

Markt Gewinne zu machen. Seit den<br />

frühen 90er-Jahren haben sich viele<br />

Beamte daran gemacht, ihre eigenen<br />

Unternehmen aufzubauen oder ihre<br />

Freunde und Familienangehörigen<br />

zu ermutigen, Privatunternehmen zu<br />

gründen, um Geld zu machen. Eine<br />

der einfachsten Methoden dafür ist der<br />

Transfer von öffentlichem Eigentum<br />

in die eigenen Betriebe. <strong>Die</strong> Korruption<br />

hat ein gigantisches Ausmaß angenommen,<br />

was in folgendem Witz zum<br />

Ausdruck kommt: Wählt man zufällig<br />

100 mittlere Beamte aus und erschießt<br />

inprekorr 458/459 47


CHINA<br />

sie, trifft es vermutlich zehn Unschuldige.<br />

Wählt man 100 große Mandarine<br />

und macht dasselbe, dann ist vermutlich<br />

nur ein Unschuldiger darunter.<br />

Auch wenn die Zahlen in dem<br />

Witz nicht allzu ernst zu nehmen sind,<br />

drückt er doch den Grad an aktueller<br />

Korruption aus, die die Fähigkeiten<br />

des Staates stark beeinträchtigt. Selbst<br />

wenn eine Politik für sich genommen<br />

gut ist, wird ihre Umsetzung oft durch<br />

die Profitanreize der Bürokratie behindert<br />

oder verdreht, was zu Chaos,<br />

Fehlern und Nachteilen für das Leben<br />

der Bevölkerung führt.<br />

Wenn Probleme auftreten und<br />

sich häufen, werden Beamte nur versuchen,<br />

sie mit allen möglichen Mitteln<br />

zu kaschieren. Es ist ein Gemeinplatz,<br />

dass chinesische Statistiken<br />

nicht vertrauenswürdig sind. <strong>Die</strong> Zahlen<br />

der Handelsbilanz von August<br />

1998 hatten beispielsweise ein Plus<br />

von 20 Milliarden US-Dollar ausgewiesen.<br />

Seltsamerweise hatte die Reserve<br />

an ausländischen Devisen dagegen<br />

nur eine Steigerung um weniger<br />

<strong>als</strong> eine Milliarde US-Dollar ausgewiesen.<br />

<strong>Die</strong>se Unnormalität zeugt<br />

nicht nur von der fehlenden Seriosität<br />

der Statistiken, sondern auch von<br />

der illegalen Kapitalflucht (nicht vertrauenswürdige<br />

Statistiken kaschieren<br />

den <strong>Die</strong>bstahl). <strong>Die</strong> Probleme stauen<br />

sich gewöhnlich bis zu einem Krisenmoment<br />

auf und werden von der Zentralregierung<br />

erst aufgegriffen, wenn<br />

es oft schon zu spät ist. Zudem ist die<br />

Korruption das wichtigste Ärgernis<br />

für die Durchschnittsbevölkerung und<br />

hat unzählige Proteste, Streiks und sogar<br />

Aufstände provoziert. Das Tiananmen-Massaker<br />

ist eine Botschaft an alle<br />

Beamten, dass die Partei dem Druck<br />

des Volks nicht nachgeben wird, selbst<br />

wenn sich solche Vorfälle ereignen.<br />

Praktisch kommt dies einer Art von<br />

mianzui tiejuan 40 oder vorweggenommenen<br />

Entschuldigung der Korruption<br />

der Mandarine gleich. Kein Wunder<br />

<strong>als</strong>o, dass der Appetit der Bürokratie<br />

seit den frühen 90er-Jahren stark gewachsen<br />

ist und sich eine zweite Revolte<br />

von unten zusammenbraut.<br />

Der Kumpanenkapitalismus der<br />

KP Chinas bringt zudem seine eigene<br />

40 Eine Art von eisernem Orden, den der Kaiser<br />

den bevorzugten Ministern verlieh, womit im<br />

Voraus alle Verbrechen entschuldigt wurden, in<br />

die sie verwickelt werden sollten, mit Ausnahme<br />

von Verbrechen wie Verrat.<br />

Finanz- und Wirtschaftskrise hervor.<br />

Niemand weiß beispielsweise genau,<br />

wie viele faule Kredite es im chinesischen<br />

Bankensystem gibt, noch kann<br />

man davon ausgehen, dass die Buchführung<br />

offiziell deklarierter chinesischer<br />

Unternehmen zuverlässig ist.<br />

Wie soll man etwas managen, wovon<br />

man keine Ahnung hat? Der Grund,<br />

warum China 1997 nicht von der Asienkrise<br />

erfasst wurde, ist schlicht,<br />

dass die chinesische Währung Renminbi<br />

(RMB) nicht konvertierbar war.<br />

Jetzt, wo die Regierung die Konvertierbarkeit<br />

plant, sind starke Zweifel<br />

angebracht, ob China eine zweite<br />

Krise eindämmen könnte. Eine Wirtschaftskrise<br />

wird einen weiteren sozialen<br />

Aufstand provozieren, schrieb<br />

der China wohlgesonnene Wissenschaftler<br />

Peter Nolan. 41 Kurzum, die<br />

Bürokratie bereitet durch den <strong>Die</strong>bstahl<br />

an ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen<br />

und Staatseigentum selbst den<br />

Boden für wirtschaftliche und soziale<br />

Unruhen.<br />

Erstaunlicherweise ist die Korruption<br />

zwar für Chen Yun ein Hauptanliegen,<br />

aber die meisten bekannten<br />

VertreterInnen der neuen Linken erwähnen<br />

sie eher nur beiläufig. Und<br />

selbst wenn sie darauf eingehen, wiederholen<br />

sie nur die Binsenweisheit<br />

des alten Parteidogmas, dass die oberste<br />

Parteiführung entschlossen gegen<br />

Korruption vorgehen müsse und dass<br />

die Korruption ein Ergebnis der geistigen<br />

Verschmutzung durch den Westen“<br />

oder der Globalisierung sei, weshalb<br />

eine Überprüfung der Partei nötig<br />

sei etc. <strong>Die</strong> wesentlich einfachere<br />

Lösung, nämlich ein Ende der Einparteienherrschaft<br />

und die Einführung<br />

der demokratischen Kontrolle über<br />

die Staatsbürokratie, kommt dagegen<br />

nie vor. Ohne diese Maßnahmen wird<br />

die Bürokratie aber nie daran gehindert<br />

werden können, sich durch Privatisierung<br />

und offene oder verdeckte<br />

Korruption selbst zu bereichern. Das<br />

ist der Bürokratie sehr wohl bewusst,<br />

weshalb sie sich aufs Heftigste jedem<br />

Schritt in Richtung Demokratisierung<br />

von oben oder von unten widersetzt.<br />

Sie verweigert der Bevölkerung alle<br />

Grundrechte, so dass diese völlig ausgeliefert<br />

ist. Doch es gibt immer einen<br />

Punkt, von dem an die weitere Ent-<br />

41 Peaceful Rise or Yellow Peril?, Peter Nolan,<br />

CITIC pacific research advance, 7. April 2006,<br />

S. 11.<br />

eignung nicht mehr geduldet werden<br />

wird, und auf diesen Punkt steuern<br />

wir im Eiltempo zu. <strong>Die</strong> KP Chinas ist<br />

sich dessen bewusst und reagiert darauf<br />

außer durch Repression mit der<br />

zunehmenden Förderung eines Nationalismus,<br />

um von den hausgemachten<br />

Problemen auf äußere Feinde abzulenken.<br />

Das ist allerdings ein Rezept für<br />

internationale Spannungen oder gar<br />

Kriege. <strong>Die</strong>ser Weg bietet der Bevölkerung<br />

keinen Ausweg.<br />

Demokratie von vorrangiger<br />

Bedeutung<br />

Der chinesische Parteienstaat ist allmächtig.<br />

Eine Zivilgesellschaft gibt<br />

es praktisch nicht. <strong>Die</strong> weitere Stärkung<br />

dieses Staats und die Entwicklung<br />

eines Staatskapitalismus und dessen<br />

Aufsicht führen nur zu einer weiteren<br />

Abwärtsspirale im globalisierten<br />

Markt oder schlimmer noch zu Krieg.<br />

Globalisierungskritik auf der Basis<br />

eines chinesischen Nationalismus bestärkt<br />

nur die KP Chinas in ihrem Bemühen,<br />

alle Hindernisse auf dem Weg<br />

zur Hölle auszuräumen. Wer für einen<br />

solchen Kurs eintritt, kann kaum<br />

<strong>als</strong> Neuerer oder <strong>als</strong> links bezeichnet<br />

werden. Es ist die alte nationalistische<br />

Leier. Manche in der neuen Linken<br />

bezeichnen Cui, Han und Yang <strong>als</strong><br />

qiangguo zuopai (linke Nationalisten)<br />

statt <strong>als</strong> neue Linke, um sich von ihnen<br />

abzugrenzen.<br />

Uns ist sehr wohl bewusst, dass zu<br />

berücksichtigen ist, dass alle Chinesen,<br />

die an dieser Diskussion teilnehmen,<br />

unter Zensur nicht unbedingt offen<br />

sprechen können. Dennoch gibt<br />

es auch unter dieser Zensur manche<br />

neue Linke, die <strong>als</strong> ernsthafte MaoistInnen<br />

oder Linke im weiteren Sinn<br />

nicht dem Nationalismus oder Dirigismus<br />

erlegen sind. Wang Hui, ein weiterer<br />

bekannter Exponent der neuen<br />

Linken, gibt sich in seiner Globalisierungskritik<br />

kaum nationalistisch und<br />

sein Beharren auf der aktiven Rolle<br />

der Arbeiterbewegung in sozialen Veränderungen<br />

ist in der neuen Linken eine<br />

Seltenheit. Kuang Xinnian, der <strong>als</strong><br />

Maoist gilt, setzt in vieler Hinsicht auf<br />

die ursprünglich kritische Haltung der<br />

KP Chinas zum Nationalismus und<br />

geht gewissermaßen sogar darüber hinaus,<br />

wenn er schreibt: „Nationalismus<br />

ist eine Art von bürgerlicher Ideologie.<br />

Es ist im Wesentlichen eine Art<br />

48 inprekorr 458/459


CHINA<br />

von Denken, das dazu dient, das Klassenbewusstsein<br />

des Proletariats und<br />

die sozialistische Ideologie zu unterdrücken.<br />

Eine der wichtigen Ursachen<br />

für den Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

war die Begrenztheit des ,Sozialismus<br />

in einem Land‘, die zur ideologischen<br />

Degenerierung von einer sozialistischen<br />

zu einer nationalistischen<br />

Vision und letztlich zur Umwandlung<br />

in einen ,Sozialimperialismus‘ geführt<br />

hat … Wenn China nur den Nationalismus<br />

<strong>als</strong> Alternativideologie unterstützt,<br />

wird es nicht in der Lage sein,<br />

die internen Klassengegensätze oder<br />

auch den Konflikt zwischen Nation<strong>als</strong>taaten<br />

zu lösen, sondern wird diese<br />

Konflikte im Gegenteil nur verschärfen.<br />

Das wäre eine Tragödie nicht<br />

nur für China, sondern für die <strong>ganze</strong><br />

Welt.“ 42<br />

Solche Stimmen sind leider viel<br />

zu sehr marginalisiert, ganz abgesehen<br />

davon, dass diese neuen Linken<br />

die Diskussion mit den Nationalisten<br />

42 Minzuzhuyi yu zhongguo (Nationalismus<br />

und China), http://www.hexinbbs.com/article/<br />

Show Article.asp?Article1D=37<br />

offenbar scheuen. Das ist kein Zufall,<br />

denn diese kritischen neuen Linken<br />

sind zu heterogen, um den Nationalisten<br />

effizient die Stirn bieten zu<br />

können. Zusammengefasst lässt sich<br />

sagen, dass vieles dafür spricht, dass<br />

in den kommenden Jahren eine noch<br />

stärkere Reaktion auf den Neoliberalismus<br />

und eine Globalisierung unter<br />

Leitung der Konzerne zu erwarten ist.<br />

<strong>Die</strong>sbezüglich sind wir optimistisch.<br />

Dennoch hat der Einparteienstaat mithilfe<br />

von Nationalisten und qiangguo<br />

zuopai wie Han und Yang die Reaktion<br />

stark in Richtung eines nationalistischen,<br />

dirigistischen Diskurses geprägt.<br />

Wenn eine Basisbewegung in<br />

diese Richtung gesteuert wird, wird<br />

sie Öl in den chinesischen Nationalismus<br />

gießen. Selbstverständlich gibt es<br />

etwas, was die Linke tun kann, anstatt<br />

bloß abzuwarten und zu schauen, was<br />

<strong>als</strong> nächstes passiert. <strong>Die</strong> dringliche<br />

Aufgabe der Linken wäre, die in China<br />

tief verwurzelte dirigistische nationalistische<br />

Tradition und die Einparteienherrschaft<br />

einer gründlichen Kritik<br />

zu unterziehen. Unsere Vision einer<br />

gerechten Gesellschaft darf keinerlei<br />

nationalistische oder dirigistische<br />

Elemente und keinerlei Anpassung<br />

an den Einparteienstaat enthalten.<br />

Wenn eine andere Welt nötig<br />

ist, dann muss sie individuelle Rechte,<br />

Pluralismus in der Parteipolitik, politische<br />

und wirtschaftliche Demokratie<br />

und nicht zuletzt Internationalismus<br />

<strong>als</strong> zentrale Werte enthalten. Das<br />

bedeutet auch eine Überwindung des<br />

engstirnigen Diskurses, der sowohl<br />

die neuen Liberalen <strong>als</strong> auch die neuen<br />

Linken auszeichnet.<br />

Mein Dank gilt Hidayat Greenfield und John<br />

Chan für ihre wertvollen Anmerkungen und<br />

Tom Mertes und Saul Thomas für ihr geduldiges<br />

Gegenlesen des Textes.<br />

Online-Veröffentlichung 4. April 2007. Für<br />

eine wesentlich kürzere, im August 2006 unter<br />

dem Titel „Chinese Nationalism and the<br />

,New Left‘“ veröffentlichte Fassung dieses<br />

Beitrags siehe http://www.europe-solidaire.<br />

org/spip.php?article3234.<br />

Aus dem Englischen: Tigrib<br />

inprekorr 458/459 49


NACHRUF<br />

André Fichaut (<strong>1928</strong>–2009)<br />

Jean-Michel Krivine<br />

André Fichaut, genannt „Max“, der<br />

seit vielen Jahren in der französischen<br />

trotzkistischen Bewegung aktiv war,<br />

ist am 29. Juni im Alter von 82 Jahren<br />

gestorben.<br />

Wie es in der Tageszeitung Ouest<br />

France hieß, war er „jemand aus<br />

Brest, der in der Arbeiterbewegung<br />

etwas bedeutet hat“. Eine sehr anziehende<br />

Persönlichkeit für diejenigen,<br />

die ihn gekannt haben, wegen seiner<br />

Wärme, seines Bestrebens, nützlich zu<br />

sein, und seiner Gastfreundschaft.<br />

Glücklicherweise hat er in einem<br />

Ende 2003 erschienenen kleinen Buch<br />

aus seinem Leben berichtet. 1 Ich<br />

möchte den letzten Abschnitt des Vor-<br />

1 André Fichaut, Sur le pont. Souvenirs d’un ouvrier<br />

trotskiste breton, Paris: Éditions Syllepse,<br />

2003. – 246 S., ISBN 2-84797-069-X.<br />

worts von meinem Bruder Alain zitieren:<br />

„Max ist ein politischer Aktivist,<br />

der den revolutionären Kampf,<br />

die Kumpel, die Natur und die Austern<br />

liebt, kurzum ein normaler politischer<br />

Mensch, der eine unnormale Gesellschaftsordnung<br />

umstürzen will. Er ist<br />

ein Arbeiter und jetzt auch ein Schriftsteller,<br />

und das findet er zum Kaputtlachen.“<br />

Er hat nie studiert und 1968 zum<br />

ersten Mal einen Fuß in ein Universitätsgebäude<br />

gesetzt … Er ist nacheinander<br />

Bauernjunge, Mechanikerlehrling<br />

in einer Autowerkstatt, Monteur<br />

auf der Werft Chantiers de Penhoët<br />

und dann 19 Jahre lang Mitarbeiter<br />

von EDF [Électricité de France, des<br />

noch staatlich dominierten Elektrizitätskonzerns]<br />

gewesen. Mit viel Verve<br />

berichtet er von diesen Perioden,<br />

in denen er gewerkschaftlich und politisch<br />

aktiv war.<br />

1944 trat er der CGT bei; den<br />

Trotzkisten schloss er sich erst 1949<br />

an, auch wenn er in der Jugendherbergsbewegung<br />

mehrere Jahre lang<br />

Seite an Seite mit ihnen aktiv war.<br />

Er beschwert sich übrigens darüber,<br />

dass sie ihn nie gefragt haben, ob er<br />

nicht zu ihnen kommen will, und ist<br />

der Meinung, das sei „eine angeborene<br />

Macke, es fällt ihnen noch heute<br />

schwer, das los zu werden“. Er beschränkte<br />

sich nicht auf die IV. Internationale;<br />

denn im Vorausblick auf<br />

den kommenden Krieg [einen dritten<br />

Weltkrieg] beschlossen der 3. und<br />

der 4. Kongress der Organisation die<br />

„entristische“ Taktik, eine Reihe von<br />

Mitgliedern traten der Französischen<br />

Kommunistischen Partei (PCF) bei.<br />

Max blieb 13 Jahre dabei und verließ<br />

sie erst nach 68; sein Austritt wurde<br />

nicht akzeptiert, stattdessen wurde er<br />

ausgeschlossen …<br />

1969 wurde er <strong>als</strong> Kandidat der Ligue<br />

communiste für der Präsidentschaftswahl<br />

vorgeschlagen (zu diesem<br />

Zeitpunkt war er noch in der PCF). Er<br />

lehnte ab und wurde durch Alain Krivine<br />

ersetzt. Ein Vierteljahrhundert lang<br />

gehörte er der Leitung der französischen<br />

trotzkistischen Organisation an.<br />

Max war nicht nur „national“ politisch<br />

aktiv. Er berichtet von der Hilfe,<br />

die er 1981 den polnischen RevolutionärInnen<br />

von Solidarność und 1989<br />

den Tschechen von der Charta 77 geleistet<br />

hat. In der bereits zitierten Zeitung<br />

aus Brest war zu lesen: „Im Europa<br />

des Eisernen Vorhangs hat dieser<br />

unermüdliche Aktivist, ein Liebhaber<br />

eines Wohnwagens mit eingebauten<br />

Verstecken, in Polen Konservendosen,<br />

die mit Exemplaren von Leo Trotzkis<br />

,Mein Leben‘ [in Wirklichkeit von<br />

<strong>Ausgabe</strong>n der polnischen Inprekor]<br />

gefüllt waren, oder in der Tschechoslowakei<br />

an Mitglieder der Charta 77<br />

Computer verteilt, die in Fernsehgeräten<br />

verborgen waren.“<br />

50 inprekorr 458/459


NACHRUF<br />

Er hatte aber noch weiter geblickt.<br />

Davon spricht er nicht in seinem Erinnerungsbuch,<br />

weil er zu jung war, um<br />

daran teilzunehmen; aber in Rouge hat<br />

er auf einer <strong>ganze</strong>n Seite über die Aktivität<br />

der TrotzkistInnen aus Brest innerhalb<br />

der deutschen Armee während<br />

des Kriegs berichtet. 2 Das war etwas<br />

Einmaliges, das nach der Befreiung<br />

hauptsächlich aufgrund des Einflusses<br />

der PCF mit Schweigen übergangen<br />

worden ist, sie wollte nicht zulassen,<br />

dass die „Hitler-Trotzkisten“ behaupten<br />

könnten, sie hätten Widerstand geleistet.<br />

Es hat nur von März bis Oktober<br />

1943 gedauert, etwa 15 deutsche<br />

Soldaten, von denen sich 7 oder<br />

8 zur IV. Internationale zählten, waren<br />

beteiligt. Sie gaben eine deutschsprachige<br />

Zeitung mit dem Titel Zeitung<br />

für Arbeiter und Soldat im Westen<br />

heraus 3 , im Oktober wurden sie<br />

2 André Fichaut, „Une résistance différente.<br />

Objectif: préparer la révolution“,<br />

in: Rouge, Nr. 2073, 15. Juli 2004, S. 5.<br />

Siehe auch: André Calvès, Sans bottes ni<br />

médailles. Un trotskyste breton dans la guerre,<br />

Montreuil: Éditions La Brèche, 1984.<br />

3 Von diesem hektographierten Bulletin erschienen<br />

vermutlich drei <strong>Ausgabe</strong>n; ein beschädigtes<br />

Exemplar ist reproduziert in Fac-similé de<br />

La Vérité clandestine (1940-1944), hrsg. von<br />

Jean-Michel Brabant, Michel Dreyfus, Jacqueline<br />

Pluet, Paris: EDI – Études et Documentation<br />

Internationales, 1978, S. 197/198.<br />

Martin Monat, genannt „Paul Widelin“ oder<br />

„Victor“ (1913–1944), und Paul Thalmann<br />

(1901–1980) brachten mit der französischen<br />

trotzkistischen Organisation drei hektographierte<br />

<strong>Ausgabe</strong>n von Arbeiter und Soldat mit<br />

dem Untertitel „Organ für proletarisch-revoluverhaftet.<br />

Max unterstreicht, dass sich<br />

die Erscheinungsformen des Kriegs<br />

und dessen Ergebnisse geändert hätten,<br />

wenn die PCF an Stelle der Politik,<br />

die in der Losung „A chacun son<br />

boche!“ (in etwa: „Jeder nimmt sich<br />

seinen Deutschmann vor!“) gipfelte,<br />

die Fraternisierung zwischen Arbeitern<br />

in oder ohne Uniform auf Massenebene<br />

organisiert hätte. Er schließt<br />

seinen Artikel mit der Bemerkung:<br />

„Und weil die letzten von denen, die<br />

an diesem Abenteuer beteiligt waren,<br />

die letzten, die über all dies von denen,<br />

die die Akteure und Akteurinnen<br />

gewesen sind, informiert waren, bald<br />

nicht mehr sein werden, so soll doch<br />

wenigstens irgendwo eine kleine Spur<br />

hinterlassen werden.“<br />

Lieber Max, von Deiner Anwesenheit<br />

unter uns wird eine große Spur<br />

bleiben, und wir werden dich nie vergessen!<br />

Übersetzung aus dem Französischen<br />

von Friedrich Dorn<br />

tionäre Sammlung, vierte Internationale“ heraus,<br />

die im Juli, August, September 1943 erschienen.<br />

Es folgten drei gedruckte <strong>Ausgabe</strong>n<br />

von Arbeiter und Soldat mit dem Untertitel<br />

„Organ des Bundes der Kommunisten-Internationalisten<br />

(Deutsche Sektion der vierten<br />

Internationale)“, die im April, Juni und Juli<br />

1944 erschienen. <strong>Die</strong>se Veröffentlichungen<br />

sind <strong>als</strong> Faksimiles nachgedruckt in Fac-similé<br />

de La Vérité clandestine, S. 182–195 (Anm.<br />

d. Übers.).<br />

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Systemveränderung – statt Klimawandel!<br />

Erklärung der TeilnehmerInnen des Klimaforum09 in Kopenhagen<br />

Zusammenfassung<br />

Es gibt Lösungen für die Klima-Krise. Was die Menschen<br />

und der Planet brauchen, ist eine gerechte und<br />

nachhaltige Veränderung unserer Gesellschaften in eine<br />

Form, die das Überleben aller Menschen sicherstellt<br />

und einen fruchtbaren Planeten und ein erfüllteres Leben<br />

für künftige Generationen ermöglicht.<br />

Wir, die TeilnehmerInnen, Communities und sozialen<br />

Organisationen des Klimaforum09 in Kopenhagen,<br />

rufen jede Person, Institution, Organisation und<br />

Regierung auf, zu dieser notwendigen Veränderung<br />

beizutragen. <strong>Die</strong>s wird keine leichte Aufgabe sein. <strong>Die</strong><br />

Krise von heute hat ökonomische, soziale, umweltabhängige,<br />

geopolitische und ideologische Aspekte, die<br />

einander in Hinblick auf die Klimakrise sowohl beeinflussen<br />

<strong>als</strong> auch verstärken. Deshalb fordern wir folgende<br />

dringende Klima-Maßnahmen:<br />

• <strong>Die</strong> vollständige Aufgabe fossiler Brennstoffe innerhalb<br />

der nächsten 30 Jahre. <strong>Die</strong>s erfordert Meilensteine<br />

für jede 5-Jahresperiode. Wir fordern eine<br />

unmittelbare Kürzung von Treibhausgas-Emissionen<br />

der industrialisierten Länder von mindestens<br />

40 % bis 2020 im Vergleich zum Niveau von 1990.<br />

• Anerkennung, Bezahlung und Ausgleich der Klimaschuld<br />

für die Überkonsumtion von Atmosphäre<br />

und der Wirkungen auf den Klimawandel gegenüber<br />

allen betroffenen Gruppen und Menschen.<br />

• Ablehnung von rein marktorientierten und technikzentrierten<br />

f<strong>als</strong>chen Lösungen wie Atomenergie,<br />

Agrotreibstoffen, Kohlenstoffbindung und -lagerung,<br />

Clean-Development-Mechanismen, Verkohlung<br />

von Biomasse, genmanipuliertem „klimaresistentem“<br />

Saatgut, geo-engineering und REDD (Reduktion<br />

von Emissionen aus Entwaldung und Schädigung<br />

von Wäldern), die soziale und Umweltkonflikte<br />

verschärfen.<br />

• Wirkliche Lösungen für die Klimakrise, basierend<br />

auf einer sicheren, sauberen, erneuerbaren und<br />

nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen<br />

sowie einer Wende zu Nahrungs-, Energie-, Landund<br />

Wassersouveränität.<br />

Deshalb fordern wir von der COP15 [Klimakonferenz],<br />

eine Einigung zu erreichen, die damit beginnt,<br />

das ökologische, soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht<br />

des Planeten wiederherzustellen, und zwar<br />

mit Mitteln, die in Hinblick auf die Umwelt, Gesellschaft<br />

und Wirtschaft nachhaltig und gerecht sind, um<br />

schließlich einen rechtlich verbindlichen Vertrag abzuschließen.<br />

<strong>Die</strong> schädlichen Folgen des vom Menschen verursachten<br />

Klimawandels bewirken eine massive Verletzung<br />

der Menschenrechte. <strong>Die</strong> Nationen haben eine<br />

Verpflichtung, international zusammenzuarbeiten,<br />

um überall auf der Welt die Achtung der Menschenrechte,<br />

entsprechend der Charta der Vereinten Nationen,<br />

sicherzustellen. Jede konkrete Vereinbarung über<br />

den Klimawandel muss im umfassenderen Zusammenhang<br />

gesehen werden, einen nachhaltigen Wechsel unserer<br />

Gesellschaften zu erreichen.<br />

Wir, die teilnehmenden Personen und Organisationen<br />

des Klimaforum09, verpflichten uns zu vollem<br />

und aktivem Engagement, einen derartigen Wandel<br />

voranzutreiben, der eine grundlegende Änderung der<br />

gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen<br />

Strukturen erfordert ebenso wie eine Beseitigung der<br />

Geschlechter-, Klassen-, Rassen-, Generationen- und<br />

ethnischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.<br />

<strong>Die</strong>s erfordert die Wiederherstellung von demokratischer<br />

Souveränität unserer lokalen Gemeinschaften<br />

<strong>als</strong> grundlegende, soziale, politische, und ökonomische<br />

Einheiten. Lokales und demokratisches Eigentum, die<br />

Kontrolle über und der Zugang zu natürlichen Ressourcen<br />

werden die Basis für die substantielle und nachhaltige<br />

Entwicklung von Gemeinschaften sein und gleichzeitig<br />

die Treibhausemissionen reduzieren. Wir ermutigen<br />

fairen und angemessenen Tausch von lokal angepassten<br />

Techniken und Ideen zwischen Norden und<br />

Süden und innerhalb der Regionen.<br />

Wir rufen jede besorgte Person, soziale Bewegung,<br />

kulturelle, politische oder wirtschaftliche Organisation<br />

auf, sich uns anzuschließen, um eine starke, weltweite<br />

Bewegung der Bewegungen aufzubauen, die die Visionen<br />

und Bedürfnisse der Menschen auf jeder Ebene<br />

der Gesellschaft vorwärts treiben kann. Gemeinsam<br />

können wir den globalen Wandel in eine nachhaltige<br />

Zukunft bewirken.<br />

18. Dezember 2009<br />

Vollständiger Text der Erklärung, Liste der unterzeichnenden Organisationen<br />

und weitere Informationen zum „Peoples Climate<br />

Summit“: http://www.klimaforum09.org/Declaration?lang=en<br />

Übersetzung: Wilfried Hanser-Mantl

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