Die ganze Ausgabe als PDF (1928 K) - Inprekorr
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INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ<br />
<strong>Die</strong> internationale Lage<br />
▶ Der gegenwärtige Stand<br />
der Krise<br />
▶ Eine neue Weltordnung?<br />
▶ <strong>Die</strong> Entwicklung der<br />
Linken und der Arbeiterbewegung<br />
in Europa<br />
▶ Ein antikapitalistisches<br />
Programm<br />
<strong>Die</strong> Frauen und die<br />
Zivilisationskrise<br />
Außerdem: Ökologie, Israel/Palästina,<br />
Iran, Pakistan, China ...<br />
Nr. 458/459 Januar/Februar 2010 € 4,–
IMPRESSUM<br />
<strong>Inprekorr</strong> ist das Organ der IV. Internationale<br />
in deutscher Sprache. <strong>Inprekorr</strong><br />
wird herausgegeben von der<br />
deutschen Sektion der IV. Internationale,<br />
von RSB und isl. <strong>Die</strong>s geschieht<br />
in Zusammenarbeit mit GenossInnen<br />
aus Österreich und der Schweiz und<br />
unter der politischen Verantwortung<br />
des Exekutivbüros der IV. Internationale.<br />
<strong>Inprekorr</strong> erscheint zweimonatlich<br />
(6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich<br />
gekennzeichnete Artikel geben nicht<br />
unbedingt die Meinung des herausgebenden<br />
Gremiums wieder.<br />
Konto: Neuer Kurs GmbH,<br />
Postbank Frankfurt/M.<br />
(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604<br />
Abonnements:<br />
Einzelpreis: € 4,–<br />
Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–<br />
Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–<br />
Solidarabo: ab € 30,–<br />
Sozialabo: € 12,–<br />
Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–<br />
Auslandsabo: € 40,–<br />
Website:<br />
http://inprekorr.de<br />
Ökologie<br />
COP 15: Scheitern des Gipfels, Sieg der Basis, Daniel Tanuro............................................3<br />
International<br />
<strong>Die</strong> internationale Lage, François Sabado............................................................................5<br />
Frauen<br />
<strong>Die</strong> Frauen und die Zivilisationskrise, IIRE-Frauen-Seminar.............................................14<br />
Israel/Palästina<br />
Ja zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel<br />
Eine Antwort auf Uri Avnery, Michel Warschawski.........................................................21<br />
Iran<br />
Wohin treibt die islamische Republik? Houshang Sepehr...................................................23<br />
Pakistan<br />
Pakistans Frauen leiden am meisten unter dem Klimawandel, Bushra Khaliq...................34<br />
China<br />
Nationalistische Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung, Au Loong-Yu .......37<br />
Nachruf<br />
André Fichaut (<strong>1928</strong>–2009), Jean-Michel Krivine..............................................................50<br />
Ökologie<br />
Systemveränderung – statt Klimawandel! Erklärung der TeilnehmerInnen des<br />
Klimaforum09 in Kopenhagen.........................................................................................52<br />
Redaktion:<br />
Michael Weis (verantw.), Birgit Althaler,<br />
Daniel Berger, Wilfried Dubois,<br />
Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul<br />
Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mertens<br />
E-Mail: Redaktion@inprekorr.de<br />
Satz: Grafikkollektiv Sputnik<br />
Verlag, Verwaltung & Vertrieb:<br />
<strong>Inprekorr</strong>, Hirtenstaller Weg 34,<br />
25761 Büsum,<br />
E-Mail: vertrieb@inprekorr.de<br />
Kontaktadressen:<br />
RSB,<br />
Revolutionär Sozialistischer Bund<br />
Postfach 10 26 10,<br />
68026 Mannheim<br />
isl, internationale sozialistische linke<br />
Regentenstr. 75–59, D-51063 Köln<br />
SOAL, Sozialistische Alternative<br />
office@soal.at<br />
<strong>Inprekorr</strong>, Güterstr. 122,<br />
CH-4053 Basel<br />
Eigentumsvorbehalt: <strong>Die</strong> Zeitung bleibt<br />
Eigentum des Verlags Neuer Kurs<br />
GmbH, bis sie dem/der Gefangenen<br />
persönlich ausgehändigt ist.<br />
„Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche<br />
Aushändigung im Sinne des<br />
Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeitschrift<br />
dem/der Gefangenen nicht<br />
persönlich ausgehändigt, ist sie dem<br />
Absender unter Angabe der Gründe<br />
der Nichtaushändigung umgehend<br />
zurückzusenden.<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
in der letzten <strong>Ausgabe</strong> hat sich ein bedauerlicher Übersetzungsfehler eingeschlichen,<br />
auf den ein Leser hingewiesen hat. Auf Seite 39 muss es statt „à<br />
la Keynes wie in den ‚glorreichen 30er Jahren‘“ heißen: „die glorreichen 30<br />
Jahre von 1945 bis 1975“.<br />
Aus Platzgründen können wir einige Beiträge – darunter den Entwurf für eine<br />
Resolution des nächsten Weltkongress der IV. Internationale zum Klimawandel<br />
und weitere Nachrufe – nur online veröffentlichen, wir verweisen interessierte<br />
LeserInnen auf die Website (http://www.inprekorr.de).<br />
Eure Redaktion<br />
Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:<br />
Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507<br />
Postbank Köln (BLZ 370 100 50)<br />
2 inprekorr 458/459
Ökologie<br />
COP 15: Scheitern des Gipfels,<br />
Sieg der Basis<br />
Daniel Tanuro<br />
Es war davon auszugehen, dass die<br />
Gipfelkonferenz der Vereinten Nationen<br />
nicht zu einem neuen internationalen<br />
Vertrag führen würde, sondern zu<br />
einer bloßen Absichtserklärung – einer<br />
mehr. Aber der Text, der am Ende der<br />
Versammlung verabschiedet worden<br />
ist, ist schlimmer <strong>als</strong> alles, was man<br />
sich vorstellen konnte: keine bezifferten<br />
Ziele der Emissionsverringerung,<br />
kein Bezugsjahr für die Messungen,<br />
keine Frist, kein Datum!<br />
Der Text enthält ein vages Versprechen,<br />
dass die Entwicklungsländer für<br />
die Umstellung 100 Milliarden Dollar<br />
pro Jahr erhalten werden, aber die Formulierungen<br />
und verschiedene Kommentare<br />
lassen befürchten, dass es sich<br />
um Anleihen handeln soll, die von den<br />
großen Finanzinstitutionen verwaltet<br />
werden sollen, und nicht um Reparationen,<br />
die von den Verantwortlichen für<br />
die Verschmutzung bezahlt werden.<br />
Das Dokument ist völlig inkohärent.<br />
<strong>Die</strong> Staats- und Regierungschefs<br />
erkennen an, dass „der Klimawandel<br />
eine der größten Herausforderungen<br />
unserer Zeit“ darstellt, aber am Ende<br />
der 15. Konferenz dieser Art sind sie<br />
nach wie vor nicht fähig, irgendeine<br />
konkrete Maßnahme zu ergreifen, um<br />
dem gerecht zu werden. Sie geben zu<br />
(das ist eine Premiere!), dass es notwendig<br />
ist, „unter 2° C“ Temperaturerhöhung<br />
zu bleiben, und dass deshalb<br />
„drastische Verminderungen“ (deep<br />
cuts) der Emissionen „gemäß dem<br />
vierten Bericht des IPCC“ notwendig<br />
sind; sie sind jedoch nicht imstande,<br />
die mit Zahlen versehenen Schlussfolgerungen<br />
der Klimatologen zu übernehmen:<br />
mindestens 40 % Verminderung<br />
bis 2020 und 95 % Verminderung<br />
bis 2050 in den entwickelten Ländern.<br />
Emphatisch betonen sie ihren „starken<br />
politischen Willen“, an der Verwirklichung<br />
dieses Ziels“ (weniger <strong>als</strong> 2° C<br />
Temperaturerhöhung) mitzuarbeiten,<br />
sie haben jedoch nichts mehr anzubieten<br />
<strong>als</strong> ein Luftschloss: Jedes einzelne<br />
Land teilt den anderen bis zum<br />
1. Februar 2010 mit, was es zu tun gedenkt.<br />
Ein Fetzen Papier<br />
<strong>Die</strong> Großen dieser Welt, die in der Falle<br />
des Medien-Hype saßen, den sie selber<br />
angezettelt hatten, standen im Licht der<br />
Scheinwerfer und hatten nichts anderes<br />
vorzuzeigen <strong>als</strong> ihre lumpigen Rivalitäten.<br />
Also haben die Vertretungen von<br />
26 großen Ländern die NGOs hinausgeworfen,<br />
die kleinen Staaten weggeschickt<br />
und am jämmerlichen Ende einen<br />
Text in die Welt gesetzt, dessen<br />
Hauptziel es ist, glauben zu machen,<br />
es säße ein politischer Pilot im Flugzeug.<br />
Es gibt aber keinen Piloten. Oder<br />
vielmehr handelt es sich bei dem einzigen<br />
Piloten um einen automatischen:<br />
die Jagd der kapitalistischen Konzerne,<br />
die im Konkurrenzkrieg um die Weltmärkte<br />
liegen, nach Profit. Der Kandidat<br />
Obama und die Europäische Union<br />
hatten Stein und Bein geschworen,<br />
die Unternehmen würden ihre Emissionsrechte<br />
bezahlen müssen. Nichts da!<br />
<strong>Die</strong> meisten haben sie am Ende kostenlos<br />
bekommen und machen damit Gewinn,<br />
indem sie sie weiterverkaufen<br />
und dem Konsumenten in Rechnung<br />
stellen! Alles Übrige ist für später mal.<br />
Finger weg von der Kohle, so lautet die<br />
Devise.<br />
Das Unvermögen dringt aus allen<br />
Poren dieser sogenannten Vereinbarung.<br />
Unter 2° C bleiben, das geht nicht<br />
per Dekret. Sofern es überhaupt noch<br />
möglich ist, gibt es drastische Bedingungen,<br />
die eingehalten werden müssen.<br />
Dazu gehört definitiv ein geringerer<br />
Energieverbrauch, <strong>als</strong>o weniger<br />
Umwandlung und Transport von Materie.<br />
Es muss weniger für zahlungsfähige<br />
Nachfrage produziert werden. Zugleich<br />
müssen die menschlichen Bedürfnisse<br />
befriedigt werden, vor allem<br />
in den armen Ländern. Wie soll das<br />
geschehen? Das ist die zentrale Frage.<br />
Sie ist nicht so schwer zu beantworten.<br />
Man könnte die Produktion von Waffen<br />
abschaffen, die <strong>Ausgabe</strong>n für Werbung<br />
streichen, auf eine <strong>ganze</strong> Reihe<br />
von unnützen Fabrikaten, Aktivitäten<br />
und Transporten verzichten. Doch dies<br />
würde dem kapitalistischen Produktivismus<br />
und dem Wettlauf um Profit,<br />
der auf Wachstum angewiesen ist, zuwiderlaufen.<br />
Sakrileg! Tabu!<br />
Und das Ergebnis der <strong>ganze</strong>n Veranstaltung?<br />
Während die weltweiten<br />
Emissionen von jetzt bis 2050 um<br />
mindestens 80 % zurückgehen müssen<br />
und während die entwickelten Länder<br />
für über 70 % der Erderwärmung verantwortlich<br />
sind, ist die einzige konkrete<br />
Maßnahme, die in der Vereinbarung<br />
zu finden ist, ein Stopp der Abholzung<br />
…, was nur den Süden betrifft<br />
und 17 % der Emissionen ausmacht.<br />
Ein ökologischer Fortschritt? Nichts<br />
dergleichen! Der „Schutz“ der Tropenwälder<br />
(durch Vertreibung der in ihnen<br />
lebenden Bevölkerung!) ist für die<br />
Verschmutzer das billigste Mittel, um<br />
das Recht auf Weiterproduzieren (von<br />
Waffen, Werbung usw.) und Weiterverschmutzen<br />
zu kaufen …, <strong>als</strong>o durch<br />
die Erwärmung die Wälder weiter zu<br />
zerstören. Auf diese Weise lässt das<br />
Gesetz des Profits alles verderben, was<br />
mit ihm in Berührung kommt, und verwandelt<br />
alles ins Gegenteil.<br />
Sieg der Basis<br />
Glücklicherweise bedeutet Kopenhagen<br />
nicht nur das Scheitern auf der<br />
<strong>ganze</strong>n Linie, sondern auch einen großartigen<br />
Sieg der Basis. Zu der internationalen<br />
Demonstration am Samstag,<br />
den 12. Dezember, sind etwa 100 000<br />
Menschen zusammengekommen. <strong>Die</strong><br />
einzige so große Mobilisierung zu diesem<br />
Thema waren die Demonstrationszüge,<br />
an denen sich im November<br />
2007 in mehreren australischen Städten<br />
200 000 Bürger und Bürgerinnen<br />
inprekorr 458/459 3
Ökologie<br />
beteiligten. Das war aber eine Mobilisierung<br />
in einem Land, das die Auswirkungen<br />
der Erderwärmungen bereits<br />
mit voller Wucht abbekommt; das<br />
ist in den europäischen Ländern, aus<br />
denen die meisten DemonstrantInnen<br />
gekommen sind, (noch) nicht der Fall,<br />
die in der nordeuropäischen Hauptstadt<br />
unter der Losung „Planet first,<br />
people first“ auf die Straße gegangen<br />
sind. In Anbetracht der totalen Unfähigkeit<br />
der Regierungen und in Anbetracht<br />
der Wirtschafts-Lobbies, die<br />
verhindern, dass Maßnahmen zur Stabilisierung<br />
des Klimas in sozialer Gerechtigkeit<br />
ergriffen werden, verstehen<br />
immer mehr EinwohnerInnen, dass die<br />
von den SpezialistInnen angekündigten<br />
Katastrophen nur durch einen radikalen<br />
Politikwechsel verhindert werden<br />
können.<br />
Kopenhagen ist ein Symbol für<br />
diesen Wandel des Bewusstseins. Er<br />
kommt in der Beteiligung von sozialen<br />
Akteuren zum Ausdruck, die sich noch<br />
vor kurzem nicht mit ökologischen<br />
Fragen befasst bzw. ihnen misstrauisch<br />
gegenüber gestanden haben: Frauenorganisationen,<br />
Bauernbewegungen,<br />
Gewerkschaften, Nord-Süd-Solidaritätsorganisationen,<br />
Friedensbewegungen,<br />
globalisierungskritische Verbände<br />
usw. Eine zentrale Rolle spielen<br />
die indigenen Völker, die mit ihrem<br />
Kampf gegen die Zerstörung der Wälder<br />
(unter einem Kräfteverhältnis wie<br />
dem zwischen David und Goliath) sowohl<br />
den Widerstand gegen die Diktatur<br />
des Profits <strong>als</strong> auch die Möglichkeit<br />
eines anderen Verhältnisses zwischen<br />
Menschheit und Natur symbolisieren.<br />
<strong>Die</strong>sen Kräften ist gemeinsam, dass sie<br />
stärker auf kollektives Handeln <strong>als</strong> auf<br />
Lobbyarbeit, die den großen Umweltverbänden<br />
so wichtig ist, setzen. Dass<br />
diese Kräfte nun auf die Bühne treten,<br />
verschiebt den Schwerpunkt radikal.<br />
Von nun an wird sich der Kampf für<br />
einen ökologisch wirkungsvollen und<br />
sozial gerechten internationalen Vertrag<br />
auf der Straße abspielen – nicht<br />
mehr in den Fluren der Gipfelkonferenzen,<br />
und es wird eine gesellschaftliche<br />
Auseinandersetzung sein – nicht<br />
mehr eine Debatte unter Experten und<br />
Expertinnen.<br />
Während der offizielle Gipfel einen<br />
Fetzen Papier zur Welt gebracht<br />
hat, haben die gesellschaftliche Mobilisierung<br />
und der Gegengipfel die politischen<br />
Grundlagen für die Aktivitäten<br />
der nächsten Monate gelegt: „Change<br />
the system, not the climate“, „Planet<br />
not profit“, „bla bla bla Act Now“,<br />
„Nature doesn’t compromise“, „Change<br />
the Politics, not the climate“, „There<br />
is no PLANet B“. Trotz der Grenzen<br />
(vor allem in Bezug auf die Vereinten<br />
Nationen) ist die Erklärung des Klimaforum09<br />
ein gutes Dokument, in dem<br />
der Kohlenwasserstoffhandel, der Klima-Neokolonialismus<br />
und die Kompensation<br />
(„offsetting“) von Emissionen<br />
durch Anpflanzung von Bäumen<br />
oder anderer technischer Humbug<br />
abgelehnt werden. Immer mehr<br />
Menschen verstehen, dass die Beeinträchtigung<br />
des Klimas nicht auf „die<br />
menschliche Tätigkeit“ im Allgemeinen,<br />
sondern auf eine nicht haltbare<br />
Produktionsweise und Art des Konsumierens<br />
zurückgeht. Und sie ziehen<br />
daraus die logische Schlussfolgerung:<br />
<strong>Die</strong> Rettung des Klimas kann nicht<br />
nur von einer Veränderung des individuellen<br />
Verhaltens herrühren, es erfordert<br />
vielmehr tiefgehende strukturelle<br />
Änderungen. Es geht darum, die Jagd<br />
nach Profit auf den Anklagestuhl zu<br />
setzen; denn sie zieht unausweichlich<br />
das exponentielle Wachstum der Produktion,<br />
der Verschwendung und des<br />
Transports von Materie, <strong>als</strong>o Emissionen<br />
nach sich.<br />
Zwei entgegengesetzte<br />
Logiken<br />
Ist das Scheitern des Gipfels eine Katastrophe.<br />
Ganz im Gegenteil, das ist<br />
eine exzellente Nachricht. Denn es ist<br />
an der Zeit, dass die Erpressung aufhört,<br />
wonach im Gegenzug zu weniger<br />
Emissionen angeblich mehr Neoliberalismus,<br />
mehr Markt notwendig<br />
wäre. Eine exzellente Nachricht, weil<br />
der Vertrag, den die Regierungen abschließen<br />
könnten, ökologisch unzureichend,<br />
sozial kriminell und technisch<br />
gefährlich wäre: Er würde ein<br />
Ansteigen der Temperatur um zwischen<br />
3,2 und 4,9° C, ein Ansteigen<br />
des Meeresspiegels der Ozeane um<br />
(mindestens) 60 cm bis 2,9 Meter und<br />
eine Flucht nach vorn in Zauberlehrlings-Technologien<br />
(Atomkraft, Biotreibstoffe,<br />
genmanipulierte Organismen<br />
und „saubere Kohle“ mit geologischer<br />
Lagerung von Milliarden Tonnen<br />
CO 2 ) bedeuten. Hauptsächlich<br />
Hunderte Millionen von Armen wären<br />
die Opfer. Eine exzellente Nachricht,<br />
weil dieses Scheitern die Illusion<br />
verfliegen lässt, die „internationale<br />
Zivilgesellschaft“ könne auf dem Weg<br />
der „good governance“, und indem alle<br />
„stakeholders“ einbezogen werden,<br />
einen Klimakonsens unter den antagonistischen<br />
sozialen Interessen finden.<br />
Es ist höchste Zeit zu begreifen,<br />
dass es für den Ausstieg aus den fossilen<br />
Brennstoffen nur zwei entgegengesetzte<br />
Logiken gibt: eine, die einen<br />
blind von Profit und Konkurrenz gelenkten<br />
Übergang bedeutet und uns<br />
direkt vor die Wand fahren lässt, und<br />
eine, die eine bewusste und demokratische<br />
Planung entsprechend der sozialen<br />
und ökologischen Bedürfnisse,<br />
unabhängig von den Kosten, <strong>als</strong>o bei<br />
Rückgriff auf den öffentlichen Sektor<br />
und Umverteilung des Reichtums, bedeutet.<br />
<strong>Die</strong>ser alternative Weg ist der<br />
einzige, der es ermöglicht, eine Katastrophe<br />
zu vermeiden.<br />
Der König ist nackt. Das System ist<br />
unfähig, auf das gigantische Problem,<br />
das es geschaffen hat, anders zu antworten<br />
<strong>als</strong> durch irreparable Schäden,<br />
die es der Menschheit und der Natur<br />
aufbürdet. Damit das vermieden wird,<br />
stehen breiteste Mobilisierungen an.<br />
Wir alle sind betroffen. <strong>Die</strong> Erwärmung<br />
des Planeten ist weit mehr <strong>als</strong><br />
eine „Umweltfrage“: Sie ist eine enorme<br />
soziale, ökonomische, humane<br />
und ökologische Bedrohung, die objektiv<br />
eine ökosozialistische Alternative<br />
notwendig macht. Der Kapitalismus<br />
<strong>als</strong> System hat seine Grenzen<br />
überschritten. Seine Fähigkeit zu sozialer<br />
und ökologischer Zerstörung<br />
übersteigt sein Fortschrittspotential<br />
deutlich. <strong>Die</strong>se Feststellung sollte dazu<br />
beitragen, dass die Kämpfe für eine<br />
andere Gesellschaft zusammenfließen.<br />
<strong>Die</strong> Demonstranten und Demonstrantinnen<br />
in Kopenhagen haben den Weg<br />
gezeigt. Sie fordern uns auf, sich ihnen<br />
in der Aktion anzuschließen: „Act<br />
now. Planet, not profit. Nature doesn’t<br />
compromise.“<br />
19. Dezember 2009<br />
Aus dem Französischen übersetzt von<br />
Friedrich Dorn.<br />
4 inprekorr 458/459
INTERNATIONAL<br />
<strong>Die</strong> internationale Lage<br />
Der folgende Bericht steht im Zusammenhang mit den beiden Berichten,<br />
die auf der Sitzung des erweiterten Exekutivbüros am 15.<br />
November 2008 und des Internationalen Komitees vom 21. bis 24.<br />
Februar 2009 gehalten wurden, 1 und wurde auf einer Sitzung des<br />
Exekutivbüros am 17.9.2009 vorgestellt und diskutiert.<br />
François Sabado<br />
1. Der gegenwärtige Stand<br />
der Krise<br />
<strong>Die</strong> internationale Lage wird weiterhin<br />
durch die globale Krise bestimmt,<br />
die <strong>als</strong> kombinierte Wirtschafts-, Gesellschafts-,<br />
Umwelt- und Nahrungsmittelkrise<br />
die kapitalistische Welt<br />
erschüttert. Ungeachtet jeden Geschwätzes<br />
vom „Ende der Rezession“<br />
oder vom „Ausstieg aus der Krise“<br />
bestimmen unverändert grundlegende<br />
Widersprüche den Alltag der<br />
Weltwirtschaft und führen zur Verstetigung<br />
der Krise, massiver Arbeitslosigkeit,<br />
wachsender Armut (mehr <strong>als</strong><br />
eine Milliarde Menschen leben unterhalb<br />
der Armutsschwelle) und drohenden<br />
Umweltkatastrophen von immer<br />
größerem Ausmaß.<br />
Für den Norden Amerikas und für<br />
Europa bedeutet eine solche „kleine<br />
Erholung“ eher eine Verlangsamung<br />
der Krise. Geschuldet ist dies in erster<br />
Linie massiven Staatsinterventionen,<br />
die das internationale Bankensystem<br />
wieder in Gang gebracht haben und<br />
damit auch das erneute Anschwellen<br />
der Spekulationsblase, und den Auswirkungen<br />
sogenannter „sozialer Stabilisatoren“,<br />
d.h. öffentlicher Hilfsund<br />
Sozi<strong>als</strong>icherungsinstrumente, die<br />
v.a. in Westeuropa zum Tragen kamen.<br />
Hinzu kamen Notlösungen wie<br />
die Beihilfen etwa für die Anschaffung<br />
von Autos.<br />
Durch diese massive und z. T. koordinierte<br />
Intervention der Staaten fiel<br />
die Krise auch bisher verhalten aus,<br />
und darin liegt auch der große Unterschied<br />
zur Weltwirtschaftskrise Anfang<br />
der 30er Jahre.<br />
1.2 Das Fortschreiten der Krise<br />
Sobald aber die stimulierende Wirkung<br />
dieser weltweiten staatlichen<br />
Stützungsmaßnahmen verpufft ist,<br />
steht die Wirtschaft erneut vor einer<br />
Reihe konjunktureller und struktureller<br />
Probleme.<br />
Auf kurze Sicht stehen die Staaten<br />
und Regierungen vor einer Explosion<br />
der öffentlichen Verschuldung, und<br />
die Banken haben noch immer keinen<br />
Überblick über den Umfang der „toxischen<br />
Papiere“ in ihren Büchern und<br />
verfügen kaum über saubere Fonds.<br />
Somit gibt es noch mehr toxische<br />
Wertpapiere <strong>als</strong> bisher abgeschrieben<br />
worden sind. Das Zusammenspiel einer<br />
neuerlichen Spekulationsspirale<br />
mit dem Aufkommen neuer toxischer<br />
Wertpapiere kann erneut zu einem<br />
Börsencrash führen mit den entsprechenden<br />
Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft.<br />
Außerdem werden Ar-<br />
1.1 „Ausstieg aus der Krise“?<br />
Analysen über die unmittelbaren konjunkturellen<br />
Entwicklungen der anhaltenden<br />
Krise des globalisierten Kapitalismus<br />
sind mit einer Reihe von<br />
Unsicherheitsfaktoren behaftet. Fest<br />
steht, dass sich die Weltwirtschaftskrise<br />
verlangsamt hat. Nach einer generellen<br />
Rezession, die in den USA und<br />
Europa zu negativen Wachstumsraten<br />
von 3–4 % und weltweit 1–1,5 % geführt<br />
hat, gehen die Vorhersagen des<br />
IWF von einer „leichten Erholung“<br />
mit Wachstumsraten von 3 % aus. <strong>Die</strong>se<br />
Vorhersagen basieren überwiegend<br />
auf einem Wiederaufschwung in<br />
den asiatischen Schwellenländern, der<br />
– freilich nicht unwidersprochen – auf<br />
7 % taxiert wird, während für die USA<br />
ein eher bescheidenes Wachstum von<br />
1,5 % und für die Eurozone gar nur<br />
0,3 % angenommen werden.<br />
1 Der erste der beiden Berichte findet sich auf<br />
Deutsch in <strong>Inprekorr</strong> 446/7 („<strong>Die</strong> Folgen der<br />
Krise“)<br />
Durch die massive Intervention der Staaten fiel die Krise bisher verhalten aus, und darin liegt<br />
auch der große Unterschied zur Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre.<br />
inprekorr 458/459 5
INTERNATIONAL<br />
beitslosigkeit und Prekarisierung mit<br />
all ihren verheerenden sozialen Konsequenzen<br />
weiter zunehmen und die<br />
sozialen Kräfteverhältnisse belasten.<br />
In struktureller Hinsicht bleibt die<br />
Lage paradox: Einerseits steckt das<br />
neoliberale System in einer ideologischen<br />
Krise, andererseits wird weiterhin<br />
in großen Zügen kapitalistische<br />
Politik betrieben und werden die gleichen<br />
Widersprüche reproduziert. Das<br />
Ausmaß der Krise zwingt die herrschenden<br />
Klassen zu einer neuen Offensive<br />
gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
von Millionen von<br />
ArbeiterInnen.<br />
1.3 <strong>Die</strong> Vertiefung der Widersprüche<br />
der neoliberalen Akkumulationsweise<br />
Ende der 70er Jahre setzte sich eine<br />
neue kapitalistische Akkumulationsweise<br />
durch, um die in den 60er und<br />
70er Jahren gefallene Profitrate wiederherzustellen.<br />
Nachdem die ArbeiterInnen<br />
eine Reihe von Niederlagen erlitten<br />
hatten, war es möglich, den Anteil<br />
der Löhne am Mehrwert zu senken,<br />
die Ausbeutungsrate unter verschärften<br />
Bedingungen zu erhöhen,<br />
die Privatisierung der öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nste zu verallgemeinern, die Deregulierung<br />
der sozialen Verhältnisse<br />
durchzusetzen, die öffentlichen <strong>Ausgabe</strong>n<br />
zu kürzen und die strukturellen<br />
Anpassungspläne in den Entwicklungsländern<br />
aufzuzwingen. All dies<br />
geschah vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />
der Märkte und der Schaffung<br />
und schrittweisen Vereinheitlichung<br />
eines internationalen Marktes<br />
der Arbeitskraft, auf dem die ArbeiterInnen<br />
untereinander konkurrieren.<br />
Dadurch wuchsen die Profite, aber<br />
nicht die Investitionen in die Produktion,<br />
wie alle Statistiken belegen. Stattdessen<br />
strebten diese Profite nach rentableren<br />
Anlagen und somit in die Finanzprodukte.<br />
Daher rührt auch der<br />
industrielle Verfall <strong>ganze</strong>r Sektoren<br />
und Regionen im Norden Amerikas<br />
und in Europa, mitunter einhergehend<br />
mit der Verlagerung vorwiegend nach<br />
Asien und besonders nach China, das<br />
inzwischen zur „Werkstatt der Welt“<br />
geworden ist. Damit verallgemeinerte<br />
sich die Hoheit des Finanzsystems in<br />
der Weltwirtschaft, und das bereits<br />
vorhandene „fiktive Kapital“ wuchs<br />
ins Unendliche. Auf diesem Wege<br />
wurden zugleich in den Zentren der<br />
Weltwirtschaft, den USA und Europa,<br />
geeignete Instrumente geschaffen, die<br />
eine wachsende öffentliche und private<br />
Verschuldung erlaubten.<br />
Und eben diese Strategie öffentlicher<br />
und privater Verschuldung<br />
konnte eine Zeit lang diese Verzerrungen<br />
kompensieren – bis zum Ausbruch<br />
der Krise. <strong>Die</strong> Verschuldung der<br />
Haushalte ermöglichte einen ungebrochenen<br />
Konsum trotz sinkender Löhne.<br />
<strong>Die</strong> Verschuldung der fortgeschrittenen<br />
kapitalistischen Länder – allen<br />
voran der USA – sicherte ihnen eine<br />
Existenz auf Pump trotz schwindender<br />
industrieller Basis. <strong>Die</strong> weltweite Krise<br />
wurde durch die Verschuldung aufgeschoben<br />
… bis 2007/8.<br />
Zuletzt hatten sich diese Instrumente<br />
verbraucht durch eine massive<br />
Entwertung der Vermögenswerte oder<br />
der produktiven Sektoren infolge von<br />
Pleiten und Umstrukturierungen von<br />
Banken, Entlassungen und Unternehmensschließungen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>ganze</strong> Entwicklung der Krise<br />
und ihrer Mechanismen bestätigt einmal<br />
mehr, dass es sich nicht um eine<br />
bloße Finanz- oder Bankenkrise handelt,<br />
sondern um eine globale Krise<br />
des kapitalistischen Systems infolge<br />
des Verfalls aller Instrumente, die Ende<br />
der 70er und Anfang der 80er Jahre<br />
zur Wiederherstellung der Profitrate<br />
geschaffen worden waren.<br />
1.4 Eine neue Offensive des Kapit<strong>als</strong>:<br />
„Alles wie gehabt, jedenfalls<br />
beinahe und vielleicht<br />
noch schlimmer“<br />
Während einer Krise spitzt sich der<br />
Konflikt zwischen Arbeit und Kapital<br />
zu. Für die herrschenden Klassen geht<br />
es darum, die Krise im Griff zu halten<br />
und dabei die Interessen des Kapit<strong>als</strong><br />
und besonders des Finanzkapit<strong>als</strong><br />
zu wahren. Obwohl das System<br />
nicht mehr wie zuvor funktionieren<br />
kann, zwingt die Wahrung der kapitalistischen<br />
Interessen die Regierungen,<br />
dieselbe Politik zu betreiben und dabei<br />
sogar noch weiter zu gehen.<br />
Sicherlich sind im Rahmen des<br />
G20-Gipfels Initiativen proklamiert<br />
worden, die die Steuerparadiese „kontrollieren“<br />
und die Funktionsweise<br />
des Bankensystems „eingrenzen“ sollen,<br />
um die Mittel des IWF zu „mehren“,<br />
bankrotte Länder wirtschaftlich<br />
wieder auf die Beine zu stellen. Insofern<br />
hat die Wirtschaftskrise zu einer<br />
Legitimationskrise des Systems geführt<br />
und Schön-Wetter-Redner auf<br />
den Plan gerufen, die den Kapitalismus<br />
auf eine „moralische Grundlage<br />
stellen“ wollen. Aber zwischen Wollen<br />
und Handeln liegen Welten.<br />
<strong>Die</strong> Banken haben von der Krise<br />
und den öffentlichen Beihilfen insofern<br />
profitiert, <strong>als</strong> sie ihre Gewinne zu<br />
Lasten der Kreditgewährung, die eigentlich<br />
Ziel der öffentlichen Hilfen<br />
war, weiter gemehrt haben. <strong>Die</strong> Banker<br />
bedienen sich dabei derselben Methoden<br />
wie zuvor (Finanzprodukte,<br />
Rohstoffe und rohstoffgebundene Devisen)<br />
und setzen damit eine neue Spekulationsspirale<br />
in Gang.<br />
Letztlich gilt das Bestreben der<br />
Kapitalisten in der gegenwärtigen Krise,<br />
die sozialen und demokratischen<br />
Rechte weiter einzuengen, um die<br />
Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu<br />
mehren und in Ruhe weiter Coupons<br />
schneiden zu können. Hierbei helfen<br />
ihnen die Regierungen der kapitalistischen<br />
Länder, deren Politik darauf<br />
ausgerichtet ist, die Lasten der Krise<br />
auf die ArbeiterInnen und (unterdrückte)<br />
Völker abzuwälzen:<br />
• <strong>Die</strong> sprunghaft gestiegene Verschuldung<br />
wird durch Steuererhöhungen<br />
und Minderung der öffentlichen<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finanziert werden.<br />
<strong>Die</strong> einfache Bevölkerung wird<br />
in beiden Fällen der Leidtragende<br />
sein.<br />
• <strong>Die</strong> Umstrukturierungen der Großkonzerne<br />
wird mit Millionen von<br />
Arbeitslosen, zunehmender Prekarisierung<br />
und Ausweitung der Flexibilisierung<br />
jedweder Form einhergehen.<br />
<strong>Die</strong> Frauen werden von<br />
der Krise besonders betroffen<br />
sein. Nach Angaben der ILO werden<br />
22 Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz<br />
verlieren. Sie sind die ersten,<br />
die von den massiven Entlassungen<br />
im <strong>Die</strong>nstleistungs-, Gesundheits-<br />
und Bekleidungsgewerbe<br />
erfasst werden. Ausschulung,<br />
Arbeitsplatzverlust und Verarmung<br />
drohen den Frauen <strong>als</strong> vordersten<br />
Opfern der weltweiten Rezession.<br />
<strong>Die</strong> Krise dient dazu, die Kosten zu<br />
senken, die Produktivität zu mehren,<br />
Arbeitsabläufe zu „optimieren“<br />
und die Märkte neu zu gestalten.<br />
Von 2006 börsennotierten europäischen<br />
Unternehmen haben 126<br />
6 inprekorr 458/459
INTERNATIONAL<br />
insgesamt 146 Sozialpläne zwischen<br />
Januar 2007 und März 2009<br />
ausgesprochen. <strong>Die</strong> Prognosen für<br />
die OECD-Länder belaufen sich<br />
auf ca. 25 Millionen Arbeitslose für<br />
2009 und 2010.<br />
• Der Druck auf die Löhne bleibt ungemein<br />
hoch. <strong>Die</strong> „Konjunkturmaßnahmen“<br />
beliefen sich überwiegend<br />
auf Banken- und Investitionsbeihilfen,<br />
d.h. zugunsten der Unternehmen<br />
und nicht der Lohnerhöhungen.<br />
In manchen Sektoren oder<br />
Ländern gibt es sogar vereinte politische<br />
Bestrebungen zur Lohnsenkung,<br />
wie im Öffentlichen <strong>Die</strong>nst<br />
in den baltischen Ländern oder in<br />
Rumänien und in Island.<br />
• <strong>Die</strong> Privatisierungen werden aufrecht<br />
erhalten, abgesehen von wenigen<br />
Ausnahmen wie der Sozialversicherung<br />
in Argentinien oder<br />
der Post in Japan.<br />
<strong>Die</strong> Steuerparadiese, die die USA und Europa in einigen Ländern und Fürstentümern sprießen<br />
lassen, müssen abgeschafft werden.<br />
Damit sind gut ein Jahr nach Ausbruch<br />
der Krise zugleich alle Diskussionen<br />
über mögliche Konjunkturprogramme<br />
à la Keynes obsolet, was eine<br />
Belebung der Nachfrage durch<br />
Lohnerhöhungen, Ausbau des Öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nstes und der sozialen Absicherung<br />
bedeutet hätte. <strong>Die</strong> Kontrolle<br />
über die englischen Banken ist<br />
weit von dem Verstaatlichungsprozess<br />
nach 1945 entfernt. Es gab wohl staatliche<br />
Interventionen – ein „neoliberaler<br />
Etatismus“ – um die Kapitalinteressen<br />
angesichts der Krise zu wahren,<br />
aber keine globale neokeynesianische<br />
Politik, die unter den aktuellen<br />
Bedingungen und Kräfteverhältnissen<br />
zwischen den Klassen für die herrschenden<br />
Klassen auch gar nicht zur<br />
Diskussion steht.<br />
<strong>Die</strong> Aussicht, die Profitraten nach<br />
der Krise wieder herzustellen, veranlasst<br />
unter den gegebenen gesellschaftlichen<br />
und politischen Kräfteverhältnissen<br />
die Industriekapitäne<br />
und die Hochfinanz dazu, den<br />
Druck auf die ArbeiterInnen zu erhöhen<br />
und die gesamte Produktion<br />
und Wirtschaftsorganisation dem<br />
Streben nach immer höheren Profiten<br />
unterzuordnen. <strong>Die</strong> Jagd nach immer<br />
höherer Rentabilität für das Kapital<br />
führt zwangsläufig zu Lohnsenkung,<br />
sprunghaftem Anstieg der Prekarität,<br />
Abbau öffentlicher <strong>Die</strong>nste<br />
und zur Ausrichtung der Wirtschaft<br />
auf Kommerzialisierung und Finanzmärkte.<br />
<strong>Die</strong>se Logik widerspricht der<br />
Befriedigung der gesellschaftlichen<br />
Bedürfnisse. Und dieser Widerspruch<br />
begründet unseren Antikapitalismus.<br />
<strong>Die</strong> Abkehr von dieser Logik erfordert<br />
nicht nur den Kampf für eine<br />
Umverteilung der Reichtümer zugunsten<br />
der einfachen Bevölkerung, sondern<br />
auch die Infragestellung des kapitalistischen<br />
Eigentums, um die Logik<br />
der Profite durch eine Logik der<br />
sozialen Bedürfnisse zu ersetzen.<br />
1.5 <strong>Die</strong> kapitalistische Antwort auf<br />
die Umweltkrise<br />
In diesem Rahmen ist auch die Umweltkrise<br />
zu betrachten. Und durch<br />
das Zusammenwirken von Wirtschafts-<br />
und Umweltkrise wird die aktuelle<br />
Krise zu einer regelrechten „Zivilisationskrise“.<br />
Hinzu kommt, dass<br />
die mit dem Klimawandel verbundenen<br />
Probleme der Umweltkrise eine<br />
besonders dringliche Brisanz verleihen.<br />
<strong>Die</strong> Wissenschaft ist sich darin<br />
einig, dass die Treibhausgase bis 2050<br />
um 50–80 % reduziert werden müssen,<br />
wenn man nicht die Gefahrenschwelle<br />
überschreiten will, die mit einer Temperaturerhöhung<br />
um 1,5 °C für dieses<br />
Jahrhundert angenommen wird. <strong>Die</strong><br />
„3 x 20 %“-Klausel, die sich die EU<br />
bis 2020 zum Ziel gesetzt hat, nämlich<br />
20 % weniger CO 2<br />
, 20 % mehr Energieeffizienz<br />
und 20 % mehr erneuerbare<br />
Energien, bleibt hinter den Erfordernissen<br />
zurück, die der Weltklimarat<br />
aufgestellt hat.<br />
• Der sog. „grüne Kapitalismus“<br />
will lediglich zwei Fliegen mit einer<br />
Klappe schlagen: die Kosten für<br />
den Umweltschutz und damit das<br />
Staatsdefizit unter dem Deckmantel<br />
der Umweltsteuer auf die kleinen<br />
Leuten durch sog. „Umweltsteuern“<br />
abwälzen und dabei die Großkonzerne<br />
aus ihrer Verantwortung<br />
entlassen; und zweitens neue Märkte<br />
kreieren, namentlich für Emissionsrechte.<br />
Aber die Umweltkrise<br />
zu lösen ist unter kapitalistischen<br />
Bedingungen nicht möglich, da die<br />
Jagd nach Profiten das Kapital immer<br />
untereinander in Konkurrenz<br />
zwingen wird und somit eine mitteloder<br />
langfristige Kooperation (zugunsten<br />
eines Ziels) nicht mit der<br />
Marktlogik vereinbar ist. Eine effizientere<br />
Nutzung der Energie setzt<br />
nicht nur einen geringeren Energie-<br />
inprekorr 458/459 7
INTERNATIONAL<br />
verbrauch, eine Konversion <strong>ganze</strong>r<br />
Industriezweige und die Ersetzung<br />
fossiler Energieträger durch erneuerbare<br />
voraus, sondern eine Neuorganisation<br />
des gesamten Produktionssystems,<br />
was nur unter koordinierten<br />
und geplanten Bedingungen<br />
machbar ist, d. h. in einem System<br />
öffentlichen und gesellschaftlichen<br />
Eigentums und nicht im Rahmen<br />
des Privatbesitzes der wichtigsten<br />
Wirtschaftszweige.<br />
• Das Zusammenfallen von Wirtschafts-<br />
und Umweltkrise wird die<br />
Nahrungsmittelkrise auf der <strong>ganze</strong>n<br />
Welt und besonders in Afrika noch<br />
weiter verschärfen. Drei Milliarden<br />
Menschen können sich heutzutage<br />
nicht satt essen, wovon zwei Milliarden<br />
an Unterernährung und eine<br />
Milliarde an Hunger leiden.<br />
<strong>Die</strong> Zerstörung der Landwirtschaft<br />
durch Agrarexporte, die Spekulation<br />
auf die Rohstoffpreise, der Aufkauf<br />
von zigtausend Hektar Land<br />
in Afrika und Lateinamerika durch<br />
Staaten wie China, Saudi-Arabien<br />
oder Südkorea erschweren zusehends<br />
die Nahrungsmittelproduktion<br />
vor Ort und verschlimmern die<br />
Lebensbedingungen von Millionen<br />
von Bauern und Menschen, die zu<br />
75 % von der Landwirtschaft leben<br />
und somit ihre Arbeit verlieren.<br />
Statt diese existentiellen Probleme<br />
anzugehen, die Ungleichgewichte<br />
zu überwinden und mehr Gleichheit<br />
zu schaffen, verschlimmert die<br />
Nahrungsmittelkrise die aktuelle<br />
Lage noch weiter.<br />
• Man kann diese Krise getrost <strong>als</strong><br />
dauerhaft bezeichnen, ohne deswegen<br />
in Katastrophismus zu verfallen.<br />
Dabei sollte man stets vor Augen<br />
haben, dass es für den Kapitalismus<br />
keine ausweglose Situation<br />
gibt, solange nicht ausreichend<br />
starke soziale und politische Kräfte<br />
vorhanden sind, die das System<br />
stürzen können. Der Kapitalismus<br />
kann weiterhin funktionieren, bloß<br />
eben unter zunehmend unerträglichen<br />
wirtschaftlichen, sozialen,<br />
ökologischen und menschlichen<br />
Kosten. Wenn wir von einer „Zivilisationskrise“<br />
sprechen, dann tragen<br />
wir nur dem Umstand Rechnung,<br />
dass das System historisch<br />
am Ende ist.<br />
2. Eine neue Weltordnung?<br />
<strong>Die</strong> Krise fällt zusammen mit einer<br />
weltweiten Umwälzung und gibt die<br />
neuen Kräfteverhältnisse zwischen<br />
den Klassen und Staaten auf globaler<br />
Ebene wieder. Zugleich zeigen sich<br />
allerorten die Bestrebungen, die „Welt<br />
der Krise“ neu aufzustellen.<br />
2.1 Der Niedergang der US-Hegemonie<br />
– Realität und Grenzen<br />
Das wichtigste Anliegen ist die Demonstration<br />
wiedergefundener Stärke<br />
der USA nach dem Sieg Obamas. Darin<br />
liegt zugleich eine(s) der Gründe und<br />
Motive für die Wahl Obamas: das Ruder<br />
der Weltpolitik wieder in die Hand<br />
zu nehmen, auch wenn dies nicht frei<br />
von Friktionen ablaufen kann, hauptsächlich<br />
in Zusammenhang mit der<br />
Wirtschaftskrise (Gesundheitsreform,<br />
industrielle Umstrukturierungen). Insofern<br />
werden die Verhältnisse wieder<br />
gerade gerückt, was den „unvermeidlichen<br />
Niedergang“ der US-Hegemonie<br />
anlangt. Durch die Krise ist deren<br />
Stand geschwächt worden. Tatsächlich<br />
jedoch war sie schon vorher angeschlagen<br />
aufgrund der schwindenden<br />
industriellen Basis und der Staatsverschuldung.<br />
Trotzdem kommt den USA<br />
weiterhin eine führende Rolle in den<br />
weltweiten Beziehungen zu:<br />
In militärpolitischer Hinsicht haben<br />
sie weiterhin eine totale Vormachtstellung<br />
trotz des Engagements<br />
westlicher Truppen in Afghanistan<br />
und Irak. Mehr denn je bildet die Nato<br />
unter Führung der USA den militärischen<br />
Arm der Westmächte zur Sicherung<br />
der Weltherrschaft. Nachdem<br />
die US-Regierung in Lateinamerika<br />
mit der Schaffung der Freihandelszone<br />
ALCA politisch gescheitert war,<br />
hat sie auf dem Gipfel von Trinidad<br />
erneut die Initiative zur Öffnung der<br />
Märkte auf dem Kontinent ergriffen.<br />
Ebenso zeugen der Putsch in Honduras<br />
und die Wiederbelebung der Militärbasen<br />
in Kolumbien von diesem<br />
Streben nach militärpolitischer Hegemonie<br />
auf dem Kontinent.<br />
Auf dem Wirtschaftssektor kommt<br />
der USA aufgrund ihres riesigen Binnenmarktes<br />
weiterhin ein erheblicher<br />
Anteil am weltweiten BIP (ca. 25 %)<br />
zu, auch wenn dieser Anteil seit einigen<br />
Jahren kontinuierlich zurückgeht.<br />
Auf dem Finanz- und Währungssektor<br />
gilt der Dollar weiterhin <strong>als</strong><br />
führende internationale Währung. Er<br />
mag schwächeln und durch andere<br />
Währungen mit entsprechenden Neigungen<br />
oder das Gold <strong>als</strong> „Fluchtwert“<br />
bedrängt werden, bleibt aber trotzdem<br />
die internationale Leitwährung. <strong>Die</strong><br />
US-Regierung steht hierin vor einem<br />
Dilemma: Stützt sie den Kurs, was besonders<br />
die chinesischen Eigner von<br />
Obligationen und Schatzbriefen in der<br />
US-Währung fordern, dann schwächt<br />
sie den US-Exportsektor; setzt sie auf<br />
eine vergleichsweise Abwertung, um<br />
die Konkurrenzfähigkeit der US-Industrie<br />
zu stützen, gehen der Dollar<br />
und damit die entsprechenden Vermögenswerte<br />
bergab. Aber trotz der Abschwächung<br />
der wirtschaftlichen Position<br />
der USA im Weltmaßstab muss<br />
man feststellen, dass der Dollar stabil<br />
ist.<br />
2.2 China und die wichtigsten<br />
Schwellenländer<br />
Trotz der Dominanz der USA darf<br />
der Aufstieg der sog. BRIC-Staaten<br />
(Brasilien, Russland, Indien und –<br />
besonders – China) <strong>als</strong> Wirtschaftsmacht<br />
nicht außer Acht gelassen werden.<br />
Gerade Chinas Anteil am weltweiten<br />
BIP steigt kontinuierlich. <strong>Die</strong><br />
dortigen Wachstumsraten liegen zwischen<br />
6 % in Zeiten der weltweiten<br />
Rezession und 10 % in Zeiten internationalen<br />
wirtschaftlichen Aufschwungs.<br />
China hat die USA nicht<br />
verdrängt. <strong>Die</strong> Entkopplungsthese,<br />
wonach Chinas Wirtschaft weiter<br />
boomt, während die imperialistischen<br />
Metropolen kriseln, hat sich nicht bestätigt.<br />
China hat die Folgen der Krise<br />
auch zu spüren bekommen, ist aber<br />
darunter nicht zusammengebrochen.<br />
<strong>Die</strong> künftige Rolle der chinesischen<br />
Wirtschaft im Weltmaßstab wird<br />
von ihrer Fähigkeit abhängen, einen<br />
Binnenmarkt zu schaffen, ein soziales<br />
Sicherungssystem zu errichten<br />
und die Nachfrage durch Lohnerhöhungen<br />
zu stimulieren. Solange diese<br />
Bedingungen nicht erfüllt sind, wird<br />
die weitere Entwicklung Chinas gebremst<br />
werden. <strong>Die</strong> Mühlen der Bürokratie,<br />
die rasant zunehmende Korruption<br />
und die ungeheure Ausbeutung<br />
der WanderarbeiterInnen lasten<br />
schwer auf der Binnennachfrage. Im<br />
Weltmaßstab sind die Beziehungen<br />
zwischen China und den USA durch<br />
den Dualismus von Kooperation und<br />
Konkurrenz geprägt, was für die an-<br />
8 inprekorr 458/459
INTERNATIONAL<br />
deren US-Partner genau so gilt. Zur<br />
Zeit überwiegt die Kooperation.<br />
In diesem multipolaren Rahmen<br />
ist auch die Beziehung zu Brasilien zu<br />
werten, das zu einer neuen imperialistischen<br />
Macht geworden ist. Bereits<br />
in den 60er Jahren wurde von einem<br />
Subimperialismus in Bezug auf Brasilien<br />
gesprochen, einem Imperialismus<br />
zwar, aber <strong>als</strong> zweitrangige und<br />
dem US-Imperialismus untergeordnete<br />
Macht. Inzwischen kann man<br />
zwar weiterhin von Zweitrangigkeit<br />
sprechen, aber nicht mehr von Unterordnung.<br />
Auf wirtschaftlichem, finanziellem,<br />
sozialem, territorialem, energiepolitischem<br />
und militärischem Gebiet<br />
ist Brasilien nicht nur zu einem<br />
angebundenen Partner, sondern auch<br />
zu einem Konkurrenten und Rivalen<br />
des US-Imperialismus – besonders innerhalb<br />
Lateinamerikas – geworden.<br />
Innerhalb dieser ambivalenten Beziehung<br />
werden die USA ihre Schwachstellen<br />
in Bezug auf den internationalen<br />
Wettbewerb durch ihre militärpolitische<br />
Hegemonie kompensieren.<br />
2.3 Afghanistan, Irak, Palästina:<br />
die Zentren militärischer Spannungen<br />
in der Welt<br />
In diesen Ländern geht es um strategische<br />
Fragen, die für die US-Regierung<br />
eminent wichtig sind, konkret um<br />
die weltweite militärische Vormachtstellung<br />
der USA. Mit einer Niederlage<br />
dort würde das gesamte internationale<br />
Kräfteverhältnis aus den Fugen<br />
geraten. Hierin liegt auch der Grund,<br />
weswegen trotz aller inter-imperialistischer<br />
Widersprüche während des<br />
Irak-Kriegs alle Westmächte auf die<br />
Position des US-Imperialismus eingeschwenkt<br />
sind. In diesem Sinn ist<br />
auch die unlängst erfolgte Reintegration<br />
Frankreichs unter das Kommando<br />
der Nato zu interpretieren. Der G20-<br />
Gipfel in Straßburg im April 2009 rundet<br />
diese Entwicklung noch ab. Zugleich<br />
versuchen die USA, Russland<br />
und China in eine neutrale Position zu<br />
bringen, indem sie die geplante Aufstellung<br />
von Raketen in Osteuropa auf<br />
Eis legen.<br />
<strong>Die</strong> seit Obamas Wahl verfolgte<br />
politische Neuausrichtung der USA<br />
lässt sich ganz gut anhand der Politik<br />
in dieser Region verfolgen. Einerseits<br />
demonstriert man nach außen hin Offenheit<br />
in politischen Fragen, lobt den<br />
Beitrag, den die arabische Zivilisation<br />
Am Anfang der Krise herrscht große Beunruhigung, und die Angst um die Arbeitsplätze lastet<br />
auf der Kampfbereitschaft der großen Masse der ArbeiterInnen.<br />
für die Welt geleistet hat, erklärt sich<br />
„gesprächsbereit“ mit dem Iran und<br />
macht Druck bei der israelischen Regierung,<br />
um die Siedlungsbauten der<br />
Zionisten auf palästinensischem Boden<br />
zu bremsen. Faktisch jedoch wird<br />
der Druck auf den Iran drastisch erhöht,<br />
zieht sich der Rückzug der US-<br />
Truppen aus dem Irak in die Länge,<br />
verdoppelt sich der Militäreinsatz<br />
beim imperialistischen Krieg in Afghanistan<br />
und lässt man der Regierung<br />
Netanyahu in Israel freie Hand.<br />
Es gibt vielfältige Gründe für die<br />
imperialistische Intervention in dieser<br />
Region: die Kontrolle über die natürlichen<br />
Ressourcen (an erster Stelle<br />
das Erdöl) oder die geostrategische<br />
Präsenz an den Grenzen zu Russland,<br />
Indien und China … .Das zentrale Anliegen<br />
bei diesen Konflikten ist jedoch,<br />
dass die USA weiterhin ihre militärische<br />
Hegemonie aufrecht erhalten<br />
und festigen wollen. Daher ist die<br />
Forderung nach einem Truppenrückzug<br />
aus dem Irak und Afghanistan<br />
grundlegend für die Wahrung der Völkerrechte<br />
und die strategische Schwächung<br />
der imperialistischen Mächte.<br />
Insofern verteidigen wir auch mehr<br />
denn je und nach den Ereignissen in<br />
Gaza erst recht die Rechte des palästinensischen<br />
Volkes – den sofortigen<br />
Siedlungsstopp, den Rückzug Israels<br />
aus den seit 1967 besetzten Gebieten,<br />
das Rückkehrrecht der PalästinenserInnen<br />
und eine „Auflösung des<br />
zionistischen Staates zugunsten einer<br />
politischen Lösung, in der alle Völker<br />
Palästinas (Palästinenser und israelische<br />
Juden) bei völliger Gleichheit<br />
der Rechte zusammenleben können“<br />
(Resolution des IK vom Februar<br />
2009). Von daher beteiligen wir uns<br />
an der internationalen Solidaritätskampagne<br />
mit dem palästinensischen<br />
Volk und an dem Aufruf zu Boykott,<br />
Desinvestition und Sanktionen (BDS).<br />
Ebenso wehren wir uns gegen die imperialistische<br />
Bedrohung des Irans,<br />
wobei wir keineswegs das Regime von<br />
Ahmadinedschad unterstützen sondern<br />
uns vielmehr aktiv solidarisieren<br />
mit den Mobilisierungen von Millionen<br />
von IranerInnen, die für Demokratie<br />
und gegen die Diktatur des Regimes<br />
kämpfen. Auch hier gilt für uns<br />
der gleiche Maßstab wie in allen Auseinandersetzungen,<br />
dass wir die Interessen<br />
und Kämpfe der Unterdrückten<br />
und ihre sozialen und demokratischen<br />
Rechte verteidigen.<br />
2.3 Neue Konfrontationen in Lateinamerika<br />
Der soziale Widerstand gegen Neoliberalismus<br />
und imperialistische Angriffe<br />
ist auf diesem Kontinent am weitesten<br />
vorangeschritten. Immer wieder<br />
kommt es dort zu sozialen Erschütterungen<br />
und Kämpfen, wie die Krise<br />
in Honduras unlängst zeigte, <strong>als</strong> dort<br />
inprekorr 458/459 9
INTERNATIONAL<br />
Morales kann sich auf auf die Massenbewegungen stützen.<br />
erstm<strong>als</strong> seit fünfzig Jahren eine breite<br />
Oppositionsbewegung in der Bevölkerung<br />
gegen den Militärputsch entstand.<br />
Der soziale und politische Widerstand<br />
in diesen Ländern ist vielfältig:<br />
streikende ArbeiterInnen in Venezuela,<br />
Argentinien und Bolivien, antiimperialistische<br />
Massenbewegungen<br />
in Ecuador und Venezuela oder die<br />
Kämpfe der Ureinwohner in den Andenländern<br />
und in Mittelamerika. Gerade<br />
in dieser Frage entsteht eine neue<br />
Dynamik. Zu Hunderten und Tausenden<br />
erheben sich die Indianer, um ihr<br />
Land, ihre natürlichen Ressourcen und<br />
ihren Lebensstil gegen die Angriffe der<br />
multinationalen Konzerne und räuberischen<br />
Staaten zu verteidigen. Gerade<br />
ihr Beharren auf der Balance zwischen<br />
Mensch und Natur kann zu einem Beispiel<br />
werden im Kampf um die Verteidigung<br />
des „Gemeinwohls“ und für ein<br />
„besseres Leben“. Andererseits bleiben<br />
die herrschenden Klassen nicht untätig<br />
angesichts dieser Ereignisse: sei es,<br />
dass sie die Konfrontation mit den sozialen<br />
Bewegungen suchen wie in Mexiko,<br />
Honduras, Kolumbien, Peru, Bolivien<br />
oder Venezuela, oder sei es durch<br />
Umarmungstaktik, wie zuerst mit der<br />
PT in Brasilien geschehen, dann mit<br />
dem Peronismus in Argentinien (hier<br />
jedoch nicht frei von Konflikten), mit<br />
der Frente Amplio in Uruguay, der chilenischen<br />
Linken unter Bachelet oder<br />
der Linken in El Salvador …<br />
Daraus entstehen drei verschiedene<br />
Regierungstypen und Situationen:<br />
• Rechte und ultrarechte Regierungen<br />
wie in Mexiko, Honduras,<br />
Kolumbien und Peru, die sich die<br />
gewaltsame Opposition von Teilen<br />
der Bourgeoisie in Bolivien, Venezuela<br />
und Ecuador und deren unveränderten<br />
Willen zum Sturz von<br />
Chávez und Evo Morales zueigen<br />
machen. <strong>Die</strong>se Kreise sind heute<br />
auf dem Vormarsch und werden darin<br />
durch die politisch-militärischen<br />
Spitzen des US-Imperialismus unterstützt.<br />
Der Staatsstreich in Honduras<br />
und v. a. die Errichtung neuer<br />
Militärbasen der USA in Kolumbien<br />
zeugen davon.<br />
• Der zweite Regierungstyp in all seinen<br />
Facetten findet sich in Brasilien,<br />
Argentinien, Nicaragua, Uruguay,<br />
Paraguay und Chile. Dort gibt<br />
es sozialliberale Regierungen, die<br />
sich in die Kriterien des Neoliberalismus<br />
im Großen und Ganzen fügen<br />
und kooperative Beziehungen<br />
zu ihrem großen Nachbarn im Norden<br />
pflegen, was durchaus nicht<br />
frei von Reibungen ist, wie im Falle<br />
Brasiliens unter Lula. Innerhalb<br />
dieses Blocks dominiert Brasilien<br />
ob seiner Größe, des Reichtums an<br />
natürlichen Ressourcen und seiner<br />
Wirtschaftsmacht. Im Unterschied<br />
übrigens zu anderen Ländern, in<br />
denen sich die sozialliberalen Parteien<br />
bei dieser Politik im Allgemeinen<br />
verschleißen und ihre soziale<br />
und politische Basis erodieren,<br />
gilt dies für Brasilien keineswegs.<br />
Lula hat mit seiner Politik der „bolsa<br />
familia“ 2 eine soziale „Auffangvorrichtung“<br />
geschaffen, die ihm<br />
wirkliche Popularität verleiht.<br />
• Den dritten Regierungstyp, der von<br />
Kuba unterstützt wird, repräsentieren<br />
Venezuela, Bolivien und Ecuador.<br />
In all diesen Ländern bestehen<br />
freilich Unterschiede in der dynamischen<br />
Entwicklung der Kräfte<br />
und Ereignisse. Gemeinsam ist<br />
ihren Regierungen, dass sie politisch<br />
mit dem US-Imperialismus<br />
zum Teil gebrochen haben, die Einkommen<br />
zugunsten von Sozialmaßnahmen<br />
und der ärmsten Bevölkerungsschichten<br />
umverteilen und die<br />
sozialen Bewegungen unterstützen.<br />
Wir stehen auf ihrer Seite gegen<br />
den US-Imperialismus und wir<br />
beziehen uns auf die Debatten um<br />
die Bedeutung des Sozialismus im<br />
21. Jahrhundert, die auf Grundlage<br />
der dortigen Erfahrungen entstehen,<br />
um unser Programm zu verteidigen.<br />
Hierbei müssen wir jedoch<br />
die jeweiligen Besonderheiten der<br />
dortigen Entwicklungen hervorheben.<br />
Während sich Chávez und Morales<br />
auf die Massenbewegungen<br />
stützen – in Bolivien unter einem<br />
stärkeren Druck der sozialen Bewegungen,<br />
in Venezuela unter eher „bonapartistischen“<br />
Verhältnissen – haben<br />
die jüngsten Ereignisse in Ecuador<br />
gezeigt, dass zwischen der Bewegung<br />
der Ureinwohner CONAIE und<br />
der Regierung Correa Gegensätze<br />
vorhanden sind. Und für die weitere<br />
Entwicklung sind die Beziehungen<br />
zwischen den jeweiligen Regierungen<br />
und den Massenbewegungen<br />
eine wichtige Scheidelinie. Grundlegend<br />
jedoch bleibt die Gretchenfrage,<br />
wie weit der Bruch mit dem Kapitalismus,<br />
seiner Profitlogik, seinem<br />
Verhältnis zur Finanzwirtschaft und<br />
seinen Eigentumsverhältnissen geht,<br />
zumal durch die Krise die Wirtschaft<br />
dieser Länder grundlegend betroffen<br />
wurde. In dieser Hinsicht jedoch haben<br />
diese Regierungen bis dato nicht<br />
die Gelegenheit beim Schopf gegriffen,<br />
um gerade anhand der Krise den<br />
2 eine Art „sozialer Grundsicherung“ [Anm. d.<br />
Übers.]<br />
10 inprekorr 458/459
INTERNATIONAL<br />
Bruch mit dem Kapitalismus und<br />
seinem Ressourcen vergeudenden<br />
wachstumsbornierten Wirtschaftsmodell<br />
voran zu treiben.<br />
2.5 Europa tief in der Krise<br />
Während die USA wieder Fuß fassen<br />
und die BRIC-Staaten einen Aufschwung<br />
erleben, verliert Europa weltweit<br />
an Boden. <strong>Die</strong> Krise hat den alten<br />
Kontinent wirtschaftlich mit voller<br />
Wucht getroffen, und hausgemachte<br />
Probleme kommen noch verschärfend<br />
hinzu.<br />
Infolge ihrer ganz besonderen politischen<br />
Funktionsweise und der divergierenden<br />
Interessen ihrer ökonomisch<br />
wichtigsten Mitgliedsstaaten – die englische<br />
Finanzwirtschaft, das französische<br />
Handelsdefizit und die deutschen<br />
Industrieexporte – reagiert die<br />
EU darauf eher punktuell und fraktionell,<br />
statt ihre Politik wirklich zu koordinieren.<br />
Durch die europäischen Verträge,<br />
in denen seit Jahren die „freie<br />
und unverfälschte Konkurrenz“ im Mittelpunkt<br />
steht, wurde die Hinwendung<br />
zur Finanzwirtschaft zu Lasten der Industriepolitik<br />
begünstigt. Insofern erlebt<br />
Europa und besonders Frankreich einen<br />
De-Industrialisierungsprozess. <strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit<br />
explodiert und zugleich<br />
wachsen die Defizite und Verschuldung<br />
der europäischen Länder ganz bedenklich.<br />
Manche Länder in Osteuropa, die<br />
wirtschaftlich stark vom internationalen<br />
Bankensystem abhängen, kommen<br />
nur mit internationaler Hilfe zurande<br />
und hängen am Tropf des IWF. <strong>Die</strong> in<br />
Ländern wie Ungarn, Rumänien und<br />
dem Baltikum getroffenen politischen<br />
Maßnahmen, die bis zur Senkung der<br />
Beamtengehälter reichen, verdeutlichen<br />
nur zu gut das Ausmaß der Krise<br />
in diesen Staaten, aber auch in ihrer<br />
Umwelt.<br />
Aus diesem Grund werden sich die<br />
inneren Widersprüche in Europa weiter<br />
zuspitzen. Es mag hier und da zu protektionistischen<br />
Maßnahmen kommen,<br />
aber im Grunde ist dies nicht die Option<br />
der kapitalistischen Klassen in Europa.<br />
Sie haben zwar auf die Globalisierung<br />
gesetzt, treten in diesem Spiel aber nicht<br />
<strong>als</strong> geschlossene europäische Mannschaft<br />
auf. Im Gegenteil werden die<br />
strategischen Ausrichtungen von widerstreitenden<br />
Interessen zwischen der eigenen<br />
und der gemeinsamen Wirtschaft<br />
bestimmt. Zur weltweiten Konkurrenz<br />
tritt <strong>als</strong>o u. U. noch die zwischen den<br />
europäischen Ländern hinzu.<br />
In dieser anhaltenden Krisensituation<br />
gibt es nicht nur eine wirtschaftliche<br />
Offensive, sondern ist die Rechte auch<br />
politisch auf dem Vormarsch, wie die<br />
letzten Europawahlen mit Ausnahme<br />
von Griechenland und Schweden gezeigt<br />
haben. <strong>Die</strong> politische Landschaft<br />
in den einzelnen Ländern wird zunehmend<br />
durch faschistische und semifaschistische<br />
Kräfte geprägt.<br />
In die gleiche Kerbe hauen auch die<br />
autoritären Tendenzen, die sich namentlich<br />
gegenüber ImmigrantInnen und illegalen<br />
Einwanderern breitmachen. Infolge<br />
der Globalisierung und der Vervielfachung<br />
des Warenverkehrs, der Aushungerung<br />
des Südens durch die Metropolen<br />
des Nordens sowie Hunger- und Umweltkatastrophen<br />
kommt es zu massiver<br />
Völkerwanderung besonders aus den armen<br />
in die reichen Länder. Zusätzlich<br />
werden durch die Krise an sich alle Formen<br />
von Ausbeutung und Unterdrückung<br />
der ImmigrantInnen verschärft. <strong>Die</strong> rassistischen<br />
Bewegungen suchen sich hier<br />
ihre Sündenböcke. Insofern muss die Arbeiterbewegung<br />
Widerstand leisten und<br />
die Rechte der ImmigrantInnen politisch<br />
offensiv verteidigen.<br />
Ganz generell wird eine regelrechte<br />
Kriminalisierungspolitik gegenüber den<br />
sozialen Kämpfen und Bewegungen betrieben<br />
und werden im Namen der Bekämpfung<br />
des „Terrorismus“ Repressionssysteme<br />
entwickelt wie Personendateien,<br />
Abhörsysteme oder schwarze<br />
Listen, ohne im geringsten die demokratischen<br />
Rechte zu respektieren.<br />
Unabhängig von den sonstigen sozialen<br />
Kämpfen können aus diesen Spannungen<br />
akute politische oder institutionelle<br />
Krisen erwachsen. Insofern zielt<br />
auch die geplante „Europäische Verfassung“<br />
in Gestalt des Lissaboner Vertrags<br />
darauf ab, die EU-Institutionen mit teils<br />
absolutistischen Vollmachten auszustatten<br />
(Stärkung des Präsidentenamtes,<br />
einheitliche internationale Vertretung<br />
...), um eine europäische Politik im internationalen<br />
Maßstab von zentraler<br />
Warte aus und ohne auch nur formaldemokratische<br />
Kontrolle durchzusetzen.<br />
<strong>Die</strong> Mitgliedsstaaten behalten in diesem<br />
Rahmen ihre formal demokratischen Institutionen,<br />
die aber zusehends sinnentleerter<br />
werden angesichts der europäischen<br />
Entscheidungen, die der nationalen<br />
Politik einen „Rahmen“ vorgeben<br />
und <strong>als</strong> Kompromisse zwischen den imperialistischen<br />
Kernmächten Europas<br />
fungieren. <strong>Die</strong> EU, so wie sie entsteht,<br />
ist ungleich (hier die „großen „ Länder,<br />
dort die subalternen „kleinen“), und die<br />
Bevölkerung ist jedweder auch nur formalen<br />
parlamentarischen Eingriffsmöglichkeit<br />
beraubt. Ein Beispiel hierfür ist<br />
das Ergebnis des zweiten irischen Referendums.<br />
Angesichts dieser Vorhaben<br />
der EU muss die antikapitalistische Linke<br />
eine internationalistische Orientierung<br />
beibehalten und die sozialen und<br />
demokratischen Rechte im Namen eines<br />
Europas im <strong>Die</strong>nste der ArbeiterInnen<br />
und Völker verteidigen.<br />
3. <strong>Die</strong> Entwicklung der Linken<br />
und der Arbeiterbewegung<br />
in Europa<br />
Um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise<br />
zu ermessen, werden oft Vergleiche<br />
mit 1929 angestellt. Auch in sozialer<br />
und politischer Hinsicht lassen sich Vergleiche<br />
zu den 30er Jahren ziehen. <strong>Die</strong><br />
Erschütterungen verlaufen hier weniger<br />
heftig, da die sozialen Abfederungsmechanismen<br />
die Konfrontationen abschwächen.<br />
Mitunter wurde die gegenwärtige<br />
Situation <strong>als</strong> Wiederholung der<br />
„30er Jahre in Zeitlupe“ bezeichnet.<br />
<strong>Die</strong> Unterschiede zwischen den beiden<br />
historischen Perioden sind evident.<br />
Aber die Konfrontation zwischen den<br />
Lohnabhängigen, den sozialen Bewegungen<br />
und der Arbeiterbewegung einerseits<br />
und den populistischen, autoritären<br />
und fremdenfeindlichen Strömungen<br />
auf der Rechten andererseits<br />
vollzieht sich auch heute ungebremst,<br />
und sowohl auf der Linken wie auf der<br />
Rechten gibt es Zuspitzungen. Hingegen<br />
bestehen zwischen der Wirtschaftskrise<br />
und dem Klassenkampf<br />
keine mechanischen Beziehungen.<br />
Der Ausbruch der Krise trifft auf<br />
politische und soziale Kräfteverhältnisse,<br />
die sich seit mehr <strong>als</strong> zehn Jahren<br />
verschlechtert haben. Auf Seiten<br />
der Lohnabhängigen hat ein Umbruch<br />
stattgefunden, der zur Vereinzelung<br />
unter der arbeitenden Bevölkerung<br />
und zur strukturellen Schwächung ihrer<br />
Organisierung <strong>als</strong> Ganzes geführt<br />
hat. <strong>Die</strong> traditionelle Arbeiterbewegung<br />
hat einen unbestreitbaren Niedergang<br />
erlebt. <strong>Die</strong>se Umbrüche werden<br />
durch die Krise noch verschärft<br />
werden, und neue werden noch hinzutreten.<br />
Trotzdem gibt es in den Organisationen<br />
und Institutionen weiterhin<br />
inprekorr 458/459 11
INTERNATIONAL<br />
Es eröffnen sich Spielräume links der krisengebeutelten Sozialdemokratie. <strong>Die</strong>s erklärt den<br />
Aufschwung des Bloco de Esquerda in Portugal, der irischen Linken anlässlich der Kampagne<br />
gegen den Lissaboner Vertrag oder der NPA in Frankreich.<br />
Rückhalt, um der Krise zu trotzen. Am<br />
Anfang der Krise herrscht große Beunruhigung,<br />
und die Angst um die Arbeitsplätze<br />
lastet auf der Kampfbereitschaft<br />
der großen Masse der ArbeiterInnen.<br />
Aber keineswegs sind sie gelähmt, demoralisiert<br />
oder geschlagen. Aus den ersten<br />
Streikbewegungen gehen neue Generationen<br />
hervor und der Widerstand<br />
gegen die Krise hat sich schon geregt,<br />
wenn auch noch vereinzelt und unterschiedlich<br />
entlang der jeweiligen Situation<br />
und Kräfteverhältnisse der einzelnen<br />
Länder. Aber die generelle Entwicklungstendenz<br />
konnte durch die sozialen<br />
und politischen Auswirkungen<br />
der Krise in ihren Anfängen nicht<br />
grundlegend geändert werden. In etlichen<br />
Unternehmen gab es Rückschläge<br />
mit hundert- oder tausendfachen Entlassungen.<br />
Trotz vorhandener sozialer<br />
Gegenwehr in vielen Fällen sind die kapitalistischen<br />
Umstrukturierungspläne<br />
umgesetzt worden, und neue, sehr harte<br />
Angriffe zeichnen sich ab.<br />
<strong>Die</strong> Lage ist umso schwieriger <strong>als</strong><br />
die Führungen der traditionellen Arbeiterbewegung<br />
hohe Verantwortung an<br />
der Demobilisierung und Desorientierung<br />
<strong>ganze</strong>r Sektoren der Lohnabhängigen<br />
tragen. Insofern ist für die ArbeiterInnen<br />
schwer ersichtlich, wie sie ihre<br />
Bosse und die Regierung in die Schranken<br />
weisen sollen. <strong>Die</strong> traditionellen<br />
Apparate der Gewerkschaftsbewegung<br />
und der Sozialdemokratie setzen darauf,<br />
die Antikrisenpolitik der herrschenden<br />
Klassen und der Staaten mitzumachen.<br />
Es mag Diskussionen über Umfang und<br />
Angemessenheit der Konjunkturpläne<br />
oder einzelne Maßnahmen zur Umstrukturierung<br />
der Banken gegeben haben,<br />
aber in der generellen Linie bejahte<br />
die europäische Sozialdemokratie<br />
die Pläne aus Brüssel, wofür das<br />
Manifest der SPE ein beredtes Zeugnis<br />
liefert. Es gab noch nicht einmal etwa<br />
ein ernsthaftes Eintreten für eine reformistische<br />
Alternative nach Vorbild<br />
von Keynes. In der Krise beschleunigt<br />
sich noch der Prozess der Einbindung<br />
der Arbeiterbürokratie – der privilegierten<br />
sozialen Schichten in der Arbeiterbewegung<br />
– in die Institutionen des kapitalistischen<br />
Systems.<br />
Daher vertieft sich in dieser Situation<br />
auch die Krise der Sozialdemokratie.<br />
<strong>Die</strong> Hinwendung der sozialdemokratischen<br />
Parteien zum Liberalismus<br />
hatte bereits zu erheblicher Erosion der<br />
sozialen und politischen Basis in der<br />
Bevölkerung geführt. Aber es kommt<br />
noch schlimmer. Bei den letzten Europawahlen<br />
erlitt die Sozialdemokratie eine<br />
deutliche Schlappe. Auch die Parlamentswahlen<br />
in Deutschland und Portugal<br />
gerieten zum Desaster: die SPD<br />
verlor zwischen 2005 und 2009 fast<br />
4,5 Millionen WählerInnen; die portugiesische<br />
SP 9,5 % gegenüber den<br />
Vorwahlen. Es mag ein paar taktische<br />
Linkswendungen geben, um diese Verluste<br />
aufzufangen, aber in der generellen<br />
Orientierung wird sich die Anpassung<br />
der bürokratischen Apparate in<br />
Gewerkschaften und Sozialdemokratie<br />
an die Anforderungen des kapitalistischen<br />
Krisenmanagements noch weiter<br />
vertiefen. Nach dem Beispiel der<br />
Großen Koalition der SPD mit CDU/<br />
CSU rüstet sich in Frankreich die SP<br />
für eine Koalition mit der rechten Mitte.<br />
<strong>Die</strong>s passt zu der allgemeinen Entwicklung,<br />
wo zunehmend Stimmen innerhalb<br />
eben dieser Sozialdemokratie<br />
laut werden, die „alten sozialdemokratischen/sozialistischen<br />
Parteien“ hinter<br />
sich zu lassen und mit den Überbleibseln<br />
der Tradition der Arbeiterbewegung<br />
in diesen Parteien zu brechen. <strong>Die</strong>se<br />
Dynamik hat die italienische Linke<br />
erlebt, indem große Teile der Ex-KPI<br />
sich dahin entwickelt haben, eine Demokratische<br />
Partei nach dem Muster<br />
der USA aufbauen zu wollen.<br />
Auch die Grünen und Öko-Parteien<br />
mischen in diesem Prozess aktiv mit.<br />
Als Nutznießer der legitimen Ängste in<br />
der Bevölkerung vor der Umweltkrise<br />
sehen sie sich besonders in Frankreich<br />
und Deutschland politisch im Aufwind.<br />
Dabei verfolgen sie die Perspektive einer<br />
großen Koalition aus den Parteien<br />
der traditionellen Linken, der Mitte und<br />
der Grünen.<br />
In dieser Konstellation eröffnen<br />
sich Spielräume links der krisengebeutelten<br />
Sozialdemokratie. <strong>Die</strong>s erklärt<br />
den Aufschwung des Bloco de Esquerda<br />
in Portugal und der Partei <strong>Die</strong> Linke<br />
in Deutschland bei den jüngsten Wahlen<br />
und ebenso den Einfluss von Formationen<br />
wie der Rot-Grünen Allianz<br />
in Dänemark, der irischen Linken anlässlich<br />
der Kampagne gegen den Lissaboner<br />
Vertrag oder der NPA in Frankreich.<br />
Das Phänomen <strong>als</strong> solches ist universell,<br />
aber in den einzelnen Ländern<br />
ist die Lage der radikalen Linken unterschiedlich<br />
je nach Geschichte, Kräfteverhältnissen<br />
und Wahlsystem. Auch<br />
gibt es grundlegende politische Unterschiede<br />
zwischen den Parteien, die für<br />
einen Bruch mit dem kapitalistischen<br />
System und eindeutige Unabhängigkeit<br />
gegenüber der Sozialdemokratie eintreten,<br />
und denen, die sich <strong>als</strong> die besseren<br />
Sachwalter des neoliberalen Kapitalismus<br />
und seiner Institutionen sehen.<br />
Um die soziale Bewegung zu reorganisieren<br />
und wieder aufzubauen, bedarf es<br />
einer Perspektive, die absolut unabhängig<br />
von den alten Apparaten der traditionellen<br />
Linken ist, und insofern einer kla-<br />
12 inprekorr 458/459
INTERNATIONAL<br />
ren Abgrenzung gegenüber einer Beteiligung<br />
an sozialliberalen Regierungen<br />
auf regionaler oder nationaler Ebene. In<br />
allen Ländern, in denen sich die radikale<br />
Linke an einer sozialdemokratischen<br />
oder Mitte-Links-Regierung beteiligt<br />
hat, verkam sie zum Anhängsel der sozialliberalen<br />
Linken. <strong>Die</strong> Anziehungskraft<br />
der bürgerlichen Institutionen war stärker<br />
<strong>als</strong> alle anti-neoliberalen Absichtserklärungen.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung der Partei<br />
<strong>Die</strong> Linke ist für die deutsche Linke ein<br />
Fortschritt, aber die Orientierung ihrer<br />
Führung sowohl in programmatischer<br />
(Rückkehr zum „Sozial- und Versorgungsstaat“)<br />
<strong>als</strong> auch in bündnispolitischer<br />
(Koalitionen mit der SPD) Hinsicht<br />
bildet eine erhebliche Gefahr bei<br />
der Reorganisierung der deutschen Arbeiterbewegung.<br />
Der Aufbau einer antikapitalistischen<br />
linken Alternative innerhalb<br />
Der Linken aber auch innerhalb<br />
der sozialen und politischen deutschen<br />
Linken <strong>als</strong> Ganzes bleibt eine Schlüsselfrage<br />
für Europa.<br />
<strong>Die</strong> Wirklichkeit zwingt die radikale<br />
Linke in Europa mehr denn je, sich<br />
für ein Zusammengehen der antikapitalistischen<br />
Linken zu engagieren, besonders<br />
durch die Organisierung von gemeinsamen<br />
Konferenzen, Diskussionen<br />
und Kampagnen.<br />
4. Ein antikapitalistisches<br />
Programm<br />
<strong>Die</strong> Tiefe der Krise verleiht den antikapitalistischen<br />
Antworten neue Aktualität.<br />
„Es ist nicht Sache der Bevölkerung<br />
und der Arbeiter, für die Krise zu zahlen,<br />
sondern die der Kapitalisten!“ ertönte<br />
es auf allen Demonstrationen 3 gegen<br />
die Folgen der kapitalistischen Krise.<br />
Wie kann man diese Forderung der<br />
Bevölkerung mit Inhalt füllen?<br />
Zunächst müssen wir soziale und<br />
ökologische Sofortmaßnahmen fordern:<br />
• Verbot von Entlassungen und Arbeitsplatzabbau!<br />
• Verbot von Entlassungen durch Arbeitsplatz-<br />
und Lohngarantien seitens<br />
der Unternehmen, Branchenverbände<br />
oder des Staates bei Kurzarbeit<br />
oder Schließung!<br />
• Arbeitszeitverkürzung bei vollem<br />
Lohnausgleich!<br />
• Erhöhung der Löhne und der Kauf-<br />
3 Auf Deutsch bekannter unter der Parole „Wir<br />
zahlen nicht für eure Krise“ [Anm. d. Red.]<br />
kraft, sowie der Renten und Pensionen!<br />
• Beibehaltung und Ausbau der öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nste!<br />
• Verteidigung der Rechte der Frauen<br />
durch Verbot jedweder Diskriminierung,<br />
Kampf gegen sämtliche<br />
Formen von Gewalt gegen Frauen,<br />
Recht auf Abtreibung und Gleichstellung<br />
im Beruf!<br />
• Großaufträge der öffentlichen Hand<br />
mit Priorität für den Umweltschutz<br />
– Energiesparmaßnahmen, erneuerbare<br />
Energien, Kampf der Umweltverschmutzung,<br />
öffentliches<br />
Verkehrswesen, Sozialwohnungen,<br />
Schaffung sozial nützlicher Arbeitsplätze<br />
im Umweltschutz!<br />
<strong>Die</strong> Erfüllung dieser Forderungen setzt<br />
eine andere Verteilung der Reichtümer<br />
voraus. Wenn über Nacht Hunderte von<br />
Milliarden aufgebracht werden können,<br />
dann können auch die Profite der Finanzwirtschaft,<br />
der Industrie und Banken<br />
und die Großvermögen so besteuert<br />
werden, um Arbeitsplätze, Löhne,<br />
öffentliche <strong>Die</strong>nste und soziale Absicherung<br />
zu finanzieren. <strong>Die</strong> Steuerparadiese,<br />
die die USA und Europa in einigen<br />
Ländern und Fürstentümern sprießen<br />
lassen, müssen abgeschafft werden.<br />
Einfache Maßnahmen müssen umgesetzt<br />
werden zur Beendigung des Steuerdumpings<br />
und zur Vereinheitlichung<br />
der Steuersätze auf Unternehmensgewinne.<br />
<strong>Die</strong> Krise wirft aber eine weitere<br />
Frage auf: Wer kontrolliert, wer entscheidet<br />
und wer besitzt? Hier geht es<br />
um die öffentliche und gesellschaftliche<br />
Aneignung. Als generelles Gesetz<br />
muss gelten, dass die öffentlichen <strong>Die</strong>nste<br />
von den Konkurrenzprinzipien ausgenommen<br />
werden und ein öffentliches<br />
Monopol über strategische öffentliche<br />
<strong>Die</strong>nste errichtet wird. An die Stelle<br />
des Privateigentums der wirtschaftlichen<br />
Schlüsselsektoren setzen wir das<br />
öffentliche und gesellschaftliche Eigentum<br />
dieser Sektoren. Das Bankensystem<br />
muss von Grund auf umstrukturiert<br />
werden. Der Banken- und Finanzsektor<br />
muss zusammengeschlossen und<br />
unter Kontrolle der Bevölkerung verstaatlicht<br />
werden.<br />
Das Zusammentreffen von Wirtschafts-<br />
und Umweltkrise machen einen<br />
Paradigmenwechsel und eine Ersetzung<br />
des Profitstrebens und des Wachstumsfetischismus<br />
durch die Logik der<br />
sozialen Bedürfnisse zwingend erforderlich.<br />
<strong>Die</strong>s setzt voraus, dass <strong>ganze</strong><br />
Wirtschaftssektoren wie etwa die Automobil-,<br />
Rüstungs- und Nuklearproduktion<br />
konvertiert werden, um das soziale<br />
und ökologische Gleichgewicht zu<br />
wahren. Das „Gemeinwohl“ gerät zum<br />
Ziel eines ausgewogenen Wachstums<br />
auf ökosozialistischer Grundlage, was<br />
eine demokratische Planung unerlässlich<br />
macht.<br />
Einige dieser Ziele erscheinen unter<br />
den gegenwärtigen sozialen Kräfteverhältnissen<br />
unerreichbar. Aber die<br />
Krise erfordert radikale Lösungen und<br />
somit eine Konfrontation mit den herrschenden<br />
Klassen. Für diesen Kampf<br />
bedarf es außergewöhnlicher sozialer<br />
und politischer Mobilisierungen. <strong>Die</strong><br />
Diskussionen über den Zusammenhang<br />
von Teilkämpfen, Massenbewegungen<br />
und Gener<strong>als</strong>treik werden wieder auf<br />
der Tagesordnung stehen. In diesem Zusammenhang<br />
müssen die RevolutionärInnen<br />
die Integration in die reale Massenbewegung,<br />
Aktionseinheit, kämpferische<br />
Initiativen und globale sozialistische<br />
Antworten miteinander verbinden.<br />
Der Kampf für Teilreformen und<br />
Veränderung der Gesellschaft stellt die<br />
Machtfrage. <strong>Die</strong> sozialdemokratischen<br />
Führer kritisieren oft an der radikalen<br />
Linken, dass sie sich vor Verantwortung<br />
und Regierungsübernahme drücke. Um<br />
diese Anschuldigung zu widerlegen,<br />
müssen die AntikapitalistInnen beweisen,<br />
dass sie aktiv die Bedingungen herstellen<br />
wollen, dass eine breite, selbstorganisierte<br />
Massenbewegung die politische<br />
Szene betritt und eine Regierung<br />
des Volkes durchsetzt, die ein soziales,<br />
demokratisches und antikapitalistisches<br />
Programm umsetzt. <strong>Die</strong>se Perspektive<br />
einer Regierung, die mit dem Kapitalismus<br />
bricht, ist nicht vereinbar mit einer<br />
Beteiligung an sozialliberalen Regierungen<br />
mit den sozialdemokratischen<br />
oder Mitte-Links-Parteien.<br />
All diese Kämpfe müssen letztlich<br />
zusammenfallen mit einer sozialistischen<br />
oder ökosozialistischen Perspektive,<br />
die die Grundzüge einer alternativen<br />
Gesellschaft, einer neuen Produktions-<br />
und Konsumptionsweise, eines<br />
neuen Demokratieverständnisses – einer<br />
sozialistischen Demokratie liefert.<br />
François Sabado ist leitendes Mitglied der<br />
NPA und der IV. Internationale<br />
Übersetzung: MiWe<br />
inprekorr 458/459 13
FRAUEN<br />
<strong>Die</strong> Frauen und die Zivilisationskrise<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, dass die verschiedenen Aspekte der globalen Krise des<br />
Kapitalismus heute zusammenfallen, bestärkt uns in unserer Ansicht,<br />
dass wir uns in wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Systemkrisen<br />
befinden, die wegen ihrer Gleichzeitigkeit zu einer Zivilisationskrise<br />
führen.<br />
In diesem Artikel wollen wir aufzeigen, inwiefern diese Krise die<br />
Frauen besonders trifft.<br />
<strong>Die</strong>ser Beitrag ist aus dem Frauen-Seminar am IIRE vom Juli 2009<br />
hervorgegangen und wird dem im Februar 2010 stattfindenden Weltkongress<br />
zur Diskussion unterbreitet.<br />
Bereits vor der Krise hatten die Frauen<br />
das schlechteste Los gezogen. Es ist<br />
deshalb nicht überraschend, wenn sie<br />
die Folgen dieser Katastrophen stärker<br />
zu spüren bekommen. Trotz der<br />
mit den Frauenkämpfen erzielten Fortschritte<br />
bleibt ihre Schlechterstellung<br />
auf dem Arbeitsmarkt der Spiegel der<br />
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />
und der Schlechterstellung der Frauen<br />
innerhalb der patriarchalen kapitalistischen<br />
Familie. Familie und Schule<br />
halten weiterhin die Vorstellung am Leben,<br />
wonach die Frauen gegenüber den<br />
Männern im Grunde genommen minderwertig<br />
sind oder dass sie im besten<br />
Fall <strong>als</strong> Betreuerinnen von Kindern und<br />
betagten Menschen eine andere Berufung<br />
haben. Auf diese Vorstellung stützt<br />
sich dann der Staat ab, um beim öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nst abzubauen. <strong>Die</strong> Familie<br />
bleibt der Ort, wo Frauen am meisten<br />
Gewalt und Repression ausgesetzt sind.<br />
Macht euch nichts vor: Das was<br />
heute an ihnen ausprobiert wird, damit<br />
nicht die Kapitalisten für die Krise<br />
bezahlen müssen, wird morgen der<br />
<strong>ganze</strong>n Arbeiterklasse aufgezwungen,<br />
wie wir dies an vielen anderen Beispielen<br />
gesehen haben, insbesondere bei<br />
der Teilzeitarbeit.<br />
Als politische Organisation und bei<br />
Mobilisierungen müssen wir bei der<br />
Formulierung von Forderungen auf die<br />
spezifische Unterdrückung der Frauen<br />
hinweisen. Das heißt, dass wir in bestimmten<br />
Fällen spezifische Frauenforderungen<br />
aufstellen (zum Beispiel das<br />
Recht auf Abtreibung und das Recht<br />
auf eine Altersrente), dass wir aber<br />
auch in allem, was wir sonst sagen, ihren<br />
Standpunkt miteinbringen.<br />
<strong>Die</strong> Forderung nach Verkürzung<br />
der Tages- oder Wochenarbeitszeit zum<br />
Beispiel ist im Interesse der Lohnabhängigen.<br />
Sie ist aber besonders wichtig<br />
für Frauen mit einem doppelten Arbeitstag.<br />
Ein anderes Beispiel: Infolge<br />
der Finanzkrise fordern wir die Verstaatlichung<br />
der Banken, obwohl wir<br />
wissen, dass die Wirtschaftskrise keine<br />
bloße Bankenkrise ist. Aber die Frauen<br />
<strong>als</strong> einer der ärmsten Teile der Arbeiterklasse<br />
leiden besonders unter höheren<br />
Zinsen und erschwertem Zugang<br />
zu Krediten.<br />
Das Umfeld, in dem wir diese Forderungen<br />
aufstellen, ist selbstverständlich<br />
je nach Land unterschiedlich, und<br />
sie müssen der konkreten Realität angepasst<br />
sein, in welcher wir tätig sind.<br />
Das von den belgischen GenossInnen<br />
erarbeitete Programm zu den Europawahlen<br />
2009 „Ein ökosozialistisches<br />
Europa wird feministisch sein oder es<br />
wird nicht sein“ ist dafür ein gutes Beispiel.<br />
<strong>Die</strong> Frauen beteiligen sich am<br />
Widerstand gegen die Abbaupolitik<br />
und am Kampf für eine ökosozialistische<br />
und feministische Welt, die in<br />
unserem Alltag immer notwendiger<br />
wird. Dafür müssen sie sich unbedingt<br />
selber organisieren. Der Erfolg<br />
der Frauen in Ecuador mit der Verfassunggebenden<br />
Versammlung und der<br />
Kampagne gegen die öffentliche Verschuldung<br />
waren keine Geschenke<br />
von Correa sondern das Ergebnis der<br />
Selbstorganisierung der Frauen. Damit<br />
konnten sie ein Kräfteverhältnis<br />
aufbauen, das den Sieg erst möglich<br />
machte.<br />
<strong>Die</strong> Frauen und der Klimawandel<br />
<strong>Die</strong> meisten Frauen in den Ländern des<br />
Südens leben in Armut und Ungleichheit.<br />
Sie sind zuerst von der Klimakrise<br />
betroffen, die wegen der Abgase entstanden<br />
ist, die hauptsächlich von den<br />
Ländern des Nordens produziert werden.<br />
80 % der 1,3 Milliarden Menschen,<br />
die unter der Armutsgrenze leben,<br />
sind Frauen.<br />
Im Süden stellen die Frauen 80 %<br />
der Nahrungsmittel her. Das Voranschreiten<br />
der Wüste, der Wassermangel<br />
usw. beeinflussen ihr tägliches Leben<br />
enorm. Wenn Menschen ihren angestammten<br />
Lebensraum verlassen müssen,<br />
weil sie wegen des Klimawandels<br />
keine Lebensmittel mehr anbauen können,<br />
sind die meisten von ihnen Frauen<br />
und Kinder.<br />
Laut einem von Oxfam im Juni<br />
2009 veröffentlichten Bericht „The<br />
Winds of Change: Climate change,<br />
poverty and the environment in<br />
Malawi“ (Strömungen der Veränderung:<br />
Klimawandel, Armut und Umwelt<br />
in Malawi) sind die Frauen die<br />
ersten Opfer des Klimawandels wegen<br />
der vielen Rollen, die sie übernehmen<br />
müssen: Bäuerinnen, Beschafferinnen<br />
von Nahrungsmitteln, Wasser,<br />
Brennholz und Betreuerinnen der Kinder.<br />
Der Bericht weist darauf hin, dass<br />
Malawis Frauen keinerlei Einfluss auf<br />
die im Land gefällten Entscheidungen<br />
haben und dass der Klimawandel die<br />
Ungleichheiten noch verstärkt. Weiter<br />
heißt es in dem Bericht, dass mit einer<br />
weiteren Zunahme der Armut der<br />
Druck auf die Frauen zunehmen wird,<br />
sich zu prostituieren, um so zu Nahrungsmitteln<br />
zu kommen, womit wiederum<br />
das Risiko steigt, dass sie sich<br />
mit dem HIV-Virus anstecken. Mit der<br />
Zunahme der Ansteckungen wiederum<br />
wird die Widerstandskraft der Bevölkerung<br />
gegenüber dem Klimachaos<br />
weiter geschwächt.<br />
Im Jahr 2008 ist die Zahl der unterernährten<br />
Menschen um 800 000 gewachsen<br />
und hat weltweit die Zahl von<br />
14 inprekorr 458/459
FRAUEN<br />
einer Milliarde überschritten. Gleichzeitig<br />
sind in dieser Zivilisationskrise<br />
wieder Krankheiten im Vormarsch wie<br />
die Cholera, die vermeidbar wären.<br />
Der Kampf der Frauen für den Zutritt<br />
zu öffentlichen Schulen und zu<br />
einem kostenlosen Gesundheitswesen,<br />
zu Abtreibung, Verhütung und sexueller<br />
Aufklärung ist ein wesentliches Element<br />
im Kampf gegen die Klimakrise<br />
im Süden. In Kampagnen zur Verteidigung<br />
und für den Ausbau dieser wichtigen<br />
Rechte stehen sie oft in den ersten<br />
Reihen.<br />
<strong>Die</strong> Ne0-Malthusianer behaupten,<br />
der Planet sei überbevölkert. Sie versuchen,<br />
das Recht der Frauen, über ihren<br />
Körper selber zu bestimmen, einzuschränken.<br />
<strong>Die</strong>se Herangehensweise<br />
ist rassistisch, da das Bevölkerungswachstum<br />
in den Ländern des Südens<br />
größer ist <strong>als</strong> im Norden. Wir kämpfen<br />
für mehr Rechte der Frauen bei der Geburtenkontrolle.<br />
Gleichzeitig kämpfen<br />
wir für die Ausrottung der Armut. Nur<br />
so kann der Bevölkerungsdruck reduziert<br />
werden. Ebenso bekämpfen wir<br />
den kapitalistischen Konsumwahn, den<br />
Konsum von Produkten ohne jeden Gebrauchswert,<br />
die noch dazu umweltbelastend<br />
sind.<br />
Der wachsende Einfluss des Agrobusiness,<br />
die Herstellung von Äthanol<br />
(Kraftstoff aus Pflanzen) und der<br />
Verkauf von Boden an multinationale<br />
Konzerne zur Gewinnung von Erdöl<br />
und anderen Rohstoffen führen dazu,<br />
dass die Kleinbauern immer mehr<br />
Anbaufläche und immer mehr von ihrer<br />
Selbständigkeit verlieren. <strong>Die</strong> Mehrheit<br />
von ihnen sind Frauen, oft Angehörige<br />
indigener Völker. <strong>Die</strong> Pestizide<br />
zerstören die Bioproduktion der Kleinbauern/bäuerinnen.<br />
<strong>Die</strong> indigenen Frauen und landlosen<br />
Bäuerinnen spielen bei der Verteidigung<br />
der Ökosysteme des Urwalds<br />
die Hauptrolle. Sie versuchen zu verhindern,<br />
dass die Regierungen sie zur<br />
Äthanolproduktion, zur Gewinnung<br />
von Wasser, tropischen Hölzern (die<br />
sehr langsam wachsen), Erdöl und verschiedenen<br />
Erzen an die Meistbietenden<br />
und an multinationale Konzerne<br />
verschachern. <strong>Die</strong> Aktionen der Frauen<br />
von Via Campesina in Brasilien, die<br />
die Eukalyptus-Plantagen der Aracruz<br />
Celulosa zerstört haben, sind ein siegreiches<br />
Beispiel ihrer führenden Rolle<br />
bei der Verteidigung der Biosphäre.<br />
In vielen indigenen Dörfern spielen sie<br />
Im Süden stellen die Frauen 80 % der Nahrungsmittel her.<br />
auch die Hauptrolle bei der Verteidigung<br />
des Bodens ihrer Ahnen.<br />
• Senkung des Energieverbrauchs<br />
durch die Einstellung energieintensiver<br />
Produktionen wie die Waffenindustrie,<br />
die Atomindustrie, die<br />
Werbung, die Ausdehnung des Luftverkehrs!<br />
• Förderung der lokalen Produktion<br />
und der lokalen Landwirtschaft!<br />
• Stopp der Verwendung gefährlicher<br />
Energiequellen und Förderung erneuerbarer<br />
Energien!<br />
• Qualitativ hochstehender kostenloser<br />
öffentlicher Verkehr!<br />
<strong>Die</strong> Frauen und die Wirtschaftskrise<br />
Als Folge der neoliberalen Globalisierung<br />
hat die prekarisierte Arbeit mit<br />
Kurzzeitverträgen und die Teilzeitarbeit<br />
stark zugenommen. Gleichzeitig<br />
hat sich der informelle Sektor vom Süden<br />
in Regionen des Nordens ausgedehnt<br />
sowie auf Sektoren übergegriffen,<br />
die früher zur formellen Wirtschaft<br />
gehörten.<br />
<strong>Die</strong> Mehrheit jener, die im informellen<br />
Sektor arbeiten, sind Frauen<br />
und Kinder. 1 – 2 % der Weltbevölkerung<br />
zum Beispiel, die in Städten leben,<br />
versuchen mit dem Sortieren von<br />
Abfall auf den Abfallhalden zu überleben.<br />
<strong>Die</strong> Mehrheit von ihnen sind<br />
Frauen und Kinder. <strong>Die</strong> Nachfrage der<br />
Industrie nach Papier, das aus Altpapier<br />
gewonnen wird, ist vor allem in China<br />
wegen der Rezession bereits rückläufig.<br />
Das heißt, die Preise für diese Produkte<br />
sinken stark. Jener Teil der Bevölkerung,<br />
der vom Einsammeln und<br />
vom Verkauf von Altpapier lebt, befindet<br />
sich folglich in einer viel schwierigeren<br />
Überlebenslage.<br />
Man sieht: In einer Rezession geht<br />
im informellen Sektor Arbeit verloren<br />
und gleichzeitig verlagern sich Arbeitsplätze<br />
vom formellen zum informellen<br />
Sektor. Exportindustrien des<br />
Südens wie die Textilindustrie, in der<br />
viele Frauen beschäftigt waren, sind<br />
schnell gewachsen: In den letzten sieben<br />
Jahren wurden z. B. in Afrika über<br />
100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.<br />
Doch mit der Krise ist die Nachfrage<br />
eingebrochen. Auf den Philippinen<br />
sind in der Textilindustrie, in der<br />
Halbleiter- und in der Elektronikindustrie,<br />
wo die Mehrheit der Lohnabhängigen<br />
Frauen sind, an einem einzigen<br />
Tag 42 000 Arbeitsplätze verschwunden.<br />
(Oxfam Report, Paying the Price<br />
for the Economic Crisis, März 2009).<br />
Im Kleingewerbe, wo für den Export<br />
produziert wird, sind die Lohnabhängigen<br />
praktisch rechtlos. Das heißt,<br />
die meisten Frauen, die in diesem Bereich<br />
ihre Arbeit verloren haben, haben<br />
weder Abfindungen noch Arbeitslosengeld<br />
erhalten. Dort, wo es gesetzlich<br />
festgelegte Rechte gibt, werden sie<br />
von den Unternehmern missachtet, da<br />
es keine Angestelltenverbände gibt, die<br />
dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten<br />
werden.<br />
Mikrokredite haben sich stark verbreitet,<br />
so dass eine wachsende Anzahl<br />
Frauen des Südens eine gewisse wirtschaftliche<br />
Unabhängigkeit erlangten.<br />
Aber mit der Rezession wurden viel<br />
weniger Kredite zugesprochen, was<br />
inprekorr 458/459 15
FRAUEN<br />
sich auf die wirtschaftliche und folglich<br />
soziale und politische Unabhängigkeit<br />
der Frauen negativ ausgewirkt<br />
hat.<br />
Der Verlust von Arbeitsplätzen im<br />
formellen Sektor <strong>als</strong> Folge der Krise<br />
hat sich in den verschiedenen Ländern<br />
unterschiedlich ausgewirkt. In der Autoindustrie<br />
– einer der am härtesten getroffenen<br />
Sektoren – arbeiten mehrheitlich<br />
männliche Lohnabhängige. In den<br />
hochindustrialisierten kapitalistischen<br />
Ländern, wo die Krise bereits hart<br />
zugeschlagen hat, gingen im <strong>Die</strong>nstleistungssektor<br />
viele Arbeitsplätze verloren<br />
– ein Bereich, in dem die Mehrheit<br />
der Lohnabhängigen Frauen sind.<br />
Es ist zu erwarten, dass dieser Sektor<br />
bald in weiteren Ländern betroffen sein<br />
wird.<br />
Obwohl nach Geschlecht getrennte<br />
Erwerbslosenzahlen schwer zu finden<br />
sind, scheint es, dass der bisherige Unterschied<br />
sich nicht vergrößert hat. <strong>Die</strong>s<br />
wird sich jedoch schlagartig ändern,<br />
sobald die Krise im <strong>Die</strong>nstleistungsbereich<br />
stärker spürbar wird. Nach Oxfam<br />
werden die Frauen im Süden von der<br />
Mehrheit der verlorenen Arbeitsplätze<br />
betroffen sein. In den USA hat die<br />
Arbeitslosigkeit im Mai 2009 bei den<br />
Frauen stärker zugenommen <strong>als</strong> bei den<br />
Männern (5,6 % bei den Frauen, 4,1 %<br />
bei den Männern – Womenstake.org).<br />
<strong>Die</strong> lohnabhängigen Frauen sind<br />
bei Schwangerschaft nach wie vor benachteiligt,<br />
trotz Gesetzen in den hochentwickelten<br />
kapitalistischen Ländern,<br />
die sie davor schützen sollten. Hinter<br />
den Diskriminierungen gegenüber<br />
Frauen im gebärfähigen Alter steckt<br />
die Tatsache, dass sie schwanger werden<br />
könnten. In Großbritannien scheint<br />
sich dies in der Rezession noch verstärkt<br />
zu haben. Dazu schreibt das „Bündnis<br />
gegen die Diskriminierung bei<br />
Schwangerschaft“, ein Bündnis mehrerer<br />
Gruppen, das gegen dieses Problem<br />
eine Kampagne macht:<br />
„<strong>Die</strong> Entlassungen schwangerer<br />
Frauen und jünger Mütter haben extrem<br />
stark zugenommen. Einige Unternehmer<br />
scheinen die Rezession dazu zu<br />
benutzen, das Antidiskriminierungsgesetz<br />
zu umgehen. Seitdem sich die Wirtschaft<br />
verlangsamt hat, werden unsere<br />
Organisationen von viel mehr schwangeren<br />
Frauen oder jungen Müttern angerufen,<br />
die diskriminiert werden. Wir<br />
kennen konkrete Fälle von Frauen, die<br />
entlassen wurden, weil sie schwanger<br />
waren, oder von Müttern, die nach<br />
dem Mutterschaftsurlaub an ihren Arbeitsplatz<br />
zurückkehrten und feststellen<br />
mussten, dass ihre Stelle weg war.<br />
Schon vor der Rezession schätzte<br />
die Kommission für Chancengleichheit<br />
die Zahl entlassener schwangerer<br />
Frauen auf 30 000 pro Jahr, und diese<br />
Zahl wird wahrscheinlich ansteigen.<br />
<strong>Die</strong>se schockierende Folge der Rezession<br />
ist nicht nur unmoralisch und schadet<br />
der Gleichstellung der Geschlechter<br />
am Arbeitsplatz enorm – sie ist auch<br />
gesetzeswidrig.“ (www.fawcettsociety.<br />
org.uk/documents/AllianceAgainstPregnancyDiscrimination.pdf)<br />
Das erste sichtbare Zeichen der gegenwärtigen<br />
Krise, die Subprime-Krise<br />
in den USA, hat die Frauen besonders<br />
hart getroffen – vor allem die farbigen<br />
Frauen. Zweiunddreißig Prozent<br />
der Frauen mit einem Hypothekarkredit<br />
haben einen Subprime-Kredit gegen<br />
24 % der Männer. <strong>Die</strong> HausbesitzerInnen<br />
afroamerikanischer Herkunft<br />
oder Latinos/as haben ein um zusätzliche<br />
30 % höheres Risiko, ein Hochrisiko-Darlehen<br />
(Subprime) zu bekommen<br />
(Ms Foundation for Women).<br />
Während einer verlangsamten Wirtschaftsentwicklung<br />
steigt die Armutsrate<br />
selbstverständlich an. <strong>Die</strong> Preise<br />
für Güter des Grundbedarfs wie Nahrungsmittel,<br />
Transport und Energie steigen,<br />
ebenso die Zahl der armen Familien.<br />
Ist eine Familie einmal in Armut,<br />
kommt sie nur sehr schwer dort wieder<br />
heraus. Man nimmt an, dass 60 % der<br />
Familien, die zu den 20 % tiefsten Einkommen<br />
gehören, auch noch 10 Jahre<br />
später in der gleichen Lage sind (Ms<br />
Foundation for Women).<br />
Wenn die Frauen weder heute noch<br />
in der Zukunft Aussicht auf eine bezahlte<br />
Arbeit haben, selbst im ständig<br />
wachsenden informellen Sektor<br />
nicht mehr, dann – so lehrt uns die Geschichte<br />
– wenden sie sich <strong>als</strong> einziger<br />
annehmbaren Alternative wieder vermehrt<br />
der Heirat und der Kinderbetreuung<br />
zu. Andere werden ihren Körper<br />
verkaufen, um ihren Kindern ein Dach<br />
über dem Kopf bezahlen zu können.<br />
• Verstaatlichung der Banken unter<br />
der Kontrolle der Bevölkerung, Gewährung<br />
von mehr Kleinkrediten<br />
und verstärkte staatliche Hilfe speziell<br />
an die Frauen!<br />
• Verkürzung der Tages/Wochenarbeitszeit<br />
ohne Lohneinbuße!<br />
• Abschaffung der befristeten Arbeitsverträge,<br />
unbefristete Anstellung mit<br />
allen Rechten für alle!<br />
• Gegen jede Benachteiligung am<br />
Arbeitsplatz auch wegen des Geschlechts,<br />
des Zivilstandes, des Alters<br />
oder der geschlechtlichen Orientierung!<br />
• Schaffung neuer Arbeitsplätze für<br />
Männer und Frauen!<br />
• Keine Benachteiligungen bei den<br />
Altersrenten und den Sozialhilfebeiträgen!<br />
<strong>Die</strong> Frauen und der öffentliche<br />
<strong>Die</strong>nst<br />
Das Grundangebot an <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
muss unbedingt verteidigt werden –<br />
an erster Stelle das Wasser aber auch<br />
Strom, Wohnen und Transport – und<br />
es muss unter öffentlicher Kontrolle<br />
stehen und zahlbar sein – wenn möglich<br />
kostenlos. <strong>Die</strong> Frauen haben in den<br />
Kämpfen für ein Grundangebot und für<br />
dessen Ausweitung eine führende Rolle<br />
gespielt, vom siegreichen Kampf gegen<br />
die Privatisierung des Wassers in<br />
Cochabamba (Bolivien) im Jahr 2000<br />
bis zu den Kämpfen gegen die Privatisierung<br />
der Bahnen, des Reis- und<br />
Baumwollanbaus in Mali.<br />
In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise<br />
werden die neoliberale Privatisierungspolitik<br />
und der Abbau der öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nste ununterbrochen weitergehen.<br />
Davon werden besonders die<br />
Frauen betroffen sein, da sie die Mehrheit<br />
der Lohnabhängigen im öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nst stellen und am meisten<br />
davon abhängig sind. <strong>Die</strong> Angriffe auf<br />
die Gesundheitswesen in Europa sind<br />
dafür ein ständiges Beispiel. In Frankreich<br />
werden die öffentlichen und kostenlosen<br />
Krippen für Kinder ab zwei<br />
Jahren geschlossen zugunsten privater<br />
und zu bezahlender Kindergärten, was<br />
zum Verlust von Arbeitsplätzen im öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nst und zur Verteuerung<br />
der Kinderbetreuung führt. In Mexiko<br />
hat die Auslagerung einer wachsenden<br />
Zahl staatlicher Kleinkinderzentren<br />
an Manager-Eigentümer zu einer drastischen<br />
qualitativen Verschlechterung<br />
des Angebots geführt. <strong>Die</strong> grausamste<br />
Folge davon war der Tod von 48 Kindern<br />
im Juni 2009 bei einem Brand in<br />
einem Kinderzentrum in Hermosillo,<br />
Sonora. Das Zentrum gehörte Familienangehörigen<br />
hochgestellter Regierungsmitglieder<br />
und befand sich im gleichen<br />
16 inprekorr 458/459
FRAUEN<br />
Gebäude wie ein Warenlagerhaus. Wegen<br />
der Korruption und Straffreiheit der<br />
Verantwortlichen hat das Entsetzen zu<br />
einer Bewegung geführt, in deren Folge<br />
die Regierungspartei den Gouverneursposten<br />
verlor, aber die Schuldigen<br />
sind immer noch auf freiem Fuß.<br />
In jenen Ländern, in denen die Abtreibung<br />
unter bestimmten Voraussetzungen<br />
gesetzlich erlaubt ist, sind Abtreibungen<br />
und Empfängnisverhütung<br />
wegen der Abbaumaßnahmen im Gesundheitswesen<br />
schwieriger geworden.<br />
<strong>Die</strong> Frauenhäuser (für Opfer von Vergewaltigungen<br />
und von Gewalt) und<br />
andere Fraueneinrichtungen erhalten<br />
weniger Subventionen. Unter dem Vorwand<br />
„notwendiger Sparmaßnahmen“<br />
kürzen die einen gern solche Subventionen,<br />
weil sie solche Einrichtungen<br />
für Zusatzeinrichtungen halten, andere,<br />
weil sie immer dagegen waren.<br />
Soziale <strong>Die</strong>nste werden in ganz Europa<br />
zunehmend privatisiert. Zumindest<br />
trifft das zu auf Frankreich, Schweden,<br />
Belgien und Großbritannien. Es geht<br />
um Frauen, die für Arbeiten in Privathaushalten<br />
bessergestellter Familien<br />
angestellt werden (Putzen, Wäsche,<br />
Zubereitung von Mahlzeiten, Kinderbetreuung,<br />
manchmal auch für die Betreuung<br />
Behinderter oder älterer Menschen).<br />
Sie sind beim Staat angestellt<br />
oder bei Privatunternehmen. <strong>Die</strong>se<br />
Frauen arbeiten manchmal an fünf verschiedenen<br />
Orten, an jedem Ort lediglich<br />
eine begrenzte Stundenzahl. <strong>Die</strong><br />
Zeit für den Weg zwischen den Einsatzorten<br />
ist oft gleich lang wie die<br />
Einsatzzeit. <strong>Die</strong>se Arbeitsstellen haben<br />
einen sehr tiefen Status ohne große soziale<br />
Absicherung. Der Ausbau dieser<br />
<strong>Die</strong>nste dient dann <strong>als</strong> Argument, um<br />
im öffentlichen <strong>Die</strong>nst abzubauen, insbesondere<br />
in den Altersheimen.<br />
<strong>Die</strong> Niedriglöhne in diesem Bereich<br />
führen zur Armut der betroffenen<br />
Frauen. Nach den „Reformen“ bei den<br />
Sozialversicherungen in vielen Ländern<br />
müssen Erwerbslose heute jede Arbeit<br />
annehmen, sonst verlieren sie ihr Recht<br />
auf Unterstützung. <strong>Die</strong> Lohnabhängigen<br />
können solche Arbeiten immer weniger<br />
verweigern und die Unternehmer<br />
verfügen immer mehr über immer billigere<br />
Arbeitskräfte. <strong>Die</strong>se Entwicklung<br />
führt dazu, dass die Unterschiede<br />
zwischen den wirtschaftlich und sozial<br />
besser gestellten Frauen und jenen<br />
Frauen immer größer werden, die sie<br />
für sich arbeiten lassen, die wirtschaftlich<br />
und sozial schlecht gestellt und oft<br />
Schwarze oder Migrantinnen sind.<br />
• Für die Verteidigung und den Ausbau<br />
des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes unter<br />
Kontrolle der Lohnabhängigen und<br />
der NutzerInnen!<br />
• Für den Ausbau öffentlicher Einrichtungen<br />
zur Kleinkinderbetreuung<br />
von hoher Qualität!<br />
<strong>Die</strong> Frauen und die Migration<br />
In den letzten 40 Jahren hat sich die<br />
Zahl der MigrantInnen weltweit mehr<br />
<strong>als</strong> verdoppelt, während der prozentuale<br />
Anteil an der Weltbevölkerung ziemlich<br />
stabil geblieben ist. Es sind dies<br />
heute 175 Millionen, das sind ca. 3,5 %<br />
der Weltbevölkerung. Beinahe die<br />
Hälfte davon sind Frauen, obwohl sich<br />
die Meinung hartnäckig hält, dass die<br />
Mehrheit der MigrantInnen aus Männern<br />
besteht. <strong>Die</strong> Migration erfolgt in<br />
den meisten Fällen in ein Nachbarland,<br />
in einigen Ländern gibt es auch eine<br />
Binnenmigration, und es gibt die Migration<br />
auf andere Kontinente.<br />
Das von den MigrantInnen nach<br />
Hause geschickte Geld spielt in mehreren<br />
Ländern des Südens eine wirtschaftlich<br />
ausschlaggebende Rolle. 2008 beliefen<br />
sich diese Überweisungen auf<br />
den Philippinen auf 16,4 Milliarden<br />
US$. Im März 2009 waren es allein bereits<br />
1,47 Milliarden US$. In sieben<br />
Ländern Lateinamerikas und der Karibik<br />
machen diese Überweisungen über<br />
10 % des Bruttoinlandprodukts aus und<br />
übersteigen die Einnahmen in US$ aus<br />
den wichtigsten Exporten.<br />
Mit der sich vertiefenden Krise<br />
wird die Frauenmigration noch zunehmen.<br />
Aus folgenden Gründen:<br />
Sie wandern aus, weil sie keine Arbeit<br />
mehr finden oder weil die Arbeit so<br />
unterbezahlt ist, dass sie für den Unterhalt<br />
einer Familie nicht ausreicht. Auf<br />
den Philippinen gibt es 4,5 Mio. Familien,<br />
die sich nicht einmal das Minimum<br />
an Lebensmitteln leisten können.<br />
In einigen Fällen sind die Frauen<br />
unter den MigrantInnen tatsächlich in<br />
der Mehrheit: Von den philippinischen<br />
MigrantInnen sind 70 % Frauen. Meistens<br />
arbeiten sie schwarz <strong>als</strong> Hausangestellte.<br />
<strong>Die</strong> Revolutionäre Arbeiterpartei<br />
der Philippinen (RPMP 1 , philip-<br />
1 <strong>Die</strong> Abk. ergibt sich aus Rebolusyonaryng Partido<br />
ng Maggaqawa ng Pilipinos.<br />
pinische Sektion der IV. Internationale)<br />
entwickelt eine politische Arbeit in Europa,<br />
um die philippinischen Migrantinnen<br />
zu organisieren und um ihnen<br />
mehr Rechte zu verschaffen.<br />
Wie viele Frauen in Asien, Afrika,<br />
Lateinamerika und Osteuropa arbeiten<br />
die Philippinas <strong>als</strong> Hausangestellte. Sie<br />
sind ein Glied im weltweiten System<br />
der Hausarbeit. <strong>Die</strong> Frauen der ersten<br />
Welt wollen sich von der Hausarbeit<br />
befreien und im öffentlichen Leben<br />
Karriere machen. Für die Hausarbeit<br />
suchen sie sich eine andere Frau. <strong>Die</strong><br />
Migration der Hausangestellten entsteht<br />
<strong>als</strong>o aus einer Nachfrage, die ihrerseits<br />
die Folge der geschlechtsspezifischen<br />
Aufteilung des Arbeitsmarktes<br />
in jenen Ländern ist, die diese Migrantinnen<br />
brauchen. <strong>Die</strong> Philippinas, die<br />
dieser Nachfrage Folge leisten, haben<br />
ebenfalls Kinder zu Hause. Wegen der<br />
Arbeitsteilung in den Privathaushalten<br />
können sie von ihren Männern nicht<br />
verlangen, dass sie die Hausarbeiten<br />
übernehmen. Hinzu kommt, dass ihre<br />
Männer ebenfalls oft Migranten sind,<br />
und zwar auf dem Bau.<br />
<strong>Die</strong> Migrantinnen lösen ihr Problem<br />
damit, dass sie ihrerseits eine<br />
Frau für die Hausarbeit anstellen. In<br />
der Familie, die nicht emigriert, in der<br />
die Mutter aber abwesend ist (außer<br />
Haus arbeitet), besteht folglich ebenfalls<br />
eine Nachfrage nach Kinderbetreuung.<br />
Da sich diese Familie keine<br />
Hausangestellte leisten kann, wird<br />
diese Arbeit von der ältesten Tochter<br />
übernommen.<br />
Am Schluss dieser weltweiten Kette<br />
betreut die älteste Tochter ihre Geschwister,<br />
sie hat <strong>als</strong>o weniger Zeit<br />
zum Spielen, zum Lernen oder für eine<br />
Arbeit außer Haus. Oft kümmert<br />
sich auch die Großmutter um die Kinder<br />
der emigrierten Frau. <strong>Die</strong>s mindert<br />
den Druck auf die älteren Kinder, bedeutet<br />
aber, dass sich die Großmütter<br />
40 bis 50 Jahre lang um Kinder kümmern.<br />
Jede Frau in dieser Kette hat<br />
das Gefühl, ihre Pflicht zu erfüllen, jede<br />
gibt die versteckten Kosten an die<br />
nächste weiter und am Schluss befindet<br />
sich die älteste Tochter der Familie, die<br />
nicht emigriert. In dieser Kette nimmt<br />
der Wert der Kinderbetreuung laufend<br />
ab und am Schluss ist sie kostenlos.<br />
Den Migrantinnen-Familien fehlen<br />
die Zuneigung und die persönliche<br />
Betreuung durch ihre Mütter. <strong>Die</strong>se<br />
sind eine Ware auf dem Weltmarkt.<br />
inprekorr 458/459 17
FRAUEN<br />
<strong>Die</strong>se „neue Ware“ wird vom Staat<br />
gefördert und unterstützt. <strong>Die</strong> beiden<br />
Staatspräsidentinnen der Philippinen,<br />
Aquino und Arroyo, haben diese Migrantinnen<br />
zu „Heldinnen“ erklärt wegen<br />
der Opfer, die sie für ihre Familien<br />
erbringen und wegen der Fortschritte,<br />
die das Land dank ihrer Geldüberweisungen<br />
machen kann. Präsidentin<br />
Arroyo hat den Ländern im Nahen<br />
Osten versprochen, ihnen fleißige<br />
und ehrliche Hausangestellte zu schicken.<br />
<strong>Die</strong> Staatspräsidentinnen sprechen<br />
von diesen Migrantinnen <strong>als</strong> den<br />
„neuen Heldinnen“, um von deren Not<br />
infolge von Trennung und Ausbeutung<br />
abzulenken.<br />
<strong>Die</strong> Migrantinnen und ihre Familien<br />
werden auf dem Altar der neoliberalen<br />
Globalisierung geopfert. Jene, die<br />
<strong>als</strong> Hausangestellte arbeiten, sind direkte<br />
Opfer der globalen Finanzkrise.<br />
Sie können nicht einmal eine Abfindung<br />
verlangen, wenn sie entlassen werden,<br />
weil sie fast immer schwarz arbeiten.<br />
Eine Regierung wie die philippinische<br />
ignoriert ihre eigenen Gesetze<br />
zum Schutz der eigenen Migranten<br />
(Republic act 8042 – Migrant Workers<br />
and Overseas Filipino Act von<br />
1995). Seit 2002 wurden zum Beispiel<br />
in Saudiarabien sechs philippinische<br />
Arbeiter, darunter eine Frau, ermordet,<br />
andere wurden zum Tode verurteilt<br />
für Verbrechen, die sie nicht begangen<br />
hatten. <strong>Die</strong> Gewalt an Migrantinnen<br />
aus Asien, Afrika und Lateinamerika,<br />
die in anderen Ländern <strong>als</strong><br />
Hausangestellte arbeiten (Schläge,<br />
Vergewaltigung, Freiheitsberaubung),<br />
ist hinlänglich bekannt.<br />
Nicht alle Vertriebenen werden zu<br />
lohnabhängigen MigrantInnen. Zahlreiche<br />
Männer, Frauen und Kinder<br />
werden von Kriegen – auch von Bürgerkriegen<br />
– und vom Klimawandel<br />
vertrieben, weil ihr angestammter Lebensraum<br />
nicht mehr bewohnbar ist.<br />
Es gibt Leute, die ihre Heimat verlassen,<br />
um politischer Verfolgung zu entgehen.<br />
Frauen fliehen vor der Gewalt<br />
in der Familie oder vor einer Zwangsheirat.<br />
Viele Migranten fliehen <strong>als</strong> politische<br />
Flüchtlinge in der Hoffnung,<br />
im Land ihrer Wahl in Sicherheit leben<br />
zu können. Leider werden die meisten<br />
von ihnen ausgestoßen oder wie Profiteure<br />
behandelt.<br />
Auch der Frauenhandel hat zugenommen.<br />
<strong>Die</strong> am weitesten verbreitete<br />
Art ist der Frauenhandel für sexuelle<br />
Ausbeutung. <strong>Die</strong>se Frauen kommen<br />
vor allem aus Osteuropa, aus Lateinamerika<br />
und Asien nach Westeuropa.<br />
Dadurch ist ein weites Netz von<br />
Frauen entstanden, die zur Sexarbeit<br />
gezwungen werden. Auch die Zahl<br />
der Frauen, die in ihrem Herkunftsland<br />
wie Haussklavinnen gehalten<br />
werden, ist im Steigen begriffen. Eine<br />
Untersuchung peruanischer Feministinnen<br />
hat kürzlich gezeigt, dass<br />
die meisten Frauen, die in Peru selbst<br />
Opfer von Frauenhandel werden, indigene<br />
Frauen sind, die entführt und <strong>als</strong><br />
Arbeiterinnen in die Stadt geschickt<br />
werden. <strong>Die</strong>s zeigt klar die wachsende<br />
Ungleichheit im Land.<br />
Flüchtlingsfrauen oder Opfer von<br />
Frauenhandel haben noch weniger<br />
Rechte <strong>als</strong> lohnabhängige Migrantinnen.<br />
<strong>Die</strong> meisten Flüchtlingsfrauen<br />
bleiben in einem anderen Land des<br />
Südens. <strong>Die</strong> Lebensbedingungen der<br />
Flüchtlinge in den fortgeschrittenen<br />
kapitalistischen Ländern haben sich<br />
in den letzten Jahren mit dem Erlass<br />
strengerer Gesetze in den USA, Europa<br />
und Australien zum Zweck der Abschreckung<br />
verschlechtert. <strong>Die</strong>s hat<br />
unterschiedliche Formen angenommen:<br />
angefangen von erschwerten<br />
Grenzübertritten, Inhaftierung vieler<br />
Flüchtlinge – schwangere Frauen und<br />
Kinder jeder Altersstufe inbegriffen –<br />
bis zu unmenschlichen Bedingungen<br />
und erschwertem Zugang zu sozialen<br />
Rechten im „Gast“-Land.<br />
Es ist nicht mehr nur die extreme<br />
Rechte, die Flüchtlinge zu Sündenböcken<br />
für die Krise macht, sondern<br />
mehr und mehr tun dies auch Politiker<br />
von Mehrheitsparteien. Im Februar<br />
2009 hat Berlusconi mit der Abstimmung<br />
über ein Dringlichkeitsgesetz<br />
zynisch versucht, den Flüchtlingen<br />
und speziell den Roma Gewalt an<br />
Frauen anzulasten, gleichzeitig hat er<br />
aber die Staatsmacht ausgebaut.<br />
• Gegen die informelle Wirtschaft!<br />
• Für einen klar geregelten, normalisierten<br />
MigrantInnen-Status!<br />
Ideologie<br />
<strong>Die</strong> Zivilisationskrise ist auch der<br />
Motor für die Zunahme reaktionärer<br />
Ideen. Berlusconis Politik, den ImmigrantInnen<br />
die volle Schuld an der<br />
Krise zuzuschieben und dies <strong>als</strong> Vorwand<br />
zu benutzen, um harte Sicherheitsgesetze<br />
– folglich immigrantInnenfeindliche<br />
Gesetze – zu erlassen,<br />
ist dafür ein extremes Beispiel.<br />
Der zunehmende Einfluss der Religion<br />
auf wachsende Teile der Bevölkerung<br />
und der Fundamentalismus bei<br />
allen großen Religionen stellen eine<br />
Bedrohung dar. Der Frauenkörper ist<br />
ein Kampffeld für alle Fundamentalisten.<br />
Ein besonders krasses Beispiel ist<br />
Irland, wo die reaktionären Elemente<br />
der katholischen Kirche Irlands behauptet<br />
hatten, der Lissabonner Vertrag<br />
zwinge Irland zur Zulassung der<br />
Abtreibung, um so die reaktionäre<br />
Opposition gegen diesen Vertrag zu<br />
unterstützen, obwohl dieser Vertrag<br />
nichts über Abtreibung sagt. Dadurch<br />
wurde die EU dazu gezwungen, formelle<br />
Garantien abzugeben, wonach<br />
Irland bei Annahme des Vertrages die<br />
Abtreibung nicht legalisieren müsste,<br />
wie sie auch garantieren musste, dass<br />
die Neutralität Irlands gewahrt bleibe.<br />
Geheime Absprachen zwischen<br />
Rechtsregierungen und religiösen Hierarchien<br />
funktionieren von Italien bis<br />
zum Iran trotz der kürzlichen Veränderungen<br />
in den USA. Eine Folge dieser<br />
Veränderungen ist der Sturz der Bush-Regierung,<br />
die sich weigerte, Kurse<br />
über Verhütungsmittel und selbst<br />
Abtreibungen zu finanzieren. <strong>Die</strong>s hat<br />
eventuell einen positiven Einfluss auf<br />
die Rechte der Frauen insbesondere in<br />
Afrika. Doch die Ermordung von Dr.<br />
Tiller, einer der wenigen Ärzte in den<br />
USA, die auch Abtreibungen im fortgeschrittenen<br />
Stadium vornahmen,<br />
muss uns daran erinnern, dass der<br />
Fundamentalismus dort noch sehr lebendig<br />
ist.<br />
Der Fundamentalismus der Bush-<br />
Regierung hatte auch einen sehr negativen<br />
Einfluss auf die Aids-Bekämpfung<br />
in Afrika. Dadurch wurden viele<br />
Frauenleben zerstört. 61 % der Aids-<br />
Kranken in Afrika südlich der Sahara<br />
sind Frauen. In einigen Ländern stecken<br />
sich viel mehr junge Frauen an<br />
<strong>als</strong> junge Männer. In Swaziland zum<br />
Beispiel haben sich viermal mehr<br />
Frauen zwischen 15 und 24 Jahren<br />
mit dem HIV-Virus infiziert <strong>als</strong> Männer<br />
gleichen Alters. Fehlende Aufklärung<br />
über die Übertragung der Krankheit<br />
und die Geldgier der Arztneimittel-Unternehmen,<br />
was den Zugang zu<br />
Medikamenten bzw. Impfstoffen gegen<br />
die Retroviren in jenen Dörfern<br />
mit dem größten Bedarf massiv behin-<br />
18 inprekorr 458/459
FRAUEN<br />
derte, sind die Hauptursachen dieser<br />
katastrophalen Folgen.<br />
2008 haben die Sandinisten in Nicaragua<br />
in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch<br />
ihre politischen Überzeugungen<br />
über Bord geworfen, um<br />
die Wahlen zu gewinnen, obwohl<br />
nichts darauf hinwies, dass ihnen das<br />
mehr Stimmen bringen würde. Sie haben<br />
nicht nur ihre frühere Haltung aufgegeben,<br />
sondern auch die Frauenbewegung<br />
aktiv verfolgt, indem sie gegen<br />
neun Feministinnen Anklage erhoben,<br />
die einem neunjährigen Mädchen<br />
zur Abtreibung verholfen hatten,<br />
das Opfer einer Vergewaltigung geworden<br />
war. Ist es Zufall, dass es sich<br />
dabei um die gleichen Frauen handelte,<br />
die die Schwiegertochter des Präsidenten<br />
Daniel Ortega bei deren Klage<br />
gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs<br />
unterstützten?<br />
Dank geheimer Absprache in Mexiko<br />
zwischen der Rechtsregierung<br />
PAN und der PRI wurde in 13 Staaten<br />
ein Gesetz für das „Recht auf Leben“<br />
erlassen. Dadurch wurde die Ausweitung<br />
des Rechts auf Abtreibung in den<br />
ersten 12 Wochen, wie es von der PRD<br />
im Distrikt Mexiko-Stadt erlassen<br />
wurde, extrem erschwert. <strong>Die</strong>s wurde<br />
dadurch möglich, dass der Fortschritt<br />
im Distrikt Mexiko-Stadt auf höherer<br />
Regierungsebene erzielt wurde und<br />
nicht dank Massenmobilisierungen,<br />
die das Bewusstsein grundlegend hätten<br />
verändern können.<br />
<strong>Die</strong> Regierung Lula in Brasilien<br />
hat soweit an einem Kompromiss mit<br />
dem Vatikan gearbeitet, bis sogar die<br />
mögliche Einführung von Religionsunterricht<br />
an den Schulen geplant war.<br />
Ende 2008 hat der Präsident des Kongresses,<br />
Arlindo Chinaglia, eine parlamentarische<br />
Untersuchungskommission<br />
zur Abtreibung eingesetzt.<br />
Sie sollte prüfen, wie Frauen kriminalisiert<br />
werden können, die ein Gesetz<br />
für das Recht auf Abtreibung fordern,<br />
und jene, die von einem solchen<br />
Recht Gebrauch machen müssten. <strong>Die</strong><br />
staatliche Justiz des Mato Grosso do<br />
Sul hat in der Stadt Campo Grande<br />
über 10 000 Frauen wegen Schwangerschaftsabbruchs<br />
angeklagt. Dabei<br />
hat sie sich auf Ärzteregister einer<br />
geheimen Klinik gestützt. Ca. 1200<br />
Frauen droht nun eine Verurteilung.<br />
In Afghanistan, eines von drei Ländern<br />
weltweit, wo die Lebenserwartung<br />
der Frauen niedriger ist <strong>als</strong> die<br />
der Männer, wurde ein Gesetz erlassen,<br />
das die Vergewaltigung in der Ehe<br />
für legal erklärt. Zudem wurde eine<br />
Klausel diskutiert, wonach Männer ihre<br />
Frauen verhungern lassen könnten,<br />
wenn sie ihnen den sexuellen Kontakt<br />
verweigern. <strong>Die</strong>s geschieht in dem<br />
Land, von dem jene zynisch behauptet<br />
haben, die am 11. September 2001 in<br />
diesem Land den Krieg begannen, sie<br />
täten es zur Verteidigung der Rechte<br />
der Frauen. Doch die Regierung, die<br />
sie eingesetzt haben, ist ebenso reaktionär<br />
und hängt ebenso von den islamistischen<br />
Fundamentalisten ab wie ihre<br />
Vorgängerinnen (die ebenfalls vom<br />
US-amerikanischen Imperialismus<br />
eingesetzt worden waren).<br />
<strong>Die</strong> neue afghanische Verfassung<br />
lässt für die schiitischen Bevölkerungsgruppen<br />
ein separates „Familiengesetz“<br />
zu. Im Rahmen dieser Gesetze<br />
finden nun im Vorfeld der Wahlen<br />
vom Herbst 2009 die oben genannten<br />
Diskussionen statt. Wie in vielen<br />
anderen Fällen werden das Leben und<br />
der Körper der Frauen instrumentalisiert.<br />
<strong>Die</strong> afghanischen Frauen wehren<br />
sich – mit moralischer Unterstützung<br />
von Feministinnen anderer Länder<br />
–, aber ihre Proteste werden von<br />
den Fundamentalisten heftig angegriffen.<br />
Als Feministinnen werden wir<br />
noch von anderer Seite angegriffen:<br />
vom Postfeminismus und vom Männlichkeitswahn.<br />
<strong>Die</strong>se Strömungen sind<br />
der Meinung, dass der Feminismus<br />
„zu weit“ gegangen sei, und sie setzen<br />
die Theorie der Unterschiede ein, um<br />
das Recht der Frauen auf Abtreibung,<br />
auf Scheidung und auf Schutz vor Gewalt<br />
anzugreifen.<br />
• Vollständige Trennung von Staat<br />
und Religionen, gegen den Einfluss<br />
der Religionen bei der Ausarbeitung<br />
von Gesetzen, in der Rechtsprechung,<br />
im Gesundheitswesen<br />
und in der Bildung!<br />
• Für das Recht auf Abtreibung, Ver-<br />
hütung und Aufklärung!<br />
<strong>Die</strong> Gewalt<br />
<strong>Die</strong> Zivilisationskrise wird begleitet<br />
von einer wachsenden Entfremdung<br />
und folglich von einer Zunahme der<br />
Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft.<br />
Im privaten und im öffentlichen<br />
Raum fallen die Frauen dieser Gewalt<br />
zum Opfer: In Frankreich stirbt jeden<br />
dritten Tag eine Frau an ehelicher Gewalt.<br />
<strong>Die</strong> Vorherrschaft der Männer<br />
am Arbeitsplatz führt zu weit verbreiteter<br />
physischer, psychischer und sexueller<br />
Gewalt und dieses Phänomen<br />
verstärkt sich noch mit der sich vertiefenden<br />
Krise.<br />
Krieg ist die klarste, brut<strong>als</strong>te und<br />
brutalisierendste Form dieser Gewalt.<br />
Seit dem Ende des 20. Jh. und dem Beginn<br />
des 21. Jh. ist es normal geworden,<br />
dass die Zivilbevölkerung stark<br />
von Gewalt betroffen ist und folglich<br />
auch viele Frauen und Kinder.<br />
Seit dem Balkan-Krieg und während<br />
der Kriege in der Gegend der<br />
Großen Seen in Afrika stellen wir fest,<br />
dass die Vergewaltigung zunehmend<br />
<strong>als</strong> Kriegswaffe eingesetzt wird.<br />
Wegen der erdrückenden Beweise<br />
für das Ausmaß der zwischen 1992<br />
und 1995 von Serben in Bosnien verübten<br />
Vergewaltigungen musste der<br />
Internationale Gerichtshof für Ex-Jugoslawien<br />
diese Verbrechen offen diskutieren.<br />
<strong>Die</strong>s hat dazu geführt, dass<br />
1996 Vergewaltigung zum ersten Mal<br />
<strong>als</strong> Kriegsverbrechen anerkannt wurde.<br />
Nach Angaben der Frauengruppe<br />
von Tresjevka wurden über 35 000<br />
Frauen und Kinder von den Serben in<br />
„Vergewaltigungslagern“ gefangengehalten.<br />
<strong>Die</strong> gefangenen Muslimfrauen<br />
und die Kroatinnen wurden dort bewusst<br />
vergewaltigt und geschwängert.<br />
Im Rahmen einer patriarchalen Gesellschaft,<br />
in der die Kinder die ethnische<br />
Herkunft des Vaters erben,<br />
sollte in den „Vergewaltigungslagern“<br />
eine neue Generation serbischer Kinder<br />
geboren werden. Es handelte sich<br />
um eine ethnische Säuberung mit anderen<br />
Mitteln.<br />
Das gleiche Schreckensregime erlebten<br />
die Frauen in der Gegend der<br />
Großen Seen in Afrika. Ihre Körper<br />
wurden zum Kampfmittel, denn<br />
mit ihm werden die neuen Generationen<br />
gezeugt und in einem ethnischen<br />
Krieg geht es in letzter Instanz darum<br />
zu verhindern, dass sich der Feind<br />
fortpflanzen kann. <strong>Die</strong> sexuelle Gewalt<br />
ist in dieser Region zu einer offensichtlichen<br />
und wirksamen Kriegsstrategie<br />
geworden.<br />
Mit den gewaltsamen Geschlechtsakten<br />
sollen die Opfer und die Bevölkerung<br />
generell gequält und verängstigt<br />
werden. Es gibt keine Benachteiligung<br />
nach Alter. Einige Monate alte<br />
inprekorr 458/459 19
FRAUEN<br />
Babys und 84-jährige Frauen erlitten<br />
die gleiche Gewalt. Nach Schätzungen<br />
der UNO-Agenturen, die im Osten der<br />
Demokratischen Republik Kongo arbeiten,<br />
wurden dort von 1996 bis 2002<br />
ca. 50 000 Frauen vergewaltigt, und im<br />
Konflikt südlich von Kivu haben 55 %<br />
der Frauen sexuelle Gewalt erlebt. Man<br />
schätzt, dass beim Völkermord in Ruanda<br />
250 000 Frauen vergewaltigt wurden.<br />
Ein Bericht über Haïti von Amnesty<br />
International vom November 2008<br />
spricht davon, dass neu festzustellen<br />
ist, dass Gruppen bewaffneter Männer<br />
junge Frauen angreifen. <strong>Die</strong> Vergewaltigungs-Tradition<br />
ist bei der Rebellion,<br />
die 2004 zur Verjagung von Aristide<br />
geführt hat, <strong>als</strong> eine politische Waffe in<br />
Erscheinung getreten. <strong>Die</strong> bewaffneten<br />
Rebellen begannen sie einzusetzen, um<br />
Angst zu verbreiten und die Frauen zu<br />
bestrafen, die die demokratische Regierung<br />
unterstützt hatten. „Bei den<br />
kriminellen Banden wurde die Vergewaltigung<br />
zu einer geläufigen Praxis“<br />
heißt es im Bericht. Unter den im November<br />
2008 geschilderten 105 Fällen<br />
befanden sich 55 % Mädchen unter 18<br />
Jahren. 2007 wurden 238 Vergewaltigungen<br />
aktenkundig. In 140 Fällen waren<br />
Mädchen im Alter von 19 Monaten<br />
bis 18 Jahren betroffen. All dies geschah,<br />
obwohl seit 2004 UNO-Truppen<br />
dort stationiert sind.<br />
<strong>Die</strong> Frauen in Palästina und besonders<br />
in Gaza leiden weiterhin unter der<br />
israelischen Besatzung. Schwangeren<br />
Frauen kurz vor der Niederkunft<br />
oder die gegen Ende der Schwangerschaft<br />
ärztliche Hilfe benötigen, wird<br />
an den Checkpoints oft die Durchreise<br />
nach Israel verweigert. <strong>Die</strong> Spitäler<br />
in Gaza erhalten nicht die notwendigen<br />
medizinischen Einrichtungen, selbst<br />
dann nicht, wenn humanitäre Hilfskonvois<br />
sie bringen. Viele Frauen hatten<br />
Fehlgeburten oder starben in dieser<br />
Barbarei. Während der Bombardierungen<br />
von Gaza Anfang 2009 starben<br />
192 Frauen. Und der Belagerungszustand<br />
wirkt sich weiterhin sehr negativ<br />
auf die <strong>ganze</strong> Gesellschaft aus, auch<br />
auf die physische und mentale Gesundheit<br />
von Frauen und Kindern.<br />
An anderen Orten sehen wir die Folgen<br />
der zunehmenden Militarisierung<br />
der Gesellschaft, was zu einer wachsenden<br />
Kriminalisierung der Zivilgesellschaft<br />
und zur gewaltsamen Repression<br />
durch die Staatsgewalt führt.<br />
Sexuelle Gewalt, die Vergewaltigung<br />
eingeschlossen, wird immer mehr eingesetzt.<br />
2006 lancierte die Polizei von<br />
Atenco in Mexiko einen gewaltsamen<br />
Angriff auf die sozialen Bewegungen,<br />
was zu zwei Toten und zu sexuellen<br />
Übergriffen auf 26 Frauen führte. Der<br />
Drogenkrieg in Lateinamerika und der<br />
Krieg gegen den Terror sind die zwei<br />
Seiten derselben Medaille.<br />
Auch die US-Truppen haben in<br />
Abu Graib und Guantánamo fürchterliche<br />
sexuelle Folterungen begangen –<br />
auch Frauen. Mit solchen Übergriffen<br />
an männlichen Gefangenen, von denen<br />
angenommen wurde, dass sie gläubig<br />
sind, sollen die Opfer gedemütigt und<br />
körperlich verletzt werden.<br />
<strong>Die</strong> Vorurteile – Rassismus, Antisemitismus,<br />
Sexismus und Ablehnung<br />
gleichgeschlechtlicher Liebe – die<br />
dank der Errungenschaften der Frauenbewegungen<br />
zurückgedrängt wurden,<br />
breiten sich wieder stärker aus. Neu<br />
dazu gekommen ist der Hass gegen<br />
Muslime. <strong>Die</strong> steigenden Zahlen von<br />
Tötungen aus diesen Gründen zeigen,<br />
dass diese Vorurteile zu zunehmender<br />
Gewalt führen.<br />
Frauenmorde sind zum ersten Mal<br />
zu Beginn der 1990er Jahre in Ciudad<br />
Juárez (im Staat Chihuahua, Mexiko)<br />
verübt worden und dauern bis<br />
heute an. Als sich die Frauen organisierten<br />
und begannen, sich dagegen zu<br />
wehren, zeigte es sich, dass hunderte<br />
von Frauen getötet werden, bloß weil<br />
sie Frauen sind. <strong>Die</strong>ses Phänomen beschränkt<br />
sich keineswegs nur auf diese<br />
mexikanische Stadt. Frauenmorde<br />
gibt es in ganz Mexiko und in anderen<br />
lateinamerikanischen Staaten wie Guatemala,<br />
El Salvador, Honduras, Costa<br />
Rica, Chile, Argentinien und auch<br />
im spanischen Staat. Der Frauenmord<br />
ist die (un)logische Ausweitung und<br />
Normalisierung aller anderen Formen<br />
von Gewalt an Frauen. Wie bei anderen<br />
ähnlichen Verbrechen werden sie von<br />
Männern verübt, die in der einen oder<br />
anderen Form eine Beziehung zum Opfer<br />
unterhielten.<br />
• Für Einrichtungen zur Unterstützung<br />
und Hilfe für Frauen, die Opfer oder<br />
mögliche Opfer von Gewalttaten<br />
sind: Frauenzentren, das Recht auf<br />
eine eigene Wohnung und Sozialhilfe,<br />
geeignete Ausbildung für SozialarbeiterInnen,<br />
Polizei und Justiz!<br />
Übersetzung: Ursi Urech<br />
20 inprekorr 458/459
Israel/Palästina<br />
Ja zu Boykott, Desinvestition und<br />
Sanktionen (BDS) gegen Israel<br />
Eine Antwort auf Uri Avnery von Michel Warschawski<br />
Der BDS-Aufruf – BDS steht für Boykott,<br />
Desinvestition und Sanktionen –<br />
hat die öffentliche Meinung in Israel erreicht.<br />
Entscheidend dafür war der Beschluss<br />
Norwegens, seine Fonds aus israelischen<br />
Unternehmen abzuziehen,<br />
die am Bau von Siedlungen [in den besetzten<br />
Gebieten] beteiligt sind. Es ist<br />
der erste große Erfolg dieser wichtigen<br />
Kampagne. Nachdem Uri Avnery die<br />
BDS-Kampagne jahrelang ignorierte,<br />
fand er es schließlich nötig, zweimalig<br />
in seinen Blog darauf einzugehen. Wie<br />
Uri Avnery reagiere auch ich in meinem<br />
eigenen Blog nur selten auf die Meinung<br />
anderer. Wie Avnery feinfühlig<br />
ausführt: „Ich möchte meine Ansichten<br />
niemandem aufzwingen; ich möchte nur<br />
zur Reflexion beitragen und überlasse<br />
es den LeserInnen, sich selbst ihre Meinung<br />
zu bilden.“ Manche der von Avnery<br />
vorgebrachten Argumente rufen dennoch<br />
nach Antwort, denn sie könnten<br />
die LeserInnen fehlleiten.<br />
Ungeachtet meiner Meinungsverschiedenheiten<br />
mit Avnery – auch wenn<br />
diese gegenüber früher wesentlich seltener<br />
sind –, zolle ich ihm <strong>als</strong> Journalisten,<br />
Aktivisten und politischen Kommentator<br />
großen Respekt. Seit dem<br />
Bankrott von Peace Now im Verlauf<br />
des Oslo-Prozesses standen wir im politischen<br />
Engagement oft Seite an Seite,<br />
und ich wage zu behaupten, wir sind<br />
Freunde geworden. Deshalb fühle ich<br />
mich verpflichtet, auf Avnerys Kritik an<br />
der BDS-Kampagne zu reagieren.<br />
Ich möchte mit einer Binsenweisheit<br />
beginnen, die meines Erachtens an<br />
der Diskussion vorbeizielt. „Hass ist ein<br />
schlechter Ratgeber“, schreibt Uri, und<br />
ich bin der Letzte, der dem widersprechen<br />
möchte. Im Übrigen würde er mir<br />
zweifellos zustimmen, wenn ich ergänze,<br />
dass in unserem Kontext Hass dennoch<br />
verständlich ist.<br />
Vergleich mit Südafrika<br />
„Israel ist nicht Südafrika“, schreibt<br />
Uri. Natürlich ist es das nicht, und jede<br />
konkrete Realität hat ihre Besonderheiten.<br />
Dennoch gibt es zwischen den<br />
beiden Ländern einige Ähnlichkeiten:<br />
Beide sind rassistische Staaten, mit (unterschiedlichen)<br />
Apartheidsystemen (im<br />
wörtlichen Sinn, denn Apartheid bedeutet<br />
„strukturelle Segregation“). <strong>Die</strong><br />
beiden Länder sind <strong>als</strong> „europäische<br />
Staaten“ in einem aus Nichteuropäern<br />
bestehenden nationalen/ethnischen<br />
Umfeld entstanden, das zu Recht <strong>als</strong><br />
feindlich wahrgenommen wird. Ebenso<br />
müssen wir – und das ist bereits ein<br />
wichtiger Punkt – eingestehen, dass<br />
wir, wenn wir in unserem Kampf substanzielle<br />
Erfolge erzielen wollen, eine<br />
auf Einheit bedachte Dynamik erzeugen<br />
müssen, die auch den nationalen palästinensischen<br />
Widerstand, die israelischen<br />
BesatzungsgegnerInnen und die internationale<br />
Solidaritätsbewegung mit einbezieht,<br />
was ich vor zehn Jahren das „siegreiche<br />
Dreieck“ genannt habe.<br />
Vieles verbindet uns mit Uri, bis zu<br />
dem Punkt, wo er seine politischen GegenerInnen<br />
f<strong>als</strong>ch einschätzt. Im seinem<br />
auf den Artikel von Neve Gordan in der<br />
Los Angeles Times eingehenden Beitrag<br />
schreibt Avnery: „Neve Gordon und seine<br />
BDS-Partner haben die Hoffnung in<br />
die Israelis verloren.“ Wäre dies wahr,<br />
warum würden dann Neve, ich selbst<br />
und so viele andere Israelis, die sich in<br />
der BDS-Kampagne engagieren, so viel<br />
Zeit damit verbringen, gemeinsam mit<br />
Uri Avnery eine israelische Bewegung<br />
gegen Krieg, Besatzung und Kolonialisierung<br />
aufzubauen? <strong>Die</strong> wahre Frage<br />
lautet nicht: „Muss die israelische Gesellschaft<br />
verändert werden?“, sondern<br />
vielmehr, wie dies geschehen soll.<br />
Frieden oder Gerechtigkeit?<br />
Uri Avnerys politisches Ziel ist, wie er<br />
selbst sagt, „Frieden zwischen Israelis<br />
und Palästinensern“, <strong>als</strong>o ein Kompromiss,<br />
der von einer Mehrheit auf beiden<br />
Seiten auf symmetrischer Grundlage<br />
angenommen würde. In einem wichtigen<br />
Beitrag nannte Avnery das „Wahrheit<br />
gegen Wahrheit“. Eine solche Symmetrie<br />
stützt sich auf eine andere Vorannahme<br />
Avnerys, dass nämlich der Palästina-Konflikt<br />
ein Konflikt zwischen<br />
zwei gleichermaßen legitimen Nationalbewegungen<br />
sei.<br />
Neve und viele andere UnterstützerInnen<br />
der BDS-Kampagne widersprechen<br />
diesen beiden Ansichten. Unser<br />
Ziel ist nicht Frieden gegen Frieden,<br />
denn Frieden an sich bedeutet noch<br />
nichts (praktisch jeder Krieg in der modernen<br />
Geschichte wurde unter dem<br />
Vorwand begonnen, Frieden herzustellen).<br />
Frieden ist immer ein Ergebnis<br />
eines Kräfteverhältnisses, in dem ein<br />
Lager dem anderen alles aufzwingen<br />
kann, was es <strong>als</strong> seine legitimen Rechte<br />
ansieht.<br />
Entgegen Uris Ansicht ist unser Ziel<br />
die Entfaltung gewisser Werte wie der<br />
individuellen und kollektiven Grundrechte,<br />
des Endes von Vorherrschaft<br />
und Unterdrückung, der Entkolonialisierung,<br />
der Gleichheit und möglichst<br />
umfassender Gerechtigkeit. In einem<br />
solchen Rahmen können wir zweifellos<br />
„Friedensinitiativen“ unterstützen,<br />
die das Niveau an Gewalt reduzieren<br />
und/oder ein gewisses Maß an Rechten<br />
durchsetzen. Dennoch ist die Unterstützung<br />
von Friedensinitiativen kein Ziel<br />
an sich, sondern nur ein Mittel, um Fortschritte<br />
im Hinblick auf die Verwirklichung<br />
der genannten Werte und Rechte<br />
zu erzielen.<br />
<strong>Die</strong>se Unterscheidung von „Frieden“<br />
und „Gerechtigkeit“ hängt mit der<br />
Meinungsdifferenz bezüglich der zweiten<br />
Annahme Avnerys zusammen: der<br />
Symmetrie zwischen den beiden Nationalbewegungen<br />
und zwei gleich legitimen<br />
Ansprüchen.<br />
Der Zionismus ist für uns keine nationale<br />
Befreiungsbewegung, sondern eine<br />
kolonialistische Bewegung, und der<br />
Staat Israel war immer ein Koloni<strong>als</strong>taat.<br />
inprekorr 458/459 21
Israel/Palästina<br />
Frieden oder besser noch Gerechtigkeit<br />
kann nur unter den Bedingungen völliger<br />
Entkolonialisierung (man könnte<br />
sagen: Entzionisierung) des Staates Israel<br />
hergestellt werden. Es handelt sich<br />
um eine Vorbedingung für die Realisierung<br />
der legitimen Rechte der PalästinenserInnen<br />
– der Flüchtlinge ebenso<br />
wie der BewohnerInnen des Westjordanlands<br />
und Gazastreifens, die unter<br />
israelischer Besatzung leben, oder der<br />
PalästinenserInnen, die <strong>als</strong> BürgerInnen<br />
zweiter Klasse in Israel leben. Ob am<br />
Ende dieser Entkolonialisierung eine<br />
Einstaatenlösung steht oder zwei demokratische<br />
Staaten – die somit kein „jüdischer<br />
Staat“ sein können–, eine Föderation<br />
oder ein anderes institutionelles<br />
System, ist zweitrangig. Das wird sich<br />
letztlich, wenn es so weit ist, im Kampf<br />
selbst und je nach Beteiligung der Israelis<br />
entscheiden.<br />
In diesem Sinn irrt Uri Avnery, wenn<br />
er behauptet, unsere Differenz beträfe<br />
die Frage der Einstaaten- oder Zweistaatenlösung.<br />
Wie bereits ausgeführt,<br />
betrifft sie die Frage von Rechten, von<br />
Entkolonialisierung und vollständigem<br />
Gleichheitsprinzip. Welche Form sich<br />
dann durchsetzt, ist meiner Ansicht nach<br />
nicht entscheidend, solange wir von einer<br />
Lösung sprechen, in der beide Völker<br />
in Freiheit (<strong>als</strong>o nicht in einer Art<br />
Kolonialverhältnis) und Gleichheit leben.<br />
Eine andere wichtige Meinungsdifferenz<br />
gegenüber Uri Avnery betrifft<br />
die Dialektik zwischen dem Terminplan<br />
der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung<br />
und der Rolle des sogenannten<br />
israelischen Friedenslagers.<br />
Auch wenn die palästinensische Nationalbewegung<br />
klarerweise möglichst<br />
viele Bündnispartner auf israelischer<br />
Seite braucht, um ihre Befreiung so<br />
schnell wie möglich und mit möglichst<br />
wenig Leiden durchzusetzen, kann man<br />
von der palästinensischen Bewegung<br />
nicht erwarten, dass sie sich geduldet,<br />
bis Uri, Neve und andere israelische<br />
Antikolonialisten die Mehrheit der israelischen<br />
Öffentlichkeit überzeugt haben.<br />
Aus zwei Gründen: erstens, weil<br />
nationale Befreiungsbewegungen mit<br />
ihrem Kampf gegen Unterdrückung<br />
und Kolonialismus nicht abwarten; und<br />
zweitens, weil die Geschichte uns gelehrt<br />
hat, dass Veränderungen aus dem<br />
Inneren einer Kolonialgesellschaft immer<br />
das Ergebnis eines Befreiungskampfs<br />
waren und nicht umgekehrt.<br />
Wenn der Preis der Besatzung zu hoch<br />
wird, verstehen immer mehr Menschen,<br />
dass man so nicht weitermachen kann.<br />
Der Preis für die Kolonialisierung<br />
Ja, man muss die Hand ausstrecken<br />
zum Zusammenleben, aber verbunden<br />
mit einer harten Hand, die entschlossen<br />
für Recht und Freiheit kämpft. Das<br />
Scheitern des Oslo-Prozesses bestätigt<br />
die alte Lehre aus der Geschichte: Jeder<br />
Versuch der Versöhnung vor Durchsetzung<br />
von Rechten festigt nur den Fortbestand<br />
des kolonialen Herrschaftsverhältnisses.<br />
Warum sollten die Israelis<br />
die Besatzung beenden und damit eine<br />
tiefgehende innere Krise provozieren,<br />
wenn sie keinen Preis für die anhaltende<br />
Besatzung zahlen müssen?<br />
Deshalb ist die BDS-Kampagne so<br />
treffend: Sie bietet einen internationalen<br />
Rahmen, um das palästinensische<br />
Volk darin zu unterstützten, seine legitimen<br />
Rechte sowohl auf institutioneller<br />
Ebene (der Staaten und internationalen<br />
Institutionen) <strong>als</strong> auch auf Ebene<br />
der Zivilgesellschaft durchzusetzen.<br />
Sie richtet sich einerseits an die internationale<br />
Gemeinschaft, die aufgefordert<br />
wird, einen Staat zu bestrafen, der<br />
systematisch das Völkerrecht, die Genfer<br />
Konventionen und verschiedene Abkommen<br />
verletzt ; andererseits ruft sie<br />
die Zivilgesellschaft weltweit auf, einzeln<br />
und in sozialen Bewegungen (Gewerkschaften,<br />
Parteien, Gemeinderäte,<br />
Vereine etc.) Produkte, offizielle Vertreter,<br />
Institutionen etc. zu boykottieren,<br />
die den israelischen Koloni<strong>als</strong>taat<br />
vertreten.<br />
<strong>Die</strong> beiden Aufgaben (Boykott und<br />
Sanktionen) werden letztlich Druck auf<br />
das israelische Volk ausüben und ihm<br />
zu verstehen geben, dass Besatzung<br />
und Kolonialisierung ihren Preis haben,<br />
dass die Missachtung der Regeln<br />
des Völkerrechts den Staat Israel früher<br />
oder später zu einem sich selbst isolierenden<br />
Land macht, das in der Gemeinschaft<br />
der zivilisierten Nationen nicht<br />
geduldet wird. Genauso wie Südafrika<br />
in den letzten Jahren der Apartheid.<br />
In diesem Sinn richtet sich die BDS-<br />
Kampagne entgegen der Aussage von<br />
Uri sehr wohl an die israelische Öffentlichkeit<br />
und ist mittlerweile die einzige<br />
Möglichkeit, die Israelis zur Änderung<br />
ihrer Haltung gegenüber der Besatzung<br />
und Kolonialisierung zu bewegen. Vergleicht<br />
man die BDS-Kampagne mit<br />
der Boykott-Kampagne zur Zeit der<br />
Anti-Apartheid-Bewegung, die zwanzig<br />
Jahre brauchte, bevor sie Früchte<br />
trug, kann man nur über ihre Effizienz<br />
staunen, die für uns in Israel bereits<br />
spürbar ist.<br />
<strong>Die</strong> BDS-Kampagne wurde von<br />
einem breiten Bündnis palästinensischer<br />
politischer und sozialer Bewegungen<br />
lanciert. Kein Israeli, der behauptet, für<br />
die Rechte des palästinensischen Volks<br />
einzutreten, kann sich diskret von dieser<br />
Kampagne abwenden: Nachdem<br />
jahrelang betont wurde, dass „der bewaffnete<br />
Kampf keine gute Wahl ist“,<br />
wäre es vermessen, wenn dieselben israelischen<br />
AktivistInnen die BDS-Strategie<br />
disqualifizieren wollten. Wir müssen<br />
uns im Gegenteil gemeinsam der<br />
Kampagne „Boykott from Within“ anschließen,<br />
um diese palästinensische<br />
Initiative von israelischer Seite zu unterstützen.<br />
Das ist das Mindeste, was<br />
wir tun können, und das Mindeste, was<br />
wir tun sollten.<br />
8. Oktober 2009<br />
Michael Warschawski, Begründer des Alternative<br />
Information Center (AIC) in Israel, ist<br />
Journalist und Schriftsteller. Publikationen in<br />
deutscher Sprache: Mit Höllentempo. <strong>Die</strong> Krise<br />
der israelischen Gesellschaft, Hamburg 2004.<br />
An der Grenze. Mit einem Vorwort von Moshe<br />
Zuckermann. Hamburg 2004. Mit Sophia Deeg<br />
und Michèle Sibony: Stimmen israelischer<br />
Dissidenten, Köln 2005. Mit Gilbert Achcar:<br />
Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen Hisbollah<br />
im Libanon und seine Konsequenzen, Hamburg<br />
2007.<br />
Auf Französisch: Israël-Palestine, le défi binational<br />
(Textuel, Paris 2003), Programmer le désastre.<br />
La politique israélienne à l’œuvre (La<br />
Fabrique, Paris 2008), Destins croisés. Israéliens-Palestiniens,<br />
l’histoire en partage (Riveneuve,<br />
Paris 2009).<br />
Uri Avnery ist israelischer Schriftsteller und<br />
Journalist. Zwischen 1949 und 1950 Mitarbeiter<br />
der Tageszeitung Haaretz, danach Gründer<br />
der Wochenzeitung Haolam Hazeh (1950–<br />
1993), ehemaliger Knesset-Abgeordneter<br />
(1965–1973 und 1979–1981), Gründer von<br />
Gush Shalom (Friedensblock). Eine Auswahl<br />
seiner Artikel auf Deutsch unter www.uri-avnery.de<br />
Französische Quelle: http://www.france-palestine.org/imprimersans.php3?id_article=12878<br />
Übersetzung: Tigrib<br />
22 inprekorr 458/459
Iran<br />
Wohin treibt die islamische<br />
Republik?<br />
Houshang Sepehr<br />
Im Iran ereignete sich eine spontane,<br />
erfinderische und unabhängige Revolte<br />
eines von dreißig Jahren Tyrannei eines<br />
obskurantistischen religiösen Regimes<br />
frustrierten Volkes, die durch den Wahlbetrug<br />
ausgelöst wurde. <strong>Die</strong> gegenwärtige<br />
Situation stellt nur das Ende eines<br />
langen und komplexen Weges dar, der<br />
sich im Innern des Regimes entwickelte,<br />
eine tiefe Krise in der Spitze des<br />
Staates und innerhalb der herrschenden<br />
Klasse einerseits, in der iranischen Gesellschaft<br />
andererseits. <strong>Die</strong>se Konjunktur<br />
hat einen Raum für eine wirkliche<br />
Massenbewegung eröffnet, um die islamische<br />
Republik durch eine laizistische,<br />
demokratische, soziale und moderne<br />
Republik zu ersetzen.<br />
Der Charakter der Bewegung<br />
Abgesehen von einem Teil der Fraktion,<br />
die sich an der Macht befindet, von<br />
einigen Zynikern und Verschwörungstheoretikern,<br />
zu denen sich leider auch<br />
einige Gruppen und Personen einer<br />
verwirrten radikalen Linken gesellten,<br />
zweifelt niemand daran, dass die überwiegende<br />
Mehrheit der iranischen Völker<br />
klar und eindeutig ihre Sehnsucht<br />
bekundet hat, mit dem gegenwärtigen<br />
politischen System Schluss zu machen.<br />
Weil die sogenannte „reformistische“<br />
Fraktion wertvolle Zeit vergeudet und<br />
ihre einzigartige Gelegenheit verpasst<br />
hat, ist es das <strong>ganze</strong> islamistische System<br />
und nicht nur die Konservativen,<br />
das nun in Frage gestellt wird.<br />
Im Iran glaubt niemand der Regierungspropaganda,<br />
die behauptet, dass<br />
die auf die Bekanntgabe der Wahlergebnisse<br />
folgenden Protestmärsche das<br />
Werk ausländischer Organisatoren gewesen<br />
seien, auch nur ein Wort. <strong>Die</strong>se<br />
Krise hat alle Anzeichen eines totalen<br />
Scheiterns der islamischen Republik.<br />
Im Verlauf der letzten dreißig Jahre<br />
hat das Regime, um seine Krisen zu<br />
überleben und seinen Niedergang zu<br />
verhüllen, fortwährend von den äußeren<br />
Gefahren – den realen und eingebildeten<br />
– geredet.<br />
Im Westen haben einige Analysten<br />
der „Linken“ erklärt, die DemonstrantInnen<br />
auf den Straßen von Teheran<br />
und in den anderen Großstädten entstammten<br />
den begütertsten Schichten<br />
der städtischen Mittelklasse, und Mussawi<br />
sei ihr politischer Repräsentant.<br />
Ihnen zufolge habe Ahmadinedschad<br />
weiterhin eine starke Unterstützung bei<br />
der überwiegenden Bevölkerung in den<br />
städtischen und ländlichen Regionen<br />
der Armen. <strong>Die</strong>se angeblichen Analysten<br />
kennen sich weder in der Klassenstruktur<br />
der iranischen Gesellschaft<br />
noch der der islamischen Republik einigermaßen<br />
aus, weder kennen sie den<br />
Hintergrund der Wahlen noch die Konsequenzen<br />
für die Zukunft des Landes<br />
und nicht einmal der genauen Wahlergebnisse.<br />
Bevor wir zu den Einzelheiten des<br />
Wahlkampfes, zur Wahl des Präsidenten<br />
und den Massenprotesten kommen,<br />
scheint es uns nötig, einen Überblick<br />
über die iranische Gesellschaft<br />
und das herrschende Regime zu geben.<br />
Strukturelles Paradox<br />
des politischen Systems<br />
Soziologisch betrachtet ist der Iran eine<br />
der gebildetsten Gesellschaften der<br />
Region: <strong>Die</strong> Analphabetenrate liegt<br />
bei unter 10 Prozent, es gibt 2,5 Mio.<br />
Studierende (von denen 51 % Studentinnen<br />
sind) bei einer Gesamtbevölkerung<br />
von 70 Mio., die insgesamt sehr<br />
jung ist (über 60 % sind unter 30 Jahre<br />
alt). Das Land wird von einem mittelalterlichen,<br />
diktatorischen politischen<br />
und juristischen System beherrscht.<br />
Bei ihrem Ziel, das private und öffentliche<br />
Leben der BürgerInnen zu reglementieren,<br />
werden die Verfassung und<br />
diverse Gesetze von einer rigiden Interpretation<br />
des Islams geleitet, die<br />
nicht den geringsten Platz für Demokratie<br />
im Allgemeinen lässt und besonders<br />
Frauen und Jugendlichen gegenüber<br />
kaum zu Zugeständnissen bereit<br />
ist.<br />
Auf politischer Ebene handelt es<br />
sich um einen Doppelstaat ohne Vergleich,<br />
um ein theokratisches Regime<br />
unter der Maske einer Republik. Der<br />
Autor dieses Artikels hat im Übrigen<br />
eine detaillierte Beschreibung des politischen<br />
Systems der islamischen Republik<br />
abgeliefert. 1<br />
Kurz erklärt gibt es auf der einen<br />
Seite eine Theokratie, die ohne Wahlen<br />
regiert und in allen Bereichen die<br />
Macht hält, bestehend aus:<br />
• dem obersten Führer (der Vertreter<br />
Gottes auf Erden, der von der<br />
Expertenversammlung, einer Versammlung<br />
von Würdenträgern bestimmt<br />
wird, die selbst wiederum<br />
ausgewählt und in einer komplexen<br />
Prozedur ernannt werden, in der das<br />
Volk wenig zu sagen hat);<br />
• dem Wächterrat der Verfassung (12<br />
vom obersten Führer ausgesuchte<br />
Kleriker): Sie sind der Wachhund des<br />
Regimes, der überwacht, ob die Gesetze<br />
des Parlamentes und die Auswahl<br />
von Kandidaten für das Parlament<br />
und die Präsidentschaft auch<br />
mit dem Islam konform gehen;<br />
• der Expertenversammlung, die den<br />
obersten Führer wählt;<br />
• dem Entscheidungsrat, der bei Streitigkeiten<br />
zwischen dem islamischen<br />
Parlament und dem Wächterrat zu<br />
vermitteln hat;<br />
• dem Justizsystem, das darüber<br />
wacht, dass die islamischen Gesetze<br />
angewandt werden; es wird von ultrakonservativen<br />
Klerikern kontrolliert.<br />
Der Vorsitzende wird vom<br />
obersten Führer ernannt und ist ihm<br />
persönlich rechenschaftspflichtig;<br />
1 Vgl. Houshang Sepehr, „Iran: Un califat déguisé<br />
en République“, (Als Republik verkleidetes<br />
Kalifat) in : Inprecor Nr. 520, September/Oktober<br />
2006, http://orta.dynalias.org/inprecor/<br />
article-inprecor?id=140<br />
inprekorr 458/459 23
Iran<br />
• den Streitkräften. Sie umfassen die<br />
Wächter der islamischen Revolution<br />
(WIR oder Pasdaran, die ideologische<br />
Armee des Regimes), sowie<br />
die klassischen Armeen. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />
Befehlshaber der Armeen<br />
und der Revolutionswächter werden<br />
vom obersten Führer ernannt<br />
und sind nur diesem rechenschaftspflichtig.<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe der Revolutionswächter<br />
ist es, die Gegner der<br />
islamischen Revolution zu bekämpfen.<br />
Sie kontrollieren die paramilitärischen<br />
Milizen (Bassidschi) und<br />
operieren in allen Städten.<br />
Auf der anderen Seite gibt es durch<br />
Wahlen bestimmte Funktionen: <strong>Die</strong> des<br />
Präsidenten der Republik und der Mitglieder<br />
des islamischen Parlamentes<br />
(Majles). Alle vom Parlament angenommenen<br />
Gesetze müssen durch den<br />
sehr konservativen Wächterrat auf ihre<br />
Vereinbarkeit sowohl im Hinblick auf<br />
die Verfassung wie den Islam beurteilt<br />
werden. <strong>Die</strong> Mitglieder der Regierung<br />
werden vom Präsidenten ernannt. Der<br />
oberste Führer hat erhebliche Befugnisse<br />
in der Durchführung aller Handlungen,<br />
die mit der Verteidigung, der<br />
Sicherheit und der Außenpolitik zu tun<br />
haben.<br />
Es ist offensichtlich, dass dieses<br />
System keiner Republik ähnelt. Wir<br />
möchten es <strong>als</strong> Kalifat (zu 90 %) bezeichnen,<br />
das sich <strong>als</strong> Republik (zu<br />
10 %) verkleidet.<br />
Seit Beginn der islamischen Revolution<br />
lagen diese beiden offensichtlich<br />
widersprüchlichen Aspekte (der<br />
theokratische und der auf Wahlen beruhende)<br />
des Systems miteinander in<br />
Spannung. Der erste Präsident der Republik,<br />
Bani-Sadr, wurde 1981 von<br />
Ayatollah Khomeini abgesetzt, weil es<br />
zwischen beiden große Meinungsverschiedenheiten<br />
gab. 1997 wurde der<br />
„islamische Reformist“ Khatami, der<br />
die Zivilgesellschaft öffnen und eine<br />
gut kontrollierte Beteiligung einiger<br />
Schichten der Gesellschaft an zweitrangigen<br />
politischen Entscheidungen<br />
des Landes durchsetzen wollte, ins Präsidentenamt<br />
gewählt. Der oberste Führer<br />
wie auch die Hierarchie der Pasdaran<br />
sahen darin eine Bedrohung ihrer<br />
Interessen. <strong>Die</strong> auf Wahlen beruhende<br />
Dimension des Systems kam während<br />
der achtjährigen Präsidentschaft<br />
von Khatami in Konflikt mit der theokratischen<br />
Dimension. <strong>Die</strong> Mehrzahl<br />
der vom Parlament, in dem die „islamischen<br />
Reformisten“ in der Mehrheit<br />
waren, angenommenen Gesetze wurde<br />
vom von den Konservativen dominierten<br />
Wächterrat abgelehnt.<br />
Seit der Übernahme des Präsidentenamtes<br />
durch Ahmadinedschad<br />
2005 war es die wesentliche Aufgabe<br />
des vom obersten Führer und der Armee<br />
der Pasdaran (die von Ahmadinedschad<br />
vertreten wurde) gebildeten Tandems,<br />
die Wahldimension zu neutralisieren,<br />
indem sie gleichzeitig an drei<br />
Fronten angriff. Zunächst manipulierte<br />
sie einige wichtige Teile des Staatsapparates,<br />
um ihre Autonomie zugunsten<br />
der Macht des Präsidenten zu reduzieren.<br />
Unter anderem ging es dabei<br />
um die Auflösung der Planbehörde (die<br />
für die Verteilung des staatlichen Budgets<br />
zuständig war), um den Abbau der<br />
Zentralbank (die die Geldpolitik bestimmte)<br />
und den Umbau der Exekutive<br />
und der Staatsverwaltung, um so die<br />
Autonomie der Ministerien abzubauen.<br />
Eine andere keineswegs weniger wichtige<br />
Maßnahme bestand in der Sicherung<br />
und Konsolidierung der absoluten<br />
Hegemonie der Armee der Pasdaran<br />
in politischen und wirtschaftlichen<br />
Bereichen. Heute stammen 30 % der<br />
Mitglieder des Parlaments, ein Drittel<br />
der Minister, die Chefs in den Schlüsselorganisationen<br />
des Staates wie auch<br />
bei Radio oder Fernsehen, der Mehrzahl<br />
der Bürgermeister, der Präfekten<br />
der Gouverneure der Regionen usw.<br />
aus der Armee der Pasdaran.<br />
Das dritte Ziel bestand darin, nach<br />
und nach die Überreste des auf Wahlen<br />
beruhenden Teils des Systems zu zerstören,<br />
damit aus dem islamischen Regime<br />
eine totale Theokratie würde, ein<br />
„islamischer Staat“ ohne jede republikanische<br />
Dimension.<br />
Im Verlauf seiner ersten Amtszeit<br />
ist es Ahmadinedschad teilweise gelungen,<br />
dieses dreifache Vorhaben in<br />
die Tat umzusetzen, indem er die sozialen<br />
Bewegungen unterdrückte (besonders<br />
die der Frauen, der Arbeitenden,<br />
der nicht-persischen Völker, aber auch<br />
die der StudentInnnen, die bereits unter<br />
Khatami geschwächt worden waren).<br />
Zu Ende seiner ersten Amtszeit gelang<br />
es Ahmadinedschad, den Staatsapparat<br />
zu bändigen und die Grundlagen<br />
für eine völlige Hegemonie des<br />
Blocks an der Macht zu legen, der aus<br />
dem obersten Führer und einer Frakti-<br />
24 inprekorr 458/459
Iran<br />
on der Pasdaran-Armee gebildet wurde.<br />
<strong>Die</strong> Präsidentschaftswahlen von<br />
2009 sollten das Werk des neuerlich<br />
kandidierenden Präsidenten krönen<br />
und das Gespenst einer hinsichtlich der<br />
Theokratie, die vom obersten Führer<br />
vertreten wird, autonomen Präsidentschaft<br />
endgültig bannen. Doch gab es<br />
im Rahmen der neuen Wahlen massive<br />
Differenzen, die die Pläne des Duos<br />
an der Macht durchkreuzt haben, Pläne<br />
die eigentlich nicht mehr und nichts<br />
weniger waren <strong>als</strong> ein schleichender<br />
Staatsstreich. 2 <strong>Die</strong> Pläne bestanden darin,<br />
dem neuerlich für das Präsidentenamt<br />
kandidieren Ahmadinedschad einen<br />
triumphalen Wahlsieg zu besorgen,<br />
um angesichts des neuen US-amerikanischen<br />
Präsidenten eine internationale<br />
Legitimität zu sichern und Ahmadinedschad<br />
mit einer Statur zu versehen,<br />
die die Unzufriedenheit im Innern<br />
der Machtelite (das Lager des Pragmatikers<br />
Rafsandschani und die Minderheit<br />
der Reformkräfte) im Zaum halten<br />
sollte. Und dies umso mehr, <strong>als</strong> in<br />
den Augen der herrschenden Fraktion<br />
des Regimes ein Sieg des „Reformkandidaten“<br />
Mussawi mit der neuen Präsidentschaft<br />
in den USA einhergehen<br />
würde, was zumindest zeitweilig die<br />
Spannungen im Verhältnis zu den USA<br />
zurückgefahren hätte und damit das islamische<br />
Regime seines bequemen äußeren<br />
Sündenbocks beraubt hätte. <strong>Die</strong>s<br />
war inakzeptabel.<br />
Ahmadinedschad ist nicht<br />
Chávez!<br />
Ahmadinedschad ist ein Führer der extremen<br />
Rechten, der nach dem Vorbild<br />
des Klerus in der Revolution von 1979<br />
versucht, die Unterstützung der Massen<br />
zu bekommen, indem er zu einer<br />
nationalistisch-populistischen und auf<br />
die Dritte Welt bezogenen Demagogie<br />
Zuflucht nimmt. Einige Teile der Linken<br />
im Westen verwechseln das in ihrer<br />
Naivität und Dummheit mit Antiimperialismus<br />
und einer Politik zugunsten<br />
der Habenichtse.<br />
<strong>Die</strong> Unterstützung durch den Präsidenten<br />
Venezuelas, Chávez, ist in ihren<br />
Augen der Beweis; sie vergessen<br />
aber diejenige von Moskau, von Peking<br />
oder von Nordkorea für Ahma-<br />
2 Vgl. Houshang Sepehr, „Fuite en avant du régime<br />
iranien“, in: Inprecor, Nr. 520, September/<br />
Oktober 2006, http://orta.dynalias.org/inprecor/article-inprecor?id=139<br />
dinedschad. Doch die diplomatische<br />
Unterstützung durch Chávez kann für<br />
uns kein Kriterium unserer Analyse<br />
der Regierung Ahmadinedschad sein.<br />
<strong>Die</strong> Beziehungen zwischen den beiden<br />
Ländern <strong>als</strong> Öl exportierenden Staaten<br />
sind von der Suche nach einem Bündnis<br />
in der OPEC geprägt. Ein kurzer<br />
Vergleich der Lage von Venezuela mit<br />
den realen Lebensbedingungen des<br />
Volkes im Iran unter Ahmadinedschad<br />
zeigt die grundverschiedene Natur der<br />
beiden Regierungen. Unter der Regierung<br />
Chávez in Venezuela entwickeln<br />
sich die Gewerkschaften und die militanten<br />
Kämpfe der Arbeitenden, die<br />
Lohnabhängigen können aufgegebene<br />
Fabriken besetzen und sie unter Arbeiterkontrolle<br />
verwalten. Ganz im Gegensatz<br />
zum Iran, wo die Arbeitenden<br />
keinerlei Recht auf gewerkschaftliche<br />
Organisierung oder Streiks haben –<br />
und wenn sie sich über diese antidemokratischen<br />
Gesetze hinwegsetzen,<br />
riskieren sie eine äußerst brutale Repression.<br />
Während der ersten Amtszeit von<br />
Ahmadinedschad wurden die Arbeitenden<br />
aus allen Richtungen von den<br />
Kapitalisten und der Regierung angegriffen.<br />
Unter diesen Angriffen befand<br />
sich das neue Arbeitsrecht von Ahmadinedschad,<br />
das ganz und gar gegen<br />
die Arbeitenden gerichtet ist. Es vergeht<br />
keine Woche ohne Protestaktionen<br />
wie Streiks, Demonstrationen,<br />
Versammlungen und sit-ins von Arbeitenden,<br />
LehrerInnen, Krankenschwestern<br />
usw. So haben 2006 in Teheran<br />
3000 Busfahrer die Initiative ergriffen<br />
und eine Gewerkschaft gegründet; darauf<br />
hat die Regierung mit brutaler Repression<br />
und massiven Entlassungen<br />
geantwortet. <strong>Die</strong> Gewerkschaftsführer<br />
wurden ebenfalls von der Polizei angegriffen<br />
– sogar der Gener<strong>als</strong>ekretär<br />
der Gewerkschaft, M Ossalu. Zunächst<br />
haben sie ihn brutal gefoltert und dann<br />
zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er<br />
sitzt seit 2007 im Gefängnis.<br />
Nach dem Spektakel der Fernsehdebatten<br />
in der letzten Phase des<br />
Wahlkampfes hat das Regime ab dem<br />
2. August ein ganz anderes Schauspiel<br />
geboten: Es war dies der Beginn der<br />
Prozesse gegen diejenigen, die das<br />
Regime <strong>als</strong> „Krawallmacher und Beteiligte<br />
an einer samtenen Revolution“<br />
bezeichnete, die angeblich die Sicherheit<br />
des Staates in Gefahr bringen<br />
usw. Unter den Beschuldigten befand<br />
sich neuerlich M Ossalu in der Rolle<br />
eines Agenten des Imperialismus, der<br />
angeklagt wurde, die Absicht zu haben,<br />
eine Revolution zum Vorteil ausländischer<br />
Mächte organisieren zu<br />
wollen – und dies aus dem Gefängnis<br />
heraus!<br />
Als am 1. Mai 2007 Gewerkschafter<br />
in Sanandadsch eine Demonstration<br />
zu organisieren versuchten, wurden sie<br />
von der Polizei brutal niedergeschlagen.<br />
Elf Gewerkschafter wurden zu unzähligen<br />
Peitschenhieben und Strafzahlungen<br />
verurteilt. Als 2000 ArbeiterInnen<br />
am 1. Mai jenes Jahres in Teheran<br />
eine Demonstration zu organisieren<br />
versuchten, wurden sie von der Polizei<br />
brutal unterdrückt. Hundertfünfzig<br />
AktivistInnen wurden verhaftet (einige<br />
sitzen noch immer im Gefängnis).<br />
Millionen iranischer ArbeiterInnen haben<br />
seit Monaten keinen Lohn gesehen.<br />
Wenn sie sich zu organisieren<br />
versuchen, kommt es zu polizeilichen<br />
Übergriffen.<br />
Einschüchterung, Entlassungen,<br />
Verhaftungen, Gefängnis und Folter<br />
von kämpferischen ArbeiterInnen und<br />
Gewerkschaftern sind übliche Praxis<br />
in der islamischen Republik. Doch seit<br />
der Präsidentschaft von Ahmadinedschad<br />
haben solche Praktiken zugenommen.<br />
Sein Regime und der Präsident<br />
sind nicht nur Gegner der Frauen<br />
und der Jugendlichen, sie sind vor<br />
allem Gegner der Arbeitenden. In den<br />
Jahren 2008 und 2009 gab es in vielen<br />
Ländern Solidaritätstage mit den Arbeitenden<br />
im Iran, die von vielen Gewerkschaften<br />
auf internationaler Ebene<br />
organisiert wurden.<br />
In Venezuela hat die Regierung<br />
Chávez den Prozess der Privatisierung<br />
von öffentlichen Betrieben gestoppt<br />
und eine Reihe von Privatunternehmen<br />
verstaatlicht. Im Gegensatz<br />
dazu hat Ahmadinedschad im Iran die<br />
Privatisierung von staatlichen Unternehmen<br />
beschleunigt. Seit 2007 hat er<br />
in weniger <strong>als</strong> zwei Jahren 400 wichtige<br />
Unternehmen privatisiert, darunter<br />
die Telekommunikation, das Stahlwerk<br />
Mobarakeh in Isfahan, das Kurdistan-Zementwerk<br />
usw. Dazu gehören<br />
auch die meisten Banken, die Versicherungen,<br />
die Öl- und Gasunternehmen<br />
usw. Ahmadinedschad wurde vom<br />
Internationalen Währungsfond, der Organisation,<br />
die die Geschäfte des weltweiten<br />
Kapitalismus führt, belobigt,<br />
weil sich seine Regierung so gut auf-<br />
inprekorr 458/459 25
Iran<br />
geführt habe. Es handelt sich um etwas<br />
Unerhörtes, was man weder unter dem<br />
bisherigen Regime noch unter dem des<br />
Schahs erlebt hat.<br />
<strong>Die</strong> Bilanz von Ahmadinedschad<br />
Der programmierte Zusammenbruch<br />
der landwirtschaftlichen Produktion<br />
hat den Iran gezwungen, zwischen<br />
2008 und 2009 in den USA 1,18 Mio.<br />
Tonnen Weizen zu kaufen und große<br />
Mengen Zucker zu importieren, die<br />
dem Verbrauch des Landes von zehn<br />
Jahren entsprechen. Und dies, obwohl<br />
der Iran bis vor kurzem der drittgrößte<br />
Exporteur von Zucker war und das<br />
Land sich selbst mit Weizen versorgen<br />
konnte. Doch dies hat der Steigerung<br />
der Einfuhren gedient, was den<br />
mit dem Import verbundenen Mullahs<br />
genützt hat.<br />
Der Iran ist der zweitgrößte Ölproduzent<br />
und hält 10 Prozent der weltweit<br />
bestätigten Reserven an Erdöl. Das<br />
Land verfügt auch über die weltweit<br />
zweitgrößten Erdgasreserven. Nachdem<br />
der Iran die erste und die größte<br />
Raffinerie gebaut hatte, konnte er Benzin<br />
exportieren. Heute zwingt der Mangel<br />
an Raffinerien das Land, 40 % seines<br />
Verbrauchs zu importieren, was das<br />
Land jährlich 4 Mrd. Dollar kostet.<br />
<strong>Die</strong> ausländischen Direktinvestitionen<br />
im Iran haben 2007 mit 10,2 Mrd.<br />
Dollar einen Rekord erreicht – verglichen<br />
mit den 4,2 Mrd. 2005 und 2 Mrd.<br />
1994. Zwischen 2000 und 2007 beliefen<br />
sich die ausländischen Transaktionen<br />
mit dem Iran auf 150 Mrd. Dollar.<br />
Zwanzig europäische Länder, besonders<br />
Deutschland, Frankreich, Großbritannien,<br />
Italien, die Niederlande und<br />
Spanien, haben über 10,9 Mrd. Dollar<br />
im Iran investiert. <strong>Die</strong> kanadischen und<br />
US-Unternehmen haben sich ebenfalls<br />
an Wirtschaftsprojekten im Iran mit<br />
einem Wert von 1,4 Mrd. Dollar beteiligt.<br />
Unter den US-Unternehmen findet<br />
man Haliburton (einer der wichtigsten<br />
Aktionäre ist der frühere Vizepräsident<br />
der USA, Dick Cheney, der den Iran<br />
angreifen wollte!). Trotz des Handelsembargos<br />
gegen den Iran hat Haliburton<br />
dieses Jahr für über 40 Mio. Dollar<br />
Ausrüstungsgegenstände für die Ölförderung<br />
geliefert. Ein weiteres Beispiel:<br />
2008 betrug der Wert der Ausfuhren<br />
aus den USA in den Iran das Doppelte<br />
im Vergleich zum Vorjahr. All dies geschah<br />
während der ersten Amtszeit von<br />
Ahmadinedschad.<br />
Unter seiner Präsidentschaft haben<br />
die Pasdaran auf wirtschaftlichem<br />
Gebiet ihr immenses Finanzimperium,<br />
das von der Regierung unabhängig ist,<br />
ausgebaut. Sie haben die Hand auch in<br />
den Produktionsbereich, die Verteilung<br />
und den Handel ausgestreckt. Mittels<br />
diverser Stiftungen – wirtschaftliche<br />
Hände, die juristisch nicht von der Regierung<br />
kontrolliert werden können<br />
und nur dem obersten Führer rechenschaftspflichtig<br />
sind, ohne die gesetzlich<br />
vorgeschriebenen Prozeduren zu<br />
durchlaufen, etwa Angebote einholen<br />
zu müssen – erhalten sie Konzessionen<br />
in Höhe mehrerer Milliarden Dollar, etwa<br />
für den Bau von Ölleitungen, aber<br />
auch, um über Petro-Pars einen Teil der<br />
Einkünfte aus dem iranischen Öl einsacken<br />
zu können. Kein finanziell interessanter<br />
Bereich entgeht ihnen, weder<br />
der Drogenhandel (2006 ein Markt<br />
von 10 Mrd. Dollar) noch der Sexhandel<br />
und die Prostitutionsnetze zugunsten<br />
der Ölmonarchien am Golf.<br />
Zweites Beispiel: Vor einigen Monaten,<br />
in der großen Krise des weltweiten<br />
kapitalistischen Systems, hat<br />
der Saipa-Komplex, der zweite Autobauer<br />
des Iran, dessen Mehrheitsaktionär<br />
eben die Pasdaran-Armee ist, bei<br />
Chrysler 55 000 Autos bestellt, die im<br />
Iran zusammengebaut werden sollen.<br />
Der Leiter dieses riesigen Industriekomplexes<br />
ist erst 25 Jahre alt und von<br />
Ahmadinedschad höchstpersönlich ernannt<br />
worden. Das Ziel der Operation<br />
war es, an der von George Bush gestarteten<br />
Rettungsaktion für Chrysler teilzunehmen<br />
und vor allem ein Zeichen<br />
des Wohlwollens von Seiten des Irans<br />
auszusenden.<br />
Nach offiziellen Angaben liegt die<br />
Armutsrate im Iran bei 21 %, <strong>als</strong>o bei<br />
etwa 16,5 Millionen Menschen, die unter<br />
der Armutsschwelle leben müssen.<br />
Aber laut einem Bericht der UNO müssen<br />
550 000 Kinder von weniger <strong>als</strong><br />
einem Dollar pro Tag leben und 35,5 %<br />
der Bevölkerung verdienen zwei Dollar<br />
am Tag, während die Armutsgrenze<br />
auf 650 Dollar im Monat festgelegt<br />
ist. Somit kommen wir auf 40 und nicht<br />
21 Prozent Arme. Und diese Statistiken<br />
stammen auch noch aus der Zeit, <strong>als</strong><br />
sich der Ölpreis verdreifacht hatte.<br />
<strong>Die</strong> Wirtschaftspolitik von Ahmadinedschad<br />
während seiner ersten<br />
Amtszeit war eine Katastrophe: <strong>Die</strong> Inflation<br />
lag bei über 25 % im Jahr, die<br />
Arbeitslosigkeit bei etwa 40 % der aktiven<br />
Bevölkerung, es kam zu einem<br />
Abbau des Produktionssystems, und<br />
die Armut suchte die gebrechlichen<br />
Schichten der Bevölkerung vermehrt<br />
heim. Eine offizielle Studie von 2006<br />
zeigte, dass es im Iran 3,2 Millionen<br />
Drogenabhängige gibt, von denen 40 %<br />
zwischen 14 und 16 Jahre alt sind.<br />
Auch wenn die Regierung Ahmadinedschad<br />
den amerikanischen Imperialismus<br />
und das zionistische Regime<br />
in Israel kritisiert, mit der Absicht, die<br />
Aufmerksamkeit der Massen von den<br />
inneren Problemen abzulenken, dann<br />
ist es noch nicht einmal im Kampf gegen<br />
diesen Feind konsequent. <strong>Die</strong> Abkommen<br />
über die Zusammenarbeit der<br />
iranischen Regierung mit der US-Besatzungsmacht<br />
im Irak und in Afghanistan<br />
sind inzwischen wohlbekannte<br />
Tatsachen. Im Irak spielte das iranische<br />
Regime, statt einen vereinigten nationalen<br />
Befreiungskampf zu befördern,<br />
eine Schlüsselrolle bei den Spaltungen<br />
der irakischen Bevölkerung.<br />
Sicherlich handelt es sich bei Rafsandschani<br />
und Khatami um Vertreter<br />
eines prowestlichen und pro-imperialistischen<br />
liberalen Kapitalismus. Doch<br />
auf diesem Pfad haben Ahmadinedschad<br />
und die Fraktion des Regimes,<br />
die er vertritt, sie längst hinter sich gelassen.<br />
Der Unterschied zwischen den<br />
beiden Mafiabanden ist, dass die einen<br />
in ihrer Position der Schwäche sich an<br />
die Sprache der „Demokratie“ halten,<br />
während die anderen die des „Antiimperialismus“<br />
benutzen.<br />
Der iranische Frühling<br />
mitten im Winter des<br />
Mittelalters<br />
In diesem gespannten politischen und<br />
wirtschaftlich verheerenden Kontext<br />
war das iranische Volk aufgerufen,<br />
sich an jener Farce zu beteiligen,<br />
die das islamische Regime <strong>als</strong> „Präsidentschaftswahl“<br />
bezeichnet hat. Der<br />
Begriff „Wahlen“ scheint uns unangebracht,<br />
weil die Kandidaten durch einen<br />
Rat im Voraus ausgewählt wurden,<br />
der seine Meinung über ihre Kompetenz<br />
und religiösen Tugenden abgab.<br />
<strong>Die</strong> wichtigste Rolle dieser Wahlen<br />
besteht in der Legitimierung der nicht<br />
gewählten Strukturen, die die Staatsmacht<br />
halten. Daher unternimmt das<br />
Regime bei jeder Wahl größte Anstren-<br />
26 inprekorr 458/459
Iran<br />
gungen, möglichst viele Stimmzettel<br />
in die Urnen zu bekommen. Hierin<br />
liegt ein Schlüssel zum Verständnis<br />
des durch die Wahlen unternommenen<br />
Staatsstreichs, wie er von Ahmadinedschad<br />
und dem obersten Führer inszeniert<br />
worden ist.<br />
<strong>Die</strong> Wahlen haben den verschiedenen<br />
Fraktionen des Klerus und des<br />
Serail des Regimes ermöglicht, die Legitimität<br />
ihrer Lösungsvorschläge zu<br />
überprüfen, indem sie dank der Wahlergebnisse<br />
ihr Gewicht in der Hierarchie<br />
verstärken. Während die Wahlen<br />
für das Volk ganz und gar undemokratisch<br />
waren, haben sie dem gesamten<br />
Klerus an der Macht aus diesem Grund<br />
eine große Freiheit ermöglicht. Es handelt<br />
sich eigentlich um eine Form innerer<br />
Demokratie innerhalb der herrschenden<br />
Klasse. 3<br />
Aufgrund der Heftigkeit der Repression<br />
haben die Völker des Irans, die<br />
der Meinungsfreiheit beraubt sind, die<br />
Rivalität zwischen den Fraktionen genützt,<br />
um zu manövrieren und einen gewissen<br />
Freiraum zu erhalten. Sie haben<br />
dies sowohl mittels ihrer Stimmen <strong>als</strong><br />
auch des Wahlboykotts getan: <strong>Die</strong> massive<br />
Beteiligung bei der Wahl von Khatami<br />
1997 (sein Gegenkandidat war der<br />
offizielle Vertreter des Regimes, womit<br />
die Sache eigentlich ein Referendum<br />
gegen das Regime war) und der massive<br />
Boykott der Wahlen zur Madschlis<br />
(Parlament) 2004 (fast alle Reformkandidaten<br />
wurden nicht gewählt) sind dafür<br />
Beispiele.<br />
Während dieser Wahlen hat Ahmadinedschad<br />
im Bündnis mit einem Teil<br />
der iranischen Revolutionsgarden und<br />
einer Handvoll Mullahs vor allem versucht,<br />
den Klerus seiner Fähigkeit zu<br />
berauben, die Wahlen <strong>als</strong> Instrument zu<br />
verwenden, um die Machtbasis seiner<br />
besonderen Fraktionen im Innern des<br />
Regimes zu vergrößern. Das war keineswegs<br />
ein Blitz aus heiterem Himmel.<br />
Im Verlauf der vergangenen 15<br />
Jahre, nach dem Ende des Krieges gegen<br />
den Irak, wurden die Wahlen immer<br />
sorgfältig inszeniert, um alle Organe<br />
– ob wählbar oder auch nicht –<br />
unter Kontrolle zu bekommen. Parallel<br />
dazu wurde der militärische und<br />
3 Wir möchten anmerken, dass die Hundert<br />
wichtigsten iranischen Kapitalisten ... Mullahs<br />
sind. Sie gehören fast zu gleichen Teilen<br />
zu den beiden Fraktionen des Klerus, die daher<br />
in Wirklichkeit die Spaltungen der iranischen<br />
Bourgeoisie verkörpern.<br />
Iran: Wahlbetrüger Ahmadinedschad<br />
Sicherheitsapparat zu einer wichtigen<br />
wirtschaftlichen Kraft im Land.<br />
Von den 475 Leuten, die sich um die<br />
Präsidentschaft bewarben, wurden vom<br />
Wächterrat nur vier ausgesucht: Mussawi,<br />
der frühere Ministerpräsident (zwischen<br />
1981 und 1988) und Kandidat<br />
der Reformer; Ahmadinedschad, der<br />
amtierende Präsident, der ein zweites<br />
Mandat anstrebte; Karrubi, der frühere<br />
Präsident des islamischen Parlamentes<br />
und Resa’i, ein früherer Kommandant<br />
der Pasdaran. Ahmadinedschad und<br />
Mussawi repräsentierten jeweils eine<br />
Fraktion des Regimes und waren die<br />
Hauptdarsteller im großen Spektakel.<br />
Der „reformerische“ Kandidat Mussawi<br />
ist keineswegs besser <strong>als</strong> seine Gegenspieler.<br />
Er war in den 1980er Jahren<br />
Ministerpräsident, in einer Zeit, <strong>als</strong><br />
30 000 AktivistInnen der Linken umgebracht<br />
wurden. Plötzlich hatte er entdeckt,<br />
dass die islamische Republik –<br />
gegen die er eigentlich nichts hat – „reformiert“<br />
werden muss, dass <strong>als</strong>o einige<br />
kleinere Veränderungen vorgenommen<br />
werden müssen, damit alles so bleiben<br />
kann wie zuvor. <strong>Die</strong> Gegnerschaft zwischen<br />
Mussawi und Ahmadinedschad<br />
ist eine Gegnerschaft zwischen zwei<br />
Fraktionen eines reaktionären Staates,<br />
die unterschiedliche Strategien verfolgen,<br />
um das gegenwärtige Regime zu<br />
retten: Der eine möchte von oben Reformen<br />
durchführen, um eine Revolution<br />
von unten zu verhindern; der andere<br />
fürchtet, dass die Reformen von oben<br />
zu einer Revolution von unten führen<br />
könnten.<br />
Um die Strategie des Regimes während<br />
der Wahlen 2009 besser verstehen<br />
zu können, muss man betonen, dass die<br />
Wahlen von 2005 die Massen keineswegs<br />
angezogen haben, weil das iranische<br />
Volk von den acht Jahren der<br />
Präsidentschaft von Khatami, dem „Reformer“<br />
(1997-2005) stark enttäuscht<br />
war. In einem sehr populistischen und<br />
demagogischen Diskurs versprach der<br />
Kandidat Ahmadinedschad das Blaue<br />
vom Himmel herunter, um WählerInnen<br />
auf sich zu ziehen. Durch mäßigen<br />
Wahlbetrug (ein paar Millionen<br />
Stimmen!) gelang es ihm, die Wahlen<br />
zu gewinnen, und zwar ebenfalls gegen<br />
vier Kandidaten, die unter über Tausend<br />
ausgesucht worden waren.<br />
<strong>Die</strong> Maskerade der Wahlen<br />
<strong>Die</strong> Maskerade der Präsidentschaftswahlen<br />
2009 war von ganz anderem<br />
Charakter. Man setzte alles daran, um<br />
den Anschein einer demokratischen<br />
Wahl zwischen den vier Kandidaten<br />
des Serail zu wahren, die das Sieb des<br />
Wächterrates passiert hatten. Um Vertrauen<br />
wiederzugewinnen oder vielmehr<br />
die bereits verlorenen Stimmen,<br />
veränderte die Fraktion oberster Führer-Ahmadinedschad<br />
die Taktik und<br />
änderte einfach die Spielregeln. In der<br />
Zeit des Wahlkampfes wurden relativ<br />
freie Debatten im Fernsehen organisiert<br />
und neuen Zeitungen wurde das<br />
Erscheinen erlaubt.<br />
Während des Konfliktes um das<br />
Atomprogramm musste das Regime<br />
der „internationalen Gemeinschaft“ seine<br />
Legitimität zeigen. Weil es das Ni-<br />
inprekorr 458/459 27
Iran<br />
veau der Unzufriedenheit und der Gegnerschaft<br />
im Land nicht kannte, wurde<br />
zwei Wochen vor den Wahlen eine<br />
spektakuläre Show von Fernsehauftritten<br />
gesendet, was es in den dreißig Jahren<br />
des Bestehens des Regimes noch<br />
nie gegeben hatte. <strong>Die</strong> Presse und die<br />
Medien der reformerischen Fraktion<br />
profitierten von dieser kurzzeitigen relativen<br />
Freiheit. Im Rahmen der bestehenden<br />
Ordnung erlaubte man es jedem<br />
der vier Kandidaten, auf die Schwachpunkte<br />
der jeweiligen Gegner einzugehen.<br />
Korruption, Inkompetenz, Lügen<br />
und Täuschungen waren noch die vorsichtigsten<br />
Anschuldigungen und sogar<br />
Ahmadinedschad, der sich der Unterstützung<br />
von Khameini sicher war,<br />
überschritt die üblichen roten Linien.<br />
Sein Angriff ging gegen Rafsandschani,<br />
der frühere Präsident und Rivale<br />
des obersten Führers, der über ein riesiges<br />
Vermögen verfügt. Aber die Elite<br />
des Regimes in beiden Fraktionen<br />
unterschätzte den Umfang des Hasses<br />
und Zornes unter den jungen Leuten,<br />
den Frauen, den Arbeitenden, die über<br />
80 % der Bevölkerung ausmachen. <strong>Die</strong>se<br />
Debatten der Kandidaten waren der<br />
Tropfen, der das Fass des Zornes des<br />
Volkes zum überlaufen brachte, der<br />
sich in den vergangenen 30 Jahren aufgestaut<br />
hatte.<br />
<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben eine wesentliche<br />
Rolle bei der Unterstützung<br />
von Mussawi gegen den Präsidenten<br />
gespielt. Während Ahmadinedschad<br />
ganz einfach das Ausmaß der Inflation,<br />
der Arbeitslosigkeit, des Niedergangs<br />
der Wirtschaft und der Korruption bestritt,<br />
betonte Mussawi das Ausmaß der<br />
Desaster, die sich im Verlauf der ersten<br />
Amtszeit des wieder kandidierenden<br />
Präsidenten ereignet hatte. Von der<br />
übergroßen Mehrheit der FernsehzuschauerInnen<br />
wurde Ahmadinedschad<br />
<strong>als</strong> zynisch, arrogant und verlogen angesehen,<br />
während sein Gegner, der in<br />
den vergangenen zwanzig Jahren keine<br />
politische Funktion im Regime bekleidet<br />
hat, <strong>als</strong> der am wenigsten schlechte<br />
der vier erschien. Ahmadinedschad<br />
ging sogar so weit, die Frau von Mussawi<br />
anzugreifen, was bei den FernsehzuschauerInnen<br />
auf breite Ablehnung<br />
stieß. Er klagte auch wichtige Vertreter<br />
der politischen Elite, darunter Rafsandschani,<br />
der Korruption an, wobei<br />
er während seiner <strong>ganze</strong>n Amtszeit der<br />
Justiz nicht einen ernstzunehmenden<br />
Hinweis gegen die beschuldigten Personen<br />
geliefert hatte.<br />
<strong>Die</strong> Maskerade der Präsidentschaftswahlen<br />
von 2009 ist von ganz<br />
anderer Natur. Alles wurde getan, damit<br />
der Anschein einer demokratischen<br />
Wahl unter den vier Kandidaten des engeren<br />
Machtzirkels, die vom Wächterrat<br />
ausgesiebt worden waren, aufrechterhalten<br />
wurde. Um das Vertrauen oder<br />
vielmehr die von vornherein verlorenen<br />
Stimmen wiederzugewinnen, hat<br />
die Fraktion Oberster Führer/Ahmadinedschad<br />
die Taktik geändert und die<br />
Spielregeln modifiziert. Während des<br />
Wahlkampfs wurden relativ freie Debatten<br />
im Fernsehen organisiert, das<br />
Erscheinen neuer Zeitungen wurde genehmigt.<br />
Während des Konflikts um das Nuklearprogramm<br />
musste das Regime gegenüber<br />
der „internationalen Gemeinschaft“<br />
seine Legitimität demonstrieren.<br />
Während der Grad der Unzufriedenheit<br />
und das Ausmaß der im Land<br />
existierenden Opposition ignoriert wurde,<br />
brachte das Fernsehen zwei Wochen<br />
vor dem Urnengang eine spektakuläre<br />
Debatte, etwas, was es während<br />
der dreißigjährigen Existenz des Regimes<br />
nicht gegeben hatte. <strong>Die</strong> Presse<br />
und die Medien der Reformerfraktion<br />
wahren Nutznießer einer relativen Freiheit<br />
von kurzer Dauer. Im Rahmen der<br />
bestehenden Ordnung war es jedem der<br />
vier Kandidaten erlaubt, die Schwachpunkte<br />
ihrer Kontrahenten bloßzustellen.<br />
Korruption, Inkompetenz, Lügen<br />
und Betrug waren die nobelsten Beschuldigungen,<br />
und selbst Ahmadinedschad,<br />
der Unterstützung durch Khamenei<br />
gewiss, hat die üblichen roten<br />
Linien überschritten. Seine Zielscheibe<br />
war Rafsandschani, Ex-Präsident und<br />
Rivale des Obersten Führers, dessen<br />
Vermögen kolossal ist. Aber die Elite<br />
des Regimes, die zu beiden Fraktionen<br />
gehört, hat den Grad des Hasses<br />
und der Wut unter der Jugend, den<br />
Frauen und den Lohnabhängigen, die<br />
mehr <strong>als</strong> 80 Prozent der Bevölkerung<br />
ausmachen, unterschätzt. <strong>Die</strong>se Debatte<br />
der Kandidaten war der Tropfen, der<br />
das Fass des in den letzten dreißig Jahren<br />
angesammelten Volkszorns überlaufen<br />
ließ.<br />
<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben eine entscheidende<br />
Rolle in der Stärkung Mussawis<br />
gegen den scheidenden Präsidenten<br />
gespielt. Während Ahmadinedschad<br />
das Ausmaß der Inflation, der<br />
Arbeitslosigkeit, der Korruption und<br />
des Niedergangs der Wirtschaft einfach<br />
leugnete, unterstrich Mussawi den Umfang<br />
der Katastrophen während der ersten<br />
Amtszeit des scheidenden Präsidenten.<br />
Letzterer wurde von der großen<br />
Mehrheit der Fernsehzuschauer <strong>als</strong><br />
arroganter Zyniker und Lügner wahrgenommen,<br />
während sein Kontrahent,<br />
der in den letzten zwanzig Jahren keine<br />
politische Verantwortung innerhalb des<br />
Regimes übernommen hatte, <strong>als</strong> der am<br />
wenigsten schlechte der vier Kandidaten<br />
erschien. Ahmadinedschad ging<br />
sogar so weit, die Frau Mussawis anzugreifen,<br />
für die Zuschauer ein intolerabler<br />
Akt. Er beschuldigte einige prominente<br />
Mitglieder der politischen Elite,<br />
darunter Rafsandschani, der Korruption,<br />
während er während seiner gesamten<br />
Präsidentschaft gegen die beschuldigten<br />
Personen keinerlei für die Justiz<br />
brauchbare Indizien geliefert hatte.<br />
In Wirklichkeit war die Mehrheit<br />
der iranischen Bevölkerung bereits<br />
über den durch Korruption angehäuften<br />
enormen Reichtum Rafsandschanis<br />
und seiner Familie auf dem Laufenden.<br />
Es waren die Auslandskonten von Mitgliedern<br />
der Familie Khamenei (darunter<br />
sein Sohn, dessen persönliches<br />
Konto von 1,6 Milliarden Pfund Sterling<br />
in London blockiert wurde) und<br />
Diagramme, die Schlüsselstellen im<br />
Finanzwesen zeigen, die von Ahmadinedschads<br />
Entourage besetzt werden,<br />
die die Glaubwürdigkeit dieses konservativen<br />
Kandidaten, Demagogen, Lügners<br />
und Favoriten der herrschenden<br />
Fraktion des Regimes zerstörten.<br />
<strong>Die</strong> Fernsehdebatten haben somit<br />
eine grundlegende Rolle gespielt,<br />
nicht nur für die massive Beteiligung<br />
der Bevölkerung, vor allem der Jugend<br />
und der Frauen, die gegen Ahmadinedschad<br />
zur Wahl gegangen sind, sondern<br />
auch für das Zerbrechen der Mauer<br />
der Angst, die in der iranischen Gesellschaft<br />
in den vorangegangenen Jahren<br />
geherrscht hat. <strong>Die</strong>ser sekundäre<br />
Effekt war viel wichtiger <strong>als</strong> die Debatten<br />
selbst.<br />
<strong>Die</strong>se neue Situation von kapitaler<br />
Bedeutung kam zu den außerordentlichen<br />
Bedingungen dieser Vorwahlperiode<br />
hinzu. Einige Wochen lang fand<br />
auf den Straßen ein intensives gesellschaftliches<br />
Ereignis von festlichem,<br />
überschwänglichem, gefühlsbetontem,<br />
in einem Wort revolutionärem Cha-<br />
28 inprekorr 458/459
Iran<br />
rakter statt. Es ist interessant, dass seit<br />
diesen Tagen eine Tageszeitung namens<br />
„<strong>Die</strong> Straße“ im Untergrund von<br />
jungen revolutionären Marxisten herausgegeben<br />
wird. Gruppen von jungen<br />
Menschen haben angefangen, durstig<br />
nach Freiheit, auf die Straße zu gehen<br />
und ihre Stimmen vernehmen lassen.<br />
Sie blieben dort bis spät in der<br />
Nacht, um untereinander zu diskutieren.<br />
Gruppen von Ökonomen, Soziologen,<br />
Künstlern, Universitätsdozenten<br />
und bekannten Intellektuellen sowie<br />
auch Arbeiter wurden in dieser Vorwahlperiode<br />
aktiv und denunzierten die<br />
populistische Demagogie Ahmadinedschads.<br />
Ohne eine andere Wahl zu haben,<br />
war die große Mehrheit der Bevölkerung<br />
gezwungen, Mussawi zu wählen,<br />
in dem sie die Negation des <strong>ganze</strong>n<br />
Regimes sah.<br />
Am 12. Juni, dem Tag der Wahlen,<br />
kam es zu einer massiven Beteiligung,<br />
die die Erwartungen der Vertreter des<br />
Regimes überstieg (mehr <strong>als</strong> 39 Millionen,<br />
bei 46 Millionen Wahlberechtigten).<br />
Aber am Tag nach den Wahlen<br />
war der Schock enorm: der scheidende<br />
Präsident soll von mehr <strong>als</strong> 63<br />
Prozent der Bevölkerung gewählt worden<br />
sein, während Mussawi nur halb<br />
soviel Stimmen bekommen haben soll.<br />
Alles deutete in den Augen eines großen<br />
Teils der öffentlichen Meinung auf<br />
einen massiven und plumpen Betrug<br />
hin, der auf die Spitze des Staates zurückgeht,<br />
die nicht einmal die elementaren<br />
Regeln der Überprüfung respektierte<br />
(zehn Tage für die Einreichung<br />
einer Beschwerde).<br />
Drei Stunden nach Schließung der<br />
Wahllokale hat das iranische Innenministerium<br />
das Hauptquartier Mussawis<br />
angerufen, um ihm zu gratulieren und<br />
ihn aufzufordern, eine Erklärung zum<br />
Wahlsieg vorzubereiten. Dann, plötzlich,<br />
war alles anders. Mehrere Kommandanten<br />
der Revolutionswächter<br />
besetzen und konfiszieren das Wahlkampfbüro<br />
Mussawis. Anschließend<br />
werden die gefälschten Wahlresultate<br />
verkündet, was eine Welle von Demonstrationen<br />
auslöst.<br />
Es ist offensichtlich, dass Khamenei,<br />
umgeben von seinen subalternen Beratern,<br />
den Volkszorn unterschätzt hat,<br />
den das gefälschte Wahlergebnis ausgelöst<br />
hatte. Andernfalls hätte er einen<br />
maßvolleren Prozentsatz für den<br />
„Sieg“ Ahmadinedschads gewählt. Aber<br />
um Ahmadinedschad <strong>als</strong> wirklich legitimes<br />
Oberhaupt des Iran zu etablieren,<br />
brauchte Khamenei eine höhere Stimmenzahl<br />
<strong>als</strong> die von Khatami 1997 erzielten<br />
20 Millionen. Mit dem Rückgang<br />
kann man vielleicht denken, dass es vielleicht<br />
möglich war, dass das islamische<br />
System gerettet sei, wenn das Regime<br />
sich mit einem Sieg Ahmadinedschads<br />
mit einem geringeren Vorstoß oder gar<br />
einem zweiten Wahlgang begnügt hätte.<br />
Alternativ hätte eine Präsidentschaft<br />
Mussawis – trotz der Probleme infolge<br />
seiner übertriebenen Versprechen bezüglich<br />
der individuellen Freiheit im<br />
Rahmen eines religiösen Staates – gewiss<br />
das Leben des islamischen Regimes<br />
für mehrere Jahre verlängert, bis<br />
eine andere Generation der iranischen<br />
Jugend sich von den vagen Reformversprechen<br />
abwendet und gegen die Feigheit<br />
und das Zögern der „islamistischen<br />
Modernisierer“ rebelliert.<br />
<strong>Die</strong> drei Wochen, die den Wahlen<br />
vorangingen, werden von einigen<br />
<strong>als</strong> „iranischer Frühling“ bezeichnet.<br />
<strong>Die</strong> Menschen – vor allem die Jugend<br />
und die Frauen – haben eine Periode<br />
des Bruchs mit der Repression, mit<br />
der islamistischen Ideologie, der theokratischen<br />
Phraseologie und der Scharia<br />
durchlebt. In einem Wort, ein Bruch<br />
mit allem, was Ahmadinedschad verkörpert.<br />
Sie konnten die Ausdrucksfreiheit<br />
genießen und die demokratischen<br />
Demonstrationen entdecken. In diesen<br />
Tagen sind die symbolischen Fundamente<br />
der islamistischen Macht erschüttert<br />
worden, die Angst wurde ersetzt<br />
durch Kühnheit, die Trauer durch<br />
den Festtag und der Individualismus<br />
durch die Solidarität. <strong>Die</strong> Macht hat<br />
die Büchse der Pandora geöffnet, das<br />
vom Regime organisierte Spiel wandte<br />
sich gegen es selbst. <strong>Die</strong>se Wahlinszenierung<br />
wurde dem Volk gewährt,<br />
und die Macht glaubte zu Unrecht, dass<br />
es sich um eine provisorische Periode<br />
handeln werde. In Wirklichkeit war die<br />
Bevölkerung, nachdem sie einmal mit<br />
dem Segen des Regimes von der verbotenen<br />
Frucht genascht hatte, bereit dafür<br />
zu kämpfen, um dies dauerhaft einzufordern.<br />
<strong>Die</strong>s ist dem islamistischen<br />
Staat vollständig entgangen, und zwar<br />
all seinen Fraktionen, einschließlich<br />
der „Reformer“, die glaubten, dass die<br />
neuen Generationen passiv und gefügig<br />
wären. Es zeigte sich jedoch das<br />
Gegenteil.<br />
Nach der Verkündigung der Wahlresultate<br />
ist sehr schnell klar geworden,<br />
dass Mussawi ein schwacher Charakter<br />
ist, und seine Popularität hat nicht<br />
aufgehört zu sinken, denn er versuchte<br />
sich an die Massenbewegung anzuhängen,<br />
um sie zu kontrollieren, damit<br />
sie den legalen Rahmen des Systems<br />
nicht überschreitet. Mussawi (tatsächlich<br />
die Fraktion des Regimes, die er<br />
repräsentiert) findet sich, ohne es zu<br />
wollen, im Auge eines Zyklons von<br />
historischer Dimension wieder. Und<br />
wenn diese Fraktion ihre Privilegien<br />
nicht verlieren will, hat sie keine andere<br />
Wahl <strong>als</strong> von nun an dieser menschlichen<br />
Flut zu folgen. <strong>Die</strong>se weist darauf<br />
hin, dass der Oberste Führer illegitim<br />
ist. Seine Glaubwürdigkeit <strong>als</strong><br />
religiöse Autorität ist schwach gewesen<br />
und bleibt schwach. Von nun an ist<br />
auch seine Glaubwürdigkeit <strong>als</strong> Oberster<br />
Führer zerbrechlich geworden.<br />
Mussawi ist zweifellos nicht Khomeini.<br />
Aber Khamenei erinnert zunehmend<br />
an den Schah oder vielmehr an<br />
einen Kalifen. Aber was ist die reale<br />
Macht hinter dieser gefälschten Präsidentschaftswahl,<br />
die vom Lager Mussawis<br />
<strong>als</strong> „Staatsstreich per Wahlen“<br />
eingeschätzt wird? Allgemein besteht<br />
die Ansicht, dass der Oberste Führer,<br />
der Ayatollah Khamenei, <strong>als</strong> Oberkommandierender<br />
der Streitkräfte der Chef<br />
dieses Staatsstreichs ist. Aber die Wirklichkeit<br />
ist komplexer.<br />
Seit dem Machtantritt Ahmadinedschads<br />
2005 versäumen die Chefs der<br />
Islamischen Revolutionsgarden (IRG)<br />
keine Gelegenheit, von der „internen<br />
Bedrohung“ gegen sie zu sprechen.<br />
Darüber hinaus hat der Chef der politischen<br />
Abteilung der IRG einige Tage<br />
vor den Wahlen vom 12. Juni Mussawi<br />
und andere Reformer beschuldigt, eine<br />
„farbige“ Revolution zu versuchen<br />
(Mussawi hat Grün, die Farbe des schiitischen<br />
Islam, <strong>als</strong> Symbol für seinen<br />
Wahlkampf verwendet), und angekündigt,<br />
dass die Pasdaran „sie ersticken<br />
würden, bevor sie das Licht der Welt<br />
erblickt“. <strong>Die</strong> Urheber dieses „Staatsstreichs“<br />
sind tatsächlich die Mitglieder<br />
des Oberkommandos der IRG.<br />
Wer sind die Pasdaran?<br />
<strong>Die</strong> gegenwärtigen Mitglieder der Pasdaran<br />
waren in der Epoche der iranischen<br />
Revolution von 1978/1979 etwa<br />
20 Jahre alt. Sie traten den IRG nahezu<br />
unmittelbar nach der Revolution<br />
bei und führten in den 80er Jahren<br />
inprekorr 458/459 29
Iran<br />
Iran: militanter Protest<br />
zwei schreckliche Kriege: gegen die<br />
Armee Saddam Husseins, die im September<br />
1980 den Iran überfallen hatte,<br />
und gegen Oppositionelle – wie linke<br />
Gruppen und die Volksmudschahedin<br />
– im Innern des Landes. Im Juni<br />
1981 führten die IRG einen blutigen<br />
Kampf gegen sie, bei dem sie Zehntausende<br />
töteten und weitere Zehntausende<br />
Oppositionelle zwangen, ins Exil zu<br />
gehen.<br />
Während des Krieges mit dem Irak<br />
(1981–1988) wurden die IRG auch<br />
vom Regime <strong>als</strong> Schlüsselelement für<br />
die Durchsetzung einer harten politischen<br />
Repression benutzt, deren Resultat<br />
die physische Beseitigung aller<br />
laizistischen politischen Gruppen von<br />
der iranischen Bühne war. <strong>Die</strong>s erlaubte<br />
die Errichtung einer religiös-kapitalistischen<br />
Diktatur. Sogleich nach dem<br />
Ende des Krieges mit dem Irak wurden<br />
mit Zustimmung der Pasdaran Tausende<br />
politische Gefangene hingerichtet.<br />
Ayatollah Khomeini starb im Juni 1989<br />
und diese jungen Pasdaran haben sich<br />
darauf in zwei Lager gespalten.<br />
Im Lager der sog. „islamischen Linken“<br />
war man der Auffassung, dass das<br />
Regime zur Vermeidung einer Revolution<br />
eine politische Öffnung benötigte<br />
und die grausame Repression der 80er<br />
Jahre beendigen sollte. Zahlreiche Mitglieder<br />
dieser Gruppe waren aus dem<br />
Apparat des Nachrichtendienstes hervorgegangen;<br />
sie waren entsprechend<br />
perfekt über das auf dem Laufenden,<br />
was in der Gesellschaft geschah, und<br />
spürten die Gefahr einer Revolution<br />
und einer sozialen Explosion. Ihre Vision<br />
war die Reform des Systems im<br />
Rahmen des Islams, um das Regime zu<br />
retten. Sie wurden zu „islamistischen<br />
Reformern“. Auf diese Weise entstand<br />
die Fraktion der Reformer, und Khatami,<br />
der Sprecher ihres gemäßigten Flügels,<br />
wurde 1995 Präsident der Republik.<br />
<strong>Die</strong> Pasdaran des entgegengesetzten<br />
Lagers waren sehr konservativ und<br />
sind nach dem Krieg in den IRG geblieben.<br />
Ahmadinedschad und sein Regierungsteam<br />
gehören zu diesem Lager.<br />
Parallel dazu entwickelte sich ein<br />
anderes Phänomen. Nach Khomeinis<br />
Tod tauchte ein anderes Konzept des<br />
„islamischen Staates“ auf, das noch reaktionärer<br />
<strong>als</strong> das von Khomeini begonnene<br />
war, und zwar mit dem Auftauchen<br />
einer ultrareaktionären islamistischen<br />
Gruppe namens „Hodschatiyeh-Gesellschaft“.<br />
Sie war in den<br />
1950er Jahren gegründet worden und<br />
war eine erbitterte Gegnerin des sunnitischen<br />
Islam und der Bahai-Religion.<br />
Sie hatte sogar mit dem Geheimdienst<br />
des Schahs zusammengearbeitet, um<br />
die Propagierung des Kommunismus<br />
zu bekämpfen. Sie war auch gegen die<br />
Revolution von 1979 und das Konzept<br />
des von Khomeini entwickelten „Welayat-e<br />
Faqih“ (der Herrschaft der islamischen<br />
Rechtsgelehrten), das die<br />
Grundlage der Verfassung der Islamischen<br />
Republik Iran und seines politischen<br />
Systems bildet. Khomeini hatte<br />
die „Hodschatiyeh-Gesellschaft“<br />
1983 verboten. Ihr aktueller Führer ist<br />
der Ayatollah Mesbah, ein ultrareaktionärer<br />
Kleriker der harten Linie, die<br />
sich offen der Abhaltung von Wahlen<br />
widersetzt. <strong>Die</strong>s ist das geistige Vorbild<br />
für Ahmadinedschad. Unter den Jüngern<br />
des Ayatollah Mesbah findet sich<br />
die Mehrheit der Minister der aktuellen<br />
Regierung, eine große Zahl von hohen<br />
Kommandanten der IRG und ihres paramilitärischen<br />
Arms, der Bassidschi-<br />
Milizen, sowie des juristischen Apparats.<br />
Seit seiner Wahl zum Präsidenten im<br />
Jahr 2005 hat Ahmadinedschad mehrfach<br />
die Worte des Ayatollah Mesbah<br />
gebraucht, wenn er vom „islamischen<br />
Staat Iran“ sprach statt von der „Islamischen<br />
Republik Iran“. Zwei Wochen<br />
vor den Wahlen hatte Mesbah eine Fatwa<br />
ausgegeben – ihr Inhalt wurde von<br />
einigen Mitgliedern des Innenministeriums<br />
enthüllt –, die den Gebrauch aller<br />
Mittel für die Wiederwahl Ahmadinedschads<br />
erlaubte und somit für die<br />
Fälschung der Wahlen grünes Licht<br />
gab. <strong>Die</strong> von der Hodschatiyeh-Gesellschaft<br />
propagierte theokratische Vision<br />
des „islamischen Staates“ entspricht<br />
den politischen Ambitionen der IRG.<br />
Heute stützt sich die konservative und<br />
herrschende Fraktion des Regimes auf<br />
die Allianz einer Handvoll Mullahs der<br />
Hodschatiyeh-Gesellschaft mit Mitgliedern<br />
des Oberkommandos der IRG. Es<br />
trifft zu, dass die politische Rolle der Islamischen<br />
Revolutionsgarden bei weitem<br />
nicht so bedeutend ist, wie das bei<br />
der Armee in der Türkei oder in Pakistan<br />
der Fall ist. Aber die Entwicklungen auf<br />
der politischen Bühne und das zunehmend<br />
größere Gewicht der IRG zeugen<br />
von ihrem beschleunigten Aufstieg zulasten<br />
des Klerus. Ein kapitalistisches<br />
Regime, das extrem nationalistische,<br />
populistische Losungen verwendet, über<br />
das Land durch den Terror von <strong>als</strong> Miliz<br />
organisierten Banden herrscht, den Applaus<br />
einer Öffentlichkeit erheischt, der<br />
nicht erlaubt wird, sich in einer anderen<br />
Form <strong>als</strong> der von oben angeordneten zu<br />
organisieren, und obendrein noch militärische<br />
Ambitionen hat – wo haben wir<br />
dies vorher gesehen?<br />
Wer sind die Millionen, die<br />
demonstriert haben?<br />
Unmittelbar nach der Wahl, am 13. Juni,<br />
<strong>als</strong> das Lager Mussawis mit der Reaktion<br />
auf die Wahlresultate zögerte,<br />
waren Studierende und AktivistInnen<br />
der Linken die ersten, die in Teheran<br />
auf die Straße gingen. Ihnen schlossen<br />
sich Demonstranten aus den Arbeitervierteln<br />
der Teheraner Vororte an, die<br />
Ahmadinedschad verabscheuen.<br />
30 inprekorr 458/459
Iran<br />
Tatsächlich standen von Beginn<br />
dieses Sommers an die Lohnabhängigen<br />
(deren Lebensstandard in den letzten<br />
drei Jahren beträchtlich gesunken<br />
ist), die erwerbslose Jugend und die<br />
Studierenden (die seit vier Jahren die<br />
Anwesenheit der Polizei in den Unis<br />
ertragen mussten) an der Spitze der<br />
Proteste. Besonders die jungen Frauen<br />
verabscheuen das Regime wegen seiner<br />
ständigen Einmischung in ihr alltägliches<br />
Leben. Sie haben durch ihre<br />
frühzeitige Präsenz auf den Straßen<br />
Teherans am 15. Juni Hunderttausende<br />
Teheraner (darunter Personen aus<br />
den Mittelschichten) ermutigt, sich den<br />
Demonstrationen anzuschließen. <strong>Die</strong>s<br />
alles hat Mussawi dazu gebracht, am<br />
späten Nachmittag selbst an der Demonstration<br />
teilzunehmen. Sie haben<br />
sogar weiter demonstriert, nachdem<br />
die Repression intensiver geworden<br />
war. Mangels klarer Direktiven seitens<br />
Mussawis oder des anderen sog. Reformkandidaten,<br />
Mehdi Karrubi, waren<br />
sie es, die einen Aufruf für die Demonstrationen<br />
des 9. Juli, des Jahrestags<br />
der blutigen Repression gegen die<br />
Studentenbewegung von 1999, lanciert<br />
haben.<br />
Niemand kann an der Bedeutung<br />
des 15. Juni zweifeln. Jahrelang waren<br />
die Iraner gegenüber dem Regime isoliert,<br />
demoralisiert und voller Furcht.<br />
An diesem Montag befanden sich nach<br />
Angaben des Teheraner Bürgermeisters<br />
etwa 3 Millionen Menschen auf<br />
den Straßen der Hauptstadt. In Isfahan<br />
war der historische Schah-Dschehan-Platz<br />
(einer der größten Plätze<br />
der Welt) schwarz von protestierenden<br />
Menschen. <strong>Die</strong> Städte Schiras und Täbris<br />
erlebten Demonstrationen nie gesehenen<br />
Ausmaßes. <strong>Die</strong> Iraner haben<br />
endlich gesprochen und die Solidarität,<br />
die sie auf diesen Protestaktionen<br />
gefunden haben, hat ihnen ein beispielloses<br />
Vertrauen und das Gefühl des<br />
Sieges verliehen.<br />
Wie 1979 ist es dieses Vertrauen,<br />
das ihnen Mut macht, sich den brut<strong>als</strong>ten<br />
Formen der Repression kühn<br />
und entschlossen entgegenzustellen.<br />
<strong>Die</strong> waffenlosen Protestierer standen<br />
den Bassidschi gegenüber und hatten<br />
dabei augenscheinlich keine Angst um<br />
ihr Leben. Bei einem Protest in einem<br />
Elendsviertel eines Vororts von Teheran,<br />
wo infolge regelmäßiger Zusammenstöße<br />
zwischen Bewohnern und<br />
Behörden Bassidschi-Einheiten stationiert<br />
worden waren, rief die Menge<br />
„Tod dem Diktator!“, griff die Bassidschi<br />
an und konnte sie aus dem Ort jagen.<br />
Dasselbe geschah auch in Teheraner<br />
Arbeitervierteln. Wenn die Viertel<br />
der Teheraner Bourgeoisie tagsüber<br />
ruhig blieben (in der Nacht stiegen die<br />
Leute in der <strong>ganze</strong>n Stadt auf die Dächer<br />
und skandierten Parolen gegen das<br />
Regime), so waren dagegen die Viertel<br />
der Arbeiterklasse, die Fabriken, die<br />
Bergwerke und die Elendsquartiere<br />
Schauplatz improvisierter und bedeutender<br />
Aktionen.<br />
An der Spitze derjenigen, die der<br />
Furcht und der Repression trotzten und<br />
auf die Straßen Teherans strömten, finden<br />
wir Frauen (ein guter Teil von ihnen<br />
jünger <strong>als</strong> 30 Jahre), die niem<strong>als</strong><br />
vergessen werden, wie die Pasdaran sie<br />
festgenommen und ausgepeitscht haben<br />
(vielfach mit 60-80 Schlägen), weil sie<br />
eine Haarsträhne gezeigt haben, sowie<br />
junge Menschen beiderlei Geschlechts,<br />
die in den letzten Jahren festgenommen,<br />
gedemütigt und eingesperrt wurden<br />
– nicht bloß weil sie eine politische<br />
Meinung geäußert haben, sondern in<br />
Hunderttausenden von Fällen, weil sie<br />
sich nicht an die strengen Auslegungen<br />
der islamischen Kleidungsvorschriften<br />
oder Verhaltensregeln gehalten haben.<br />
Sie werden nie die Brigaden der Sittenwächter<br />
vergessen.<br />
Dann sind da noch die Studentinnen<br />
und Studenten, die genug haben<br />
von der Einmischung des Staates<br />
in jeden Aspekt ihres privaten und öffentlichen<br />
Lebens; die Werktätigen, die<br />
mit Armut, unbezahlten Löhnen, Arbeitslosigkeit<br />
konfrontiert sind; die Bewohner<br />
der Elendsviertel, die mit den<br />
Behörden im Dauerstreit liegen wegen<br />
Mangels an Wasser oder Elektrizität;<br />
die Eltern derjenigen, die vom Regime<br />
getötet wurden – nicht bloß während<br />
der jüngsten Proteste, bei denen mindestens<br />
350 Personen ihr Leben verloren,<br />
sondern es geht um die Familien<br />
der über 30 000 AktivistInnen, die wegen<br />
ihrer politischen Ideen in den 80er<br />
und 90er Jahren hingerichtet wurden<br />
(und vergessen wir nicht, dass die Henker<br />
der über 6000 in den Gefängnissen<br />
ermordeten politischen Gefangenen sowohl<br />
im Lager der Reformer wie auch<br />
im Lager der Konservativen zu finden<br />
sind).<br />
<strong>Die</strong> Spaltungen an der Spitze haben<br />
einen Raum für eine authentische Massenbewegung<br />
eröffnet.<br />
Schauen wir uns, um unsere antiimperialistischen<br />
Skeptiker aufzuklären,<br />
an, welche Haltung die iranische<br />
Arbeitervorhut einnimmt. Während des<br />
Wahlkampfs hat die Mehrheit der gewerkschaftlichen<br />
und Arbeiterorganisationen<br />
(die illegal sind) dazu aufgerufen,<br />
keinen der zur Wahl stehenden<br />
Kandidaten zu wählen, denn, erklären<br />
sie, keiner der Kandidaten repräsentiert<br />
die Interessen der Werktätigen. <strong>Die</strong>se<br />
Haltung ist vollkommen korrekt. Jedoch<br />
<strong>als</strong> die Massenbewegung auf den<br />
Plan trat, drückte die Gewerkschaft der<br />
Teheraner Busfahrer (Vahed) ihre entschiedene<br />
Unterstützung für diese Bewegung<br />
aus. Und die Beschäftigten<br />
von Iran Khodro organisierten einen<br />
halbstündigen Streik zur Unterstützung<br />
der Bewegung.<br />
Am 18. Juni veröffentlichte die Gewerkschaft<br />
der Teheraner Busfahrer ein<br />
Kommuniqué. Dabei handelt es sich<br />
um einen der kämpferischsten Teile der<br />
iranischen Arbeiterklasse, der vor zwei<br />
Jahren zur Verteidigung seiner gewerkschaftlichen<br />
Rechte einer brutalen Repression<br />
getrotzt hat. Vor den Wahlen<br />
hatte die Gewerkschaft zu Recht erklärt,<br />
dass kein Kandidat die Interessen<br />
der iranischen Werktätigen verteidigt.<br />
Aber gleichermaßen zu Recht begrüßt<br />
sie heute „die großartige Bewegung<br />
von Millionen Menschen jeden Alters,<br />
Geschlechts, religiösen Bekenntnisses<br />
und aller Nationalitäten“. Das Kommuniqué<br />
fährt fort: „Wir unterstützen<br />
diese Bewegung des iranischen Volkes<br />
für den Aufbau einer freien und unabhängigen<br />
zivilen Gesellschaft – und<br />
wir verurteilen jede Gewalt und jede<br />
Repression.“ Was für ein Unterschied<br />
zwischen dieser Erklärung und dem<br />
Diskurs von Mussawi und seinen Reformern,<br />
selbst der radik<strong>als</strong>ten! Noch<br />
bezeichnender ist die Mobilisierung<br />
der Beschäftigten der Fabrik Iran Khodro,<br />
des größten Betriebs des Automobilsektors<br />
im gesamten Nahen Osten<br />
(100 000 Beschäftigte, davon 30 000<br />
in einem einzigen Werk). Am Donnerstag,<br />
dem 18. Juni, organisierten sie eine<br />
Streikaktion zur Unterstützung der<br />
Volksbewegung. Hier das vollständige<br />
Kommuniqué, das den Streik ankündigte:<br />
„Wir erklären unsere Solidarität mit<br />
der Bewegung des iranischen Volkes.<br />
Was wir heute erleben, ist eine Beleidigung<br />
der Intelligenz des Volkes und<br />
seiner Stimmabgabe. <strong>Die</strong> Regierung<br />
inprekorr 458/459 31
Iran<br />
Demonstration in Teheran gegen das Wahlergebnis<br />
verhöhnt die Prinzipien der Verfassung.<br />
Wir sind verpflichtet, uns der Volksbewegung<br />
anzuschließen. Heute, am 18.<br />
Juni, werden wir, die Arbeiter von Iran<br />
Khodro, die Arbeit für eine halbe Stunde<br />
niederlegen, um gegen die Repression<br />
gegen die StudentInnen, die ArbeiterInnen<br />
und die Frauen zu protestieren.<br />
Wir erklären unsere Solidarität mit<br />
der Bewegung des iranischen Volkes.<br />
Am Tag: von 10 Uhr bis 10.30 Uhr; in<br />
der Nacht: von 3 Uhr bis 3.30 Uhr. <strong>Die</strong><br />
Arbeiter von Iran Khodro.“<br />
<strong>Die</strong>se beiden Erklärungen und die<br />
Streikaktion der Beschäftigten von Iran<br />
Khodro sind sehr bedeutend. Es handelt<br />
sich um die beiden kämpferischsten<br />
Sektoren der iranischen Arbeiterklasse<br />
und um die Vorhut der Gewerkschaftsbewegung,<br />
die anfängt, sich wieder zu<br />
erheben. <strong>Die</strong> Idee eines Gener<strong>als</strong>treiks<br />
ist aufgeworfen, aber noch nicht angewandt<br />
worden. Das ist die entscheidende<br />
Frage. Im Jahr 1979 war es der<br />
Streik der Erdölarbeiter, der beim Sturz<br />
des Schah-Regimes, diesem den endgültigen,<br />
tödlichen Schlag versetzte.<br />
Am 1. Juli begannen Tausende Arbeiter<br />
eines Bergwerks in der Provinz<br />
Chusistan einen Streik, und <strong>als</strong> die Sicherheitskräfte<br />
anrückten, um sie auseinanderzujagen,<br />
riefen die Arbeiter:<br />
„Tod dem Diktator!“<br />
Am 5. Juli sind die Beschäftigten<br />
der Zuckerrohrfabrik von Haft Tapeh<br />
erneut in den Streik getreten; sie beschuldigen<br />
die Behörden, ihre früher<br />
schon vorgebrachten Forderungen<br />
nicht zu erfüllen.<br />
<strong>Die</strong> Diskussionen zum Thema<br />
Streik gehen weiter, und drei Wochen<br />
nach dem Beginn der Proteste hat eine<br />
Organisation namens „Arbeiterkomitee<br />
zur Verteidigung der Proteste des<br />
Volkes“ eine Anzahl von Kommuniqués<br />
veröffentlicht, deren Themen die<br />
Organisation der Demonstrationen, die<br />
Sicherheitsmaßnahmen, die Ratschläge<br />
zur Selbstverteidigung gegen die Angriffe<br />
der Bassidschi und detaillierte<br />
Anregungen zum zivilen Ungehorsam<br />
sind.<br />
Jeden weiteren Tag, der vergeht,<br />
verlieren die beiden Reformkandidaten<br />
stets mehr die Unterstützung des<br />
Volkes. Nachdem sie zwei Wochen gewartet<br />
hatten – in der Hoffnung auf einen<br />
Durchbruch beim Wächterrat –,<br />
veröffentlichten Karrubi, Mussawi<br />
und der frühere Präsident Khatami eine<br />
gemeinsame Erklärung, die das gefälschte<br />
Wahlergebnis anprangert. Sie<br />
weigern sich, die neue Regierung anzuerkennen.<br />
Doch die gewöhnlichen<br />
IranerInnen sind sehr wütend in Bezug<br />
auf Mussawi, der einen „gewöhnlichen<br />
Streit innerhalb der Mitglieder einer islamischen<br />
Familie“ führt. Währenddessen<br />
versuchte Rafsandschani, der Verbündete<br />
der Reformer innerhalb einer<br />
Expertenversammlung, ein Maximum<br />
an Stimmen zu bekommen, um den<br />
Obersten Führer abzusetzen oder wenigstens<br />
Druck auf ihn auszuüben.<br />
Wie immer sind sich die „Reformer“<br />
klar darüber, dass ihr Schicksal<br />
mit der Existenz des Regimes verbunden<br />
ist. Dennoch schaufeln sie sich ihr<br />
eigenes Grab, indem sie Lösungen im<br />
Zirkel der Macht suchen und dabei den<br />
Massen auf der Straße das Unmögliche<br />
versprechen. Sie wissen nur, dass sie im<br />
Juni 2009 die Unterstützung vieler IranerInnen<br />
erhalten haben, weil die Bevölkerung<br />
für das kleinere Übel optiert<br />
hat. Hatte sich das Regime erst einmal<br />
entschlossen, diese begrenzte Gelegenheit<br />
aus- und die Tür zuzuschlagen, waren<br />
die Tage der Unterstützung Mussawis<br />
und Karrubis gezählt. Doch sollte<br />
niemand die Auswirkungen unterschätzen,<br />
die dieses beispiellose Schisma an<br />
der Spitze des islamischen Regimes haben<br />
wird.<br />
Wie bereits oben erwähnt hat die<br />
Islamische Republik eine einzigartige,<br />
sehr komplizierte Machtstruktur. <strong>Die</strong><br />
Macht ist in den Händen komplizierter<br />
Netzwerke klerikaler, exekutiver, juristischer,<br />
militärischer und paramilitärischer<br />
Kreise. Bislang haben all diese<br />
Kräfte, trotz ihrer Differenzen und<br />
fraktionellen Loyalitäten, dem Obersten<br />
Führer gehorcht. Tatsächlich war<br />
die Rolle des allmächtigen Schiedsrichters<br />
zwischen den verschiedenen Fraktionen<br />
des Regimes die wichtigste Rolle,<br />
die Khomeini und sein Nachfolger<br />
Khamenei in ihrer Funktion <strong>als</strong> Oberste<br />
Führer in den letzten dreißig Jahren<br />
gespielt haben. Am 19. Juni dieses Jahres<br />
endete dies, <strong>als</strong> Khamenei eindeutig<br />
die Gültigkeit des Resultats der Präsidentschaftswahl<br />
erklärte und Partei für<br />
Ahmadinedschad ergriff. Es ist somit<br />
gerechtfertigt, den Obersten Führer <strong>als</strong><br />
Hauptverlierer in der aktuellen Situation<br />
auszumachen.<br />
<strong>Die</strong> Reformer sind gleichfalls Verlierer.<br />
Von Tag zu Tag geht ihre Unterstützung<br />
in der Bevölkerung zurück.<br />
Beim Versuch, eine islamische Ordnung<br />
zu retten, sind sie in die Klemme<br />
geraten.<br />
Aber es gibt auch Gewinner: die<br />
Völker des Iran, die DemonstrantInnen,<br />
diejenigen, die jeden Tag gegen das Regime<br />
und seine militärischen und paramilitärischen<br />
Kräfte ihr Leben riskieren.<br />
<strong>Die</strong> Repression ist grausam. Doch<br />
so zeigt das Regime seine Verzweiflung.<br />
<strong>Die</strong> innovative Weise, in der die<br />
IranerInnen bei jeder Gelegenheit ihren<br />
Hass auf das Regime ausdrücken, hat<br />
ihnen Hoffnung und Vertrauen verliehen,<br />
was ihnen im Verlauf des Konflikts<br />
die Versicherung gibt, dass er mit dem<br />
Sturz des Regimes enden wird. Das Regime<br />
hat sich zu viele Feinde geschaf-<br />
32 inprekorr 458/459
Iran<br />
fen, besonders unter der Jugend, den<br />
Frauen, den Werktätigen und den Armen,<br />
sodass es keine Rolle spielt, wer<br />
sein Überleben akzeptieren kann.<br />
<strong>Die</strong> Eltern der bei den jüngsten Demonstrationen<br />
Verhafteten versammeln<br />
sich jeden Mittag vor den Gefängnissen<br />
und fordern die Freilassung ihrer<br />
Kinder und der anderen Gefangenen<br />
sowie Gerechtigkeit für die von den<br />
Bassidschi auf den Straßen und im Gefängnis<br />
unter der Folter Getöteten. <strong>Die</strong><br />
Mehrheit der Bevölkerung lehnt nicht<br />
nur weitere vier Jahre mit Ahmadinedschad<br />
ab, sondern das Regime in seiner<br />
Gesamtheit, das in ihren Augen unerträglich<br />
geworden ist. Sie werden<br />
mit ihren Protestaktionen nicht aufhören,<br />
ob nun mit oder ohne Mussawi und<br />
Karrubi.<br />
Solidarität<br />
<strong>Die</strong> Bilder der brutalen Repression gegen<br />
die Jugend, die Werktätigen und<br />
die Frauen des Iran haben in der <strong>ganze</strong>n<br />
Welt eine Welle der Empörung hervorgerufen.<br />
Das Regime hat seine letzte Chance<br />
gehabt, das iranische Volk, unter<br />
dem Deckmantel einer Präsidentschaft<br />
Mussawis, mit Versprechungen einer<br />
geringfügig weniger repressiven Ordnung<br />
zu ködern. <strong>Die</strong>se Gelegenheit<br />
hat es versäumt. Konfrontiert mit einer<br />
brutalen Repression im Innern und einer<br />
permanenten Drohung eines militärischen<br />
Angriffs ist diejenige Art der<br />
Solidarität, derer das iranische Volk<br />
gewiss nicht bedarf, der von den imperialistischen<br />
Staaten und ihren Verbündeten<br />
angebotene „Regimewechsel“<br />
im Innern. <strong>Die</strong> Feinde der Werktätigen<br />
– im Lager Mussawis, unter den<br />
Monarchisten oder der konfusen Linken<br />
– werden bestrebt sein, die Unterstützung<br />
der europäischen Staaten<br />
oder der US-Regierung zu erhalten,<br />
während die Verteidiger der iranischen<br />
Arbeiterklasse bei der Wahl ihrer Verbündeten<br />
wachsam bleiben werden.<br />
Für den Augenblick hat die religiösmilitärische<br />
Oligarchie, die ihre Macht<br />
und ihre Privilegien gefestigt hat, sehr<br />
deutlich zu verstehen gegeben, dass sie<br />
eine islamische Regierung wünscht,<br />
unter der die Volkssouveränität auf ein<br />
Nichts reduziert ist. <strong>Die</strong> aus der göttlichen<br />
Allmacht gezogene Legitimität<br />
genügt ihr. Das ist der Sinn von Khameneis<br />
Rede am 19. Juni 2009. <strong>Die</strong>se<br />
Oligarchie wird sich ihre Macht nicht<br />
einfach wegnehmen lassen.<br />
Aber inmitten all dieser Ereignisse,<br />
die den Iran erschüttern, ist eines sicher:<br />
Von nun an ist es zu spät für eine<br />
Umkehr. Alle Elemente zeigen,<br />
dass die Volksbewegung sich langfristig<br />
etabliert, welche Gewalt die Milizen<br />
der Bassidschi, die aus der Arbeiterklasse<br />
stammen und von den gebildeten<br />
Mittel- und Oberschichten verachtet<br />
werden, auch anwenden mögen.<br />
Und an der Spitze werden Risse auftreten.<br />
Früher oder später wird sich die brutale<br />
Militärdiktatur einer gespaltenen<br />
„Mullahrchie“ versuchen zu etablieren,<br />
dabei unterstützt von den Bassidschi-Milizen.<br />
Aber diese Lösung kann<br />
nicht lange dauern.<br />
<strong>Die</strong>ser Staatsstreich per Wahlen<br />
hat zwei irreversible Folgen für das<br />
iranische Volk. Erstens das Ende der<br />
Angst des von der Brutalität des Regimes<br />
terrorisierten Volkes, die jahrelang<br />
im Iran herrschte. Zweitens die<br />
endgültige Befreiung der iranischen<br />
Bevölkerung von allen Illusionen bezüglich<br />
der Reformierbarkeit des Regimes.<br />
Wenn Mussawi die Leute auffordert,<br />
in ihren Häusern zu bleiben,<br />
und stattdessen die Bevölkerung<br />
zu Millionen demonstrieren geht, ist<br />
das für die Reformer eine schallende<br />
Ohrfeige. Tatsächlich haben wir ein<br />
Schauspiel erlebt, bei dem die „Reformer“<br />
dem Volk hinterherlaufen, um<br />
nicht beiseite gedrängt zu werden, und<br />
das ist nicht das erste Mal! Anschließend<br />
sahen sich Mussawi und Karrubi<br />
gezwungen, auf den folgenden Demonstrationen<br />
aufzutauchen, klar bestrebt,<br />
die Initiative wiederzuerlangen<br />
und die Protestbewegung zu kontrollieren,<br />
damit sie nicht die grüne Linie<br />
überschreitet. Und bei jeder Etappe<br />
haben sie sich bemüht, dem Volkszorn<br />
hinterherzulaufen.<br />
<strong>Die</strong> blutige Repression gegen die<br />
Demonstrierenden, die Feigheit der reformerischen<br />
Bourgeoisie werden die<br />
Führer der Reformer weiter von den<br />
Massen entfernen und sie marginalisieren.<br />
Der Weg ist jetzt frei, das System<br />
in seiner Gesamtheit von unten<br />
in Frage zu stellen. Der Weg wird lang<br />
und beschwerlich sein. Es ist nicht<br />
schwer, die Gründe dafür auszumachen.<br />
Das Regime hat bewiesen, dass<br />
es keine Schwierigkeit damit hat, eine<br />
wütende Repression zu entfesseln. Es<br />
ist ein ideologisches Regime, organisiert<br />
auf faschistischen Linien, und es<br />
wird um sein Überleben kämpfen. Es<br />
verfügt über eine militärische Streitmacht<br />
und eine sehr gut organisierte<br />
paramilitärische Miliz mit sehr bedeutenden<br />
finanziellen Interessen.<br />
Es ist schwierig vorauszusehen,<br />
was geschehen wird. Doch können wir<br />
uns sicher sein, dass nichts mehr so<br />
sein wird wie zuvor. Niemand wird die<br />
Tatsache vergessen, dass die beiden<br />
Fraktionen viele „rote Linien“ überschritten<br />
haben, indem sie die Korruption,<br />
den Betrug und den Bankrott der<br />
jeweils anderen bloßgestellt haben. Es<br />
handelt sich somit um eine sehr wichtige,<br />
heikle und langwierige Konfrontation.<br />
Wesentlich ist, dass diejenigen,<br />
die im Iran kämpfen, die breite und<br />
wirksame Unterstützung der Linken<br />
und der fortschrittlichen Kräfte erhalten,<br />
damit sie nicht in die f<strong>als</strong>che Vorstellung<br />
derjenigen Linken verfallen,<br />
die sich nicht um die Demokratie und<br />
die bürgerlichen Freiheiten scheren.<br />
Unsere Vereinigung „Sozialistische<br />
Solidarität mit den Werktätigen im<br />
Iran“ ist, indem sie die Interessen der<br />
Arbeitenden im Iran verteidigt und dabei<br />
gleichzeitig eine entschiedene und<br />
konsequente antiimperialistische Position<br />
und Opposition gegen das Regime<br />
aufrechterhält, in einer guten Lage,<br />
eine große Kampagne zur Unterstützung<br />
der Kämpfe des iranischen<br />
Volkes zu verbreiten. Auf diese Weise<br />
sind wir bereit zur Zusammenarbeit<br />
mit allen iranischen und internationalen<br />
Kräften, die diese Prinzipien teilen.<br />
Wir können uns nicht mit den Verteidigern<br />
Mussawis zusammentun oder mit<br />
denjenigen, die den Krieg oder Sanktionen<br />
wollen, um eine Änderung von<br />
unten zu verhindern. Wir werden nicht<br />
aufhören, diejenigen zu kritisieren, die<br />
den imperialistischen Krieg oder Wirtschaftssanktionen<br />
tolerieren – Maßnahmen,<br />
die in erster Linie den iranischen<br />
Werktätigen schaden.<br />
August 2009<br />
Hushang Sepehr ist ein iranischer revolutionärmarxistischer<br />
Aktivist im Exil, Mitbegründer<br />
von „Solidarité avec les travailleurs en Iran“<br />
(STI, 266 avenue Daumesnil, F-75012 Paris)<br />
und Mitglied der IV. Internationale.<br />
Übersetzung: Paul B. Kleiser und<br />
HGM<br />
inprekorr 458/459 33
PAKISTAN<br />
Pakistans Frauen leiden am<br />
meisten unter dem Klimawandel<br />
Bushra Khaliq<br />
Obwohl Pakistan sehr wenig zu der<br />
globalen Erwärmung beiträgt, steht<br />
es weit oben auf der Liste der Länder,<br />
die bald am stärksten unter den Folgen<br />
des Klimawandels zu leiden haben<br />
werden. Erst kürzlich wies der pakistanische<br />
Premierminister warnend<br />
darauf hin, wie sehr Umwelt und natürliche<br />
Ressourcen des Landes bedroht<br />
sind.<br />
Mit der Enthüllung, dass Pakistan<br />
weltweit an zwölfter Stelle der gefährdeten<br />
Länder stehe, was Umweltschäden<br />
anbelangt, alarmierte er seine<br />
Landsleute. <strong>Die</strong>s würde alljährlich 5 %<br />
des BIP verschlingen.<br />
Jedoch nehmen nur sehr wenige<br />
Pakistani solche Warnungen ernst. Es<br />
gibt keinen Aufschrei der Medien, keine<br />
Volksbewegung und keine politische<br />
Protest zu diesem Thema. Traurig!<br />
<strong>Die</strong> Mehrheit der pakistanischen<br />
Politiker findet einfach keine Zeit,<br />
über das Horrorszenario nachzudenken,<br />
das in der Zukunft droht, wenn<br />
sich die klimatischen Bedingungen<br />
weiter verschlechtern. Das Land ist<br />
vielmehr damit beschäftigt, den USamerikanischen<br />
„Krieg gegen den Terror“<br />
zu führen und steckt nahezu ausweglos<br />
in einer komplexen politischen<br />
Gemengelage, in dem es Krieg gegen<br />
sich selbst führt. Daher stoßen die Folgen<br />
des Klimawandels auf wenig Resonanz<br />
in der pakistanischen Bevölkerung.<br />
<strong>Die</strong> Klimaexperten des Landes warnen<br />
eindringlich vor einer drohenden<br />
Wasserknappheit, wobei die Wasserversorgung<br />
in großen Teilen des Landes<br />
ohnehin schon prekär ist, was sich aber<br />
noch dramatisch zuspitzen würde. Betroffen<br />
davon sind die Nahrungsmittelproduktion,<br />
aber auch die Exportindustrien<br />
in Landwirtschaft, Textilproduktion<br />
und Fischfang. Zur gleichen<br />
Zeit wären Küstenregionen von Überschwemmungen<br />
bedroht, was Millionen<br />
von Menschen in den tief gelegenen<br />
Regionen obdachlos machen<br />
würde.<br />
Im Nordosten Pakistans herrschten<br />
bereits 1999 und 2000 Dürren, die zu einer<br />
drastischen Absenkung des Grundwasserspiegels<br />
und zur Austrocknung<br />
der Feuchtgebiete führten, was<br />
das Ökosystem bereits nachhaltig geschädigt<br />
hat. Obwohl Pakistan am wenigsten<br />
zu der weltweiten Klimaerwärmung<br />
beiträgt – ein 35stel der weltweit<br />
durchschnittlichen Kohlendioxidemissionen<br />
– sind die Temperaturen in den<br />
Küstenregionen um 0,6 bis 1 Grad Celsius<br />
seit Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
gestiegen. Der Niederschlag hat im<br />
Küsten- und Extremtrockengürtel um<br />
10 bis 15 % in den letzten 40 Jahren<br />
abgenommen, während er in Nordpakistan<br />
in den Sommer- und Wintermonaten<br />
zugenommen hat.<br />
Obwohl Pakistan minimal FCKW<br />
produziert und kaum Schwefeldioxid<br />
ausstößt und somit in einer vernachlässigbaren<br />
Größenordnung zu Ozonloch<br />
und saurem Regen beiträgt, wird es unverhältnismäßig<br />
unter dem Klimawandel<br />
und den anderen globalen Umweltproblemen<br />
zu leiden haben. Auch die<br />
Gesundheit von Millionen wird in Mitleidenschaft<br />
gezogen durch Durchfallerkrankungen<br />
im Gefolge der immer<br />
häufigeren Überschwemmungen und<br />
Dürren. <strong>Die</strong> zunehmende Verarmung<br />
der Landbevölkerung wird die Migration<br />
innerhalb des Landes und in andere<br />
Länder voraussichtlich ansteigen lassen.<br />
Angesichts der enormen Tragweite<br />
sind Anpassungs- und Linderungsmaßnahmen<br />
von existentieller Bedeutung.<br />
Pakistans Ökosystem leidet bereits<br />
erheblich unter dem Klimawandel, wie<br />
man am Beispiel von Keti Bandar sehen<br />
kann: einer der reichsten Häfen in<br />
der Küstenregion von Pakistan, der seine<br />
Privilegien verlor, da er zur f<strong>als</strong>chen<br />
Zeit am f<strong>als</strong>chen Ort war. <strong>Die</strong> ehemaligen<br />
Hafenanlagen grenzten an beide<br />
Ufer des Indus-Deltas, stehen jetzt jedoch<br />
unter Wasser durch die Küstenerosion,<br />
die nur noch eine dünne, 2 km<br />
lange Landenge <strong>als</strong> Brücke zum Festland<br />
übrig ließ.<br />
Es gab eine Zeit, <strong>als</strong> diese Gegend<br />
bekannt war für ihre blühenden Mangrovenwälder,<br />
reich an Landwirtschaft<br />
und voller Stolz auf den florierenden<br />
Seehafen. Jetzt gibt es dort nur noch<br />
Ödland mit strohgedeckten Häusern,<br />
die auf Schlamm gebaut sind. Das eindringende<br />
Wasser und die Versalzung<br />
sind die Hauptprobleme, und die See<br />
hat schon fast die Dörfer verschlungen.<br />
Tausende von Bauernfamilien und die<br />
Fischergemeinde mussten bereits auf<br />
ihrer Suche in andere Gegenden auswandern,<br />
um ihren Lebensunterhalt zu<br />
fristen.<br />
<strong>Die</strong> ohnehin schon gravierende Situation<br />
in dieser Region wird noch verschlimmert<br />
durch die häufigen Zyklone<br />
an der Küste und ihre um ein Mehrfaches<br />
gewachsene Intensität. <strong>Die</strong> armen<br />
Bauern und Fischer werden davon<br />
immer besonders hart getroffen.<br />
Schuld an dieser Situation ist der globale<br />
Klimawandel, der die Gemeinschaft<br />
in Keti Bandar bedroht. <strong>Die</strong> Küstenregionen<br />
sind bekanntlich am meisten<br />
durch den Klimawandel bedroht,<br />
da durch die steigenden Oberflächentemperaturen<br />
des Meeres und die Verdunstung<br />
des Wassers in die Atmosphäre<br />
die Intensität der Zyklone und<br />
der Niederschlag zunehmen.<br />
Wenn der Klimawandel kommt,<br />
wird die Bevölkerung an sich zum Problem,<br />
vor allem in Ländern wie Pakistan<br />
mit einer jährlichen Wachstumsrate<br />
von 2,69 % und somit an sechster<br />
Stelle stehend, was die Bevölkerungszahl<br />
angeht. Da arme Familien täglich<br />
um das Überleben kämpfen müssen, ist<br />
die Vernachlässigung der Umwelt weit<br />
verbreitet. Langfristige und nachhaltige<br />
Entwicklungsziele werden zugunsten<br />
der unmittelbaren Alltagsbedürfnisse<br />
vernachlässigt. <strong>Die</strong>s lässt jedoch leicht<br />
34 inprekorr 458/459
PAKISTAN<br />
anfällige Gruppen der Gesellschaft,<br />
vor allem Frauen, zurück, die dem Klima<br />
auf Gedeih und Verderb ausgesetzt<br />
sind. Zunehmende Nutzung des Holzes<br />
für Treibstoff, Raubbau des Landes und<br />
Verschwendung von Wasserressourcen<br />
durch Überweidung, Überfischung, Erschöpfung<br />
der Wasservorräte und Versteppung<br />
sind in den ländlichen Regionen<br />
Pakistans Normalität.<br />
In Pakistan erscheint es so gut wie<br />
unmöglich, das ausufernde Wachstum<br />
der Bevölkerung zu stoppen, da Geburtenkontrolle<br />
oft <strong>als</strong> volksfeindlich angeprangert<br />
wird. <strong>Die</strong> Verantwortung<br />
dafür müssen sich die Politiker und religiösen<br />
Führer der Nation, die es besser<br />
wissen müssten, zurechnen lassen. Das<br />
explodierende Bevölkerungswachstum<br />
wurde komplett ignoriert und Geburtenkontrolle<br />
ist ein Tabu in Pakistan. In<br />
unserer Kultur gilt: Je mehr Kinder, desto<br />
stärker fühlt sich die Familie. Armut<br />
scheint hier keine Rolle zu spielen.<br />
<strong>Die</strong> Mullahs könnten Anstoß nehmen<br />
– so die gängige Sorge.<br />
<strong>Die</strong> LandbewohnerInnen Pakistans<br />
sind seit jeher Analphabeten. „Anstatt<br />
Schulen zu bauen, rüsten wir lieber die<br />
Armee auf.“ <strong>Die</strong> feudalen Landeigentümer<br />
achteten darauf, dass die Landbevölkerung<br />
keinen Zutritt zur Bildung<br />
hatte. <strong>Die</strong> Mullahs erklären Schulbildung<br />
für Mädchen <strong>als</strong> unislamisch. <strong>Die</strong><br />
Realität sieht so aus, dass sogar für diejenigen<br />
Frauen, die Geburtenplanung<br />
praktizieren wollen, der Zugang zu den<br />
Familienberatungsstellen erschwert ist.<br />
Sie stoßen bereits zuhause auf keinerlei<br />
Unterstützung und begegnen f<strong>als</strong>chen<br />
Vorstellungen und Fehlinformationen<br />
über den Nutzen der Familienplanung.<br />
Nach Meinung der Experten wird<br />
der indische Subkontinent im Jahr<br />
2050 in Pakistan 350 Millionen, in Indien<br />
1,65 Milliarden, in Nepal 40 Millionen,<br />
in Bangladech 300 Millionen<br />
und in Sri Lanka 30 Millionen Menschen<br />
ernähren müssen. Insgesamt<br />
werden es etwa 2,4 Milliarden Menschen<br />
sein – soviel wie die <strong>ganze</strong> Welt<br />
um 1950 herum zählte. <strong>Die</strong> Beanspruchung<br />
der Ressourcen in dieser Region<br />
wird enorm sein und die Folgen davon<br />
katastrophal. Zu diesem Zeitpunkt werden<br />
die Gletscher des Himalaja bereits<br />
verschwunden sein, der Monsun wird<br />
unberechenbar sein, mit manchmal zu<br />
viel und manchmal zu wenig Regen;<br />
neue, unkontrollierbare Krankheiten<br />
werden sich ausbreiten. <strong>Die</strong>s wird von<br />
einem auf den anderen Tag eintreffen.<br />
Wir werden aufwachen und feststellen,<br />
dass alles, was wir gestern hatten (Essen,<br />
Wasser, Elektrizität), verschwunden<br />
sein wird.<br />
<strong>Die</strong>ses Horrorszenario betrifft ohne<br />
Zweifel die <strong>ganze</strong> Bevölkerung,<br />
die in diesem Teil der Welt lebt, existentiell<br />
jedoch wird es die Randgruppen<br />
der Gesellschaft treffen, besonders<br />
die Frauen, die eindeutig am schlimmsten<br />
und <strong>als</strong> erste von der Klimabombe<br />
getroffen werden. Es ist das Gebot der<br />
Stunde, die Tragweite des Problems<br />
zu vermitteln und für eine Politik einzutreten,<br />
die dem Klimawandel Rechnung<br />
trägt und die Rechte der Armen<br />
und der Marginalisierten in den Mittelpunkt<br />
stellt.<br />
In Entwicklungsländern wie Pakistan<br />
leiden Frauen von jeher unverhältnismäßig<br />
unter den Folgen des Klimawandels.<br />
Einheimische Umweltaktivisten<br />
schätzen, dass 70 % der Armen,<br />
die viel anfälliger für Umweltschäden<br />
sind, Frauen sind. Insofern liegt es auf<br />
der Hand, dass sie die unsichtbaren Opfer<br />
des Krieges um die Ressourcen und<br />
der Gewalt infolge des Klimawandels<br />
sein werden. <strong>Die</strong>ses Phänomen war bereits<br />
in den Jahren 1999 und 2000 zu<br />
beobachten, <strong>als</strong> Tausende von armen<br />
Familien aus dem dürregeplagten Belutschistan<br />
– der rückständigsten Region<br />
Pakistans – fliehen mussten. Frauen<br />
wie Kinder litten darunter am meisten.<br />
Wie auch in anderen armen Ländern,<br />
leiden besonders die Mütter in<br />
Pakistan unter dem Klimawandel, da<br />
sie in Gegenden leben müssen, die von<br />
den Dürren, Entwaldung oder Missernten<br />
betroffen sind. Viele der Umweltfrevel<br />
treffen sie unverhältnismäßig,<br />
da meistens Frauen in Pakistan von<br />
den primären natürlichen Ressourcen<br />
abhängig sind: Land, Wald und Wasser.<br />
In Fällen von Dürre, sind sie unmittelbar<br />
betroffen, und Frauen wie Kinder<br />
inprekorr 458/459 35
PAKISTAN<br />
Egal ob Entwaldung, Dürren oder Missernten – immer sind es die Frauen und Kinder, die am<br />
härtesten betroffen sind.<br />
können in der Regel nicht einfach davor<br />
fliehen. Männer können auf der Suche<br />
nach fruchtbarerer Erde in andere<br />
Teile des Landes ziehen und manchmal<br />
sogar in andere Länder … aber Frauen<br />
müssen meistens zurückbleiben und<br />
sich den Konsequenzen stellen. Egal ob<br />
Entwaldung, Dürren oder Missernten –<br />
immer sind es die Frauen und Kinder,<br />
die am härtesten betroffen sind.<br />
Doch weil Frauen in Pakistan die<br />
Hauptnahrungsbeschaffer sind, sind sie<br />
auch mit den Hindernissen konfrontiert,<br />
die sich in Zusammenhang mit<br />
Besitz und Zugang zu Land ergeben.<br />
67 % der Frauen sind in landwirtschaftlichen<br />
Bereichen tätig, aber nur 1 % ist<br />
auch im Besitz des Landes. Wenn sie<br />
nun den negativen Folgen des Klimawandels<br />
ausgesetzt sind, verlieren die<br />
Frauen zugleich ihre Mittel zum Erwerb<br />
des Lebensunterhalts und ihre<br />
Fähigkeit, mit der Katastrophe zurechtzukommen.<br />
Als Folge ders Klimawandels<br />
werden typische Haushaltstätigkeiten<br />
wie Wasser- und Holzsammeln<br />
schwerer und zeitaufwändiger. Da die<br />
Töchter in der Regel ihren Müttern im<br />
Haushalt helfen, bleibt auch ihnen weniger<br />
Zeit für Schule und jegliche Erwerbstätigkeit.<br />
<strong>Die</strong> neusten Fakten zeigen, dass der<br />
Bodenertrag der wichtigsten Sorten<br />
aufgrund des Klimawandels um 30 %<br />
zurückgegangen ist. Experten glauben,<br />
dass der Klimawandel die Anfälligkeit<br />
der Landwirtschaft für Fluten, Dürren<br />
und Stürme erhöht. In diesem Zusammenhang<br />
ist es wichtig, dass die Landwirtschaft<br />
der einzige wirklich bedeutende<br />
Sektor in der pakistanischen<br />
Wirtschaft ist, 21 % des BIP ausmacht<br />
und 43 % der Beschäftigten des Landes<br />
aufnimmt, mehrheitlich Frauen.<br />
Nach landläufiger Meinung sind<br />
die Landwirte Männer. Im Gegensatz<br />
zu dieser Ansicht steht, dass in Pakistan<br />
die Frauen 60 bis 80 % der Nahrungsmittel<br />
produzieren, die im Haushalt<br />
konsumiert werden. In Pakistan<br />
wandern Männer, besonders aus den<br />
Bergregionen, auf der Suche nach<br />
einem besseren Auskommen (zwischen<br />
50 und 63 % der Haushalte) und<br />
es sind die Frauen, die sich neben den<br />
vielen anderen Aufgaben um das Stück<br />
Ackerland der Familie kümmern. Es ist<br />
sicher von Interesse, wie viel Arbeit die<br />
weiblichen Mitglieder des Haushalts<br />
noch außerhalb leisten. Aber ihre Arbeit<br />
ist generell weniger sichtbar und<br />
bekommt weniger öffentliche Anerkennung.<br />
Der Temperaturanstieg wird<br />
die bäuerlichen Gemeinden in Pakistan<br />
insgesamt stark treffen, aber er wird<br />
noch viel gravierender sein für den Einzelnen<br />
und die Haushalte und hier besonders<br />
die Frauen, die sozial, politisch<br />
und ökonomisch anfälliger sind.<br />
In diesem Zusammenhang ist interessant,<br />
dass Pakistan zwar der UN-<br />
Klimarahmenkonvention 1994 sowie<br />
vergleichbaren Protokollen (wie Kyoto<br />
und Montreal) zugestimmt hat,<br />
aber seine Klimapolitik immer noch<br />
Stückwerk ist. ExpertInnen meinen,<br />
dass man nicht sehr viel in Sachen Geschlechtergleichstellung<br />
innerhalb der<br />
nationalen Klimapolitik erwarten dürfe,<br />
da eine entsprechende Politik nur<br />
zustande kommen kann, wenn in den<br />
Entscheidungsgremien die Geschlechter<br />
gleichermaßen vertreten sind und<br />
die notwendige Sensibilität für diese<br />
Fragen besteht.<br />
<strong>Die</strong> nationale Behörde zur Katastrophenbewältigung<br />
(National Disaster<br />
Management Authority, ND-<br />
MA) ist ein neues Instrument der pakistanischen<br />
Regierung, mit dem versucht<br />
wird, die Katastrophenanfälligkeit<br />
der Kommunen in den gefährlichen<br />
Regionen des Landes anzugehen<br />
und zugleich die Frage der Geschlechtergleichstellung<br />
im Auge zu behalten.<br />
Da die NDMA erst kurz existiert,<br />
kann man noch nicht sehr viel über die<br />
Tauglichkeit sagen, aber wenn Frauen<br />
sind in Entwicklung und Überwachung<br />
wichtiger politischer und gesetzgeberischer<br />
Fragen nicht integriert, wird die<br />
Geschlechterfrage untergehen.<br />
Zusammenfassend kann gesagt werden,<br />
dass der Klimawandel die Umsetzung<br />
vieler UN-Milleniumsziele erschweren<br />
könnte, wie z. B. Ausrottung<br />
der Armut, Kindersterblichkeit, Malaria<br />
und andere Krankheiten und ökologische<br />
Nachhaltigkeit. Große Katastrophen<br />
werden im Gewand von starken<br />
Wirtschaftskrisen kommen. Zusätzlich<br />
wird der Klimawandel die bereits existierenden<br />
sozialen und ökologischen<br />
Probleme verschärfen und zu Migration<br />
inner- und außerhalb der Grenzen<br />
Pakistans führen.<br />
Bushra Khaliq ist Gener<strong>als</strong>ekretärin der von<br />
„Women Workers Help Line“ in Lahore.<br />
Übersetzung: Ana<br />
36 inprekorr 458/459
CHINA<br />
Nationalistische Antwort auf die<br />
Herausforderung der Globalisierung<br />
Au Loong-Yu<br />
Als koreanische Bauern zwischen dem<br />
11. und 18. Dezember 2005 den Hauptsitz<br />
der Hongkonger Polizei stürmten,<br />
um gegen die sechste WTO-Ministerkonferenz<br />
zu protestieren, fand die<br />
„Antiglobalisierungsbewegung“ weltweit<br />
Beachtung. Auf dem Höhepunkt<br />
der Aktionswoche nahmen 7000 Menschen<br />
an den Protesten teil. <strong>Die</strong> Beteiligung<br />
der lokalen Kräfte aus Hongkong<br />
war schwach und beschränkte<br />
sich auf maximal 2000 Personen. Noch<br />
auffallender war, dass kaum Festlandchinesen<br />
beteiligt waren. Es war das<br />
erste Mal, dass unmittelbar vor den<br />
Toren des chinesischen Festlands ein<br />
größeres globalisierungskritisches Ereignis<br />
stattfand. Aus Südkorea mit einer<br />
Bevölkerung von 50 Millionen kamen<br />
1600 DemonstrantInnen, während<br />
aus China mit seinen 1,3 Milliarden<br />
Einwohnern nur eine Handvoll<br />
AktivistInnen anwesend war und auch<br />
darunter kaum aus dem ländlichen<br />
Raum. Liegt das daran, dass China im<br />
Zeitalter der Globalisierung eine unbedeutende<br />
Rolle spielt? Ganz offensichtlich<br />
nicht. China ist mittlerweile<br />
bekanntlich ein wichtiges Importund<br />
Exportland und der bedeutendste<br />
Empfänger von ausländischen Direktinvestitionen.<br />
Ebenso ist China ein<br />
wichtiger Global Player, der auf den<br />
Freihandel pocht. Doch entgegen den<br />
Erwartungen oder Hoffnungen vieler<br />
asiatischer Nichtregierungsorganisationen<br />
schloss sich China an der letzten<br />
WTO-Ministerkonferenz Indien<br />
und Brasilien an, die mit den USA und<br />
der EU einen Deal eingingen, womit<br />
die Verhandlungen abgeschlossen und<br />
die Doha-Runde vor einem erneuten<br />
Scheitern bewahrt werden konnte.<br />
<strong>Die</strong> Volksrepublik China verfolgt<br />
auf der einen Seite eine entschiedene<br />
Freihandelspolitik und einen unternehmerfreundlichen<br />
Kurs, führt aber<br />
gleichzeitig eine Politik der eisernen<br />
Faust gegen jede autonome Organisation<br />
und jeden sozialen Widerstand gegen<br />
den Neoliberalismus. Das repressive<br />
Regime generell und das Verbot<br />
von unabhängigen Gewerkschaften,<br />
Streiks und Demonstrationen halfen<br />
China, sich <strong>als</strong> verlängerte Werkbank<br />
der Welt zu etablieren – eine riesige<br />
Maschinerie, die den globalen Wettbewerb<br />
nach unten antreibt und damit<br />
ein wichtiger Handelspartner der<br />
USA ist. Ironischerweise wurde damit<br />
auch der Boden für eine nationalistische<br />
Antwort auf die Globalisierung<br />
gelegt.<br />
Obwohl die <strong>als</strong> Massenkampagne<br />
von unten gegen den Neoliberalismus<br />
verstandene Antiglobalisierungsbewegung<br />
auf dem Festland gegenwärtig<br />
nicht existiert, wird sie mittelfristige<br />
zweifellos entstehen, aus dem<br />
einfachen Grund, weil Chinas vollständige<br />
Reintegration in den globalen<br />
Kapitalismus immer mehr Missstände<br />
mit sich bringt. Nach über 20<br />
Jahren hoher Wachstumsraten auf<br />
dem Rücken der werktätigen Massen<br />
ist in den letzten Jahren eine kontinuierliche<br />
Zunahme von spontanen sozialen<br />
Protesten gegen die Angriffe<br />
durch Privatisierung, Ausbeutung und<br />
Arbeitslosigkeit feststellbar. China hat<br />
sich verpflichtet, bis zum Ablauf der<br />
Übergangszeit für den WTO-Beitritt<br />
2007 seine Märkte nahezu vollständig<br />
zu öffnen. Selbst wenn die heimische<br />
Industrie und Landwirtschaft in China<br />
letztlich vielleicht überleben kann<br />
oder sogar ein höheres Wachstum verzeichnet,<br />
steht eine Phase von zunehmender<br />
Umstrukturierung und Krise<br />
bevor. Kurzum, China steht eine neue<br />
Krisenzeit bevor. <strong>Die</strong> Frage ist nicht<br />
so sehr, ob der Widerstand von selbst<br />
erliegen wird, <strong>als</strong> vielmehr, welche<br />
Richtung er nehmen wird.<br />
Während die Entstehung sozialer<br />
Bewegungen nicht geduldet wird, gab<br />
es in den letzten zehn Jahren unter Intellektuellen<br />
eine hitzige Debatte über<br />
die Globalisierung. Berücksichtigt<br />
man auch die theoretische Diskussion,<br />
besteht eine Antiglobalisierungsbewegung<br />
im weiteren Sinn eigentlich<br />
schon seit über einem Jahrzehnt. Während<br />
die neuen Liberalen die Globalisierung<br />
akzeptieren, hat sich die sogenannte<br />
neue Linke ablehnend geäußert.<br />
Das Ergebnis der Diskussion<br />
wird starken Einfluss auf die zukünftige<br />
Entwicklung Chinas und den sozialen<br />
Widerstand gegen die Globalisierung<br />
im Land haben. Der vorliegende<br />
Beitrag versucht, einen Überblick<br />
über diese Diskussion zu geben,<br />
benennt den wachsenden Nationalismus<br />
<strong>als</strong> schwierigste Herausforderung<br />
für die Linke und analysiert die Stärken<br />
und Schwachpunkte der Argumentation<br />
der neuen Linken.<br />
<strong>Die</strong> nationalistische Version<br />
der Globalisierungskritik<br />
Im Zuge der Globalisierung von Unternehmen<br />
wurden weltweit sehr erfolgreich<br />
die Löhne und die Sozialleistungen<br />
der ArbeiterInnen gedrückt.<br />
<strong>Die</strong> Globalisierung <strong>als</strong> solche provoziert<br />
zwangsläufig Widerstand; es entstand<br />
die sogenannte globalisierungskritische<br />
Bewegung oder Antiglobalisierungsbewegung.<br />
<strong>Die</strong>se Bewegung<br />
ist sehr heterogen, weist aber deutlich<br />
internationalistische Züge auf.<br />
<strong>Die</strong>se Feststellung ist allerdings<br />
insofern zu relativieren, <strong>als</strong> sich auch<br />
im Antiglobalisierungsdiskurs nationalistische<br />
Gefühle und sogar extrem<br />
rechtes Denken finden.<br />
Ray Kiely schreibt dazu: „Einer<br />
der bekanntesten Populisten in den<br />
Vereinigten Staaten, Pat Buchanan,<br />
hat die Globalisierung wegen des Verlusts<br />
von Arbeitsplätzen in der verarbeitenden<br />
Industrie, des Zerfalls<br />
der nationalen Souveränität, zunehmender<br />
Einwanderung und des Hangs<br />
zu einem globalen Sozialismus, vertreten<br />
durch Institutionen wie den<br />
IWF und die Weltbank, kritisiert …<br />
inprekorr 458/459 37
CHINA<br />
folgt, dass der Begriff „nationales Kapital“,<br />
verstanden <strong>als</strong> Gegenpol zum<br />
ausländischen Kapital, irreführender<br />
ist denn je. Wenn die Linke und<br />
die Arbeiterbewegung gemeinsam mit<br />
dem nationalen Kapital die vom westlichen<br />
Imperialismus getragene Globalisierung<br />
ablehnen, könnte das zur<br />
Folge haben, dass die ArbeiterInnen<br />
dem nationalen Kapital nur helfen, die<br />
Logik der Globalisierung zu festigen,<br />
wenn auch in einer Version der Globalisierung,<br />
die den Bedürfnissen des<br />
„nationalen Kapit<strong>als</strong>“ stärker entgegenkommen<br />
mag. <strong>Die</strong> nationalistische<br />
Antwort auf die Globalisierung unterwirft<br />
die ArbeiterInnen zwangsläufig<br />
den Interessen der herrschenden<br />
Eliten im Kampf für das oberste Ziel<br />
eines oft fiktiven „nationalen“ Interesses.<br />
3<br />
<strong>Die</strong>ses Appellieren an die Tradition<br />
teilen auch andere rechte Globalisierungskritiker<br />
wie der Hindu-Nationalismus<br />
in Indien, der islamische Nationalismus<br />
im Nahen Osten und Asien<br />
sowie der wiederaufkommende Faschismus<br />
in Europa. Der rechte Nationalismus<br />
appelliert an ‚das Volk‘ und<br />
die Nation <strong>als</strong> defensive Antwort auf<br />
die mit der Globalisierung einhergehende<br />
Verunsicherung.“ 1<br />
Gerard Greenfield zeigt sich in seinem<br />
Essay „Bandung redux: Anti-Globalization<br />
Nationalisms in Southeast<br />
Asia“ tief besorgt über das Aufkommen<br />
eines asiatischen Nationalismus:<br />
„Während die Massenmobilisierungen<br />
in Reaktion auf die asiatische Wirtschaftskrise<br />
1997–1998 die Basis für<br />
Antiglobalisierungsbewegungen verbreiterten,<br />
sind das revolutionäre Potenzial<br />
dieser Proteste und ihre Grenzen<br />
unter AktivistInnen stark umstritten.<br />
Was diese Bewegungen gezeigt<br />
haben, war das Primat des Nationalismus<br />
<strong>als</strong> Referenzpunkt für die Unzufriedenheit<br />
der Bevölkerung mit der<br />
Globalisierung im Sinn der Unternehmensglobalisierung<br />
im liberalen Sinn<br />
oder radikaler <strong>als</strong> kapitalistische oder<br />
imperialistische Globalisierung. Für<br />
ein breites politisches Spektrum gilt<br />
der IWF <strong>als</strong> Symbol und Urheber von<br />
1 The Clash of Globalizations. Neo-liberalism,<br />
the Third Way and Anti-Globalization, Historical<br />
Materialism Book Series, S.177.<br />
Ungerechtigkeit und sozialer Zerstörung,<br />
verursacht durch die Krise und<br />
ihre Folgen.<br />
Das Bedürfnis nach einer aus einer<br />
korrekten Reihe von politischen Entscheiden<br />
abgeleiteten unabhängigen<br />
Strategie, die in keinem Zusammenhang<br />
zur strukturellen Macht und den<br />
Interessen des Kapit<strong>als</strong> steht, ist ein<br />
wiederkehrender Schwachpunkt des<br />
(Thai) Visionspapiers. Sofern Kapital<br />
überhaupt in die Analyse einbezogen<br />
wird, wird ein Gegensatz von inländischem<br />
und ausländischem Kapital<br />
konstruiert und das nationale Kapital<br />
praktisch <strong>als</strong> Synonym für die Nation<br />
gesetzt … Einer der bemerkenswertesten<br />
Aspekte des Machtaufstiegs<br />
der Thai-Rak-Thai-Partei 2001 bestand<br />
darin, dass es ihr gelungen war,<br />
prominente VertreterInnen von NGOs<br />
und sozialen Bewegungen für sich zu<br />
gewinnen … Dank diesem breiten politischen<br />
Bündnis konnte Thai Rak<br />
Thai die nationalistischen Gefühle in<br />
einen umfassenden politischen Plan<br />
kanalisieren, um den Staat radikal umzuorganisieren,<br />
damit er den Interessen<br />
der ‚fortschrittlichen Kapitalisten‘<br />
besser dient.“ 2<br />
Auf dem globalisierten Markt sind<br />
heute das große und selbst das mittlere<br />
inländische Kapital in den globalen<br />
Wettbewerb eingebunden. Daraus<br />
2 Socialist Register 2005, Merlin Press, S.170f.<br />
und 175.<br />
Ein neues Banner für die<br />
KP Chinas<br />
Der erste bekannte chinesische Nationalist<br />
ist He Xin, der in den frühen<br />
Neunzigerjahren die Erlaubnis hatte,<br />
vor dem Hintergrund der Nachwehen<br />
des Tiananmen-Massakers und der daraufhin<br />
vom Westen auferlegten Sanktionen<br />
antiwestliche Bücher herauszugeben.<br />
Interessant ist nicht He Xins<br />
nationalistische Antwort auf die damalige<br />
Feindseligkeit des Westens,<br />
sondern die Tatsache, dass sein Buch<br />
kaum Diskussionen auslöste. Selbst<br />
nachdem die USA das chinesische<br />
Schiff The Milky Way in internationalen<br />
Gewässern gestoppt und durchsucht<br />
hatten, war wenig öffentlicher<br />
Protest zu hören. Als 1996 der Nationalist<br />
Wang Xiaodong sein Buch<br />
„China Can Say No“ herausbrachte,<br />
das die USA <strong>als</strong> Hauptfeind ins Visier<br />
nahm, erregte das ein wenig Aufsehen,<br />
das sich aber schnell beruhigte.<br />
Erst im Mai 1999, <strong>als</strong> die Bombardierung<br />
der chinesischen Botschaft in Jugoslawien<br />
Massenproteste gegen die<br />
USA auslöste, kehrte der Nationalismus<br />
definitiv zurück. Ich definiere<br />
das <strong>als</strong> „neuen chinesischen Nationalismus“.<br />
Während der alte chinesische<br />
Nationalismus zwischen 1840<br />
3 Es gilt zwischen nationaler Identität und Bindung<br />
an nationale Kultur einerseits und Nationalismus<br />
andererseits zu unterscheiden. Ebenso<br />
muss ein keynesianisches Wirtschaftsprogramm<br />
oder der Wohlfahrtsstaat vom Nationalismus<br />
unterschieden werden.<br />
38 inprekorr 458/459
CHINA<br />
und 1949 weitgehend eine legitime<br />
Antwort auf ausländische Aggression<br />
und die Hoffnungen der Bevölkerung<br />
auf nationale Unabhängigkeit war,<br />
hat der neue chinesische Nationalismus<br />
einen völlig anderen Charakter.<br />
Es ist einerseits eine Antwort der herrschenden<br />
Elite und wichtiger Teile der<br />
Intelligenz auf innere und äußere Probleme,<br />
die im Zug der Reintegration<br />
in den weltweiten Kapitalismus aufgetaucht<br />
sind, und steht andererseits im<br />
Kontext der Befürwortung einer Modernisierung<br />
Chinas durch Stärkung<br />
des Einparteienstaats. Letztlich ist das<br />
Ziel des neuen chinesischen Nationalismus<br />
die Wiederherstellung der einstigen<br />
Größe der Ära des chinesischen<br />
Kaiserreichs, wofür die Losung vom<br />
„Aufstieg Chinas“ steht. 4 <strong>Die</strong>ser hat<br />
nichts Fortschrittliches an sich.<br />
Zheng Yongnian von der Nationaluniversität<br />
Singapur behauptet in<br />
seinem Buch „Globalization and State<br />
Transformation in China“, die Wiederbelebung<br />
des Nationalismus lasse sich<br />
mit neuen Erfordernissen der KP Chinas<br />
erklären: „In der Post-Mao-Ära ist<br />
an die Stelle äußerer Bedrohung die<br />
Suche nach politischer Legitimität getreten<br />
und zu einem zentralen Aspekt<br />
der Untermauerung der Wiederbelebung<br />
des chinesischen Nationalismus<br />
geworden. <strong>Die</strong> Hauptursache des Nationalismus<br />
in der Post-Mao-Ära ist,<br />
mit anderen Worten, eher innenpolitischer<br />
denn außenpolitischer Natur.“ 5<br />
An anderer Stelle führt Zheng aus,<br />
was er unter „Suche nach politischer<br />
Legitimität“ versteht:<br />
„Der Nationalismus wurde von der<br />
Kommunistischen Partei Chinas <strong>als</strong><br />
Antwort auf den Niedergang des maoistischen<br />
Glaubens eingesetzt und<br />
könnte demnächst die neue Vision der<br />
Parteiideologie werden.“ 6<br />
Zhengs Gegensatz von inländisch<br />
vs. ausländisch befriedigt nicht ganz.<br />
Dennoch stimmt seine Behauptung,<br />
dass die KP Chinas den Nationalismus<br />
<strong>als</strong> neue Legitimitätsquelle benutzt.<br />
Anstelle der Vision einer kommunistischen<br />
Welt unter der führenden<br />
Rolle Chinas (eine Vision, die in<br />
4 Zu diesem Thema siehe Au Loong-Yu, The<br />
Post MFA era and the rise of China auf der<br />
Website des Globalization Monitor: http://globalmon.org.hk<br />
5 Globalization and State Transformation in China,<br />
Cambridge University Press, 2004, S. 51.<br />
6 Ibid, S. 41.<br />
den frühen 80er-Jahren obsolet wurde)<br />
scheint der Plan, eine große chinesische<br />
Nation aufzubauen und deren<br />
Führungsrolle wiederzuerlangen, die<br />
China bis 1840 gespielt hatte, plausibler.<br />
Zudem liegt es im Interesse des<br />
Einparteienstaates, die Unzufriedenheit<br />
der Bevölkerung, etwa die demokratische<br />
Bewegung von 1989, auf äußere<br />
Feinde umzulenken. Folglich begann<br />
die KP Chinas, in Sachen Nationalismus<br />
den Kurs zu ändern und dessen<br />
Wiedererwachen praktisch zu fördern.<br />
<strong>Die</strong> frühere Position der KP Chinas<br />
zum Nationalismus besagte, dass<br />
er <strong>als</strong> „bürgerlicher Standpunkt zu<br />
Nationen“ abzulehnen sei. 7 Faktisch<br />
fand sich während der gesamten Herrschaft<br />
der KP immer ein nationalistisches<br />
Element in ihrer Politik gegenüber<br />
ethnischen Minderheiten, in der<br />
öffentlichen Erziehung und in Kulturprogrammen,<br />
wenn auch unter dem<br />
Deckmantel des Patriotismus. Dennoch<br />
wurde Nationalismus nicht ausdrücklich<br />
unterstützt und schon gar<br />
nicht die Veröffentlichung von nationalistischen<br />
Schriften erlaubt. <strong>Die</strong>se<br />
Politik änderte sich in den 80er-<br />
Jahren, <strong>als</strong> sich die KP Chinas schrittweise<br />
dazu entschloss, den weltweiten<br />
Kapitalismus auf der <strong>ganze</strong>n Linie zu<br />
übernehmen.<br />
<strong>Die</strong> KP mag einen Teil der Kontrolle<br />
über die Wirtschaft und sogar<br />
den Finanzsektor zugunsten privater<br />
Unternehmer und ausländischen Kapit<strong>als</strong><br />
lockern, sie ist aber nicht bereit,<br />
ihre Kontrolle über die Produktion<br />
und Verteilung von Information<br />
zu lockern, da sie keine Macht darüber<br />
abtreten will, was und wie das<br />
Volk denkt. Da alle Verlage, Medien,<br />
Filmgesellschaften etc. nach wie<br />
vor in staatlicher Hand sind und von<br />
der großen Privatisierungswelle unberührt<br />
geblieben sind, ist das, was<br />
mit Erlaubnis der KP erscheinen darf<br />
oder verboten wird, maßgeblich für<br />
die Herausbildung der „öffentlichen<br />
7 „Nationalismus ist die Ansicht der Bourgeoisie<br />
über Nationen; deren Programm und Grundsätze<br />
im Umgang mit nationalen Angelegenheiten<br />
… Bei kolonialen und halbkolonialen Ländern<br />
sowie unabhängigen Nationen, die gegen den<br />
Imperialismus kämpfen, ist Nationalismus bis<br />
zu einem gewissen Grad fortschrittlich, aber<br />
nur insofern, <strong>als</strong> er den Interessen der Bourgeoisie<br />
entspricht … <strong>Die</strong> Weltsicht der proletarischen<br />
Parteien ist der Internationalismus<br />
und nicht der Nationalismus.“ Ci Hai (Wörterbuch),<br />
Shanghai Dictionary Press, 1980,<br />
S. 1805.<br />
Meinung“ und Diskussion. Kein Buch<br />
erscheint und kein Film wird gedreht,<br />
ohne vorher von der Partei genehmigt<br />
zu werden. Hier sind die Haltung oder<br />
der „Geschmack“ des Staats entscheidend.<br />
Alle abweichenden Stimmen<br />
werden zensiert: demokratische Aufrufe,<br />
Verteidigung von Arbeitsrechten<br />
und sogar vorsichtige Kritik an der<br />
Umweltpolitik. Als beispielsweise<br />
ein chinesischer Verleger eine chinesische<br />
Auflage von „Blue Gold“ von<br />
Tony Clark und Maude Barlow vorbereitete,<br />
das einige wenige Absätze<br />
enthielt, die leise Kritik an der chinesischen<br />
Wasser- und Flusspolitik anbrachten,<br />
wurde das Material <strong>als</strong> Angriff<br />
bewertet und zensiert. <strong>Die</strong> Partei<br />
erlaubt auch umgekehrt die Herstellung<br />
und weite Verbreitung von nationalistischen<br />
Arbeiten auf allen Gebieten.<br />
In den letzten zehn Jahren sind<br />
laufend neue Bücher und Fernsehprogramme<br />
entstanden, die bedeutende<br />
frühere Herrscher glorifizieren, einen<br />
chinesischen Chauvinismus und antiwestliches<br />
Denken, wenn nicht regelrechten<br />
Sozialdarwinismus und<br />
Faschismus propagieren. Zwischen<br />
2004 und 2006 druckte ein Staatsverlag<br />
900 000 Exemplare des Romans<br />
„Wolves Totem“, der die Geschichte<br />
der kämpferischen, mutigen mongolischen<br />
Wölfe erzählt. Aus Sorge,<br />
die Leser könnten ihn missverstehen,<br />
schrieb der Autor ein langes Nachwort,<br />
in dem er seine Motivation erklärt.<br />
<strong>Die</strong> Chinesen müssten seiner<br />
Meinung nach von den mongolischen<br />
Wölfen lernen, um im Dschungel der<br />
Globalisierung überleben zu können;<br />
die chinesische Zivilisation sei einst<br />
nur deshalb so hochstehend gewesen,<br />
weil sie über Jahrtausende die Verehrung<br />
der Wölfe von nördlichen Nomaden<br />
übernommen habe, was den Eliten<br />
half, ein großes Reich zu erhalten.<br />
Das ist unverblümter Sozialdarwinismus<br />
und chinesischer Messianismus.<br />
Obwohl das Buch in persönlicher Eigenschaft<br />
veröffentlicht wurde, kann<br />
die KP Chinas ihren Anteil an der<br />
Verantwortung nicht leugnen oder<br />
sich unter Verweis auf das Recht auf<br />
freie Meinungsäußerung verteidigen,<br />
da es so etwas in China nicht gibt.<br />
In den 80er-Jahren waren die Themen<br />
von Fernsehprogrammen und<br />
Büchern oft geprägt von einem tiefen<br />
Gefühl nationaler Unterlegenheit,<br />
der Angst, im globalen Wettbe-<br />
inprekorr 458/459 39
CHINA<br />
werb marginalisiert zu werden, 8 und<br />
einem Verlangen nach Sozialreform.<br />
<strong>Die</strong>se Stimmung ist seit Mitte der<br />
90er-Jahre völlig verflogen, <strong>als</strong> sich<br />
die KP bewusst wurde, dass der Westen<br />
der Verlockung des riesigen chinesischen<br />
Marktes nicht würde widerstehen<br />
können und westliche Regierungen<br />
und Kapitalisten bereit waren,<br />
das Massaker von 1989 zu vergessen,<br />
um Anteile an diesem Markt zu<br />
ergattern. <strong>Die</strong> Tatsache, dass China in<br />
der Lage war, das tragische Schicksal<br />
der Sowjetunion zu vermeiden und im<br />
Gegenteil hohe Wachstumsraten erzielen<br />
konnte, beflügelte das Selbstvertrauen<br />
der KP Chinas weiter. Der<br />
neue Tonfall in der „öffentlichen Meinung“,<br />
in Fernsehprogrammen, Zeitschriften<br />
und Büchern etc. ist vor diesem<br />
Hintergrund zu verstehen. An die<br />
Stelle des Gefühls nationaler Unterlegenheit<br />
trat jenes nationaler Selbstbestätigung<br />
und das Bedürfnis, den vergangenen<br />
Ruhm des Königreichs der<br />
Mitte wieder zu erlangen. <strong>Die</strong> Bombardierung<br />
der chinesischen Botschaft<br />
1999 durch die USA erinnerte die KP<br />
Chinas und die Durchschnittschinesen<br />
zudem daran, dass die USA trotz allem<br />
kein verlässlicher Partner sind, und<br />
das Gefühl von äußerer Bedrohung<br />
verlieh den nationalistischen Gefühlen<br />
weiteren Auftrieb. Es fiel zudem in<br />
eine Phase intensiver Verhandlungen<br />
mit den USA über den Beitritt Chinas<br />
zur WTO, in denen die USA China<br />
mehr Konzessionen abverlangten,<br />
<strong>als</strong> von den meisten Industriestaaten<br />
erwartet wird. Schließlich fand auch<br />
ein rascher Aufkauf chinesischer Firmen<br />
durch ausländisches Kapital statt,<br />
was viele <strong>als</strong> Bedrohung der ökonomischen<br />
Sicherheit Chinas ansahen.<br />
Neue Liberale, Nationalisten<br />
und neue Linke<br />
Wie wir gesehen haben, sieht Zheng<br />
„die Hauptursache für den Nationalismus<br />
der Post-Mao-Ära eher im Inneren<br />
<strong>als</strong> in äußeren Gründen“. <strong>Die</strong>se<br />
Ansicht ist zwischen neuen Liberalen<br />
und der „neuen Linken“ heiß umstritten.<br />
Unter neuen Liberalen verstehen<br />
wir chinesische Liberale und Neoliberale.<br />
Wenn hier beide unter densel-<br />
8 Dam<strong>als</strong> bestand über Klassengrenzen hinweg<br />
die starke Befürchtung, China könne wegen<br />
des langsamen Tempos der Reformen seine<br />
qiu-ji (Weltbürgerschaft) einbüßen.<br />
ben Begriff zusammengefasst werden,<br />
dann deshalb, weil sie im chinesischen<br />
Kontext schwer unterscheidbar sind.<br />
Obwohl im Westen die Trennlinie<br />
zwischen beiden verwischt ist, gibt es<br />
in China Liberale wie Yu Jie, die überschwänglich<br />
für die Privatisierung, die<br />
WTO, die Ausbeutung der ArbeiterInnen<br />
in Staatsbetrieben oder den US-<br />
Angriff gegen den Irak etc. plädieren,<br />
so dass ihnen kaum fortschrittliche<br />
moralische Werte unterstellt werden<br />
können. Den „neuen Linken“ können<br />
laut Dale Wen, einem Gastdozenten in<br />
den USA, der selbst der neuen Linken<br />
angehört, von „Sozialdemokraten über<br />
nationalistische Ökonomen bis zu Maoisten“<br />
verschiedene Personen zugerechnet<br />
werden. 9 <strong>Die</strong> neuen Liberalen<br />
neigen zur Ansicht, der größte Feind<br />
Chinas seien seine eigenen obsoleten<br />
Institutionen, während die Globalisierung<br />
die Hauptströmung der Modernisierung<br />
und Zivilisation verkörpere.<br />
Das Schlimmste für China wäre daher,<br />
auf halben Weg zur Vollintegration in<br />
die Globalisierung stehen zu bleiben.<br />
Wenn es einen Aufschwung des Nationalismus<br />
gebe, sei dies <strong>als</strong>o nur den<br />
inländischen Institutionen zuzuschreiben.<br />
Zhengs Kommentar gibt die Argumente<br />
wieder, die die neuen Liberalen<br />
in ihrer Diskussion mit den neuen<br />
Linken vorgebracht haben. Unterdessen<br />
neigen die neuen Linken oder<br />
zumindest führende Sprecher dieser<br />
Richtung dazu, in die entgegengesetzte<br />
Richtung zu argumentieren. Wenn<br />
etwas in China schiefläuft, sei dies den<br />
äußeren Feinden und namentlich der<br />
Globalisierung und dem Imperialismus<br />
zuzuschreiben. Falls prominente<br />
Linke je Vorwürfe an die Adresse der<br />
KP richten, dann jenen, dass die Partei<br />
zu nachgiebig gegenüber äußeren Herausforderern<br />
sei. 10 In der Dichotomie<br />
von Markt vs. Staat, ausländisch vs.<br />
national, Westen vs. Osten neigen die<br />
Liberalen dazu, jeweils Ersteres zu bevorzugen,<br />
während die neuen Linken<br />
eher zum Zweiten tendieren.<br />
2004 fassten die neuen Liberalen<br />
ihre Polemik gegen die Nationalisten<br />
und die neue Linke in einem Buch mit<br />
9 China copes with globalization. A mixed review,<br />
veröffentlicht vom International Forum<br />
On Globalization, S. 39.<br />
10 Selbstverständlich gibt es VertreterInnen der<br />
neuen Linken, die weniger regierungstreu<br />
sind, aber meist sind sie weniger bekannt. Eine<br />
wichtige Ausnahme ist Wang Hui.<br />
dem Titel „Qian Liu“ (Unter Strom –<br />
Kritik und Überdenken des engen Nationalismus)<br />
zusammen. Einer der Autoren,<br />
Xiao Xuehui, greift darin die<br />
Nationalisten an, weil sie glaubten,<br />
„das ,Macht-geht-vor-Recht-Gesetz<br />
sei noch immer das Grundprinzip dieser<br />
Welt‘ … <strong>Die</strong> Nationalisten sind unfähig,<br />
zu erkennen, dass viele Länder<br />
weltweit einschließlich der USA die<br />
Gesetze (die Weltherrschaft) im Umgang<br />
mit internationalen Angelegenheiten<br />
gerechter, fairer und vernünftiger<br />
gestalten“. 11<br />
Der besser bekannte Liberale Qin<br />
Hu schreibt: „Letztlich bedeutet Liberalismus<br />
Universalismus. Denn wirtschaftliche<br />
Liberalisierung und deren<br />
Unparteilichkeit erfordern, dass alle<br />
Produktionsfaktoren weltweit frei<br />
zirkulieren können … Unter den Bedingungen<br />
des fairen Wettbewerbs<br />
gleicht sich der Ertrag der Produktionsfaktoren<br />
tendenziell aus … Für arme<br />
Länder lohnt es sich mehr, für die<br />
Zirkulationsfreiheit aller Produktionsfaktoren<br />
zu kämpfen <strong>als</strong> gegen den<br />
Freihandel. Der universelle Liberalismus<br />
ist zwangsläufig effizienter in der<br />
Verteidigung nationaler Interessen <strong>als</strong><br />
der Nationalismus.“ 12<br />
<strong>Die</strong> neuen Liberalen unterstützen<br />
aktiv Chinas Beitritt zur WTO. Liu<br />
Junning, ein anderer bekannter liberaler<br />
Professor, schreibt: „Chinas Beitritt<br />
zur WTO wird die chinesischen<br />
Institutionen für Wirtschaftsmanagement<br />
zur Reform zwingen … Wenn<br />
westliche Firmen in großem Stil nach<br />
China kommen, werden sie eine offenere,<br />
fairere Marktwirtschaft fordern<br />
… Der Beitritt zur WTO zwingt<br />
die chinesische Regierung zu mehr<br />
Offenheit in ihrer Strategie und ihrem<br />
Handeln … bedingt durch die marktwirtschaftlichen<br />
Prinzipien der Offenheit<br />
und der Rechenschaftspflicht …<br />
Der WTO-Beitritt setzt ein China voraus,<br />
das nun offiziell in das kapitalistische<br />
Weltsystem integriert ist und<br />
dessen wirtschaftliche und politische<br />
Institutionen vollständig durch Marktwirtschaft<br />
und Demokratie gekennzeichnet<br />
sind.“ 13<br />
Hier handelt es sich um die krudeste<br />
Version von Marktdeterminismus, die<br />
11 Veröffentlicht durch Huadong Shifan Daxue<br />
Chubanshe, 2004, S. 16.<br />
12 Ibid, S. 316f.<br />
13 Beijing Spring, Januar 2000, Hong Kong.<br />
40 inprekorr 458/459
CHINA<br />
man sich vorstellen kann. Aber sehen<br />
wir uns an, was die beiden Autoren zu<br />
Politik und Kriegen schreiben. Der berühmte<br />
Yu Jie verurteilte die neue Linke<br />
dafür, den Angriff der USA gegen<br />
den Irak 2003 kritisiert zu haben,<br />
und setzte das mit Unterstützung für<br />
Saddam gleich. „Es gibt eine Art von<br />
Krieg, der geführt wird, um die höchsten<br />
Werte der Freiheit und Menschlichkeit<br />
zu verteidigen. Wir betrachten<br />
den Krieg der USA gegen das Regime<br />
von Saddam im Irak <strong>als</strong> einen<br />
solchen Krieg … Vor ein paar Tagen<br />
hat eine Gruppe chinesischer Intellektueller<br />
eine sogenannte Stellungnahme<br />
gegen den Krieg veröffentlicht.<br />
Wir denken, dass diese Stellungnahme<br />
von der zunehmenden Degenerierung<br />
chinesischer Intellektueller zeugt. <strong>Die</strong><br />
Verfasser dieser Stellungnahme missachten<br />
die moralischen Werte der<br />
Menschheit und bringen einen tief sitzenden<br />
Hass gegen die USA zum Ausdruck,<br />
die für die Zivilisation und den<br />
Fortschritt der Menschheit stehen.“ 14<br />
Man kann sich fragen, ob ein ernsthafter<br />
Liberaler solche Zeilen verfasst<br />
haben könnte. Im Fall von Yu Jie mag<br />
man sogar vermuten, dass er ein bloßer<br />
Komplize des US-Imperiums ist.<br />
<strong>Die</strong> Begeisterung der neuen Liberalen<br />
für die Privatisierung, die zur Entlassung<br />
von 40 Millionen ArbeiterInnen<br />
geführt hat, brachte ihnen den Spitznamen<br />
„Teilhaber“ (an Staatsaktien)<br />
ein.<br />
Während die neuen Liberalen dazu<br />
tendieren, alles an der Globalisierung<br />
zu begrüßen, tun Nationalisten<br />
wie Wang Xiaodong genau das Gegenteil.<br />
Nach der Bombardierung der<br />
chinesischen Botschaft in Jugoslawien<br />
durch die USA veröffentlichte<br />
Wang sein Buch „The Chinese Road<br />
under the Shadow of Globalization“ 15 ,<br />
das die Welt nach dem Kalten Krieg<br />
<strong>als</strong> bloße Fortsetzung des alten Lieds<br />
der „Macht geht vor Recht“ verspottet,<br />
im Gegensatz zu dem von Bush<br />
Senior propagierten Konzept der<br />
neuen Weltordnung. Er sieht in den<br />
US-freundlichen Liberalen nichts anderes<br />
<strong>als</strong> Leute, die ihre eigene kulturelle<br />
Identität und Tradition verleugnen,<br />
was er „Rassismus unter umgekehrten<br />
Vorzeichen“ nennt. Wieder-<br />
14 http://www.wtyzy.net/<br />
15 Veröffentlicht durch China Social Science<br />
Press, 1999.<br />
Arbeiterin in der<br />
chinesischen<br />
Schuhfabrik<br />
von Adidas-<br />
Salomon<br />
holt argumentiert er, dass Nationalismus<br />
nach wie vor ein wichtiger Wert<br />
sei, da die Nation für die Sicherheit<br />
nach wie vor entscheidend sei. Statt<br />
einer unkritischen Integration in die<br />
Globalisierung solle China die „splendid<br />
isolation“ wählen, keine Hoffnung<br />
in irgendein Bündnis mit einem anderen<br />
Staat setzen und einzig auf die eigene<br />
Verteidigungsfähigkeit setzen.<br />
Im Jahr 2000 veröffentlichte er „Über<br />
den zeitgenössischen Nationalismus“,<br />
in dem er sich positiv auf die nation<strong>als</strong>ozialistische<br />
Theorie des „Lebensraums“<br />
bezieht und den Sozialdarwinismus<br />
offen begrüßt.<br />
Wichtiger <strong>als</strong> die Arbeiten alter<br />
Nationalisten ist allerdings das Aufkommen<br />
der „neuen Linken“ und in<br />
der Folge die Befürwortung des Nationalismus<br />
durch manche ihre WortführerInnen<br />
seit der Jahrtausendwende.<br />
Denn im Gegensatz zu den alten Nationalisten<br />
ziehen bedeutende VertreterInnen<br />
der neuen Linken die Aufmerksamkeit<br />
der KP-Führung auf sich.<br />
Nichtchinesische LeserInnen mögen<br />
beim Begriff neue Linke vielleicht<br />
versucht sein, an die neuen Linken der<br />
60er-Jahre zu denken. Zwischen beiden<br />
besteht jedoch kein ideologischer<br />
Zusammenhang. Der Begriff neue chinesische<br />
Linke wird benutzt, um sie<br />
von der alten Linken, den Konservativen<br />
oder den stalinistischen Hardlinern<br />
abzugrenzen. <strong>Die</strong> neue Linke ist<br />
im Gegensatz dazu sehr vielschichtig.<br />
Zwischen ihren VertreterInnen bestehen<br />
große Meinungsverschiedenheiten.<br />
Ihre wichtigste Gemeinsamkeit<br />
ist die Kritik an Globalisierung,<br />
Markt, Privatisierung und liberaler<br />
Demokratie. Weniger Übereinstimmung<br />
besteht in Bezug auf Alternativen<br />
zum liberalen oder neoliberalen<br />
Diskurs. Eine Gemeinsamkeit mag in<br />
der Betonung der Rolle des Einparteienstaates,<br />
dem Wert des Kollektivismus,<br />
der Bedeutung des Zusammenhaltens<br />
des multiethnischen chinesischen<br />
Staates, einem autonomeren<br />
Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung<br />
inprekorr 458/459 41
CHINA<br />
und dem Bezug zum maoistischen Erbe<br />
liegen, auch wenn nicht alle ExponentInnen<br />
alle genannten Punkte teilen.<br />
Wichtige WortführerInnen der<br />
neuen Linken zeigen starke dirigistische<br />
Tendenzen und haben bereits<br />
im Anschluss an das Tiananmen-Massaker<br />
den Einparteienstaat unterstützt,<br />
obwohl es die neue Linke zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht gab. Während<br />
die neuen Liberalen den Zusammenbruch<br />
der Sowjetunion begrüßten, betrachtet<br />
die neue Linke diesen <strong>als</strong> eine<br />
Katastrophe, ein Schicksal, das China<br />
um jeden Preis zu vermeiden suchen<br />
muss. Ihre Sorge darüber, den multiethnischen<br />
chinesischen Staat mit den<br />
Han <strong>als</strong> dominierender Ethnie zu erhalten,<br />
ist tatsächlich so groß, dass<br />
man sie <strong>als</strong> Hauptanliegen noch vor<br />
allen anderen Werten wie Demokratie<br />
oder Gleichheit bezeichnen könnte.<br />
Ihre Skepsis gegenüber dem Neoliberalismus<br />
und der liberalen Demokratie<br />
leitet sich hauptsächlich aus ihrer<br />
Sorge um „Stabilität“ ab, die sie durch<br />
die Marktreformen, den WTO-Beitritt,<br />
die Einführung von Parlamentswahlen<br />
etc. bedroht sehen. All dies ist<br />
nicht erwünscht, weil es zum Zusammenbruch<br />
des chinesischen Staates<br />
führen könnte. <strong>Die</strong>se Denkweise greift<br />
den unter den Regierungen von Deng<br />
und Jiang ständig wiederholten Slogan<br />
„Stabilität über alles!“ auf. Damit<br />
reagieren sie auf alle Bestrebungen,<br />
die Bewegung des Jahres 1989 zu rehabilitieren,<br />
demokratische Wahlen<br />
oder die Redefreiheit einzuführen. So<br />
lag es auf der Hand, dass sich die ersten<br />
VertreterInnen der neuen Linken<br />
schlicht mit den Behörden verbündeten.<br />
<strong>Die</strong> ersten bekannten Exponenten<br />
der neuen Linken, die darüber geschrieben<br />
haben, waren Wang Shaoguang<br />
und Hu Angang. Während die<br />
Liberalen der Ansicht sind, der Staat<br />
müsse schrumpfen, um das Wachsen<br />
der Marktwirtschaft zu ermöglichen,<br />
behaupten Hu und Wang das Gegenteil.<br />
1993 veröffentlichten sie eine<br />
Studie über die „Kapazitäten des chinesischen<br />
Staates“ 16 , in der sie argumentieren,<br />
für die Marktreformen bedürfe<br />
es eines starken Staates. Sie betonen,<br />
die Einnahmen der Zentralregierung<br />
seien viel zu gering, was<br />
16 Zhongguo guojia nengli baogao, Liaoning People’s<br />
publisher, 1993.<br />
China anfällig für zentrifugale Kräfte<br />
mache, sodass es wie Jugoslawien<br />
enden könne. Während der spezifische<br />
Aspekt der zentralen Einnahmen<br />
ein Punkt ist, auf den einzugehen<br />
sich lohnen könnte, geht es den Autoren<br />
vor allem um etwas anderes. Zwei<br />
Jahre später brachte Hu sein Buch<br />
„Eine Herausforderung für China“ heraus,<br />
in dem er seine Sorge über den<br />
möglichen Kollaps nach Dengs Tod<br />
zum Ausdruck bringt: „<strong>Die</strong> Hauptfrage<br />
ist, ob es China gelingen wird, einen<br />
friedlichen, stabilen Übergang zur<br />
Post-Deng-Ära zu bewerkstelligen …<br />
Mao Zedong wusste, dass die von ihm<br />
initiierte Kulturrevolution sehr unpopulär<br />
war; Deng Xiaoping dagegen<br />
weiß, dass die von ihm initiierte Reform<br />
und Öffnung sehr populär ist …<br />
Doch er weiß, dass es ungesund und<br />
gefährlich ist, wenn das Schicksal<br />
eines Landes von der Autorität einer<br />
oder zweier Einzelpersonen abhängt<br />
… was es noch dringender und wichtiger<br />
macht, den institutionellen Wiederaufbau<br />
zu stärken.“ 17<br />
Seine wichtigste Empfehlung für<br />
den „institutionellen Wiederaufbau“<br />
ist nicht nur die Stärkung der Zentralgewalt<br />
durch eine Steuerreform und<br />
die Ausrottung der Korruption, sondern<br />
auch die Stärkung des gegenwärtigen<br />
Einparteienstaates. Ein anderer<br />
Vertreter der neuen Linken, Cui<br />
Zhiyuan, bezieht sich auf das maoistische<br />
Erbe und fordert „Massenbeteiligung“<br />
und „Wirtschaftsdemokratie“.<br />
Er ist zutiefst skeptisch gegenüber<br />
der liberalen Demokratie und Parlamentswahlen,<br />
die er <strong>als</strong> anfällig für<br />
Manipulationen der Reichen sieht. Er<br />
wirbt für Maos Idee einer AnGang-<br />
Charta <strong>als</strong> bester Alternative. AnGang<br />
ist ein Stahlwerk, das in den 60er-Jahren<br />
die Idee der Arbeiterbeteiligung in<br />
der Unternehmensführung aufbrachte,<br />
bei der die Kader abwechselnd in den<br />
Werkstätten arbeiteten. Das Experiment<br />
wurde von Mao unterstützt, da er<br />
darin einen Ausdruck von wirtschaftlicher<br />
Demokratie sah. Für Cui ist die<br />
AnGang-Charta „der beste Teil an<br />
Maos Denken. Lässt man die Fehler<br />
beiseite, die während der Einführung<br />
der AnGang-Charta gemacht wurden,<br />
ist die Idee der Wirtschaftsdemokratie<br />
noch immer ein Fundus an spiritu-<br />
17 Tao Zhan Zhongguo, 1995, Xin Xinwen Cultural<br />
Ltd. Company, Taipei, Taiwan, S. 248,<br />
272f.<br />
ellen Ressourcen für das China im bevorstehenden<br />
21. Jahrhunderts.“ <strong>Die</strong><br />
AnGang-Charta ist im heutigen China<br />
weitgehend in Vergessenheit geraten,<br />
doch gemäß Cui erlebt sie in Japan<br />
eine Blüte und wurde vom Toyota-Konzern<br />
übernommen, der dank<br />
seiner post-fordistischen Organisation<br />
Elemente von Wirtschaftsdemokratie<br />
zulasse. 18<br />
Toyota <strong>als</strong> Modell von Wirtschaftsdemokratie?<br />
Cui befürwortet Wahlen,<br />
solange Parteipolitik ausgeschlossen<br />
wird, denn durch dieses Verbot „wird<br />
ein Szenario vermieden, in dem Oppositionsparteien<br />
der herrschenden Partei<br />
entgegentreten … <strong>Die</strong> Kommunistische<br />
Partei Chinas hat seit 1943 eine<br />
monistische Parteiführung durchgesetzt.<br />
Das hat zweierlei zur Folge:<br />
Erstens stärkt es die Kontrolle der Partei<br />
(über die Gesellschaft), zweitens<br />
hat es zur Folge, dass die Interessen<br />
der Partei und jene des Landes miteinander<br />
verschmelzen.“ 19<br />
„Verschmelzen“ durch die Ermordung<br />
Hunderter, wenn nicht Tausender<br />
Unschuldiger wie 1989? Aber zurück<br />
zum AnGang-Modell. Zu erwähnen<br />
ist, dass es in AnGang Arbeiterbeteiligung<br />
durch demokratische Wahlen<br />
auf Ebene des obersten Managements,<br />
der Fabrik oder der Werkstätten<br />
nie gegeben hat, sondern nur auf<br />
Ebene der Arbeitsteams. Verglichen<br />
mit den Arbeiterselbstverwaltungsmodellen<br />
im ehemaligen Jugoslawien,<br />
das den ArbeiterInnen die Macht garantierte,<br />
die Unternehmensführung<br />
zu wählen, nimmt sich AnGang sehr<br />
bescheiden aus. Von der Wirtschaftsdemokratie<br />
des AnGang-Experiments<br />
allzuviel Aufhebens zu machen, ist<br />
schlicht lächerlich. Das Experiment,<br />
in dem führende Kader an vorderster<br />
Front arbeiten müssen, ist eine Neuauflage<br />
der alten Vision von Xu You,<br />
der vor mehr <strong>als</strong> 2000 Jahren lebte. Er<br />
befürwortete eine gleichberechtigte<br />
Gesellschaft, in der Könige Seite an<br />
Seite mit einfachen Bauern arbeiten<br />
sollten, um das Land zu bestellen. <strong>Die</strong>se<br />
Vorstellung hat aber nichts mit einer<br />
modernen sozialistischen Vision<br />
zu tun. Letztere sieht eine gleich-<br />
18 The AnGang Charter and Post-Fordism, Dushu,<br />
3 (1996), S. 11−21.<br />
19 The balance sheet of Mao Zedong’s theory of<br />
cultural revolution and the reconstruction of<br />
modernity, HuaXia Wenze, April 1997, http://<br />
www.cnd.org/CR/ZK97/zk117.hz…<br />
42 inprekorr 458/459
CHINA<br />
berechtigte Gesellschaft vor, die sich<br />
nicht dadurch auszeichnet, dass Kopfarbeiter<br />
gezwungen werden, körperliche<br />
Arbeit zu verrichten, sondern<br />
eher durch die Abschaffung der sozialen<br />
Trennung dieser zwei Arbeitsformen<br />
durch technologische Innovation,<br />
Verkürzung der Arbeitszeit und<br />
Abschaffung der Ausbeutung. Maos<br />
Unterstützung für das AnGang-Experiment<br />
belegt nur, dass seine Vision<br />
dem entsprach, was Marx „kruden<br />
Kommunismus“ nannte. Leider ist eine<br />
solche Nostalgie für Maos kruden<br />
Kommunismus kennzeichnend für die<br />
heutige neue Linke. Sie betrachtet Maos<br />
Erbe <strong>als</strong> die alleinige ideologische<br />
Alternative zum neoliberalen Diskurs,<br />
ohne zu bemerken, dass es in erster<br />
Linie Maos übertriebener Staatssozialismus<br />
ist, der heute Dengs „sozialistische<br />
Marktwirtschaft“ und den<br />
liberalen Diskurs für viele Teile der<br />
Bürokratie und der Intellektuellen so<br />
überzeugend erscheinen lässt. Heikler<br />
noch <strong>als</strong> die f<strong>als</strong>che Beurteilung des<br />
AnGang-Modells ist aber Cuis Versuch,<br />
das AnGang-Modell demokratischen<br />
Reformen gegenüberzustellen.<br />
Indem die AnGang-Mücke zum<br />
Elefanten „Wirtschaftsdemokratie“<br />
gemacht wird, weist Cui die demokratischen<br />
Hoffnungen der Bevölkerung<br />
zurück und stellt sich auf die Seite der<br />
Einparteiendiktatur. Dank Unterstützung<br />
wichtiger Wortführer der neuen<br />
Linken gestaltete sich der Übergang<br />
zur Post-Deng-Ära allzu glatt.<br />
<strong>Die</strong> Verschmelzung von<br />
neuen Linken und Nationalisten<br />
Ende der 90er-Jahre gewann die neue<br />
Linke während einer im Land verbreiteten<br />
großen Sorge über „äußere“<br />
Bedrohungen stark an Einfluss.<br />
Chinas Öffnung zur Welt trat in eine<br />
neue Phase. <strong>Die</strong> Befürchtung, Chinas<br />
nationale Industrie könne angesichts<br />
des direkten Konkurrenzdrucks auf<br />
den Binnenmarkt untergehen, schien<br />
sehr real. 2003 entfielen 31 Prozent<br />
der Erzeugnisse der verarbeitenden<br />
Industrie in China auf ausländische<br />
Unternehmen, gegenüber 9,5 Prozent<br />
1992. Der auf Kosten der staatlichen<br />
Unternehmen steigende Anteil ausländischen<br />
Kapit<strong>als</strong> und der enorme<br />
Druck, die Staatsbetriebe umzustrukturieren,<br />
damit sie wettbewerbsfähig<br />
China: Gabelstaplerfahrerin in Shanghai<br />
bleiben, hatte zur Folge, dass 40 Millionen<br />
ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben<br />
entlassen wurden. Transnationale<br />
Konzerne und die WTO <strong>als</strong> Agenten<br />
der Globalisierung wurden von manchen<br />
<strong>als</strong> „äußere Bedrohung“ der wirtschaftlichen<br />
Sicherheit Chinas angesehen,<br />
und diese Beobachtung enthält<br />
einen wahren Kern. Mittlerweile<br />
hatte die Bombardierung der chinesischen<br />
Botschaft in Belgrad 1999<br />
eine neue Welle nationalistischer Gefühle<br />
ausgelöst. Ungeachtet der Tatsache,<br />
dass die USA und China wirtschaftlich<br />
stark voneinander abhängig<br />
sind, herrscht in den USA die Ansicht<br />
vor, China sei einer der Hauptkonkurrenten<br />
und müsse daher eingedämmt<br />
werden. Vor diesem Hintergrund<br />
ist die Aussage Zhengs, die entscheidenden<br />
Ursachen für den Nationalismus<br />
der Post-Mao-Ära seien innenpolitischer<br />
und nicht äußenpolitischer<br />
Natur, problematisch.<br />
Den neuen Linken positiv anzurechnen<br />
ist, dass sie <strong>als</strong> Erste in dieser<br />
neuen Phase die neuen Liberalen kritisiert<br />
haben, denn anderenfalls wären<br />
Letztere möglicherweise noch dominanter<br />
geworden. Zwei wichtigte Wissenschaftler,<br />
Han Deqiang und Yang<br />
Fan, wurden um die Jahrtausendwende<br />
zu den bekanntesten Wortführern<br />
der neuen Linken. Sie haben zahlreiche<br />
Publikationen gegen die Globalisierung<br />
und Chinas WTO-Beitritt<br />
verfasst. Han veröffentlichte im Jahr<br />
2000 „The Crash. The Global Trap<br />
and China’s Realistic Choice“. 20 Er<br />
beschreibt die enormen Hoffnungen,<br />
die viele Chinesen mit dem WTO-<br />
Beitritt und der erwarteten Effizienz<br />
des Markts <strong>als</strong> „Marktromantizismus“<br />
verbinden. Im Gegensatz zu der neoliberalen<br />
Behauptung, Chinas WTO-<br />
Beitritt gefährde unter den gegenwärtigen<br />
Bedingungen nur die junge nationale<br />
Industrie, hielt er fest: „Der Effekt<br />
der Globalisierung ist die rasche<br />
Aneignung von Branchen der chinesischen<br />
Wirtschaft, die einen hohen<br />
Mehrwert hervorbringen, durch ausländisches<br />
Kapital und Importgüter.<br />
Manche sind unterdessen vollständig<br />
von ausländischem Kapital beherrscht.<br />
<strong>Die</strong> Gewinnmöglichkeiten<br />
von Staatsbetrieben und anderen (heimischen<br />
Unternehmen) trocknen aus,<br />
es gibt Hinweise auf Verluste, wachsende<br />
faule Schulden, Betriebe stehen<br />
vor dem Konkurs und die faktische<br />
Arbeitslosigkeit steigt rasant an. All<br />
dies stellt eine ernsthafte Bedrohung<br />
für die Verbesserung des Lebensstandards<br />
und die soziale Stabilität der Bevölkerung<br />
dar.“ 21<br />
Dem „Marktromantizismus” stellt<br />
Han den „Marktrealismus” gegenüber,<br />
der für die Entwicklungsländer Protektionismus<br />
statt Freihandel <strong>als</strong> nötig<br />
erachtet. Han spricht sich in seinem<br />
Buch nie direkt gegen Chinas WTO-<br />
Beitritt aus, sondern schaut einfach<br />
20 Pengzhuang, published by Economic Management<br />
Press, 2000.<br />
21 Ibid, S. 5f.<br />
inprekorr 458/459 43
CHINA<br />
die Bedingungen, denen China zugestimmt<br />
hat, <strong>als</strong> zu weitreichend an.<br />
Er plädiert lediglich für einen verbesserten<br />
Beitrittsvertrag, der den chinesischen<br />
Markt besser schützt und China<br />
gleichzeitig erlaubt, einen größeren<br />
Anteil am Weltmarkt zu halten. <strong>Die</strong><br />
Frage ist, wie man dieses Ziel erreicht.<br />
Hans Antwort lautet: „Der Marktrealismus<br />
erfordert, dass wir im Staat die<br />
höchste Verkörperung unserer Interessen<br />
sehen und ein klares Verständnis<br />
vom Markt <strong>als</strong> Schlachtfeld des Wettbewerbs<br />
haben. Unter Anleitung des<br />
Marktrealismus wird unsere gesamte<br />
junge Industrie miteinander verbunden<br />
und in eine einzige Einheit unter Aufsicht<br />
des Staates umgeformt, die dann<br />
auf dem Weltmarkt die Konkurrenz<br />
aufnehmen, einen anhaltenden Kampf<br />
der Schwachen gegen die Starken führen<br />
und letztlich den wahren Aufstieg<br />
Chinas erreichen kann.“ 22 „Wenn wir<br />
diesen Wirtschaftskrieg am Ende gewinnen,<br />
wird sich China nicht nur<br />
vollständig im Rahmen der WTO-Ordnung<br />
entwickeln, sondern sogar in der<br />
Lage sein, diese zu dominieren.“ 23<br />
In den 90er-Jahren gab es ein beliebtes<br />
Fernsehprogramm, in dem in einer<br />
Szene eine Mutter einen Brief an<br />
ihren in den USA studierenden Sohn<br />
schreibt, der in Teilzeit <strong>als</strong> Tellerwäscher<br />
arbeitet. Sie fordert ihren Sohn<br />
auf: „Studiere fleißig, und wenn unser<br />
Land in Zukunft einmal stark und mächtig<br />
ist, werden wir diese Laowai (Westler)<br />
unsere Teller waschen lassen.“<br />
Hans Globalisierungs- und WTO-<br />
Kritik entspricht im Wesentlichen den<br />
Empfehlungen dieser Mutter an ihren<br />
Sohn. Er spricht sich nicht wirklich<br />
gegen die von den Konzernen gesteuerte<br />
Globalisierung aus, sondern plädiert<br />
einfach für eine chinesische Version<br />
der Globalisierung, die mehr Gewicht<br />
auf protektionistische Elemente<br />
legt, gegenüber dem von den USA und<br />
der EU diktierten Weg aber im Wesentlichen<br />
nur für einen anderen Weg<br />
für Chinas Integration in den weltweiten<br />
Kapitalismus plädiert. Statt einer<br />
Amerikanisierung der Welt will Han<br />
die „Chinisierung“. Er ist nicht vollständig<br />
überzeugt davon, dass China<br />
das erreichen kann, aber es ist sein<br />
Ziel. Daher ist immer ein Aspekt von<br />
Messianismus in den Schriften von<br />
22 Ibid, S.160.<br />
23 Ibid, S. 8.<br />
Han und anderen (Autoren der neuen<br />
Linken). „Wenn der chinesische Weg<br />
lösen kann, was zu lösen die westliche<br />
Zivilisation nicht in der Lage ist,<br />
wird die chinesische Nation in der Lage<br />
sein, das Zentrum der Welt zu erobern,<br />
und China wird <strong>als</strong> reiche, demokratische,<br />
zivilisierte Nation im<br />
Osten dastehen.“ 24<br />
Ein anderer bekannter Vertreter<br />
der neuen Linken, Yang Fan, stellt in<br />
einem Artikel mit dem Titel „Ideologischer<br />
und theoretischer Kampf in<br />
der chinesischen Gesellschaft“ sein<br />
Programm vor. „In Bezug auf die Entwicklung<br />
(müssen wir) unsere Grundlagenforschung<br />
auf die Theorie der<br />
Grande Nation stützen, mit der wir<br />
den Weg hin zum Erwachen Chinas<br />
<strong>als</strong> einer Grande Nation der besonderen<br />
Art finden können. In Bezug auf<br />
die Öffnung zur Welt vor dem Hintergrund<br />
der Globalisierung müssen wir<br />
den Weg zu unserer nationalen Sicherheit<br />
und dem Aufstieg unserer Nation<br />
erforschen. Wir müssen mit der Logik<br />
des Kapit<strong>als</strong> brechen, die Annahme<br />
aufgeben, es gäbe keine äußeren<br />
Feinde, und die nationale Sicherheit<br />
zu einem Kernanliegen unserer strategischen<br />
Anpassung machen. In Bezug<br />
auf die Reform verteidigen wir eine<br />
Reform, die fair ist, und streben die<br />
Überwindung des rechten wie des linken<br />
Diskurses und die Aufhebung des<br />
Dogmas und des Fundamentalismus<br />
der Planwirtschaft wie des Marktes<br />
an. An deren Stelle schlagen wir neue<br />
ideologische Richtlinien für Reformen<br />
vor … das Konzept der ‚strategischen<br />
nationalen Industrie‘. Besonderes Augenmerk<br />
ist darauf zu legen, private<br />
Unternehmer und private Geschäfte<br />
in die nationale Industrie zu führen.<br />
Im Hinblick auf die Theorie vertreten<br />
wir eine Art von Mitte-Links-Position,<br />
die Sozialismus und Patriotismus miteinander<br />
verbindet. Wir sind für ein<br />
Bündnis aus Mitte-Rechts, Mitte und<br />
linken Liberalen und sogar für einen<br />
Block mit den Planwirtschaftsfundamentalisten<br />
– der alten Linken –, um<br />
gegen die chinesischen Neoliberalen<br />
und die rechtsradikalen ‚Teilhaber‘ eine<br />
gemeinsame Front aufzubauen.” 25<br />
Das obige Programm bringt nichts<br />
Neues. Es ist die altbekannte Ge-<br />
24 Ibid, S. 264.<br />
25 2005/06: Zhongguo de shehui sichao yu lilun<br />
douzheng, http://www.blogchina.com/new/<br />
displa...<br />
schichte vom staatlich gelenkten<br />
Wachstum. Han und Yang begrüßen<br />
den Nationalismus der Groß-Han so<br />
sehr, dass sie die Regierung gedrängt<br />
haben, Taiwan anzugreifen und es so<br />
schnell wie möglich einzuverleiben.<br />
„Wenn wir diesen Krieg gewinnen,<br />
werden wir all die jahrelangen Beleidigungen<br />
seitens der USA hinter uns<br />
lassen, das chinesische Volk wird sich<br />
einmal mehr um die KP Chinas einen<br />
und die Entwicklung der chinesischen<br />
Wirtschaft und Gesellschaft<br />
des 21. Jahrhunderts wird gewährleistet<br />
sein”, schreibt Han. 26 Han, Yang<br />
und viele andere VertreterInnen der<br />
neuen Linken sowie die KP Chinas<br />
sind so sehr in den Groß-Han-Nationalismus<br />
verstrickt, dass sie sich niem<strong>als</strong><br />
vorstellen können, das taiwanesische<br />
Volk könne das demokratische<br />
Recht haben, selbst zu entscheiden, ob<br />
es die Vereinigung mit Festlandchina<br />
will und unter welchen Bedingungen.<br />
Es überrascht nicht, dass sie genauso<br />
blind für die Tatsache sind, dass den<br />
ethnischen Minderheiten im Tibet und<br />
Xinjiang grundlegende demokratische<br />
Rechte verweigert werden. Wenn<br />
„Stabilität Vorrang vor allem anderen“<br />
hat, steht sie logischerweise auch über<br />
den demokratischen und Minderheitenrechten.<br />
27<br />
Innenpolitische Faktoren<br />
sind auch externe Faktoren<br />
Han und Yang argumentieren im Wesentlichen<br />
weder mit Marktprotektionismus<br />
noch mit Keynesianismus,<br />
sondern mit der Stärkung des Einparteienstaats<br />
zur Rettung Chinas vor äußeren<br />
Bedrohungen durch die Globalisierung<br />
und <strong>als</strong> Werkzeug, um letztlich<br />
die Konkurrenz auf dem Welt-<br />
26 Meiguo zenyang zhizao he zhichi liangguolun<br />
(How US manufacture and support the<br />
Two States Theory), 1999, http://www.edu.<br />
cn/20030127/3076681_...<br />
27 Tragischerweise, aber nicht überraschend fördert<br />
der Groß-Han-Nationalismus unausweichlich<br />
einen taiwanesischen Nationalismus oder<br />
sogar Chauvinismus, der sich gerne schriller<br />
Slogans bedient wie „Chinesenschweine, zum<br />
Teufel!“ Eine andere Ursache für die Zunahme<br />
des taiwanesischen Nationalismus könnte der<br />
ostasiatischen Sicht auf die Globalisierung zuzuschreiben<br />
sein, da die chinesische Reintergration<br />
in den globalen Kapitalismus in erster<br />
Linie Taiwan mitzieht, so dass heute die wirtschaftliche<br />
Integration zwischen beiden Ländern<br />
unumkehrbar ist, was zu einer steigenden<br />
Arbeitslosigkeit führt.<br />
44 inprekorr 458/459
CHINA<br />
markt aus dem Feld zu schlagen. Unterdessen<br />
argumentieren die neuen Liberalen<br />
genau umgekehrt. Beide begehen<br />
aber denselben Fehler, interne<br />
Faktoren den externen entgegenzuhalten,<br />
ohne zu berücksichtigen, dass<br />
sie sich gegenseitig ergänzen und zu<br />
einem gewissen Grad dasselbe sind.<br />
Wenn Han und Yang betonen, die Globalisierung<br />
sei eine äußere Bedrohung,<br />
sind sie blind gegenüber der Tatsache,<br />
dass es ihr eigener Einparteienstaat ist,<br />
der China nicht nur für den weltweiten<br />
Kapitalismus geöffnet, sondern sich<br />
auch für eine Strategie entschieden<br />
hat, die stärker von ausländischem Kapital<br />
und dem Markt abhängt <strong>als</strong> viele<br />
Entwicklungsländer. All dies tut China<br />
bewusst aus eigenen Stücken. Während<br />
es in seinen politischen Entscheiden<br />
nicht völlig frei ist (wer ist das<br />
schon?), kann schwerlich behauptet<br />
werden, diese Politik wäre China vom<br />
US-Imperium oder dem Imperialismus<br />
im Allgemeinen aufgezwungen<br />
worden. Angesichts der Größe Chinas<br />
und des hohen Grads an staatlicher<br />
Kontrolle über alle gesellschaftlichen<br />
und wirtschaftlichen Schichten steht<br />
das Land bezüglich Konkurrenzfähigkeit<br />
zu den Industriestaaten viel besser<br />
da <strong>als</strong> so manches Entwicklungsland.<br />
Das Privileg der „überstaatlichen Behandlung“<br />
ausländischer Unternehmen,<br />
die nur halb so viel Gewinnsteuer<br />
abführen müssen wie chinesische<br />
Staatsbetriebe, sowie Steuervergünstigungen<br />
und Entgegenkommen auf<br />
weiteren Gebieten sind bewusste Entscheidungen<br />
der obersten Staatsführung,<br />
um so viel ausländische Direktinvestitionen<br />
wir nur möglich anzulocken.<br />
Dasselbe gilt für die entwürdigenden<br />
Konzessionen, die China während<br />
des WTO-Beitrittsverfahrens gemacht<br />
hat. <strong>Die</strong>se Wahl wird nicht nur<br />
durch wirtschaftliche Vernunft bestimmt,<br />
wie sie die herrschenden Eliten<br />
verstehen, sondern ist in erster Linie<br />
durch Eigeninteressen motiviert.<br />
<strong>Die</strong> Verwaltungsbürokratie der Mao-<br />
Ära hat sich zu jener Form von „bürokratischen<br />
Kapitalisten“ gewandelt,<br />
die vor 1949 während der Herrschaft<br />
der Kuomintang vorherrschte. In Peking<br />
sind ebenso wie auf dem Land<br />
offizielle Vertreter oft (durch Familienangehörige<br />
und Kumpanen) in Geschäfte<br />
verwickelt. Sie sind daran interessiert,<br />
ein breites Bündnis mit dem<br />
globalen Kapitalismus fortzuführen,<br />
und sie profitieren enorm davon.<br />
Peter Nolan beschreibt ausführlich<br />
die wechselseitige Abhängigkeit von<br />
China und den USA, wenn er schreibt:<br />
„China ist ein ‚Angebotsmotor‘ der<br />
Weltwirtschaft geworden, die USA<br />
dagegen der ‚Nachfragemotor‘. Beide<br />
weisen ein zutiefst unausgeglichenes<br />
Wachstum aus (Roach, 2005) … <strong>Die</strong><br />
USA absorbieren heute rund zwei<br />
Fünftel der chinesischen Exporte, und<br />
China hält die meisten ausländischen<br />
Reserven in Dollar … <strong>Die</strong> chinesische<br />
und die US-Wirtschaft sind zutiefst<br />
miteinander verflochten.“ 28<br />
Das große Wirtschaftsbündnis zwischen<br />
den herrschenden Eliten Chinas<br />
und jenen des Westens ist natürlich<br />
nicht völlig stabil, insbesondere<br />
im Kontext des scheinbaren aktuellen<br />
„Aufstiegs Chinas“. Nach 20<br />
Jahren Integration in den Weltkapitalismus<br />
sind chinesische Unternehmen<br />
so sehr gewachsen, dass sie genügend<br />
Selbstvertrauen besitzen, einen größeren<br />
Anteil am Mehrwert der weltweiten<br />
Versorgungskette einzufordern.<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklung wird im Westen<br />
und Japan natürlich gar nicht goutiert.<br />
Der Wettlauf um Erdöl zwischen China<br />
und den reichen Ländern hat die<br />
Angst vor der „gelben Gefahr“ weiter<br />
geschürt. Trotz dieser Reibungen<br />
ist nicht zu leugnen, dass zwischen<br />
beiden gemeinsame Interessen bestehen.<br />
<strong>Die</strong>se spiegeln eine globalisierte<br />
Welt wider, in der die Dichotomie<br />
von inländisch vs. ausländisch obsolet<br />
geworden ist. Das lässt sich an einem<br />
einfachen Beispiel zeigen: Große chinesische<br />
Unternehmen, oft Staatsbetriebe,<br />
verlieren heute im Bezug auf<br />
die Eigentumsstruktur immer mehr<br />
den nationalen Charakter, da sie entweder<br />
in Hongkong oder in New York<br />
börsennotiert sind oder Aktienanteile<br />
direkt an westliche oder japanische<br />
Multis verkauft werden. Das trifft<br />
selbst auf die Staatsbanken zu, die eigentlich<br />
das Kommando über die Wirtschaft<br />
führen sollten. Noch viel mehr<br />
Staatsbetriebe sind in den letzten 20<br />
Jahren Joint Ventures mit westlichen,<br />
japanischen oder koreanischen Unternehmen<br />
eingegangen. Leslie Sklair<br />
spricht davon, dass eine „transnationale<br />
Kapitalistenklasse auf der Basis<br />
von transnationalen Unternehmen ent-<br />
28 Peaceful Rise or Yellow Peril?, Peter Nolan,<br />
CITIC pacific research advance, 7. April 2006,<br />
S. 19−24.<br />
steht, die mehr oder weniger den Globalisierungsprozess<br />
kontrolliert.“ 29<br />
Während Sklairs Formulierung noch<br />
lange nicht überzeugt, steht dennoch<br />
fest: In der Ära der Globalisierung<br />
müssen Begriffe wie „nationale Bourgeoisie“,<br />
„nationale Industrie“ etc. genau<br />
beurteilt werden, bevor sie einen<br />
sinnvollen analytischen Wert haben.<br />
In Wirklichkeit sind in „nationalen“<br />
Elementen oft selbst ausländische<br />
Elemente enthalten und umgekehrt.<br />
Es bedarf eines wissenschaftlicheren<br />
Ansatzes, um die Dichotomie von inländisch<br />
vs. ausländisch zu überwinden<br />
und die internationalen Mechanismen<br />
der globalen Kapitalistenklasse<br />
und des globalen Kapitalismus an der<br />
Arbeit zu erforschen.<br />
Repräsentiert die neue<br />
Linke die Arbeiterschaft?<br />
Der nationalistische Diskurs ist nicht<br />
einfach das Ergebnis einer f<strong>als</strong>chen<br />
Theorie. Aus Sicht der chinesischen<br />
Elite, die danach strebt, mithilfe des<br />
Staats einen größeren Anteil am Weltmarkt<br />
zu ergattern, ist er richtig. Aus<br />
dieser Sicht sind die anderen Nation<strong>als</strong>taaten<br />
und Multis jeweils äußere<br />
Herausforderer. <strong>Die</strong> chinesischen ArbeiterInnen<br />
und Bauern/Bäuerinnen<br />
erscheinen nur deshalb <strong>als</strong> „inländisch/einheimisch“,<br />
weil sie die Welt<br />
von der verlängerten Werkbank China<br />
aus mit billigen Arbeitskräften und<br />
billigem Essen versorgen, wodurch<br />
chinesische Unternehmen auf dem<br />
Weltmarkt wettbewerbsfähiger werden.<br />
Hier ergibt die Dichotomie von<br />
ausländisch vs. inländisch Sinn. Anstatt<br />
ein gemeinsames nationales Interesse<br />
vorwärtszubringen, verteidigt<br />
der nationalistische Diskurs in Wirklichkeit<br />
nur die engen Interessen der<br />
herrschenden Eliten.<br />
Einen anderen Standpunkt vertritt<br />
allerdings Zheng: „Neue Liberale vertreten<br />
die Interessen der neu aufkommenden<br />
Reichen, während die neuen<br />
Linken die Interessen der ArbeiterInnen<br />
und der Bauern/Bäuerinnen<br />
vertreten.“ 30 Zhengs Einschätzung der<br />
Liberalen ist korrekt, seine Einschätzung<br />
der neuen Linken aber völlig<br />
f<strong>als</strong>ch, was deren Wortführer betrifft.<br />
29 The Transnational Capitalist Class, Blackwell<br />
Publishers Ltd, 2001, S. 5.<br />
30 Globalization and State Transformation in China,<br />
Cambridge University Press, 2004, S. 186.<br />
inprekorr 458/459 45
CHINA<br />
Hu Jintao – Gener<strong>als</strong>ekretär der KP, Staatspräsident der Volksrepublik China<br />
So meinte Han Deqiang in einem<br />
NGO-Workshop während der sechsten<br />
WTO-Ministerkonferenz offen: „<strong>Die</strong><br />
neue Linke vertritt nicht die Meinung<br />
der Arbeiter oder Bauern. Wir hoffen,<br />
eine Anpassung (der Regierungspolitik)<br />
zu erreichen. Wir genießen breite<br />
Unterstützung unter den mittleren<br />
und höheren Rängen (der Regierungsbeamten).<br />
In den Augen der Arbeiter<br />
und Bauern könnten wir <strong>als</strong> Lakaien<br />
der Kapitalisten gesehen werden. Wir<br />
wollen keine Instabilität. Wir sind<br />
Reformer.“ 31<br />
Später führte Han seine Überlegungen<br />
in einem Artikel aus: „<strong>Die</strong><br />
neue Führung der Zentralregierung<br />
hat das Problem (des sich vertiefenden<br />
Grabens zwischen Reichen und<br />
Armen, der Arbeitslosigkeit etc.) bereits<br />
erkannt. Deshalb treten sie für<br />
nachhaltige Entwicklung, eine harmonische<br />
Gesellschaft, autonome Innovation<br />
etc. ein. Ihre Ideen sind in<br />
gewissem Maß von der neuen Linken<br />
beeinflusst. Zur Frage, ob wir nicht<br />
etwas für die Arbeiter tun sollten,<br />
31 Shi gongnong de wuhui, haishi xinzuopai de<br />
wuhui? (Wer unterliegt einem Missverständnis:<br />
<strong>Die</strong> Arbeiterschaft oder die neue Linke?),<br />
ein Bericht über den Workshop zu China, organisiert<br />
vom Focus of the Global South, International<br />
Forum on Globalization, Globalization<br />
Monitor. See http://xinmiao.hk.st<br />
lautet meine Antwort, dass mir soziale<br />
Krisen und eine mögliche Katastrophe<br />
mehr Sorgen bereiten. Für<br />
meine Haltung könnten mich die Arbeiter<br />
und Bauern <strong>als</strong> Lakai der Kapitalisten<br />
betrachten. Was ich vorschlage<br />
ist, die exzessive Ausbeutung<br />
durch eine erträgliche Ausbeutung zu<br />
ersetzen.“ 32<br />
Das ist nicht nur ein verbaler Ausrutscher,<br />
sondern bewusstes Denken.<br />
In einem anderen Artikel schreibt<br />
Han: „In der heutigen chinesischen<br />
Wirtschaft geht es nicht darum, ob<br />
wir Ausbeutung wollen oder nicht,<br />
sondern ob wir eine Art von Ausbeutung<br />
wollen, die bis zum Äußersten<br />
geht, oder ob wir eine nachhaltige<br />
Form wollen.“ 33 „<strong>Die</strong> Grubenunglücke<br />
sind die Folge der exzessiven<br />
Ausbeutung, da Arbeiter umkommen.<br />
Wenn Arbeiter (so behandelt werden,<br />
dass sie) überleben können oder sogar<br />
in der Lage sind, ihre Familien zu<br />
unterstützen, sollten die Bergarbeiter<br />
meiner Ansicht nach dankbar sein, ei-<br />
32 Zai Tuopai yanzhong shui bushi zibenjia de<br />
zougou. Huida yixie pengyou de yiwen, (Wer<br />
ist in den Augen der Trotzkisten kein Lakai<br />
der Kapitalisten?, https://host378.ipowerweb.<br />
com/ gong...<br />
33 Lianhe qilai fandui xinziyouzhuyi (Vereint gegen<br />
Neoliberalismus), http://www.snzg.net/<br />
shownews.asp?ne...<br />
ne Art von Ausbeutung zu haben, die<br />
nachhaltig ist.“ 34<br />
Auch Yang Fan hat seinen LeserInnen<br />
ausdrücklich verraten, welche<br />
Klasse er bevorzugt: „Wir sind dafür,<br />
das Banner des Patriotismus hochzuhalten.<br />
Nationales chinesisches Kapital<br />
und Staatskapital brauchen staatlichen<br />
Schutz. Ohne staatlichen Schutz<br />
wären wir nach dem WTO-Beitritt<br />
nicht in der Lage, gegen Multis zu<br />
konkurrieren … Ich denke, die meisten<br />
Staatsbetriebe sollen aufgelöst<br />
werden. Wir brauchen nicht so viele<br />
Staatsunternehmen. Der Staat muss<br />
aber in der Unterstützung von staatlichem<br />
und privatem Kapital eine Rolle<br />
spielen, indem gemeinsame Regeln<br />
erlassen werden, die unser geistiges<br />
Eigentum und unsere Markennamen<br />
schützen.“ 35<br />
Der Unterschied zwischen neuen<br />
Liberalen und so manchen bekannten<br />
Wissenschaftlern der neuen Linken<br />
(natürlich nicht allen) liegt nicht darin,<br />
dass sie gegensätzliche Klassen<br />
vertreten, sondern eher darin, dass sie<br />
einen unterschiedlichen Kurs für ein<br />
und dieselbe Klasse verfolgen, die neu<br />
aufsteigende Kapitalistenklasse. Der<br />
größere Einfluss der neuen Liberalen<br />
in den 90er-Jahren fiel mit dem damaligen<br />
Trend zusammen, <strong>als</strong> die Regierung<br />
einen großen Sprung in Richtung<br />
auf eine Politik machte, die völlig auf<br />
ausländisches Kapital setzt. Ende des<br />
20. Jahrhunderts hatte sich der Trend<br />
wieder gewendet, <strong>als</strong> nach zehn Jahren<br />
abhängigen Wachstums die Gefahr<br />
einer wirtschaftlichen Rekolonialisierung<br />
real wurde. Hier nun wurde<br />
der Diskurs der neuen Linken von nationaler<br />
Wiedergeburt und Selbstkräftigung<br />
für sie attraktiv. Offensichtlich<br />
sind weder die bürokratischen noch<br />
die privaten Kapitalisten in ihren Interessen<br />
homogen. Ein Teil sucht aufgrund<br />
seiner spezifischen Stellung in<br />
der Wirtschaft vorrangig die enge Partnerschaft<br />
mit ausländischem Kapital<br />
und sieht eine verstärkte Intervention<br />
des Staates eher <strong>als</strong> Fluch denn <strong>als</strong><br />
Segen. Daher ist dieser Teil empfänglicher<br />
für den Diskurs der neuen Li-<br />
34 Ke chixu fazhan he shehui gongping (Nachhaltige<br />
Entwicklung und soziale Gerechtigkeit),<br />
http://www.edu.org.cn/Article/epedu...<br />
35 Zhongguo minying jingji yinggai shangshen<br />
wei minzu jingji (<strong>Die</strong> chinesische Privatwirtschaft<br />
sollte sich zur nationalen Wirtschaft<br />
weiterentwickeln), http://www.blogchina.com/<br />
new/displa...<br />
46 inprekorr 458/459
CHINA<br />
beralen. Statt jeweils für die Reichen<br />
bzw. für die Armen zu stehen, vertreten<br />
neue Liberale und wichtige ExponentInnen<br />
der neuen Linken in Wirklichkeit<br />
<strong>als</strong>o nur einen unterschiedlichen,<br />
mehr oder weniger stark von<br />
ausländischem Kapital oder dem Staat<br />
abhängigen Kurs der kapitalistischen<br />
Entwicklung.<br />
Es erklärt auch, warum wichtige<br />
Vertreter der neuen Linken außerordentlich<br />
nachsichtig gegenüber staatlicher<br />
Repression sind, auch wenn sich<br />
das Schwert gegen die alte Linke oder<br />
MaoistInnen richtet. Han und Yang<br />
weichen der Frage staatlicher Repression<br />
aus. Dale Wen antwortet auf die<br />
Frage, warum der chinesische Widerstand<br />
gegen den Neoliberalismus erst<br />
jetzt, viel später <strong>als</strong> in anderen Ländern,<br />
erwacht, das liege „daran, dass<br />
erstens in den Jahren vor der Reform<br />
bedeutende politische Fortschritte erzielt<br />
wurden; und zweitens die Reform<br />
erfolgreich verschleiert wurde.“ 36<br />
Besonders auffallend an dieser<br />
Antwort ist, dass Dale die staatliche<br />
Repression gegenüber diversen sozialen<br />
Bewegungen in ihrem 47 Seiten<br />
umfassenden Bericht mit keinem Wort<br />
erwähnt. <strong>Die</strong> neuen Linken sehen den<br />
Staat im Allgemeinen und den Sonderstatus<br />
der KP im Besonderen angesichts<br />
der ausländischen Aggression<br />
und der internen Unterentwicklung<br />
<strong>als</strong> einzige Rettung für China. Während<br />
sie ausgesprochen feindselig auf<br />
die neuen Liberalen reagieren (und<br />
umgekehrt) 37 , zeigen sie sich übermäßig<br />
nachsichtig gegenüber der staatlichen<br />
Repression. Obwohl die neue<br />
Führung unter Hu Jintao die Repression<br />
fortführt und sogar verschärft hat,<br />
um eine mögliche „bunte Revolution“<br />
in China zu verhindern, weigern sich<br />
Dale Wen (wie auch Han und Yang),<br />
den Einparteienstaat auch nur ansatzweise<br />
zu kritisieren. Gegen Ende der<br />
chinesischen Version ihres Berichts<br />
äußert sich Dale zuversichtlich über<br />
Hu: „Erfreulicherweise greift die Regierung<br />
die Mahnung des Volks (bezüglich<br />
Sozial- und Umweltkrise) auf.<br />
Seit 2003 hat die neue Regierungsführung<br />
viele Anpassungen vorgenommen,<br />
um die Probleme zu lösen, die<br />
36 China copes with globalization. A mixed review,<br />
veröffentlicht von International Forum<br />
On Globalization, S. 41.<br />
37 Manchmal führt das so weit, die Unterdrückung<br />
der Gegner durch den Staat zu begrüßen.<br />
durch die in den vergangenen Jahren<br />
vorangetriebene neoliberale Politik<br />
verursacht wurden … Wird die chinesische<br />
Regierung sich für ein gründlicheres<br />
Überdenken ihrer Politik und<br />
die weitere Abkehr vom Neoliberalismus<br />
entscheiden? Wir sind diesbezüglich<br />
optimistisch.“ 38<br />
Weiter erfahren wir, wie die Führung<br />
unter Hu „fortschrittliche Maßnahmen“<br />
ergriffen hat wie die Senkung<br />
der Landsteuer, Versprechen auf<br />
zusätzliche Bildungsgelder etc. Das<br />
sind im besten Fall wirtschaftliche<br />
Verbesserungen und vorerst Bruchstücke.<br />
Dagegen gibt es nichts in Hus<br />
Paket, das die Bevölkerung mit größeren<br />
politischen Grundrechten wie<br />
Versammlungs- oder Pressefreiheit<br />
stärkt. Würde die Bevölkerung diese<br />
Rechte genießen, wäre sie den in<br />
erster Linie von Staatsbeamten betriebenen<br />
Enteignungen nicht völlig<br />
schutzlos ausgeliefert. <strong>Die</strong> KP Chinas<br />
kann immer wieder episodisch wirtschaftliche<br />
Konzessionen einräumen,<br />
doch sie wird nie auch nur die geringsten<br />
politischen Konzessionen machen,<br />
selbst wenn sie so grundlegend<br />
sind wie das Demonstrationsrecht. Sie<br />
vertritt die politische Philosophie aller<br />
herrschenden Eliten, die sie buchstabengetreu<br />
durchzieht: „Man muss<br />
sich für das Wohl des Volkes einsetzen,<br />
aber das Volk darf nichts für sich<br />
selbst tun.“ 39<br />
Zudem kommt es nicht wirklich<br />
darauf an, ob Hu sich vom Neoliberalismus<br />
abwenden wird, sondern eher,<br />
welche Alternative die Regierung<br />
wählen wird. Es gibt viele Alternativen<br />
zum Neoliberalismus. Das Problem<br />
ist nur, dass es sich aus der Perspektive<br />
werktätiger Menschen nicht<br />
unbedingt lohnt, sie zu unterstützen.<br />
Sie bräuchten eine besondere Alternative,<br />
in der Demokratie, Gleichberech-<br />
38 Shi shaoshuren fuqilai de gaige. Zhongguo<br />
yu tongwang jingji quanqiuhua zhi lu (Reform,<br />
die einige wenige bereichert. China auf<br />
dem Weg zur wirtschaftlichen Globalisierung),<br />
S. 50. Das Zitat in der chinesischen Version<br />
weicht von der englischen Version „China copes<br />
with globalization. A mixed review“ etwas<br />
ab. Während die chinesische Version ,optimistisch‘<br />
in Bezug auf Hus Bruch mit dem Neoliberalismus<br />
ist, fehlt in der englischen Fassung<br />
diese Einschätzung.<br />
39 Aussage eines französischen Konservativen<br />
gegen die Demokratie während der Französischen<br />
Revolution 1797, zitiert in Democracy<br />
and Revolution, George Novack, Pathfinder<br />
Press, S. 73.<br />
tigung und politische Freiheiten im<br />
Zentrum stehen. Was uns am meisten<br />
irritiert, ist gerade die Tatsache, dass<br />
im Diskurs von Vertretern der neuen<br />
Linken wie Han und Yang diese Werte<br />
nie vorkommen. Sie befürworten eher<br />
eine Alternative des Staatsinterventionismus<br />
und Nationalismus, von denen<br />
die neue KP-Führung nur zu gern<br />
einige Aspekte aufgreifen könnte, um<br />
den „Aufstieg Chinas“ voranzubringen.<br />
Dale Wen ist in ihrem Bericht<br />
weniger nationalistisch, doch das Fehlen<br />
jeglicher demokratischen Forderung<br />
und der nötigen Kritik am Einparteienregime<br />
ist ausgeprägt. <strong>Die</strong>ses<br />
Fehlen ist alles andere <strong>als</strong> zufällig.<br />
Es hängt mit dem Thema der meisten<br />
VertreterInnen der neuen Linken zusammen,<br />
nämlich dem Vertrauen auf<br />
den Einparteienstaat, der ein modernisiertes<br />
China aufbauen soll. Man kritisiert<br />
nicht jene, die einen retten sollen.<br />
Dennoch sind sich diese Autoren des<br />
Dilemmas ihres Vorschlags bewusst.<br />
Während ihnen der Staat <strong>als</strong> Lösung<br />
erscheint, stellt er in Wirklichkeit<br />
auch ein riesiges Problem dar. <strong>Die</strong> Degeneriertheit<br />
und Korruption des Einparteienstaates<br />
hat ein solches Ausmaß<br />
angenommen, dass Chen Yun, ein<br />
hochrangiger KP-Führer, vor seinem<br />
Tod 1995 vor einem wangdang wangguo,<br />
dem Sturz von Partei und Staat,<br />
warnte. Mehr <strong>als</strong> zehn Jahre sind verstrichen,<br />
und die damalige Korruption<br />
nimmt sich harmlos aus im Vergleich<br />
zur heutigen. Weitreichende<br />
Korruption und rücksichtslose Privatisierung<br />
fördern zunehmend zentrifugale<br />
Kräfte innerhalb der KP Chinas.<br />
Vor den Reformen beschränkte<br />
sich die Korruption hauptsächlich auf<br />
den <strong>Die</strong>bstahl von öffentlichem Eigentum<br />
in Form von Konsumgütern.<br />
Mitte der 90er-Jahre begannen Beamte<br />
dann, mit Spekulationen auf dem<br />
Markt Gewinne zu machen. Seit den<br />
frühen 90er-Jahren haben sich viele<br />
Beamte daran gemacht, ihre eigenen<br />
Unternehmen aufzubauen oder ihre<br />
Freunde und Familienangehörigen<br />
zu ermutigen, Privatunternehmen zu<br />
gründen, um Geld zu machen. Eine<br />
der einfachsten Methoden dafür ist der<br />
Transfer von öffentlichem Eigentum<br />
in die eigenen Betriebe. <strong>Die</strong> Korruption<br />
hat ein gigantisches Ausmaß angenommen,<br />
was in folgendem Witz zum<br />
Ausdruck kommt: Wählt man zufällig<br />
100 mittlere Beamte aus und erschießt<br />
inprekorr 458/459 47
CHINA<br />
sie, trifft es vermutlich zehn Unschuldige.<br />
Wählt man 100 große Mandarine<br />
und macht dasselbe, dann ist vermutlich<br />
nur ein Unschuldiger darunter.<br />
Auch wenn die Zahlen in dem<br />
Witz nicht allzu ernst zu nehmen sind,<br />
drückt er doch den Grad an aktueller<br />
Korruption aus, die die Fähigkeiten<br />
des Staates stark beeinträchtigt. Selbst<br />
wenn eine Politik für sich genommen<br />
gut ist, wird ihre Umsetzung oft durch<br />
die Profitanreize der Bürokratie behindert<br />
oder verdreht, was zu Chaos,<br />
Fehlern und Nachteilen für das Leben<br />
der Bevölkerung führt.<br />
Wenn Probleme auftreten und<br />
sich häufen, werden Beamte nur versuchen,<br />
sie mit allen möglichen Mitteln<br />
zu kaschieren. Es ist ein Gemeinplatz,<br />
dass chinesische Statistiken<br />
nicht vertrauenswürdig sind. <strong>Die</strong> Zahlen<br />
der Handelsbilanz von August<br />
1998 hatten beispielsweise ein Plus<br />
von 20 Milliarden US-Dollar ausgewiesen.<br />
Seltsamerweise hatte die Reserve<br />
an ausländischen Devisen dagegen<br />
nur eine Steigerung um weniger<br />
<strong>als</strong> eine Milliarde US-Dollar ausgewiesen.<br />
<strong>Die</strong>se Unnormalität zeugt<br />
nicht nur von der fehlenden Seriosität<br />
der Statistiken, sondern auch von<br />
der illegalen Kapitalflucht (nicht vertrauenswürdige<br />
Statistiken kaschieren<br />
den <strong>Die</strong>bstahl). <strong>Die</strong> Probleme stauen<br />
sich gewöhnlich bis zu einem Krisenmoment<br />
auf und werden von der Zentralregierung<br />
erst aufgegriffen, wenn<br />
es oft schon zu spät ist. Zudem ist die<br />
Korruption das wichtigste Ärgernis<br />
für die Durchschnittsbevölkerung und<br />
hat unzählige Proteste, Streiks und sogar<br />
Aufstände provoziert. Das Tiananmen-Massaker<br />
ist eine Botschaft an alle<br />
Beamten, dass die Partei dem Druck<br />
des Volks nicht nachgeben wird, selbst<br />
wenn sich solche Vorfälle ereignen.<br />
Praktisch kommt dies einer Art von<br />
mianzui tiejuan 40 oder vorweggenommenen<br />
Entschuldigung der Korruption<br />
der Mandarine gleich. Kein Wunder<br />
<strong>als</strong>o, dass der Appetit der Bürokratie<br />
seit den frühen 90er-Jahren stark gewachsen<br />
ist und sich eine zweite Revolte<br />
von unten zusammenbraut.<br />
Der Kumpanenkapitalismus der<br />
KP Chinas bringt zudem seine eigene<br />
40 Eine Art von eisernem Orden, den der Kaiser<br />
den bevorzugten Ministern verlieh, womit im<br />
Voraus alle Verbrechen entschuldigt wurden, in<br />
die sie verwickelt werden sollten, mit Ausnahme<br />
von Verbrechen wie Verrat.<br />
Finanz- und Wirtschaftskrise hervor.<br />
Niemand weiß beispielsweise genau,<br />
wie viele faule Kredite es im chinesischen<br />
Bankensystem gibt, noch kann<br />
man davon ausgehen, dass die Buchführung<br />
offiziell deklarierter chinesischer<br />
Unternehmen zuverlässig ist.<br />
Wie soll man etwas managen, wovon<br />
man keine Ahnung hat? Der Grund,<br />
warum China 1997 nicht von der Asienkrise<br />
erfasst wurde, ist schlicht,<br />
dass die chinesische Währung Renminbi<br />
(RMB) nicht konvertierbar war.<br />
Jetzt, wo die Regierung die Konvertierbarkeit<br />
plant, sind starke Zweifel<br />
angebracht, ob China eine zweite<br />
Krise eindämmen könnte. Eine Wirtschaftskrise<br />
wird einen weiteren sozialen<br />
Aufstand provozieren, schrieb<br />
der China wohlgesonnene Wissenschaftler<br />
Peter Nolan. 41 Kurzum, die<br />
Bürokratie bereitet durch den <strong>Die</strong>bstahl<br />
an ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen<br />
und Staatseigentum selbst den<br />
Boden für wirtschaftliche und soziale<br />
Unruhen.<br />
Erstaunlicherweise ist die Korruption<br />
zwar für Chen Yun ein Hauptanliegen,<br />
aber die meisten bekannten<br />
VertreterInnen der neuen Linken erwähnen<br />
sie eher nur beiläufig. Und<br />
selbst wenn sie darauf eingehen, wiederholen<br />
sie nur die Binsenweisheit<br />
des alten Parteidogmas, dass die oberste<br />
Parteiführung entschlossen gegen<br />
Korruption vorgehen müsse und dass<br />
die Korruption ein Ergebnis der geistigen<br />
Verschmutzung durch den Westen“<br />
oder der Globalisierung sei, weshalb<br />
eine Überprüfung der Partei nötig<br />
sei etc. <strong>Die</strong> wesentlich einfachere<br />
Lösung, nämlich ein Ende der Einparteienherrschaft<br />
und die Einführung<br />
der demokratischen Kontrolle über<br />
die Staatsbürokratie, kommt dagegen<br />
nie vor. Ohne diese Maßnahmen wird<br />
die Bürokratie aber nie daran gehindert<br />
werden können, sich durch Privatisierung<br />
und offene oder verdeckte<br />
Korruption selbst zu bereichern. Das<br />
ist der Bürokratie sehr wohl bewusst,<br />
weshalb sie sich aufs Heftigste jedem<br />
Schritt in Richtung Demokratisierung<br />
von oben oder von unten widersetzt.<br />
Sie verweigert der Bevölkerung alle<br />
Grundrechte, so dass diese völlig ausgeliefert<br />
ist. Doch es gibt immer einen<br />
Punkt, von dem an die weitere Ent-<br />
41 Peaceful Rise or Yellow Peril?, Peter Nolan,<br />
CITIC pacific research advance, 7. April 2006,<br />
S. 11.<br />
eignung nicht mehr geduldet werden<br />
wird, und auf diesen Punkt steuern<br />
wir im Eiltempo zu. <strong>Die</strong> KP Chinas ist<br />
sich dessen bewusst und reagiert darauf<br />
außer durch Repression mit der<br />
zunehmenden Förderung eines Nationalismus,<br />
um von den hausgemachten<br />
Problemen auf äußere Feinde abzulenken.<br />
Das ist allerdings ein Rezept für<br />
internationale Spannungen oder gar<br />
Kriege. <strong>Die</strong>ser Weg bietet der Bevölkerung<br />
keinen Ausweg.<br />
Demokratie von vorrangiger<br />
Bedeutung<br />
Der chinesische Parteienstaat ist allmächtig.<br />
Eine Zivilgesellschaft gibt<br />
es praktisch nicht. <strong>Die</strong> weitere Stärkung<br />
dieses Staats und die Entwicklung<br />
eines Staatskapitalismus und dessen<br />
Aufsicht führen nur zu einer weiteren<br />
Abwärtsspirale im globalisierten<br />
Markt oder schlimmer noch zu Krieg.<br />
Globalisierungskritik auf der Basis<br />
eines chinesischen Nationalismus bestärkt<br />
nur die KP Chinas in ihrem Bemühen,<br />
alle Hindernisse auf dem Weg<br />
zur Hölle auszuräumen. Wer für einen<br />
solchen Kurs eintritt, kann kaum<br />
<strong>als</strong> Neuerer oder <strong>als</strong> links bezeichnet<br />
werden. Es ist die alte nationalistische<br />
Leier. Manche in der neuen Linken<br />
bezeichnen Cui, Han und Yang <strong>als</strong><br />
qiangguo zuopai (linke Nationalisten)<br />
statt <strong>als</strong> neue Linke, um sich von ihnen<br />
abzugrenzen.<br />
Uns ist sehr wohl bewusst, dass zu<br />
berücksichtigen ist, dass alle Chinesen,<br />
die an dieser Diskussion teilnehmen,<br />
unter Zensur nicht unbedingt offen<br />
sprechen können. Dennoch gibt<br />
es auch unter dieser Zensur manche<br />
neue Linke, die <strong>als</strong> ernsthafte MaoistInnen<br />
oder Linke im weiteren Sinn<br />
nicht dem Nationalismus oder Dirigismus<br />
erlegen sind. Wang Hui, ein weiterer<br />
bekannter Exponent der neuen<br />
Linken, gibt sich in seiner Globalisierungskritik<br />
kaum nationalistisch und<br />
sein Beharren auf der aktiven Rolle<br />
der Arbeiterbewegung in sozialen Veränderungen<br />
ist in der neuen Linken eine<br />
Seltenheit. Kuang Xinnian, der <strong>als</strong><br />
Maoist gilt, setzt in vieler Hinsicht auf<br />
die ursprünglich kritische Haltung der<br />
KP Chinas zum Nationalismus und<br />
geht gewissermaßen sogar darüber hinaus,<br />
wenn er schreibt: „Nationalismus<br />
ist eine Art von bürgerlicher Ideologie.<br />
Es ist im Wesentlichen eine Art<br />
48 inprekorr 458/459
CHINA<br />
von Denken, das dazu dient, das Klassenbewusstsein<br />
des Proletariats und<br />
die sozialistische Ideologie zu unterdrücken.<br />
Eine der wichtigen Ursachen<br />
für den Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
war die Begrenztheit des ,Sozialismus<br />
in einem Land‘, die zur ideologischen<br />
Degenerierung von einer sozialistischen<br />
zu einer nationalistischen<br />
Vision und letztlich zur Umwandlung<br />
in einen ,Sozialimperialismus‘ geführt<br />
hat … Wenn China nur den Nationalismus<br />
<strong>als</strong> Alternativideologie unterstützt,<br />
wird es nicht in der Lage sein,<br />
die internen Klassengegensätze oder<br />
auch den Konflikt zwischen Nation<strong>als</strong>taaten<br />
zu lösen, sondern wird diese<br />
Konflikte im Gegenteil nur verschärfen.<br />
Das wäre eine Tragödie nicht<br />
nur für China, sondern für die <strong>ganze</strong><br />
Welt.“ 42<br />
Solche Stimmen sind leider viel<br />
zu sehr marginalisiert, ganz abgesehen<br />
davon, dass diese neuen Linken<br />
die Diskussion mit den Nationalisten<br />
42 Minzuzhuyi yu zhongguo (Nationalismus<br />
und China), http://www.hexinbbs.com/article/<br />
Show Article.asp?Article1D=37<br />
offenbar scheuen. Das ist kein Zufall,<br />
denn diese kritischen neuen Linken<br />
sind zu heterogen, um den Nationalisten<br />
effizient die Stirn bieten zu<br />
können. Zusammengefasst lässt sich<br />
sagen, dass vieles dafür spricht, dass<br />
in den kommenden Jahren eine noch<br />
stärkere Reaktion auf den Neoliberalismus<br />
und eine Globalisierung unter<br />
Leitung der Konzerne zu erwarten ist.<br />
<strong>Die</strong>sbezüglich sind wir optimistisch.<br />
Dennoch hat der Einparteienstaat mithilfe<br />
von Nationalisten und qiangguo<br />
zuopai wie Han und Yang die Reaktion<br />
stark in Richtung eines nationalistischen,<br />
dirigistischen Diskurses geprägt.<br />
Wenn eine Basisbewegung in<br />
diese Richtung gesteuert wird, wird<br />
sie Öl in den chinesischen Nationalismus<br />
gießen. Selbstverständlich gibt es<br />
etwas, was die Linke tun kann, anstatt<br />
bloß abzuwarten und zu schauen, was<br />
<strong>als</strong> nächstes passiert. <strong>Die</strong> dringliche<br />
Aufgabe der Linken wäre, die in China<br />
tief verwurzelte dirigistische nationalistische<br />
Tradition und die Einparteienherrschaft<br />
einer gründlichen Kritik<br />
zu unterziehen. Unsere Vision einer<br />
gerechten Gesellschaft darf keinerlei<br />
nationalistische oder dirigistische<br />
Elemente und keinerlei Anpassung<br />
an den Einparteienstaat enthalten.<br />
Wenn eine andere Welt nötig<br />
ist, dann muss sie individuelle Rechte,<br />
Pluralismus in der Parteipolitik, politische<br />
und wirtschaftliche Demokratie<br />
und nicht zuletzt Internationalismus<br />
<strong>als</strong> zentrale Werte enthalten. Das<br />
bedeutet auch eine Überwindung des<br />
engstirnigen Diskurses, der sowohl<br />
die neuen Liberalen <strong>als</strong> auch die neuen<br />
Linken auszeichnet.<br />
Mein Dank gilt Hidayat Greenfield und John<br />
Chan für ihre wertvollen Anmerkungen und<br />
Tom Mertes und Saul Thomas für ihr geduldiges<br />
Gegenlesen des Textes.<br />
Online-Veröffentlichung 4. April 2007. Für<br />
eine wesentlich kürzere, im August 2006 unter<br />
dem Titel „Chinese Nationalism and the<br />
,New Left‘“ veröffentlichte Fassung dieses<br />
Beitrags siehe http://www.europe-solidaire.<br />
org/spip.php?article3234.<br />
Aus dem Englischen: Tigrib<br />
inprekorr 458/459 49
NACHRUF<br />
André Fichaut (<strong>1928</strong>–2009)<br />
Jean-Michel Krivine<br />
André Fichaut, genannt „Max“, der<br />
seit vielen Jahren in der französischen<br />
trotzkistischen Bewegung aktiv war,<br />
ist am 29. Juni im Alter von 82 Jahren<br />
gestorben.<br />
Wie es in der Tageszeitung Ouest<br />
France hieß, war er „jemand aus<br />
Brest, der in der Arbeiterbewegung<br />
etwas bedeutet hat“. Eine sehr anziehende<br />
Persönlichkeit für diejenigen,<br />
die ihn gekannt haben, wegen seiner<br />
Wärme, seines Bestrebens, nützlich zu<br />
sein, und seiner Gastfreundschaft.<br />
Glücklicherweise hat er in einem<br />
Ende 2003 erschienenen kleinen Buch<br />
aus seinem Leben berichtet. 1 Ich<br />
möchte den letzten Abschnitt des Vor-<br />
1 André Fichaut, Sur le pont. Souvenirs d’un ouvrier<br />
trotskiste breton, Paris: Éditions Syllepse,<br />
2003. – 246 S., ISBN 2-84797-069-X.<br />
worts von meinem Bruder Alain zitieren:<br />
„Max ist ein politischer Aktivist,<br />
der den revolutionären Kampf,<br />
die Kumpel, die Natur und die Austern<br />
liebt, kurzum ein normaler politischer<br />
Mensch, der eine unnormale Gesellschaftsordnung<br />
umstürzen will. Er ist<br />
ein Arbeiter und jetzt auch ein Schriftsteller,<br />
und das findet er zum Kaputtlachen.“<br />
Er hat nie studiert und 1968 zum<br />
ersten Mal einen Fuß in ein Universitätsgebäude<br />
gesetzt … Er ist nacheinander<br />
Bauernjunge, Mechanikerlehrling<br />
in einer Autowerkstatt, Monteur<br />
auf der Werft Chantiers de Penhoët<br />
und dann 19 Jahre lang Mitarbeiter<br />
von EDF [Électricité de France, des<br />
noch staatlich dominierten Elektrizitätskonzerns]<br />
gewesen. Mit viel Verve<br />
berichtet er von diesen Perioden,<br />
in denen er gewerkschaftlich und politisch<br />
aktiv war.<br />
1944 trat er der CGT bei; den<br />
Trotzkisten schloss er sich erst 1949<br />
an, auch wenn er in der Jugendherbergsbewegung<br />
mehrere Jahre lang<br />
Seite an Seite mit ihnen aktiv war.<br />
Er beschwert sich übrigens darüber,<br />
dass sie ihn nie gefragt haben, ob er<br />
nicht zu ihnen kommen will, und ist<br />
der Meinung, das sei „eine angeborene<br />
Macke, es fällt ihnen noch heute<br />
schwer, das los zu werden“. Er beschränkte<br />
sich nicht auf die IV. Internationale;<br />
denn im Vorausblick auf<br />
den kommenden Krieg [einen dritten<br />
Weltkrieg] beschlossen der 3. und<br />
der 4. Kongress der Organisation die<br />
„entristische“ Taktik, eine Reihe von<br />
Mitgliedern traten der Französischen<br />
Kommunistischen Partei (PCF) bei.<br />
Max blieb 13 Jahre dabei und verließ<br />
sie erst nach 68; sein Austritt wurde<br />
nicht akzeptiert, stattdessen wurde er<br />
ausgeschlossen …<br />
1969 wurde er <strong>als</strong> Kandidat der Ligue<br />
communiste für der Präsidentschaftswahl<br />
vorgeschlagen (zu diesem<br />
Zeitpunkt war er noch in der PCF). Er<br />
lehnte ab und wurde durch Alain Krivine<br />
ersetzt. Ein Vierteljahrhundert lang<br />
gehörte er der Leitung der französischen<br />
trotzkistischen Organisation an.<br />
Max war nicht nur „national“ politisch<br />
aktiv. Er berichtet von der Hilfe,<br />
die er 1981 den polnischen RevolutionärInnen<br />
von Solidarność und 1989<br />
den Tschechen von der Charta 77 geleistet<br />
hat. In der bereits zitierten Zeitung<br />
aus Brest war zu lesen: „Im Europa<br />
des Eisernen Vorhangs hat dieser<br />
unermüdliche Aktivist, ein Liebhaber<br />
eines Wohnwagens mit eingebauten<br />
Verstecken, in Polen Konservendosen,<br />
die mit Exemplaren von Leo Trotzkis<br />
,Mein Leben‘ [in Wirklichkeit von<br />
<strong>Ausgabe</strong>n der polnischen Inprekor]<br />
gefüllt waren, oder in der Tschechoslowakei<br />
an Mitglieder der Charta 77<br />
Computer verteilt, die in Fernsehgeräten<br />
verborgen waren.“<br />
50 inprekorr 458/459
NACHRUF<br />
Er hatte aber noch weiter geblickt.<br />
Davon spricht er nicht in seinem Erinnerungsbuch,<br />
weil er zu jung war, um<br />
daran teilzunehmen; aber in Rouge hat<br />
er auf einer <strong>ganze</strong>n Seite über die Aktivität<br />
der TrotzkistInnen aus Brest innerhalb<br />
der deutschen Armee während<br />
des Kriegs berichtet. 2 Das war etwas<br />
Einmaliges, das nach der Befreiung<br />
hauptsächlich aufgrund des Einflusses<br />
der PCF mit Schweigen übergangen<br />
worden ist, sie wollte nicht zulassen,<br />
dass die „Hitler-Trotzkisten“ behaupten<br />
könnten, sie hätten Widerstand geleistet.<br />
Es hat nur von März bis Oktober<br />
1943 gedauert, etwa 15 deutsche<br />
Soldaten, von denen sich 7 oder<br />
8 zur IV. Internationale zählten, waren<br />
beteiligt. Sie gaben eine deutschsprachige<br />
Zeitung mit dem Titel Zeitung<br />
für Arbeiter und Soldat im Westen<br />
heraus 3 , im Oktober wurden sie<br />
2 André Fichaut, „Une résistance différente.<br />
Objectif: préparer la révolution“,<br />
in: Rouge, Nr. 2073, 15. Juli 2004, S. 5.<br />
Siehe auch: André Calvès, Sans bottes ni<br />
médailles. Un trotskyste breton dans la guerre,<br />
Montreuil: Éditions La Brèche, 1984.<br />
3 Von diesem hektographierten Bulletin erschienen<br />
vermutlich drei <strong>Ausgabe</strong>n; ein beschädigtes<br />
Exemplar ist reproduziert in Fac-similé de<br />
La Vérité clandestine (1940-1944), hrsg. von<br />
Jean-Michel Brabant, Michel Dreyfus, Jacqueline<br />
Pluet, Paris: EDI – Études et Documentation<br />
Internationales, 1978, S. 197/198.<br />
Martin Monat, genannt „Paul Widelin“ oder<br />
„Victor“ (1913–1944), und Paul Thalmann<br />
(1901–1980) brachten mit der französischen<br />
trotzkistischen Organisation drei hektographierte<br />
<strong>Ausgabe</strong>n von Arbeiter und Soldat mit<br />
dem Untertitel „Organ für proletarisch-revoluverhaftet.<br />
Max unterstreicht, dass sich<br />
die Erscheinungsformen des Kriegs<br />
und dessen Ergebnisse geändert hätten,<br />
wenn die PCF an Stelle der Politik,<br />
die in der Losung „A chacun son<br />
boche!“ (in etwa: „Jeder nimmt sich<br />
seinen Deutschmann vor!“) gipfelte,<br />
die Fraternisierung zwischen Arbeitern<br />
in oder ohne Uniform auf Massenebene<br />
organisiert hätte. Er schließt<br />
seinen Artikel mit der Bemerkung:<br />
„Und weil die letzten von denen, die<br />
an diesem Abenteuer beteiligt waren,<br />
die letzten, die über all dies von denen,<br />
die die Akteure und Akteurinnen<br />
gewesen sind, informiert waren, bald<br />
nicht mehr sein werden, so soll doch<br />
wenigstens irgendwo eine kleine Spur<br />
hinterlassen werden.“<br />
Lieber Max, von Deiner Anwesenheit<br />
unter uns wird eine große Spur<br />
bleiben, und wir werden dich nie vergessen!<br />
Übersetzung aus dem Französischen<br />
von Friedrich Dorn<br />
tionäre Sammlung, vierte Internationale“ heraus,<br />
die im Juli, August, September 1943 erschienen.<br />
Es folgten drei gedruckte <strong>Ausgabe</strong>n<br />
von Arbeiter und Soldat mit dem Untertitel<br />
„Organ des Bundes der Kommunisten-Internationalisten<br />
(Deutsche Sektion der vierten<br />
Internationale)“, die im April, Juni und Juli<br />
1944 erschienen. <strong>Die</strong>se Veröffentlichungen<br />
sind <strong>als</strong> Faksimiles nachgedruckt in Fac-similé<br />
de La Vérité clandestine, S. 182–195 (Anm.<br />
d. Übers.).<br />
ABO-<br />
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☐ Solidarabo (ab € 30) € ....<br />
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inprekorr 458/459 51
Systemveränderung – statt Klimawandel!<br />
Erklärung der TeilnehmerInnen des Klimaforum09 in Kopenhagen<br />
Zusammenfassung<br />
Es gibt Lösungen für die Klima-Krise. Was die Menschen<br />
und der Planet brauchen, ist eine gerechte und<br />
nachhaltige Veränderung unserer Gesellschaften in eine<br />
Form, die das Überleben aller Menschen sicherstellt<br />
und einen fruchtbaren Planeten und ein erfüllteres Leben<br />
für künftige Generationen ermöglicht.<br />
Wir, die TeilnehmerInnen, Communities und sozialen<br />
Organisationen des Klimaforum09 in Kopenhagen,<br />
rufen jede Person, Institution, Organisation und<br />
Regierung auf, zu dieser notwendigen Veränderung<br />
beizutragen. <strong>Die</strong>s wird keine leichte Aufgabe sein. <strong>Die</strong><br />
Krise von heute hat ökonomische, soziale, umweltabhängige,<br />
geopolitische und ideologische Aspekte, die<br />
einander in Hinblick auf die Klimakrise sowohl beeinflussen<br />
<strong>als</strong> auch verstärken. Deshalb fordern wir folgende<br />
dringende Klima-Maßnahmen:<br />
• <strong>Die</strong> vollständige Aufgabe fossiler Brennstoffe innerhalb<br />
der nächsten 30 Jahre. <strong>Die</strong>s erfordert Meilensteine<br />
für jede 5-Jahresperiode. Wir fordern eine<br />
unmittelbare Kürzung von Treibhausgas-Emissionen<br />
der industrialisierten Länder von mindestens<br />
40 % bis 2020 im Vergleich zum Niveau von 1990.<br />
• Anerkennung, Bezahlung und Ausgleich der Klimaschuld<br />
für die Überkonsumtion von Atmosphäre<br />
und der Wirkungen auf den Klimawandel gegenüber<br />
allen betroffenen Gruppen und Menschen.<br />
• Ablehnung von rein marktorientierten und technikzentrierten<br />
f<strong>als</strong>chen Lösungen wie Atomenergie,<br />
Agrotreibstoffen, Kohlenstoffbindung und -lagerung,<br />
Clean-Development-Mechanismen, Verkohlung<br />
von Biomasse, genmanipuliertem „klimaresistentem“<br />
Saatgut, geo-engineering und REDD (Reduktion<br />
von Emissionen aus Entwaldung und Schädigung<br />
von Wäldern), die soziale und Umweltkonflikte<br />
verschärfen.<br />
• Wirkliche Lösungen für die Klimakrise, basierend<br />
auf einer sicheren, sauberen, erneuerbaren und<br />
nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen<br />
sowie einer Wende zu Nahrungs-, Energie-, Landund<br />
Wassersouveränität.<br />
Deshalb fordern wir von der COP15 [Klimakonferenz],<br />
eine Einigung zu erreichen, die damit beginnt,<br />
das ökologische, soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht<br />
des Planeten wiederherzustellen, und zwar<br />
mit Mitteln, die in Hinblick auf die Umwelt, Gesellschaft<br />
und Wirtschaft nachhaltig und gerecht sind, um<br />
schließlich einen rechtlich verbindlichen Vertrag abzuschließen.<br />
<strong>Die</strong> schädlichen Folgen des vom Menschen verursachten<br />
Klimawandels bewirken eine massive Verletzung<br />
der Menschenrechte. <strong>Die</strong> Nationen haben eine<br />
Verpflichtung, international zusammenzuarbeiten,<br />
um überall auf der Welt die Achtung der Menschenrechte,<br />
entsprechend der Charta der Vereinten Nationen,<br />
sicherzustellen. Jede konkrete Vereinbarung über<br />
den Klimawandel muss im umfassenderen Zusammenhang<br />
gesehen werden, einen nachhaltigen Wechsel unserer<br />
Gesellschaften zu erreichen.<br />
Wir, die teilnehmenden Personen und Organisationen<br />
des Klimaforum09, verpflichten uns zu vollem<br />
und aktivem Engagement, einen derartigen Wandel<br />
voranzutreiben, der eine grundlegende Änderung der<br />
gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen<br />
Strukturen erfordert ebenso wie eine Beseitigung der<br />
Geschlechter-, Klassen-, Rassen-, Generationen- und<br />
ethnischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.<br />
<strong>Die</strong>s erfordert die Wiederherstellung von demokratischer<br />
Souveränität unserer lokalen Gemeinschaften<br />
<strong>als</strong> grundlegende, soziale, politische, und ökonomische<br />
Einheiten. Lokales und demokratisches Eigentum, die<br />
Kontrolle über und der Zugang zu natürlichen Ressourcen<br />
werden die Basis für die substantielle und nachhaltige<br />
Entwicklung von Gemeinschaften sein und gleichzeitig<br />
die Treibhausemissionen reduzieren. Wir ermutigen<br />
fairen und angemessenen Tausch von lokal angepassten<br />
Techniken und Ideen zwischen Norden und<br />
Süden und innerhalb der Regionen.<br />
Wir rufen jede besorgte Person, soziale Bewegung,<br />
kulturelle, politische oder wirtschaftliche Organisation<br />
auf, sich uns anzuschließen, um eine starke, weltweite<br />
Bewegung der Bewegungen aufzubauen, die die Visionen<br />
und Bedürfnisse der Menschen auf jeder Ebene<br />
der Gesellschaft vorwärts treiben kann. Gemeinsam<br />
können wir den globalen Wandel in eine nachhaltige<br />
Zukunft bewirken.<br />
18. Dezember 2009<br />
Vollständiger Text der Erklärung, Liste der unterzeichnenden Organisationen<br />
und weitere Informationen zum „Peoples Climate<br />
Summit“: http://www.klimaforum09.org/Declaration?lang=en<br />
Übersetzung: Wilfried Hanser-Mantl