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Die ganze Ausgabe als PDF (1928 K) - Inprekorr

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Israel/Palästina<br />

Frieden oder besser noch Gerechtigkeit<br />

kann nur unter den Bedingungen völliger<br />

Entkolonialisierung (man könnte<br />

sagen: Entzionisierung) des Staates Israel<br />

hergestellt werden. Es handelt sich<br />

um eine Vorbedingung für die Realisierung<br />

der legitimen Rechte der PalästinenserInnen<br />

– der Flüchtlinge ebenso<br />

wie der BewohnerInnen des Westjordanlands<br />

und Gazastreifens, die unter<br />

israelischer Besatzung leben, oder der<br />

PalästinenserInnen, die <strong>als</strong> BürgerInnen<br />

zweiter Klasse in Israel leben. Ob am<br />

Ende dieser Entkolonialisierung eine<br />

Einstaatenlösung steht oder zwei demokratische<br />

Staaten – die somit kein „jüdischer<br />

Staat“ sein können–, eine Föderation<br />

oder ein anderes institutionelles<br />

System, ist zweitrangig. Das wird sich<br />

letztlich, wenn es so weit ist, im Kampf<br />

selbst und je nach Beteiligung der Israelis<br />

entscheiden.<br />

In diesem Sinn irrt Uri Avnery, wenn<br />

er behauptet, unsere Differenz beträfe<br />

die Frage der Einstaaten- oder Zweistaatenlösung.<br />

Wie bereits ausgeführt,<br />

betrifft sie die Frage von Rechten, von<br />

Entkolonialisierung und vollständigem<br />

Gleichheitsprinzip. Welche Form sich<br />

dann durchsetzt, ist meiner Ansicht nach<br />

nicht entscheidend, solange wir von einer<br />

Lösung sprechen, in der beide Völker<br />

in Freiheit (<strong>als</strong>o nicht in einer Art<br />

Kolonialverhältnis) und Gleichheit leben.<br />

Eine andere wichtige Meinungsdifferenz<br />

gegenüber Uri Avnery betrifft<br />

die Dialektik zwischen dem Terminplan<br />

der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung<br />

und der Rolle des sogenannten<br />

israelischen Friedenslagers.<br />

Auch wenn die palästinensische Nationalbewegung<br />

klarerweise möglichst<br />

viele Bündnispartner auf israelischer<br />

Seite braucht, um ihre Befreiung so<br />

schnell wie möglich und mit möglichst<br />

wenig Leiden durchzusetzen, kann man<br />

von der palästinensischen Bewegung<br />

nicht erwarten, dass sie sich geduldet,<br />

bis Uri, Neve und andere israelische<br />

Antikolonialisten die Mehrheit der israelischen<br />

Öffentlichkeit überzeugt haben.<br />

Aus zwei Gründen: erstens, weil<br />

nationale Befreiungsbewegungen mit<br />

ihrem Kampf gegen Unterdrückung<br />

und Kolonialismus nicht abwarten; und<br />

zweitens, weil die Geschichte uns gelehrt<br />

hat, dass Veränderungen aus dem<br />

Inneren einer Kolonialgesellschaft immer<br />

das Ergebnis eines Befreiungskampfs<br />

waren und nicht umgekehrt.<br />

Wenn der Preis der Besatzung zu hoch<br />

wird, verstehen immer mehr Menschen,<br />

dass man so nicht weitermachen kann.<br />

Der Preis für die Kolonialisierung<br />

Ja, man muss die Hand ausstrecken<br />

zum Zusammenleben, aber verbunden<br />

mit einer harten Hand, die entschlossen<br />

für Recht und Freiheit kämpft. Das<br />

Scheitern des Oslo-Prozesses bestätigt<br />

die alte Lehre aus der Geschichte: Jeder<br />

Versuch der Versöhnung vor Durchsetzung<br />

von Rechten festigt nur den Fortbestand<br />

des kolonialen Herrschaftsverhältnisses.<br />

Warum sollten die Israelis<br />

die Besatzung beenden und damit eine<br />

tiefgehende innere Krise provozieren,<br />

wenn sie keinen Preis für die anhaltende<br />

Besatzung zahlen müssen?<br />

Deshalb ist die BDS-Kampagne so<br />

treffend: Sie bietet einen internationalen<br />

Rahmen, um das palästinensische<br />

Volk darin zu unterstützten, seine legitimen<br />

Rechte sowohl auf institutioneller<br />

Ebene (der Staaten und internationalen<br />

Institutionen) <strong>als</strong> auch auf Ebene<br />

der Zivilgesellschaft durchzusetzen.<br />

Sie richtet sich einerseits an die internationale<br />

Gemeinschaft, die aufgefordert<br />

wird, einen Staat zu bestrafen, der<br />

systematisch das Völkerrecht, die Genfer<br />

Konventionen und verschiedene Abkommen<br />

verletzt ; andererseits ruft sie<br />

die Zivilgesellschaft weltweit auf, einzeln<br />

und in sozialen Bewegungen (Gewerkschaften,<br />

Parteien, Gemeinderäte,<br />

Vereine etc.) Produkte, offizielle Vertreter,<br />

Institutionen etc. zu boykottieren,<br />

die den israelischen Koloni<strong>als</strong>taat<br />

vertreten.<br />

<strong>Die</strong> beiden Aufgaben (Boykott und<br />

Sanktionen) werden letztlich Druck auf<br />

das israelische Volk ausüben und ihm<br />

zu verstehen geben, dass Besatzung<br />

und Kolonialisierung ihren Preis haben,<br />

dass die Missachtung der Regeln<br />

des Völkerrechts den Staat Israel früher<br />

oder später zu einem sich selbst isolierenden<br />

Land macht, das in der Gemeinschaft<br />

der zivilisierten Nationen nicht<br />

geduldet wird. Genauso wie Südafrika<br />

in den letzten Jahren der Apartheid.<br />

In diesem Sinn richtet sich die BDS-<br />

Kampagne entgegen der Aussage von<br />

Uri sehr wohl an die israelische Öffentlichkeit<br />

und ist mittlerweile die einzige<br />

Möglichkeit, die Israelis zur Änderung<br />

ihrer Haltung gegenüber der Besatzung<br />

und Kolonialisierung zu bewegen. Vergleicht<br />

man die BDS-Kampagne mit<br />

der Boykott-Kampagne zur Zeit der<br />

Anti-Apartheid-Bewegung, die zwanzig<br />

Jahre brauchte, bevor sie Früchte<br />

trug, kann man nur über ihre Effizienz<br />

staunen, die für uns in Israel bereits<br />

spürbar ist.<br />

<strong>Die</strong> BDS-Kampagne wurde von<br />

einem breiten Bündnis palästinensischer<br />

politischer und sozialer Bewegungen<br />

lanciert. Kein Israeli, der behauptet, für<br />

die Rechte des palästinensischen Volks<br />

einzutreten, kann sich diskret von dieser<br />

Kampagne abwenden: Nachdem<br />

jahrelang betont wurde, dass „der bewaffnete<br />

Kampf keine gute Wahl ist“,<br />

wäre es vermessen, wenn dieselben israelischen<br />

AktivistInnen die BDS-Strategie<br />

disqualifizieren wollten. Wir müssen<br />

uns im Gegenteil gemeinsam der<br />

Kampagne „Boykott from Within“ anschließen,<br />

um diese palästinensische<br />

Initiative von israelischer Seite zu unterstützen.<br />

Das ist das Mindeste, was<br />

wir tun können, und das Mindeste, was<br />

wir tun sollten.<br />

8. Oktober 2009<br />

Michael Warschawski, Begründer des Alternative<br />

Information Center (AIC) in Israel, ist<br />

Journalist und Schriftsteller. Publikationen in<br />

deutscher Sprache: Mit Höllentempo. <strong>Die</strong> Krise<br />

der israelischen Gesellschaft, Hamburg 2004.<br />

An der Grenze. Mit einem Vorwort von Moshe<br />

Zuckermann. Hamburg 2004. Mit Sophia Deeg<br />

und Michèle Sibony: Stimmen israelischer<br />

Dissidenten, Köln 2005. Mit Gilbert Achcar:<br />

Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen Hisbollah<br />

im Libanon und seine Konsequenzen, Hamburg<br />

2007.<br />

Auf Französisch: Israël-Palestine, le défi binational<br />

(Textuel, Paris 2003), Programmer le désastre.<br />

La politique israélienne à l’œuvre (La<br />

Fabrique, Paris 2008), Destins croisés. Israéliens-Palestiniens,<br />

l’histoire en partage (Riveneuve,<br />

Paris 2009).<br />

Uri Avnery ist israelischer Schriftsteller und<br />

Journalist. Zwischen 1949 und 1950 Mitarbeiter<br />

der Tageszeitung Haaretz, danach Gründer<br />

der Wochenzeitung Haolam Hazeh (1950–<br />

1993), ehemaliger Knesset-Abgeordneter<br />

(1965–1973 und 1979–1981), Gründer von<br />

Gush Shalom (Friedensblock). Eine Auswahl<br />

seiner Artikel auf Deutsch unter www.uri-avnery.de<br />

Französische Quelle: http://www.france-palestine.org/imprimersans.php3?id_article=12878<br />

Übersetzung: Tigrib<br />

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