Variationsrechnung I - Institut für Mathematik
Variationsrechnung I - Institut für Mathematik
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Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen<br />
<strong>Institut</strong> für <strong>Mathematik</strong><br />
nach Vorlesungen im Wintersemester 2002/2003 an der Universität Bonn und in den<br />
Wintersemestern 2007/2008, 2009/2010, 2011/2012 an der RWTH Aachen<br />
<strong>Variationsrechnung</strong> I<br />
Prof. Dr. Heiko von der Mosel<br />
Letzte Änderung: 14. Februar 2012
c○ Copyright 2002–2003, 2007-2008, 2009-2010, 2011-2012<br />
Prof. Dr. H. von der Mosel<br />
Korrekturen bitte an<br />
heiko@instmath.rwth-aachen.de<br />
Erstellt und ausgearbeitet im WS02-03 von:<br />
Nils Carqueville<br />
Kai Kaminski<br />
Felix Plöger<br />
Allan Zulficar<br />
Bearbeitet im WS02-03 von:<br />
Philipp Reiter<br />
Überarbeitet in den Wintersemestern 07-08, 09-10, 11-12 von:<br />
Heiko von der Mosel<br />
Dank an die Hörer der Vorlesungen in Bonn und Aachen für zahlreiche Hinweise und<br />
Korrekturvorschläge. Mein spezieller Dank geht an die Herren Ulrich Menne, Henryk<br />
Gerlach, Michael Dahmen, Tobias Hermes und Matthias Schlottbom, sowie an Anne Faber,<br />
Angela Klewinghaus, Nicola Rieke, Andreas Platen, und Felix Voigtländer.
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Euler-Lagrange-Gleichungen 1<br />
1.1 Erste Variation, Extremalen, Minimierer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
1.2 Innere Variation, Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1.3 Variationsprobleme mit Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
1.4 Hamiltonsche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
2 Sobolevräume 47<br />
3 Unterhalbstetigkeit und Existenztheorie 71<br />
4 Regularitätstheorie und Singularitäten 105<br />
5 Anwendungen 115<br />
5.1 Hindernisproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
5.2 Variationsprobleme für Cartan-Funktionale . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
5.3 Periodische Lösungen von Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
A Resultate aus der Funktionalanalysis 117<br />
Literaturverzeichnis 125<br />
Index<br />
I<br />
i
0 INHALTSVERZEICHNIS
Kapitel 1<br />
Euler-Lagrange-Gleichungen<br />
1.1 Erste Variation, Extremalen, Minimierer<br />
Wir betrachten Variationsintegrale der Form<br />
∫<br />
F(u) :=<br />
I<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx. (1.1)<br />
Dabei sei I = (a, b) ⊂ R, −∞ < a < b < ∞, u ∈ C 1 (I, R N ) und F = F (x, z, p) ∈<br />
C 1 (R × R N × R N ) mit N ∈ N. Wir nennen F eine Lagrange-Funktion.<br />
Sei U ⊂ R × R N × R N eine offene Umgebung von G := {(x, u(x), u ′ (x)) : x ∈ I}. Diese<br />
Menge wird als 1-Graph der Funktion u bezeichnet. Es reicht oft, wenn F ∈ C 1 (U).<br />
Wenn nun F ∈ C 1 (U) und u ∈ C 1 (I, R N ), dann ist F(v) wohldefiniert für alle v mit<br />
‖u − v‖ C 1 (I,R N ) ≪ 1. Die Norm ‖v‖ C k (I,R N )<br />
ist dabei folgendermaßen definiert:<br />
‖v‖ C k (I,R N ) := ‖v‖ C 0 (I,R N ) + ‖v′ ‖ C 0 (I,R N ) + . . . + ‖v(k) ‖ C 0 (I,R N )<br />
und<br />
‖v‖ C 0 (I,R N )<br />
:= sup|v(x)|.<br />
x∈I<br />
Folglich ist auch F(u+εϕ) wohldefiniert für ϕ ∈ C 1 (I, R N ) und alle |ε| ≪ 1. Für |ε| ≤ ε 0 (ϕ)<br />
hat u + εϕ nämlich einen 1-Graphen, der vollständig in U liegt.<br />
Betrachten wir nun den Fall, dass u das Funktional F lokal minimiert, d.h.<br />
F(u) ≤ F(v) für alle v ∈ C 1 (I, R N ) mit ‖u − v‖ C 1 (I,R N ) ≪ 1.<br />
Dann ist auch F(u) ≤ F(u + εϕ) für gegebenes ϕ ∈ C 1 (I, R N ) und alle |ε| ≤ ε 0 ≪ 1.<br />
Definiert man nun die Funktion Φ : (−ε 0 , ε 0 ) → R durch<br />
Φ(ε) := F(u + εϕ),<br />
erhält man<br />
Φ(0) ≤ Φ(ε) für alle ε ∈ (−ε 0 , +ε 0 ).<br />
1
2 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Nun ist die Funktion Φ aber differenzierbar (siehe z.B. [3, Bd. II, S. 285]), wenn u, ϕ ∈<br />
C 1 (I, R N ), und es folgt<br />
0 = Φ ′ (0)<br />
= d (∫<br />
dε∣ ∫ ε=0<br />
=<br />
I<br />
I<br />
)<br />
F (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x)) dx<br />
(<br />
F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x)<br />
)<br />
dx.<br />
Definition 1.1 [erste (äußere) Variation]<br />
δF(u, ϕ) := Φ ′ (0) heißt die erste (äußere) Variation von F an der Stelle u in Richtung ϕ.<br />
Bemerkung:<br />
Auch wenn Φ ′ (0) unter schwächeren Voraussetzungen an F , u und ϕ existiert, nennen wir<br />
diesen Ausdruck zukünftig erste (äußere) Variation.<br />
Das Funktional δF(u, ·) : C 1 (I, R N ) → R ist linear und stetig, es genügt folgender<br />
Abschätzung:<br />
|δF(u, ϕ)| ≤ c(F, u)‖ϕ‖ C 1 (I,R N ) .<br />
Definition 1.2 [schwache Extremale]<br />
Sei F ∈ C 1 (I × R N × R N ). Eine Funktion u ∈ C 1 (I, R N ) mit<br />
∫ (<br />
)<br />
F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) dx = 0 (1.2)<br />
I<br />
für alle ϕ ∈ C ∞ 0 (I, RN ) heißt schwache C 1 -Extremale von F oder kurz: schwache F-<br />
Extremale. Hierbei bezeichnet C ∞ 0 (I, RN ) die Klasse der unendlich oft differenzierbaren<br />
Funktionen f : I → R N mit kompaktem Träger in I. Der Träger einer beliebigen Funktion<br />
f auf I ist gegeben durch<br />
supp f := {x ∈ I : f(x) ≠ 0}.<br />
Falls u ∈ C 1 (I, R N ) eine schwache Extremale ist, so gilt δF(u, ϕ) = 0 für alle ϕ ∈<br />
C ∞ 0 (I, RN ), und u heißt dann auch F-stationär.<br />
Statt C ∞ 0 (I, RN ) könnte man auch einfach C 1 0 (I, RN ) verlangen, vgl. Satz A.21 (ii).<br />
Proposition 1.3<br />
Sei F ∈ C 1 (I×R N ×R N ). Falls u ∈ C 1 (I, R N ) mit F(u) ≤ F(u+ϕ) für alle ϕ ∈ C0 ∞(I, RN )<br />
mit ‖ϕ‖ C 1 (I,R N )<br />
≪ 1 (d.h. u ist lokaler Minimierer von F), dann ist δF(u, ϕ) = 0 für alle<br />
ϕ ∈ C0 ∞(I, RN ), d.h. u ist schwache Extremale.<br />
Aber Vorsicht: Nicht jede schwache Extremale in C 1 (I, R N ) ist lokaler Minimierer; es<br />
könnten durchaus auch Sattelpunkte von Funktionalen auftreten, die weder lokale Minimierer<br />
noch Maximierer sind.<br />
Als Motivation für die nächsten Sätze berechnen wir für F ∈ C 2 (I × R N × R N ) und<br />
u ∈ C 2 (I, R N ):<br />
0 = δF(u, ϕ)<br />
∫<br />
= (F z (·, u, u ′ ) · ϕ + F p (·, u, u ′ ) · ϕ ′ ) dx<br />
I<br />
∫<br />
= (F z (·, u, u ′ ) − d<br />
dx F p(·, u, u ′ )) · ϕ dx<br />
I
1.1. ERSTE VARIATION, EXTREMALEN, MINIMIERER 3<br />
für alle ϕ ∈ C0 ∞(I, RN ). Dann folgt mit dem noch zu formulierenden Fundamentallemma,<br />
Lemma 1.4:<br />
F z (·, u, u ′ ) −<br />
d<br />
dx F p(·, u, u ′ ) = 0.<br />
Lemma 1.4 [Fundamentallemma]<br />
Sei f ∈ C 0 (I) und es gelte ∫<br />
f(x) η(x) dx = 0 (1.3)<br />
für alle η ∈ C ∞ 0<br />
(I). Dann ist f ≡ 0 auf I.<br />
I<br />
Beweis. Zu einem gegebenen Punkt x 0 ∈ I sei δ = δ(x 0 ) so klein gewählt, dass<br />
B 2δ (x 0 ) := [x 0 − 2δ, x 0 + 2δ] ⊂ I.<br />
Wir definieren die charakteristische Funktion<br />
{<br />
1 falls x ∈ [x 0 − δ, x 0 + δ]<br />
χ 0 (x) := χ [x0 −δ,x 0 +δ](x) :=<br />
0 falls x ∈ R \ [x 0 − δ, x 0 + δ]<br />
und nutzen den Satz, dass C ∞ 0 (I) für alle p ∈ [1, ∞) dicht in Lp (I) liegt, siehe Korollar<br />
A.22 im Anhang. Insbesondere gibt es wegen χ 0 ∈ L 1 (I) für jedes 0 < ε < δ eine Funktion<br />
χ ε 0 ∈ C∞ 0 (I) mit ‖χ 0 − χ ε 0 ‖ L 1 (I) ≤ ε und supp χ ε 0 ⊂ (x 0 − 2δ, x 0 + 2δ). Damit betrachten wir<br />
∫ x0 +δ<br />
x 0 −δ<br />
f(x) dx =<br />
=<br />
∫<br />
∫<br />
I<br />
I<br />
f(x)χ 0 (x) dx<br />
∫<br />
f(x)χ ε 0(x) dx +<br />
I<br />
(<br />
)<br />
f(x) χ 0 (x) − χ ε 0(x) dx.<br />
Das erste Integral auf der rechten Seite verschwindet nach Voraussetzung, und das zweite<br />
lässt sich folgendermaßen abschätzen:<br />
∫<br />
(<br />
)<br />
∫<br />
∣ f(x) χ 0 (x) − χ ε 0(x) dx<br />
∣ ≤ |f(x)||χ 0 (x) − χ ε 0(x)| dx<br />
I<br />
I<br />
≤ ε‖f‖ C 0 ([x 0 −2δ,x 0 +2δ])<br />
ε→0<br />
−−→ 0,<br />
wobei wir zuletzt benutzt haben, dass f ∈ C 0 ([x 0 − 2δ, x 0 + 2δ]).<br />
Es folgt also ∫ x 0 +δ<br />
x 0 −δ<br />
f(x) dx = 0 und damit<br />
∫ x0 +δ<br />
− f(x) dx := 1 ∫ x0 +δ<br />
f(x) dx = 0,<br />
x 0 −δ<br />
2δ x 0 −δ<br />
und für den Grenzwert δ → 0 ergibt der Mittelwertsatz der Integralrechnung f(x 0 ) = 0. Da<br />
aber x 0 beliebig in I gewählt war, gilt f(x) = 0 für alle x ∈ I.<br />
Lemma 1.5 [erweitertes Fundamentallemma]<br />
Sei f ∈ L 1 loc<br />
(I) mit ∫<br />
Dann ist f(x) = 0 für L 1 -fast alle x ∈ I.<br />
I<br />
f(x) η(x) dx = 0 ∀ η ∈ C ∞ 0 (I). (1.4)
4 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Beweis. Zu einem gegebenen Punkt x 0 ∈ I sei 0 < δ = δ(x 0 ) ≪ 1 so klein gewählt, dass<br />
B 3δ (x 0 ) := [x 0 − 3δ, x 0 + 3δ] ⊂ I.<br />
Dann definieren wir zu 0 < ε < δ die stückweise lineare Funktion η ε ∈ C0 0 (I) durch<br />
⎧<br />
⎪⎨ 1 falls x ∈ [x 0 − δ, x 0 + δ]<br />
η ε (x) := 0 falls x ∈ I \ (x 0 − δ − ε, x 0 + δ + ε)<br />
⎪⎩<br />
linear fortgesetzt sonst<br />
und bemerken, dass mit ε → 0<br />
η ε (x) → χ 0 (x) = χ [x0 −δ,x 0 +δ] für alle x ∈ I. (1.5)<br />
Nach Satz A.21 im Anhang gibt es nun für alle σ > 0 ein η σ ε ∈ C ∞ 0 (I) mit ‖η ε −η σ ε ‖ C 0 (I) < σ<br />
und<br />
supp η σ ε ⊂ B 3δ (x 0 ) = (x 0 − 3δ, x 0 + 3δ),<br />
und wir schreiben<br />
∫<br />
∫<br />
f(x)η ε (x) dx =<br />
I<br />
B 3δ (x 0 )<br />
∫<br />
f(x)η ε (x) dx =<br />
B 3δ (x 0 )<br />
∫<br />
f(x)[η ε (x) − ηε σ (x)] dx + f(x)ηε σ (x) dx.<br />
I<br />
Das zweite Integral auf der rechten Seite verschwindet nach Voraussetzung, und für das erste<br />
gilt<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
∣ f(x)[η ε (x)−ηε σ (x)] dx<br />
∣ ≤ ‖η ε−ηε σ ‖ C 0 (I)<br />
|f(x)| dx < σ |f(x)| dx σ→0 −→ 0.<br />
B 3δ (x 0 )<br />
B 3δ (x 0 )<br />
B 3δ (x 0 )<br />
Es ist also ∫ I f(x)η ε(x) dx = 0 für alle 0 < ε < δ, und im Grenzwert ε → 0 folgt mit (1.5)<br />
und dem Lebesgueschen Satz über dominierte Konvergenz<br />
0 = 1 2δ<br />
∫<br />
I<br />
f(x)η ε (x) dx<br />
Mit dem Grenzübergang δ → 0 folgt<br />
ε→0 −−→<br />
1 2δ<br />
∫<br />
I<br />
f(x 0 ) = 0,<br />
∫ x0 +δ<br />
f(x)χ 0 (x) dx = − f(x) dx.<br />
x 0 −δ<br />
falls x 0 ein Lebesgue-Punkt von f ist. Da L 1 -fast alle Punkte in I Lebesgue-Punkte von<br />
f sind, ist die Behauptung gezeigt, vgl. A.14.<br />
Proposition 1.6 [Euler-Lagrange-Gleichung]<br />
Sei u ∈ C 2 (I, R N ) eine schwache Extremale von F und F ∈ C 2 (R × R N × R N ). Dann gilt:<br />
d<br />
dx F p(x, u(x), u ′ (x)) − F z (x, u(x), u ′ (x)) = 0 für alle x ∈ I. (ELG)<br />
Gleichung (ELG) ist ein System von N<br />
Lagrange-Gleichungen bezeichnet.<br />
Gleichungen. Diese werden als Euler-
1.1. ERSTE VARIATION, EXTREMALEN, MINIMIERER 5<br />
Beweis. u ist eine schwache Extremale von F, es gilt also<br />
∫<br />
[F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x)] dx = 0 ∀ ϕ ∈ C0 ∞ (I, R N ),<br />
I<br />
und nach einer partiellen Integration<br />
∫ [<br />
− d<br />
]<br />
dx F p(x, u(x), u ′ (x)) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx = 0.<br />
I<br />
Wählt man nun ϕ = (0, . . . , 0, η, 0, . . . , 0), wobei η ∈ C0 ∞ (I) an der i-ten Stelle steht, so<br />
lässt sich das Fundamentallemma der <strong>Variationsrechnung</strong>, Lemma 1.4, anwenden, und es<br />
ergibt sich das System der Euler-Lagrange-Gleichungen<br />
− d<br />
dx F p i(x, u(x), u′ (x)) + F z i(x, u(x), u ′ (x)) = 0, i = 1, . . . , N.<br />
Es handelt sich bei den Euler-Lagrange-Gleichungen um ein System von quasilinearen<br />
gewöhnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnung.<br />
Beispiel 1.1<br />
Sei N = 1 und das Funktional F definiert durch<br />
∫ (<br />
)<br />
F(u) := u ′ 2 (x) + c(x) u 2 (x) dx.<br />
I<br />
In diesem Fall ist also F (x, z, p) = p 2 + c(x)z 2 mit F z (x, z, p) = 2c(x)z und F p (x, z, p) = 2p.<br />
Die zugehörige Euler-Lagrange-Gleichung lautet dann:<br />
d<br />
dx 2u′ (x) − 2c(x) u(x) = 0 ⇐⇒<br />
−u ′′ (x) + c(x) u(x) = 0, x ∈ I. (ELG 1.1 )<br />
Eine solche Gleichung ist eine Differentialgleichung vom Sturm-Liouville-Typ.<br />
Beispiel 1.2<br />
Wir betrachten für N = 3 das Funktional<br />
∫ ( m<br />
F(u) =<br />
2 |u′ (x)| 2 − V (u(x)))<br />
dx.<br />
I<br />
Dann ist F (x, z, p) = m 2 |p|2 − V (z) mit F z (x, z, p) = −V z (z) und F p (x, z, p) = mp. Die<br />
Euler-Lagrange-Gleichung lautet<br />
d<br />
dx mu′ (x) + V z (u(x)) = 0, x ∈ I. (ELG 1.2 )<br />
Nach Umbenennung der Variablen (x ↦→ t und u ↦→ x) erhält man<br />
mẍ(t) = −V x (x(t)), t ∈ I. (BWGl 1.2 )<br />
In dieser Formulierung entspricht F dem Wirkungsfunktional der Bewegung x = x(t), t ∈ I,<br />
einer Punktmasse m in einem konservativen Kraftfeld mit dem Potential V (x), und die<br />
Euler-Lagrange-Gleichung ist die Newtonsche Bewegungsgleichung.
6 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Beispiel 1.3<br />
Für N = 1 sei<br />
∫<br />
F(u) :=<br />
I<br />
√<br />
ω(x, u(x)) 1 + u ′2 (x) dx, ω > 0.<br />
Dies ist ein gewichtetes Längenfunktional in nicht-parametrischer Form. Entsprechende<br />
Funktionale in parametrischer Form und ihre geometrische und physikalische Bedeutung<br />
werden in Abschnitt 5.2 beschrieben. Hier ist F (x, z, p) = ω(x, z) √ 1 + p 2 mit F z (x, z, p) =<br />
ω z (x, z) √ 1 + p 2 p<br />
und F p (x, z, p) = ω(x, z) . Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet<br />
also:<br />
√<br />
1+p 2<br />
⎛<br />
⎞<br />
d<br />
u<br />
⎝ω(x, ′ √<br />
(x)<br />
u(x)) √ ⎠ − ω z (x, u(x)) 1 + u<br />
dx<br />
′2 (x) = 0.<br />
1 + u ′2 (x)<br />
Dies lässt sich weiter umformen zu<br />
⎛<br />
⎞<br />
0 =ω(x, u(x)) d ⎝<br />
u′ (x)<br />
√ ⎠ + (ω x (x, u(x)) + ω z (x, u(x))u ′ u ′ (x)<br />
(x)) √<br />
dx<br />
1 + u ′2 (x)<br />
1 + u ′2 (x)<br />
√<br />
− ω z (x, u(x)) 1 + u ′2 (x)<br />
⎛<br />
⎞<br />
⇒<br />
0 =ω(x, u(x)) d<br />
dx<br />
⎝<br />
u′ (x)<br />
√ ⎠<br />
1 + u ′2 (x)<br />
√<br />
1 + u ′2 (x) + (ω x (x, u(x)) + ω z (x, u(x))u ′ (x))u ′ (x)<br />
− ω z (x, u(x))(1 + u ′ 2 (x))<br />
⎛<br />
⎞<br />
=ω(x, u(x)) d<br />
√<br />
⎝<br />
u′ (x)<br />
√ ⎠ 1 + u<br />
dx<br />
′2 (x) + ω x (x, u(x))u ′ (x) − ω z (x, u(x)).<br />
1 + u ′2 (x)<br />
Wir behaupten nun, dass<br />
( )<br />
d u ′<br />
√<br />
dx 1 + u ′ 2<br />
= κ, (1.6)<br />
wobei κ die Krümmung des Graphen {(x, u(x)) : x ∈ I} ist. Dann ergibt sich unter der<br />
Voraussetzung ω > 0 für die Lösungen der Euler-Lagrange-Gleichung die Krümmungsgleichung<br />
κ(x) = ω z(x, u(x)) − ω x (x, u(x))u ′ (x)<br />
√<br />
. (ELG 1.3 )<br />
ω(x, u(x)) 1 + u ′2 (x)<br />
Tatsächlich ist für die Kurve γ(x) := (x, u(x)) die erste Ableitung γ ′ (x) = (1, u ′ (x)) und<br />
⎛<br />
⎞<br />
γ ′ (x)<br />
|γ ′ (x)| = T (x) = ⎝<br />
1<br />
√ ⎠ (1, u ′ (x))<br />
1 + u ′2 (x)<br />
die Einheitstangente an γ. Der Einheitsnormalenvektor von γ an der Stelle x ∈ I, der<br />
zusammen mit T (x) ein positiv orientiertes Orthonormalsystem im R 2 bildet, ist<br />
⎛<br />
N(x) = − ⎝√<br />
1<br />
⎞<br />
⎠ (u ′ (x), −1).<br />
1 + u ′2 (x)
1.1. ERSTE VARIATION, EXTREMALEN, MINIMIERER 7<br />
Nun ordnet s(x) := ∫ x<br />
a |γ′ (t)| dt jedem x ∈ [a, b] die Bogenlänge der Kurve γ| [a,x] zu. Wegen<br />
|γ ′ (x)| > 0 existiert s −1 : [0, Länge(γ)] → [a, b], und wir nennen Γ := γ ◦ s −1 die Bogenlängenparametrisierung<br />
mit |Γ ′ (s)| = 1. Benutzt man die Frenet-Gleichungen (siehe z.B. [24,<br />
Vol. I, S. 421ff]) oder [15, S. 16]<br />
⎜<br />
⎝<br />
T s = κN<br />
N s = −κT,<br />
dx<br />
wobei κ die Krümmung der Kurve γ bezeichnet, so erhält man T s = T<br />
√<br />
x ds<br />
ds<br />
wobei<br />
dx = |γ′ | = 1 + u ′2 . Also ist<br />
⎛ [<br />
] ⎞<br />
(<br />
√1 + u ′2 ) −1<br />
d<br />
dx<br />
(<br />
√ u′<br />
1+u ′2 )<br />
x<br />
⎟<br />
⎠ = T x =<br />
√<br />
√<br />
( −u<br />
1 + u ′2 T s = 1 + u ′2 ′<br />
κN = κ<br />
1<br />
= T x( ds<br />
dx )−1 ,<br />
Aus der zweiten Komponente dieser Vektorgleichung liest man die behauptete Identität (1.6)<br />
für die Krümmung κ ab.<br />
Proposition 1.7 [„Lokales Minimum erfüllt Euler-Lagrange-Gleichung“]<br />
Sei u ∈ C 2 (I, R N ) ∩ C 1 (I, R N ), F ∈ C 2 (R × R N × R N ), F(u) ≤ F(w) für alle w ∈<br />
C 1 (I, R N ) mit ‖u − w‖ C 1 (I,R N )<br />
≤ δ ≪ 1 und u = w auf ∂I. Dann erfüllt u die Euler-<br />
Lagrange-Gleichung (ELG).<br />
Beweis. Für alle ϕ ∈ C0 ∞(I, RN ) mit ‖ϕ‖ C 1 (I,R N )<br />
≤ δ gilt F(u) ≤ F(u + ϕ). Nach Proposition<br />
1.3 ist u dann eine schwache Extremale von F, und da u ∈ C 2 (I, R N ), erfüllt u wegen<br />
Proposition 1.6 die Euler-Lagrange-Gleichungen.<br />
Definition 1.8 [F-Extremale]<br />
Sei F ∈ C 2 (I ×R N ×R N ). Jede Lösung u ∈ C 2 (I, R N ) der Euler-Lagrange-Gleichungen<br />
(ELG) heißt F-Extremale.<br />
Bemerkung:<br />
Nicht jeder Minimierer ist in C 2 (I, R N ).<br />
Beispiel 1.4<br />
Sei N = 1 und I = (−1, +1). Wir betrachten die Klasse<br />
C := {v ∈ C 1 (I) : v(−1) = 0, v(+1) = 1}<br />
und stellen fest, dass die Werte der Funktionals<br />
F(u) :=<br />
∫ +1<br />
−1<br />
u 2 (x)(2x − u ′ (x)) 2 dx<br />
nichtnegativ sind. Daher ist auch inf C F(·) ≥ 0. Für die C 1 (I)-Funktion u ∗ , definiert durch<br />
{<br />
u ∗ 0 für x ∈ [−1, 0)<br />
(x) :=<br />
x 2 für x ∈ [0, 1],<br />
gilt u ∗ ∈ C und F(u ∗ ) = 0, und damit F(u ∗ ) = inf C F(·), doch u ∗ ∉ C 2 (I). Man kann<br />
zeigen, dass u ∗ der eindeutige Minimierer von F in C ist.<br />
)<br />
.
8 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Das Hauptziel des verbleibenden Teils dieses Abschnitts ist es nun, die Euler-<br />
Lagrange-Gleichungen (ELG) auch für Funktionen u ∈ C 1 (I, R N ) zu beweisen. Entscheidend<br />
ist dabei die<br />
Proposition 1.9 [DuBois-Reymond-Gleichung]<br />
Sei I = (a, b) ⊂ R, u ∈ C 1 (I, R N ) eine schwache F-Extremale und F ∈ C 1 (R × R N × R N ).<br />
Dann existiert für jedes d ∈ (a, b) ein Vektor c d ∈ R N , so dass<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = c d +<br />
∫ x<br />
d<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy ∀x ∈ I. (1.7)<br />
Gilt zusätzlich u ∈ C 1 (I, R N ), so gilt (1.7) mit a anstelle von d für alle x ∈ I mit einem<br />
Vektor c a ∈ R N anstelle von c d .<br />
Beweis. Nach Voraussetzung ist u eine schwache F-Extremale, also gilt für alle ϕ ∈<br />
C0 ∞(I, RN )<br />
∫<br />
[F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x)] dx = 0,<br />
I<br />
und nach einer partiellen Integration<br />
∫ [<br />
(∫ x<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) −<br />
I<br />
d<br />
)]<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy · ϕ ′ (x) dx = 0.<br />
Aufgrund des im Anschluss bewiesenen Fundamentallemmas 1.10 von DuBois-Reymond<br />
gibt es deshalb einen Vektor c d ∈ R N , so dass<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) −<br />
∫ x<br />
d<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy = c d für L 1 -fast alle x ∈ I,<br />
und wegen der Stetigkeit aller Ausdrücke als Funktion von x auf I gilt diese Identität dann<br />
auch für alle x ∈ I.<br />
Falls u ∈ C 1 (I, R N ), dann kann man anstelle von d die linke Intervallgrenze a wählen<br />
und dieselbe Argumentation wie oben verwenden. Dann erhält man (1.7) (mit a anstelle<br />
von d und einem Vektor c a anstelle von c d ) zunächst auf I, kann aber wegen der stetigen<br />
Fortsetzbarkeit aller auftretenden Ausdrücke diese Relation auf I fortsetzen.<br />
Lemma 1.10 [Fundamentallemma von DuBois-Reymond]<br />
Sei f ∈ L 1 loc<br />
(I) und erfülle die Gleichung<br />
∫<br />
f(x)η ′ (x) dx = 0 ∀η ∈ C0 ∞ (I). (1.8)<br />
I<br />
Dann existiert ein c 1 ∈ R, so dass f(x) = c 1 für L 1 -fast alle x ∈ I gilt.<br />
Beweis. Für zwei beliebige Lebesgue-Punkte x 0 , ξ 0 ∈ I, x 0 < ξ 0 , von f wählen wir δ > 0<br />
so klein, dass [x 0 − 3δ, ξ 0 + 3δ] ⊂ I. Dann definieren wir für 0 < ε < δ die Funktionen<br />
ζ ε ∈ C 0,1<br />
0 ((x 0 − δ, ξ 0 + δ)) durch<br />
⎧<br />
⎪⎨ 1 falls x ∈ [x 0 , ξ 0 ]<br />
ζ ε (x) := 0 falls x ∈ I \ [x 0 − ε, ξ 0 + ε]<br />
⎪⎩<br />
linear fortgesetzt sonst.
1.1. ERSTE VARIATION, EXTREMALEN, MINIMIERER 9<br />
Nun gibt es nach Satz A.21 im Anhang zu jedem 0 < σ < ε approximierende Funktionen<br />
ζ σ ε ∈ C ∞ 0 ((x 0 − 2δ, ξ 0 + 2δ)) mit<br />
‖ζ σ ε ‖ C 0,1 (I) = ‖ζσ ε ‖ C 0,1 ([x 0 −2δ,ξ 0 +2δ]) ≤ ‖ζ ε ‖ C 0,1 ([x 0 −3δ,ξ 0 +3δ]) = ‖ζ ε ‖ C 0,1 (I) ≤ 1 + 1 ε , (1.9)<br />
so dass darüberhinaus<br />
ζ σ ε ′ (x) → ζ ′ ε(x) für L 1 -fast alle x ∈ I, (1.10)<br />
siehe Anhang, Satz A.21 und Teil (ii) der Proposition 2.4. Wir schreiben<br />
∫<br />
∫<br />
∫ (<br />
)<br />
f(x)ζ ε(x) ′ dx = f(x)ζε σ′ (x) dx + f(x) ζ ε(x) ′ − ζε σ′ (x) dx,<br />
I<br />
I<br />
und bemerken, dass das erste Integral nach Voraussetzung verschwindet. Das zweite Integral<br />
konvergiert wegen (1.9) und (1.10) für σ → 0 gegen 0 nach dem Satz über dominierte<br />
Konvergenz von Lebesgue. Es ist also<br />
∫<br />
∫ x0<br />
0 = f(x)ζ ε(x) ′ dx = f(x) 1 ∫ ξ0 +ε<br />
ε dx − f(x) 1 dx ∀ε > 0,<br />
ξ 0<br />
ε<br />
I<br />
x 0 −ε<br />
und im Grenzwert ε → 0 folgt f(x 0 ) − f(ξ 0 ) = 0, also f(x 0 ) = f(ξ 0 ) =: c 1 . Da x 0 und ξ 0<br />
beliebig gewählte Lebesgue-Punkte sind, folgt die Behauptung.<br />
Korollar 1.11<br />
Jede schwache F-Extremale u ∈ C 1 (I, R N ) mit F ∈ C 1 (R × R N × R N ) erfüllt die Euler-<br />
Lagrange-Gleichung (ELG). Ist darüberhinaus u ∈ C 1 (I, R N ), dann gilt (ELG) für alle<br />
x ∈ I.<br />
Beweis. Seien x 0 , d ∈ I beliebig gewählt. Dann gilt die DuBois-Reymond-Gleichung (1.7)<br />
für alle x ∈ I mit einem konstanten Vektor c d ∈ R N . Für 0 < ε < min{x 0 − a, b − x 0 }<br />
ist die rechte Seite und damit auch die linke Seite von (1.7) in C 1 (B ε (x 0 ), R N ), und wir<br />
können nach x differenzieren, um die Euler-Lagrange-Gleichung (ELG) in B ε (x 0 ), also<br />
insbesondere in x 0 zu erhalten. Da x 0 ∈ I beliebig gewählt war, folgt die Behauptung. Ist<br />
u ∈ C 1 (I, R N ), dann gilt (1.7) mit einer Konstanten c a ∈ R N auf I. Weiterhin ist die rechte<br />
Seite dieser Gleichung dann in C 1 (I, R N ), womit das auch für die linke Seite gilt. Folglich<br />
gilt in diesem Fall (ELG) auf I.<br />
Bemerkung:<br />
Das Anwenden der Kettenregel auf die Euler-Lagrange-Gleichung ist hier im Allgemeinen<br />
nicht erlaubt, da weder u ∈ C 2 (I, R N ) noch F p ∈ C 1 vorausgesetzt war. Andererseits<br />
kann man die Gültigkeit der Euler-Lagrange-Gleichungen L 1 -fast überall auch für<br />
schwache F-Extremalen der Klasse C 0,1 (I, R N ) nachweisen.<br />
Proposition 1.12 [Natürliche Randbedingungen]<br />
Sei F ∈ C 1 (R × R N × R N ) und u ∈ C 1 (I, R N ) erfülle<br />
δF(u, ϕ) = 0 ∀ϕ ∈ C ∞ (I, R N ).<br />
Dann gelten die natürlichen Randbedingungen<br />
F p (a, u(a), u ′ (a)) = 0 = F p (b, u(b), u ′ (b)).<br />
I
10 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Beweis. Nach Korollar 1.11 löst u die Euler-Langrange-Gleichung<br />
− d<br />
dx F p(x, u(x), u ′ (x)) + F z (x, u(x), u ′ (x)) = 0 ∀x ∈ I. (1.11)<br />
Wir nutzen nun die stärkere Information, dass δF(u, ϕ) = 0 für alle ϕ aus dem „größeren“<br />
Raum C ∞ (I, R N ), was dazu führt, dass beim partiellen Integrieren Randterme auftreten:<br />
0 = δF(u, ϕ)<br />
∫ (<br />
)<br />
= F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx<br />
I<br />
∫ (<br />
= − d<br />
)<br />
I dx F p(x, u(x), u ′ (x)) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx<br />
+ F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) ∣ x=b<br />
x=a<br />
(1.11)<br />
= F p (x, u(x), u ′ ∣<br />
(x)) · ϕ(x)<br />
∣ x=b<br />
.<br />
x=a<br />
Zu einem beliebigen Vektor c ∈ R N wähle die Funktion<br />
ϕ c (x) := x − b c, x ∈ R.<br />
a − b<br />
Offensichtlich ist ϕ c ∈ C ∞ (I, R N ) mit ϕ c (a) = c und ϕ c (b) = 0, so dass<br />
F p (a, u(a), u ′ (a)) · c = 0<br />
folgt. Setzen wir c := F p (a, u(a), u ′ (a)), erhalten wir F p (a, u(a), u ′ (a)) = 0. Analog folgt<br />
F p (b, u(b), u ′ (b)) = 0.<br />
Bemerkung:<br />
Natürliche Randbedingungen stellen sich automatisch bei Lösungen von sogenannten freien<br />
Randwertproblemen ein, bei denen man beispielsweise lediglich vorschreibt, dass die Lösungen<br />
am Rand auf einer vorgegebenen Stützmannigfaltigkeit liegen. Insbesondere in der<br />
Theorie der Minimalflächen gibt es dazu zahlreiche interessante Untersuchungen, siehe z.B.<br />
[13, Vol. I, Chapter 5].<br />
Beispiel 1.5 [Freies Randwertproblem für das Dirichlet-Integral]<br />
Wir betrachten mit F (x, z, p) = F (p) = 1 2 |p|2 = 1 2 p · p für p ∈ RN , das Variationsproblem<br />
F(u) := 1 ∫<br />
|u ′ (x)| 2 dx −→ min! in der Klasse C 1 (I, R N ).<br />
2<br />
I<br />
Für einen Minimierer u ∈ C 1 (I, R N ) erhält man aus den DuBois-Reymond-Gleichungen,<br />
Proposition 1.9, u ′ ≡ konst. auf I und damit 1 u(x) = αx + β für alle x ∈ I. Da für den<br />
Minimierer u die Ungleichung F(u) ≤ F(u + εϕ) für alle ϕ ∈ C 1 (I, R N ) gilt, folgen mit<br />
δF(u, ϕ) = 0 für alle ϕ ∈ C 1 (I, R N ) nach Proposition 1.12 die natürlichen Randbedingungen<br />
u ′ (a) = F p (a, u(a), u ′ (a)) = 0 = F p (b, u(b), u ′ (b)) = u ′ (b),<br />
1 Dies würde man auch bekommen, wenn man nur wüsste, dass u ∈ C 1 (I, R N ) eine schwache F-Extremale<br />
ist, da sich u ′ als konstanter Vektor stetig auf I fortsetzen lässt.
1.2. INNERE VARIATION, ERHALTUNGSSÄTZE 11<br />
so dass die Lösung u ≡ konst. lautet. Damit bildet im Fall N = 1 der Graph der minimierenden<br />
Funktion u an seinen Endpunkten mit den Wänden {(a, z) : z ∈ R} und {(b, z) : z ∈ R}<br />
einen rechten Winkel. Bei höherdimensionalen freien Randwertproblemen aus der Kapillaritätstheorie<br />
[20] bilden sich sogenannte Kontaktwinkel, die je nach Wahl der Energiedichte,<br />
also nach Wahl des Integranden des Variationsproblems, verschieden von π/2 sein können.<br />
Bei Minimalflächen ist ein Randwinkel von π/2 an den freien Rändern charakteristisch, was<br />
man in der Natur bei in Hohlkörpern eingespannten Seifenhäuten beobachten kann, siehe<br />
[10], [13].<br />
1.2 Innere Variation, Erhaltungssätze<br />
Proposition 1.13 [Erhaltungssatz]<br />
Sei F = F (z, p) ∈ C 2 (R N × R N ), φ := p · F p − F , und u ∈ C 2 (I, R N ) sei eine Lösung der<br />
Euler-Lagrange-Gleichung (ELG). Dann gilt<br />
φ(u(·), u ′ (·)) ≡ konst. auf I. (1.12)<br />
Beweis.<br />
d<br />
(<br />
)<br />
φ(u(x), u ′ (x))<br />
dx<br />
= u ′′ (x) · F p (u(x), u ′ (x)) + u ′ d<br />
(<br />
)<br />
(x) · F p (u(x), u ′ (x))<br />
dx<br />
− F z (u(x), u ′ (x)) · u ′ (x) − F p (u(x), u ′ (x)) · u ′′ (x)<br />
= u ′ d<br />
(<br />
)<br />
(x) · F p (u(x), u ′ (x)) − F z (u(x), u ′ (x)) · u ′ (x)<br />
dx<br />
= 0.<br />
Beispiel 1.6 [Energieerhaltung in der klassischen Punktmechanik]<br />
Für<br />
F (z, p) := m 2 |p|2 − V (z), z, p ∈ R 3 ,<br />
erhält man<br />
φ(z, p) = p · F p (z, p) − F (z, p)<br />
= p · mp − m 2 |p|2 + V (z)<br />
= m 2 |p|2 + V (z).<br />
Mit der Variablenumbenennung E(z, p) := φ(z, p) (Gesamtenergie), x ↦→ t (Zeit), z ↦→ x =<br />
x(t) (Bahnkurve) ergibt sich<br />
E(x, ẋ) = m 2 ẋ2 + V (x),<br />
und mit Proposition 1.13 erhält man den Energieerhaltungssatz<br />
E(x(t), ẋ(t)) ≡ konst.<br />
für alle Lösungen x = x(t) der Newtonschen Bewegungsgleichung<br />
mẍ = −V x (x), (BWGl 1.6 )<br />
welche die Euler-Lagrange-Gleichung des zu F gehörigen Variationsintegrals ist.
12 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Bemerkung:<br />
Umgekehrt müssen aber nicht alle u, die dem Erhaltungssatz genügen, auch Lösungen der<br />
Euler-Lagrange-Gleichung sein, wie das folgende Beispiel zeigt.<br />
Beispiel 1.7<br />
Sei u(·) ≡ konst. =: c auf dem offenen Intervall I ⊂ R und F = F (z, p) ∈ C 2 (R N × R N )<br />
mit F (c, 0) = −h ∈ R und F z (c, 0) ≠ 0. Dann ist<br />
d<br />
dx φ(u(x), u′ (x)) = d [<br />
]<br />
u ′ (x) · F p (u(x), u ′ (x)) − F (u(x), u ′ (x)) = − d F (c, 0) = 0,<br />
dx<br />
dx<br />
und es folgt φ(u(·), u ′ (·)) ≡ konst. auf I, woraus<br />
φ(u(x), u ′ (x)) = φ(c, 0) = h<br />
folgt. Es ist aber<br />
d<br />
dx [F p(c, 0)] − F z (c, 0) = −F z (c, 0) ≠ 0,<br />
also ist u keine Lösung der Euler-Lagrange-Gleichung.<br />
Bis zu diesem Punkt geschah die Variation durch eine Störung der Funktionswerte u und<br />
u ′ um ϕ beziehungsweise ϕ ′ , und das Funktional F wurde an der Stelle u + εϕ betrachtet.<br />
Stattdessen kann eine Störung auch als Hintereinanderschaltung eines Diffeomorphismus<br />
ξ(·, ε) und des Minimierers u definiert werden, v := u ◦ ξ(·, ε), wobei ε eine ganze Familie<br />
von Diffeomorphismen mit (t, ε) ↦→ ξ(t, ε) ∈ C 2 (I × (−ε 0 , +ε 0 )) von I auf I parametrisiert,<br />
an die die folgenden Forderungen gestellt werden:<br />
und die Umkehrfunktionen<br />
ξ(a, ε) = a ∀ε ∈ (−ε 0 , +ε 0 ),<br />
ξ(b, ε) = b ∀ε ∈ (−ε 0 , +ε 0 ),<br />
ξ(t, 0) = t ∀t ∈ I,<br />
τ(·, ε) = (ξ(·, ε)) −1 : I → I<br />
sollen genügend glatt sein: Die Zuordnung (x, ε) ↦→ τ(x, ε) soll von der Klasse C 2 (I ×<br />
(−ε 0 , ε 0 )) sein.<br />
u<br />
I<br />
ξ(·, ε)<br />
I<br />
v := u ◦ ξ(·, ε)<br />
Abbildung 1.1: Zulässige Parametervariation.
1.2. INNERE VARIATION, ERHALTUNGSSÄTZE 13<br />
Definition 1.14<br />
{ξ(·, ε)} ε mit diesen Eigenschaften heißt zulässige Parametervariation 2 . Die Funktionenschar<br />
v(t, ε) := u(ξ(t, ε)) heißt zulässige innere Variation.<br />
Bemerkung:<br />
Es gilt<br />
v(a, ε) = u(ξ(a, ε)) = u(a) ,<br />
v(b, ε) = u(ξ(b, ε)) = u(b) ,<br />
v(t, 0) = u(ξ(t, 0)) = u(t) .<br />
Für das Folgende definieren wir noch die Funktionen<br />
λ(t) := ∂ξ (t, 0)<br />
∂ε (Variationsvektorfeld)<br />
Ψ(ε) := F(v(·, ε))<br />
= F (u(ξ(·, ε)))<br />
∫<br />
= F (t, v(t, ε), v t (t, ε)) dt,<br />
I<br />
und lassen uns von der Idee leiten, dass im Fall F(u) ≤ F(v(·, ε)) für alle ε ∈ (−ε 0 , ε 0 ) und<br />
Ψ ∈ C 1 ((−ε 0 , ε 0 )) die Ableitung von Ψ an der Stelle Null verschwinden wird: Ψ ′ (0) = 0.<br />
Definition 1.15 [Erste innere Variation]<br />
∂F(u, λ) := Ψ ′ (0) heißt die erste innere Variation von F an der Stelle u in Richtung des<br />
Variationsvektorfeldes λ.<br />
Bemerkung:<br />
Auch wenn Ψ ′ (0) unter schwächeren Voraussetzungen an F , u und λ existiert, nennen wir<br />
diesen Ausdruck zukünftig erste innere Variation.<br />
Proposition 1.16 [Innere Variation von F]<br />
Sei F ∈ C 1 (R × R N × R N ), u ∈ C 1 (I, R N ) und λ = ∂ξ<br />
∂ε<br />
(·, 0) das Variationsvektorfeld einer<br />
zulässigen Parametervariation {ξ(·, ε)} ε . Dann gilt:<br />
∫<br />
∂F(u, λ) =<br />
[ [u ′ (x) · F p (x, u(x), u ′ (x)) − F (x, u(x), u ′ (x)) ] λ ′ (x)<br />
I<br />
]<br />
−F x (x, u(x), u ′ (x))λ(x) dx. (1.13)<br />
Beweis. Sei τ(·, ε) die Umkehrfunktion zu ξ(·, ε), d.h. t = τ(ξ(t, ε), ε) für alle t ∈ I und alle<br />
ε ∈ (−ε 0 , ε 0 ). Partielles Ableiten nach t beziehungsweise nach ε führt dann auf<br />
1 = τ x (ξ(t, ε), ε)ξ t (t, ε)<br />
Aus ξ(t, 0) = t folgt τ(x, 0) = x und damit<br />
0 = τ x (ξ(t, ε), ε)ξ ε (t, ε) + τ ε (ξ(t, ε), ε). (1.14)<br />
τ x (x, 0) = 1,<br />
2 Man beachte, dass die Forderungen an die Erhaltung der Randwerte impliziert, dass es sich automatisch<br />
um eine Schar orientierungserhaltender Diffeomorphismen handelt.
14 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
und (1.14) schreibt sich für ε = 0<br />
0 = τ x (t, 0) ξ<br />
} {{ } ε (t, 0) +τ<br />
} {{ } ε (t, 0) für alle t ∈ I ⇒ τ ε (x, 0) = −λ(x) für alle x ∈ I. (1.15)<br />
=1 =λ(t)<br />
Mit ξ ∈ C 2 folgt τ ∈ C 2 und damit aus der letzten Identität<br />
Es ist<br />
τ xε (x, 0) = τ εx (x, 0) = −λ ′ (x).<br />
∫<br />
Ψ(ε) =<br />
I<br />
F (t, v(t, ε), v t (t, ε)) dt,<br />
und mit der Substitution t = τ(x, ε) = τ(ξ(t, ε), ε) folgt nach dem Transformationssatz<br />
∫ (<br />
)<br />
Ψ(ε) = F τ(x, ε), u(x), u ′ 1<br />
(x) τ x (x, ε) dx,<br />
τ x (x, ε)<br />
also<br />
∫<br />
Ψ ′ (0) =<br />
I<br />
+<br />
∫<br />
=<br />
I<br />
I<br />
[<br />
(<br />
F x (x, u(x), u ′ (x))τ ε (x, 0) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · u ′ (x) − τ )]<br />
xε(x, 0)<br />
τx(x, 2 τ x (x, 0) dx<br />
0)<br />
∫<br />
F (x, u(x), u ′ (x))τ xε (x, 0) dx<br />
I<br />
( [Fp<br />
(x, u(x), u ′ (x)) · u ′ (x) − F (x, u(x), u ′ (x)) ] λ ′ (x) − F x (x, u(x), u ′ (x))λ(x))<br />
dx.<br />
Proposition 1.17<br />
Sei F ∈ C 1 (R × R N × R N ). Falls für u ∈ C 1 (I, R N ) die Ungleichung F(u) ≤ F(u(ξ(·, ε)))<br />
für alle zulässigen Parametervariationen ξ(·, ε) gilt, dann ist<br />
∫ ( (u′ ∂F(u, λ) = · F p (·, u, u ′ ) − F (·, u, u ′ ) ) λ ′ − F x (·, u, u )λ)<br />
′ dx = 0 ∀ λ ∈ C0 ∞ (I).<br />
I<br />
Beweis. Für ein beliebiges λ ∈ C0 ∞(I) sei τ(x, ε) := x − ελ(x), wobei |ε| < ε 0(λ) ≪ 1.<br />
Dann ist {ξ(., ε)} ε := {(τ(., ε)) −1 } ε eine zulässige Parametervariation mit λ als Variationsvektorfeld.<br />
Tatsächlich ist τ(., ε) eine bijektive Abbildung für ε hinreichend klein und<br />
damit global umkehrbar auf Ī. Die Differenzierbarkeit der eindeutigen Umkehrabbildung<br />
ξ(., ε) := (τ(., ε)) −1 folgt dann aus dem Umkehrsatz (siehe z.B. [3, Bd. II, S. 162], wenn<br />
man τ ∈ C ∞ (I × (−ε 0 , ε 0 )) mit τ x (x, ε) = 1 − ελ ′ (x) ≠ 0 für alle ε ≪ 1 berücksichtigt.<br />
Tatsächlich ist wegen supp λ ⊂ I<br />
τ(a, ε) = a , τ(b, ε) = b ⇒ ξ(a, ε) = ξ(τ(a, ε), ε) = a , ξ(b, ε) = b,<br />
τ(x, 0) = x, ⇒ τ x (x, 0) = 1 und ξ(t, 0) = t,<br />
womit die Schar {ξ(., ε)} ε nach Definition 1.14 eine zulässige Parametervariation ist, sobald<br />
man sich davon überzeugt hat, dass ξ(·, ·) ∈ C 2 (I × (−ε 0 , ε 0 )). Dazu fassen wir τ als<br />
Abbildung<br />
τ(·, ·) : R × (−ε 0 , ε 0 ) → R × (−ε 0 , ε 0 )
1.2. INNERE VARIATION, ERHALTUNGSSÄTZE 15<br />
auf, was möglich ist, indem man λ ∈ C0 ∞<br />
die C ∞ -glatte Abbildung<br />
(I) durch Null auf ganz R fortsetzt. Dann gilt für<br />
T : R × (−ε 0 , ε 0 ) → R × (−ε 0 , ε 0 )<br />
definiert durch T (x, ε) := (τ(x, ε), ε), dass det DT (x, ε) = 1 − ελ ′ (x) > 0 für alle<br />
|ε| < 1/‖λ‖ C 1 (R), so dass für alle (x 1 , ε 1 ) ∈ R×(−ε 0 , ε 0 ) die (eindeutig bestimmte) Umkehrabbildung<br />
S = T −1 auf einer offenen Umgebung von (τ(x 1 , ε 1 ), ε 1 ) existiert. Das bedeutet<br />
S(T (x, ε)) = (x, ε) für alle (x, ε) ∈ B δ (x 1 , ε 1 ) ⊂ R × (−ε 0 , ε 0 )<br />
und S ∈ C ∞ (B δ (x 1 , ε 1 ), R × R). Insbesondere gilt für die erste Komponente<br />
S 1 (T (x, ε)) = S 1 (τ(x, ε), ε) = x für alle |ε − ε 1 | ≪ 1.<br />
Wegen der Eindeutigkeit der Umkehrabbildung ist aber S 1 (t, ε) = ξ(t, ε) für alle (t, ε) ∈<br />
I × (−ε 0 , ε 0 ) mit |t − τ(x 1 , ε 1 )| + |ε − ε 1 | ≪ 1, so dass ξ ∈ C ∞ (B σ (τ(x 1 , ε 1 ), ε 1 )) für<br />
0 < σ ≪ 1. Da (x 1 , ε 1 ) beliebig in R × (−ε 0 , ε 0 ) gewählt waren, also speziell beliebig in<br />
I × (−ε 0 , ε 0 ), folgt ξ ∈ C ∞ (I × (−ε 0 , ε 0 )) wie gewünscht.<br />
Damit sind wir in der Situation von Proposition 1.16 und können zunächst mit (1.15)<br />
schließen, dass λ tatsächlich das zu {ξ(., ε)} ε gehörige Variationsfeld ist. Mit<br />
Ψ(0) = F(u) ≤ F(u(ξ(., ε))) = Ψ(ε)<br />
folgt 0 = Ψ ′ (0) = ∂F(u, λ). Mit Gleichung (1.13) und der Tatsache, dass λ ∈ C0 ∞<br />
gewählt war, folgt die Behauptung.<br />
(I) beliebig<br />
Proposition 1.18 [Erdmann- und Noether-Gleichung]<br />
Seien F ∈ C 1 (R × R N × R N ) und u ∈ C 1 (I, R N ). Falls ∂ ∂ε | ε=0F(u(ξ(·, ε))) = 0 für alle<br />
zulässigen Parametervariationen ξ, dann existiert für jede Zahl d ∈ (a, b) = I eine Konstante<br />
c d ∈ R, so dass<br />
φ(x, u(x), u ′ (x)) = c d −<br />
∫ x<br />
d<br />
F x (y, u(y), u ′ (y)) dy für alle x ∈ I (Erdmann-Gleichung),<br />
wobei φ(x, z, p) := p · F p (x, z, p) − F (x, z, p). Weiterhin gilt<br />
(1.16)<br />
d<br />
(<br />
)<br />
φ(x, u(x), u ′ (x)) + F x (x, u(x), u ′ (x)) = 0 für alle x ∈ I (Noether-Gleichung).<br />
dx<br />
(1.17)<br />
Falls zusätzlich u ∈ C 1 (I, R N ), dann gelten die Gleichungen (1.16) (mit a anstelle von d<br />
und einer Konstanten c a ∈ R anstelle von c d ) und (1.17) für alle x ∈ I.<br />
Bemerkung:<br />
Im Spezialfall F = F (z, p) ∈ C 2 (R N × R N ) und u ∈ C 2 (I, R N ) folgt (1.16) direkt aus<br />
Gleichung (1.12) in Proposition 1.13.<br />
Beweis. Sei λ ∈ C ∞ 0 (I), dann gibt es ein offenes Intervall I 0 ⊂⊂ I, so dass supp λ ⊂ I 0 . Für<br />
τ(x, ε) := x − ελ(x), |ε| ≪ 1 ist die Schar {ξ(., ε)} ε := {(τ(., ε)) −1 } ε – wie im Beweis von
16 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Proposition 1.17 gezeigt – eine zulässige Parametervariation mit λ als Variationsvektorfeld,<br />
und die Anwendung von Proposition 1.16 auf u ∈ C 1 (I, R N ) ⊂ C 1 (I 0 , R N ) führt auf<br />
∫ ( (u′ ∂F(u, λ) = · F p (·, u, u ′ ) − F (·, u, u ′ ) ) )<br />
λ ′ − F x (·, u, u ′ )λ dx<br />
I<br />
∫ 0<br />
( (u′ = · F p (·, u, u ′ ) − F (·, u, u ′ ) ) λ ′ − F x (·, u, u )λ)<br />
′ dx<br />
I<br />
= 0.<br />
Nach einer partiellen Integration ergibt sich<br />
∫ (<br />
u ′ (x) · F p (x, u(x), u ′ (x)) − F (x, u(x), u ′ (x)) +<br />
I<br />
∫ x<br />
d<br />
)<br />
F x (y, u(y), u ′ (y)) dy λ ′ (x) dx = 0.<br />
Nach dem Fundamentallemma von DuBois-Reymond, Lemma 1.10, gibt es ein c d ∈ R, so<br />
dass<br />
u ′ (x) · F p (x, u(x), u ′ (x)) − F (x, u(x), u ′ (x)) +<br />
∫ x<br />
d<br />
F x (y, u(y), u ′ (y)) dy = c d ∀ x ∈ I,<br />
womit (1.16) bewiesen ist.<br />
Für x 0 ∈ I wähle nun δ > 0, so dass B δ (x 0 ) ⊂ I. Dann ist die Funktion<br />
f(x) :=<br />
∫ x<br />
d<br />
F x (y, u(y), u ′ (y)) dy, x ∈ B δ (x 0 ),<br />
in der Klasse C 1 (B δ (x 0 )), und wir können die Erdmann-Gleichung (1.16) in B δ (x 0 ) differenzieren<br />
und erhalten so die Noether-Gleichung (1.17) für alle x ∈ B δ (x 0 ), speziell also<br />
in x 0 selbst. Da x 0 ∈ I beliebig gewählt war, folgt die Behauptung. Falls u ∈ C 1 (I, R N ),<br />
dann sind alle Ausdrücke in (1.16) und (1.17) stetig auf I fortsetzbar.<br />
Beispiel 1.8<br />
Die Funktion H = H(z, p) ∈ C 1 (R N × R N ) sei positiv 2-homogen in p, d.h. H(z, tp) =<br />
t 2 H(z, p) für alle t > 0. Durch Differentiation nach t folgt<br />
H p (z, tp) · p = 2tH(z, p) ∀t > 0<br />
⇒ H p (z, p) · p = 2H(z, p)<br />
⇒<br />
φ := p · H p − H = H<br />
(1.17)<br />
⇒ H(u(.), u ′ (.)) = konst. auf I ∀u ∈ C 1 (I, R N ) mit ∂H(u, λ) = 0 ∀λ ∈ C ∞ 0 (I),<br />
wobei<br />
∫<br />
H(u) :=<br />
I<br />
H(u(x), u ′ (x)) dx.<br />
Sei nun speziell H(z, p) > 0 für |p| ̸= 0 und außerdem u(a) ≠ u(b). Dann existiert ein<br />
ξ ∈ (a, b) mit u ′ (ξ) ≠ 0, und es folgt<br />
0 < H(u(ξ), u ′ (ξ)) = H(u(x), u ′ (x))<br />
⇒ u ′ (x) ≠ 0 ∀x ∈ I,
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 17<br />
denn<br />
H(z, 0) = lim<br />
t↘0<br />
H(z, tp) = lim<br />
t↘0<br />
t 2 H(z, p) = 0<br />
wegen der Homogenität. Damit ist u ∈ C 1 (I, R 3 ) eine reguläre Kurve. Schwache Extremalen<br />
bezüglich innerer Variationen für Variationsintegrale mit derart homogenen Integranden<br />
sind also automatisch regulär parametrisiert. Diese Beobachtung lässt sich beispielsweise bei<br />
der Regularitätstheorie für Hindernisprobleme solcher Variationsintegrale ausnutzen. Tatsächlich<br />
kann man a priori mitunter nicht feststellen, ob und wo die Lösung das Hindernis<br />
berührt. Abhängig von der jeweiligen Berührsituation kann es schwierig oder gar unmöglich<br />
sein, zulässige äußere Variationen u + εϕ zu finden. Innere Variationen hingegen führen zu<br />
keiner Änderung im Bildbereich der Lösung, so dass solche Variationen eine Hindernisbedingung<br />
automatisch respektieren und damit zulässig sind, siehe auch Kapitel 5, Abschnitt<br />
5.2. Für ähnliche Schlüsse bei Variationsproblemen für parametrische Flächen siehe z.B.<br />
[31], [32], [33]; dort liefert das Verschwinden der ersten inneren Variation des Funktionals<br />
die konforme Parametrisierung der Lösungen.<br />
1.3 Variationsprobleme mit Nebenbedingungen<br />
In diesem Abschnitt werden Variationsprobleme der Art<br />
∫<br />
F(v) := F (x, v(x), v ′ (x)) dx −→ min!<br />
in bestimmten Funktionenklassen vom Typ<br />
I<br />
C := {v ∈ C 1 (I, R N ) : Randdaten für v auf ∂I, Nebenbedingungen für v}<br />
betrachtet. Hierbei gibt es unterschiedliche Arten von Nebenbedingungen, von denen wir<br />
einige im Folgenden nennen, und nur die erste Art dieser Nebenbedingungen soll hier anschließend<br />
näher betrachtet werden.<br />
1. Isoperimetrische Nebenbedingungen<br />
∫<br />
G(v) := G(x, v(x), v ′ (x)) dx = ! ω , ω ∈ R.<br />
I<br />
Beispiel: Betrachte für N = 1 das Variationsintegral<br />
∫ (<br />
)<br />
F(v) := v ′ 2 (x) + c(x)v 2 (x) dx −→ min!<br />
I<br />
in der Klasse<br />
C(α, β, ω) := {v ∈ C 1 (I) : v(a) = α, v(b) = β,<br />
∫<br />
I<br />
v 2 (x) dx = ω}<br />
für gegebene Randwerte α, β ∈ R, was auf Eigenwertprobleme für einen speziellen Sturm-<br />
Liouville-Operator führt, vgl. Beispiel 1.1.
18 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
2. Holonome Nebenbedingungen<br />
G(x, v(x)) = 0 ∀x ∈ I.<br />
Beispiel: Zu untersuchen ist für N = 3<br />
∫<br />
F(v) := |v ′ (x)| 2 dx −→ min!<br />
in der Klasse<br />
I<br />
C(P 1 , P 2 ) := {v ∈ C 1 (I, R 3 ) : v(a) = P 1 , v(b) = P 2 , |v(x)| 2 = 1 ∀x ∈ I}.<br />
Man minimiert also die Länge von Kurven auf der Einheitssphäre S 2 mit fixierten Endpunkten<br />
P 1 , P 2 ∈ S 2 . Im Gegensatz zu dem gewichteten Längenfunktional in Beispiel 1.3<br />
für Graphen im R 2 betrachten wir hier das ungewichtete parametrische Längenfunktional<br />
(mit Gewicht ω(x, z) ≡ 1).<br />
3. Nichtholonome Nebenbedingungen<br />
G(x, v(x), v ′ (x)) = 0 ∀x ∈ I.<br />
Beispiel: Gegeben sei das Minimierungsproblem<br />
∫<br />
F(v) := v 3 (x) dx −→ min!<br />
in der Klasse<br />
I<br />
˜C(P 1 , P 2 ) := {v ∈ C 1 (I, R 3 ) : v(a) = P 1 , v(b) = P 2 , |v(x)| 2 = 1, |v ′ (x)| = 1 für alle x ∈ I}.<br />
Dieses Variationsproblem stellt ein einfaches Modell für einen nicht dehnbaren Faden mit<br />
Gewicht auf der Einheitssphäre S 2 mit Endpunkten P 1 , P 2 ∈ S 2 dar.<br />
4. Ungleichungsnebenbedingungen<br />
G(x, v(x), v ′ (x)) ≥ 0 ∀x ∈ I.<br />
Beispiel: Sei I = (a, b) mit −∞ < a ≤ −1 < 1 ≤ b < ∞. Man betrachtet<br />
∫ √<br />
F(v) := 1 + v ′2 (x) dx −→ min!<br />
in der Klasse<br />
I<br />
C(h) := {v ∈ C 1 (I) : v(a) = 0, v(b) = 0, v(x) ≥ h(x) := 1 − |x|}.<br />
Dies entspricht dem in Abbildung 1.2 dargestellten Hindernisproblem.<br />
Dieses Beispiel macht insbesondere deutlich, welche Schwierigkeiten mit der Wahl der betrachteten<br />
Klasse zusammenhängen: So ist etwa für a = −1, b = 1 die kürzeste Verbindung<br />
der beiden Punkte, die der Ungleichung genügt, nämlich die Funktion u(x) = 1−|x| = h(x),<br />
keine C 1 -Funktion.
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 19<br />
1<br />
a<br />
b<br />
Abbildung 1.2: v(x) soll für alle v ∈ C(h) größer oder gleich als h(x) = 1 − |x| sein.<br />
Für isoperimetrische Nebenbedingungen ergibt sich die für die klassische <strong>Variationsrechnung</strong><br />
zentrale<br />
Proposition 1.19 [Lagrange-Multiplikator-Regel]<br />
Seien F, G ∈ C 1 (R × R N × R N ), α, β ∈ R N , ω ∈ R und δ > 0. Es gelte für u ∈ C(α, β, ω)<br />
F(u) ≤ F(v) für alle v ∈ C(α, β, ω) mit ‖u − v‖ C 1 (Ī,RN ) < δ,<br />
wobei<br />
∫<br />
C(α, β, ω) := {v ∈ C 1 (I, R N ) : v(a) = α, v(b) = β, G(v) :=<br />
I<br />
G(x, v(x), v ′ (x)) dx = ω}.<br />
Weiterhin existiere ein ˜ψ ∈ C ∞ 0 (I, RN ), so dass δG(u, ˜ψ) ≠ 0. Dann gibt es ein λ ∈ R, so<br />
dass u eine schwache Extremale von F + λG ist, d.h.<br />
und es gilt<br />
δF(u, ϕ) + λδG(u, ϕ) = 0 ∀ϕ ∈ C ∞ 0 (I, R N ), (1.18)<br />
d [<br />
Fp (·, u, u ′ ) + λG p (·, u, u ′ ) ] − [ F z (·, u, u ′ ) + λG z (·, u, u ′ ) ] = 0 auf I. (1.19)<br />
dx<br />
˜ψ<br />
Beweis. Wir definieren ψ := , so dass δG(u, ψ) = 1 wegen der Linearität des Funktionals<br />
δG(u, .). Desweiteren setzen wir für eine gegebene Funktion ϕ ∈ C0 ∞(I, RN<br />
δG(u, ˜ψ)<br />
)<br />
für ε ∈ (−ε 0 , ε 0 ) und t ∈ (−t 0 , t 0 ), wobei<br />
0 < ε 0 = ε 0 (ϕ) :=<br />
Φ(ε, t) := F(u + εϕ + tψ),<br />
Γ(ε, t) := G(u + εϕ + tψ)<br />
δ<br />
2‖ϕ‖ C 1 (I,R N ) + 1, 0 < t 0 = t 0 (ψ) :=<br />
δ<br />
.<br />
2‖ψ‖ C 1 (I,R N )<br />
Dann gilt Γ(0, 0) = ω und Γ t (0, 0) = δG(u, ψ) = 1. Um Γ nur noch als Funktion von<br />
ε auffassen zu können, verwenden wir den Satz über implizite Funktionen: Danach gibt es
20 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
u + εϕ<br />
u + tψ<br />
u<br />
Abbildung 1.3: u wird durch ϕ und ψ gestört.<br />
ε 1 ∈ (0, ε 0 ], so dass eine Funktion τ = τ(ε) ∈ C 1 ((−ε 1 , +ε 1 )) mit τ(0) = 0 existiert, so dass<br />
Γ(ε, τ(ε)) = ω für alle ε ∈ (−ε 1 , +ε 1 ). Einerseits folgt daraus durch Differentiation nach ε<br />
Γ ε (0, 0) + Γ t (0, 0) τ<br />
} {{ } ε (0) = 0 , also τ ε (0) = −Γ ε (0, 0) = −δG(u, ϕ).<br />
=1<br />
Andererseits gilt deswegen<br />
u + εϕ + τ(ε)ψ ∈ C(α, β, ω) für alle ε ∈ (−ε 1 , ε 1 ).<br />
Wegen der Stetigkeit von τ findet man ε 2 ∈ (0, ε 1 ], so dass darüberhinaus<br />
‖u + εϕ + τ(ε)ψ − u‖ C 1 (I,R N ) < δ für alle ε ∈ (−ε 2, ε 2 ).<br />
Wegen der Minimaleigenschaft von u gilt deshalb nun Φ(0, 0) ≤ Φ(ε, τ(ε)) für alle ε ∈<br />
(−ε 2 , ε 2 ), und damit<br />
0 = d ∣ Φ(ε, τ(ε)) = Φ ε (0, 0) + Φ t (0, 0)τ ε (0)<br />
dε ε=0<br />
= δF(u, ϕ) + δF(u, ψ) (−δG(u, ϕ)),<br />
womit die Behauptung für λ := −δF(u, ψ) bewiesen ist. Nach Korollar 1.11 folgt auch<br />
(1.19).<br />
Beispiel 1.9 [Sturm-Liouvillesches Eigenwertproblem]<br />
Wir betrachten für N = 1 das Variationsproblem<br />
∫ (<br />
)<br />
F(v) := v ′ 2 (x) + c(x)v 2 (x) dx −→ min!<br />
I<br />
(vgl. Beispiel 1.1) mit den Neben- und Randbedingungen<br />
∫<br />
v 2 (x) dx ≡ ω ≠ 0, v(a) = 0 = v(b). (1.20)<br />
I<br />
Wir haben also für den Integranden G(x, z, p) = z 2 der isoperimetrischen Nebenbedingung<br />
mit G p (x, z, p) = 0 und G z (x, z, p) = 2z<br />
∫<br />
∫<br />
δG(u, ˜ψ) = G z (x, u(x), u ′ (x)) ˜ψ(x) dx = 2 u(x) ˜ψ(x) dx.<br />
I<br />
Wäre dieser Ausdruck gleich Null für alle ˜ψ ∈ C0 ∞ (I), dann erhielte man u ≡ 0 nach<br />
dem Fundamentallemma der <strong>Variationsrechnung</strong>, Lemma 1.4, woraus aber sofort G(u) =<br />
I
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 21<br />
0 ≠ ω im Widerspruch zu (1.20) folgen würde. Damit ist die Nichtentartungsbedingung<br />
aus Proposition 1.19 für dieses Beispiel verifiziert. Die Lagrange-Multiplikatorregel mit<br />
Gleichung (1.19) ergibt für die Lösung u ∈ C 2 (I) ∩ C 1 (I) die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
∃λ ∈ R :<br />
d<br />
dx [2u′ (x)] − [2c(x)u(x) + λ2u(x)] = 0. (ELG 1.9 )<br />
Die Lösung u ist also eine Eigenfunktion des Sturm-Liouville-Operators<br />
zum reellen Eigenwert −λ.<br />
− d2<br />
dx 2 + c<br />
Beispiel 1.10 [Klassisches isoperimetrisches Problem]<br />
Wir untersuchen das Problem, diejenige einfache geschlossene Kurve γ ⊂ R 2 mit vorgegebener<br />
Länge zu finden, welche den maximalen Flächeninhalt einschließt. Wir gehen dabei von<br />
der Annahme aus, dass eine C 2 -Kurve γ als Lösung existiert. Außerdem begnügen wir uns<br />
mit dem anschaulich leicht verständlichen graphischen Argument, dass die gesuchte Kurve<br />
konvex sein muss, da sonst der Flächeninhalt nicht maximal sein kann. Tatsächlich kann<br />
man im Falle einer nicht konvexen Kurve “Einbuchtungen” an einer zugehörigen Stützgeraden<br />
nach außen reflektieren und erhält somit eine Kurve gleicher Länge, die einen strikt<br />
größeren Flächeninhalt einschließt, siehe Abbildung 1.4. Zur Vereinfachung der folgenden<br />
Argumentation gehen wir davon aus, dass das von γ eingeschlossene Gebiet sogar strikt<br />
konvex ist.<br />
Abbildung 1.4: Die Kurve muss konvex sein.<br />
In Vorwegnahme des Ergebnisses gilt es nun zu beweisen, dass jedes Teilstück von γ ein<br />
Kreisbogen ist; daraus folgt dann auch sofort, dass die Kurve insgesamt eine Kreislinie ist,<br />
da vorausgesetzt war, dass γ von der Klasse C 2 ist.<br />
Sei ein Teilstück von γ nun als Graph einer Funktion u ∈ C 2 ([a, b]) parametrisiert. Dann<br />
löst u zu gegebenem w ∈ C 2 ([a, b]) das folgende Variationsproblem:<br />
in der Klasse<br />
A(v) :=<br />
∫ b<br />
a<br />
(v(x) − w(x)) dx −→ max!<br />
C(P 1 , P 2 , l) := {v ∈ C 2 ([a, b]) : (a, v(a)) = P 1 , (b, v(b)) = P 2 , v > w,<br />
∫ b √<br />
L(v) := 1 + v ′2 (x) dx = ! l},<br />
a<br />
wobei wegen der strikten Konvexität des von γ eingeschlossenen Gebietes eine Gerade ausgeschlossen<br />
wird, also l > |P 1 − P 2 |. Die Lösung u erfüllt folglich<br />
A(u) =<br />
sup A(.).<br />
C(P 1 ,P 2 ,l)
22 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
P 2<br />
u<br />
P 1<br />
u + εϕ<br />
b<br />
a<br />
w<br />
Abbildung 1.5: Zur Berechnung des Flächeninhalts.<br />
Um nun die Lagrange-Multiplikator-Regel aus Proposition 1.19 anwenden zu können,<br />
muss noch nachgeprüft werden, ob ein ˜ψ ∈ C ∞ 0 ((a, b)) existiert, so dass δL(u, ˜ψ) ≠ 0. Da<br />
nun L(u) = l > |P 1 − P 2 | gilt, ist mit Sicherheit u ′ ≠ konst., und damit verschwindet auch<br />
die Krümmung κ von u nicht identisch. Nach der Rechnung in Beispiel 1.3 wissen wir, dass<br />
δL(u, ˜ψ) =<br />
∫ b<br />
a<br />
u ′ (x)<br />
√ ˜ψ ′ (x) dx = −<br />
1 + u ′2 (x)<br />
∫ b<br />
a<br />
κ(x) ˜ψ(x) dx.<br />
Wäre nun dieser Ausdruck gleich Null für alle ˜ψ ∈ C0 ∞ ((a, b)), dann hätten wir nach dem<br />
Fundamentallemma, Lemma 1.4, für dieses Teilstück von γ eine verschwindende Krümmung<br />
im Widerspruch zur Annahme der strikten Konvexität.<br />
Auch ohne die geometrische Deutung als Krümmung kann man mit Lemma 1.4 aus der Widerspruchsannahme<br />
δL(u, ˜ψ) = 0 für alle ψ ∈ C0<br />
∞ ((a, b)) schließen<br />
(<br />
d<br />
dx<br />
u ′<br />
√<br />
1 + u ′2<br />
)<br />
= 0 auf (a, b),<br />
woraus folgt, dass<br />
u ′<br />
√ ≡ konst. =: c<br />
1 + u ′2<br />
auf (a, b).<br />
Falls c = 0 folgt sofort u ′ ≡ 0 im Widerspruch zur Annahme, dass u keine Gerade beschreibt. Da u ′ ≢ 0 gilt<br />
c ∈ (−1, 1), und damit wird folgende Umformung nach Quadrierung möglich:<br />
u ′2 = (1 + u ′2 )c 2<br />
⇒ u ′2 (1 − c 2 ) = c 2<br />
⇒ u ′2 =<br />
c 2<br />
1 − c 2 ,<br />
was aber wieder bedeuten würde, dass u ′ ≡ konst. wiederum im Widerspruch zur Annahme.<br />
Da u ∈ C 2 ([a, b]), gilt nach (1.19) in Proposition 1.19 die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
d<br />
dx [A p(x, u(x), u ′ (x)) + λL p (x, u(x), u ′ (x))] − [A z (x, u(x), u ′ (x)) + λL z (x, u(x), u ′ (x))] = 0,
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 23<br />
wobei<br />
A(x, z, p) = z − w(x) und L(x, z, p) = √ 1 + p 2 .<br />
Es ist<br />
A z (x, u(x), u ′ (x)) = 1,<br />
A p (x, u(x), u ′ (x)) = 0,<br />
L z (x, u(x), u ′ (x)) = 0,<br />
L p (x, u(x), u ′ (x)) = √<br />
u ′ (x)<br />
,<br />
1 + u ′2 (x)<br />
also<br />
⎛<br />
⎞<br />
λ d ⎝<br />
u′ (x)<br />
√ ⎠ − 1 = 0 ⇔ κ = 1 dx<br />
1 + u ′2 λ = konst., (ELG 1.10)<br />
(x)<br />
und da ein Geradenstück ausgeschlossen wurde, erlaubt die konstante Krümmung nur noch<br />
den Schluss auf einen Kreisbogen 3 .<br />
P 1<br />
P 2<br />
a<br />
b<br />
Abbildung 1.6: Die hängende Kette.<br />
Beispiel 1.11 [Die hängende Kette]<br />
Eine idealisierte Kette fester Länge wird an ihren Enden in einem homogenen Schwerefeld<br />
an zwei Punkten P 1 und P 2 aufgehängt. Dabei krümmt sie sich derart, dass ihre potentielle<br />
Energie minimiert wird. Die potentielle Energie ist direkt proportional zur Lage des Schwerpunktes.<br />
Der Schwerpunkt einer parametrisierten Kurve t ↦→ γ(t) ∈ R N , t ∈ [t 1 , t 2 ], wird<br />
durch den Vektor<br />
∫ ∫ t2<br />
γ(s) ds t<br />
∫ := 1<br />
ds<br />
∫ t2<br />
t 1<br />
γ(t)| ˙γ(t)| dt<br />
| ˙γ(t)| dt<br />
beschrieben. Es ist vernünftig anzunehmen, dass die Lösungskurve als Graph einer skalaren<br />
Funktion v : [a, b] → R darstellbar ist. Für eine solche Kurve hat der Ortsvektor des<br />
3 Im R 3 hingegen könnte man auch noch Spiralen konstanter Krümmung erhalten, vgl. z.B. [15, Übung<br />
1, S. 19].
24 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Schwerpunktes die folgende Form:<br />
( )<br />
∫ b x √1<br />
a + v<br />
v(x)<br />
′2 (x) dx<br />
√ .<br />
1 + v ′2 (x) dx<br />
∫ b<br />
a<br />
Da die hängende Kette mit gegebener Länge sich so ausrichtet, dass ihr Schwerpunkt möglichst<br />
tief liegt, lautet das zugehörige Minimierungsproblem<br />
∫ √<br />
F(v) := v(x) 1 + v ′2 (x) dx −→ min!<br />
in der Klasse<br />
I<br />
C(P 1 , P 2 , ω) := {v ∈ C 1 (I) : (a, v(a)) = P 1 , (b, v(b)) = P 2 , L(v) = ω} mit ω > |P 1 − P 2 |.<br />
Wie im vorherigen Beispiel gibt es wegen L(v) > |P 1 − P 2 | eine Funktion ˜ψ ∈ C0 ∞<br />
δL(u, ˜ψ) ≠ 0, so dass nach Proposition 1.19 ein λ ∈ R existiert mit<br />
(I) mit<br />
δF(u, ϕ) + λδL(u, ϕ) = 0<br />
∀ϕ ∈ C ∞ 0 (I).<br />
Für einen Minimierer u ∈ C 2 (I) lautet dann die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
⎡<br />
⎤<br />
d<br />
⎣ u(x)u′ (x) u ′ (x)<br />
√ + λ√<br />
⎦ −<br />
dx<br />
1 + u ′2 (x) 1 + u ′2 (x)<br />
√<br />
1 + u ′2 (x) = 0. (ELG 1.11 )<br />
Andererseits ist ũ := u + λ eine schwache Extremale des Funktionals F , also<br />
[<br />
]<br />
d ũ(x)ũ ′ (x)<br />
√ − √ 1 + ũ<br />
dx<br />
′2 (x) = 0<br />
1 + ũ ′2 (x)<br />
⇒<br />
ũ ′2 (x)<br />
√<br />
1 + ũ ′2 (x) + ũ(x) d<br />
dx<br />
⇒ ũ(x)κ(x) √ 1 + ũ ′2 (x) = 1<br />
⇒ κ(x) ≠ 0 ∀x ∈ I.<br />
[<br />
ũ ′ (x)<br />
√<br />
1 + ũ ′2 (x)<br />
]<br />
− √ 1 + ũ ′2 (x) = 0<br />
Letzteres impliziert, dass ũ und damit auch u selbst entweder strikt konvex oder strikt<br />
konkav ist.<br />
Anstatt diese Differentialgleichung zu lösen, machen wir mit Proposition 1.13 von der<br />
Erhaltungsgröße φ(z, p) = pF p (z, p) − F (z, p) ≡ h ∈ R Gebrauch:<br />
φ(ũ(x), ũ ′ (x)) =<br />
ũ(x)ũ′2 (x)<br />
√<br />
1 + ũ ′2 (x) − ũ(x)√ 1 + ũ ′2 (x) = h.<br />
Dies können wir umformen zu<br />
dũ(x)<br />
dx<br />
= 1 h<br />
√ũ2 (x) − h 2
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 25<br />
und dann nach Separation der Variablen integrieren:<br />
x − a =<br />
∫ x<br />
a<br />
∫ ũ(x)<br />
dy = h<br />
ũ(a)<br />
(ũ<br />
dũ<br />
√ũ2 − h = h arcosh 2 h<br />
) ∣∣∣ ũ(x)<br />
ũ(a) .<br />
Die hängende Kette wird also durch einen hyperbolischen Cosinus beschrieben, wobei die<br />
Integrationskonstanten noch aus den Randdaten zu bestimmen sind; denn direktes Nachrechnen<br />
ergibt, dass diese Lösung des Erhaltungssatzes auch Lösung der Euler-Lagrange-<br />
Gleichung ist.<br />
Beispiel 1.12 [Rotationssymmetrische Minimalflächen]<br />
Wie im vorigen Beispiel betrachten wir eine Kurve, die als Graph über der x-Achse zwei<br />
Punkte P 1 und P 2 miteinander verbindet. Durch Drehung um die x-Achse erzeugt diese Kurve<br />
als Profilkurve eine Rotationsfläche S. Nun suchen wir die Rotationsfläche mit minimalem<br />
Flächeninhalt, d.h. wir betrachten das Variationsproblem<br />
∫ √<br />
|S| = 2π |v(x)| 1 + v ′2 (x) dx −→ min!<br />
I<br />
in der Klasse<br />
C(P 1 , P 2 , +) := {v ∈ C 1 (I) : (a, v(a)) = P 1 , (b, v(b)) = P 2 , v > 0}.<br />
Die Berechnung der Lösung erfolgt wie im Beispiel 1.11 und führt zu der Kettenlinie als<br />
Profilkurve. Die durch sie aufgespannte Fläche heißt Katenoid. Ob das Katenoid tatsächlich<br />
die flächenminimierende Lösung liefert, hängt wesentlich vom Abstand der Randkurven, also<br />
der Kreislinien zentriert in a und b ab, siehe Bild 1.7. Tatsächlich hat die zweikomponentige<br />
(und damit gewissermaßen entartete) Lösung bestehend aus den beiden durch die Randkreise<br />
berandeten Kreisscheiben oberhalb eines bestimmten Abstands |a − b| einen geringeren<br />
Flächeninhalt 4 . Unter der Voraussetzung, dass das Infimum über alle zusammenhängenden<br />
Lösungen strikt kleiner ist als das Infimum über die mehrkomponentigen (entarteten)<br />
Flächen (Douglas-Bedingung), kann man die Existenz mehrfach zusammenhängender<br />
flächenminimierender Lösungen beweisen, und damit das Douglas-Problem oder verallgemeinerte<br />
Plateau-Problem lösen; siehe z.B. Courant’s Buch [10, Ch. IV], Nitsche [51,<br />
S. 520ff], oder [13, Ch. 11]. Für allgemeinere parametrische Variationsprobleme (vgl. Kapitel<br />
7.3) ist das Douglas-Problem in [38] und [34] behandelt worden.<br />
Beispiel 1.13 [Elastischer Faden]<br />
Wir betrachten einen Faden, der an den Stellen x = −1 und x = +1 festgehalten wird.<br />
Seine elastische Energie wächst in einer ersten groben Näherung proportional zu seiner<br />
Längenänderung relativ zur geraden Ruhelage und wird beschrieben durch 5<br />
E 1 (v) := k<br />
∫ +1<br />
−1<br />
v ′ 2 (x) dx,<br />
4 Fügt man dem Flächenfunktional allerdings noch einen Term höherer Ordnung zur Modellierung von<br />
elastischen Membraneigenschaften hinzu, etwa das Willmorefunktional , dann gibt es über einen weit<br />
größeren Bereich zusammenhängende Energieminimierer, siehe [59]<br />
5 Diese erste Näherung ergibt sich aus der Taylorentwicklung √ 1 + u ′2 − 1 = (1/2)u ′2 + O(|u ′ | 3 ) des<br />
Integranden des nichtparametrischen Längenfunktionals.
P 1<br />
P 2<br />
26 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
a<br />
b<br />
Abbildung 1.7: u erzeugt die Rotationsfläche.<br />
wobei k eine positive (Material-)Konstante ist. Unter Berücksichtigung eines homogenen<br />
Gravitationsfeldes mit der ebenfalls positiven Konstanten g lautet nun das Variationsproblem<br />
zur Beschreibung des Fadens:<br />
E 1 (v) + g<br />
∫ +1<br />
−1<br />
v(x) dx −→ min!<br />
in der Klasse<br />
C := {v ∈ C 1 ([−1, +1]) : v(−1) = 0 = v(+1)}.<br />
Zur Lösung machen wir die Annahme, dass ein u ∈ C 2 ([−1, +1]) existiert, welches das<br />
Funktional in der gegebenen Klasse minimiert. Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet<br />
dann<br />
−2ku ′′ (x) + g = 0, (ELG 1.13 )<br />
was sofort integriert werden kann:<br />
−2ku(x) = − 1 2 gx2 + c 1 x + c 2 .<br />
Um die Integrationskonstanten zu bestimmen, verwendet man die Randbedingungen,<br />
0 = −2ku(+1) = − g 2 + c 1 + c 2<br />
0 = −2ku(−1) = − g 2 − c 1 + c 2 ,<br />
so dass sich c 1 = 0 und c 2 = g 2<br />
ergibt und die Lösung schließlich lautet<br />
u(x) = g<br />
4k (x2 − 1).<br />
Abschließend sei bemerkt, dass sich das Variationsproblem<br />
E 1 (u) + gu(0) −→ min!<br />
mit den bisher entwickelten Methoden nicht lösen läßt. Es beschreibt einen Faden, der<br />
nicht in einem Schwerefeld hängt, sondern punktförmig in seiner Mitte belastet wird. Die<br />
(nichtglatte) Lösung lautet u(x) = g<br />
4k<br />
(|x| − 1).
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 27<br />
Beispiel 1.14 [Elastischer Balken]<br />
Als letztes klassisches Beispiel betrachten wir einen Balken, der an seinen beiden Enden bei<br />
x = −1 und x = +1 eingespannt ist. In erster Näherung läßt sich die elastische Energie des<br />
Balkens durch folgendes Funktional beschreiben 6 :<br />
E 2 (v) := H<br />
∫ +1<br />
−1<br />
(v ′′ (x)) 2 dx,<br />
wobei H wieder eine positive (Material-)Konstante ist. Im homogenen Schwerefeld haben<br />
wir also das Variationsproblem<br />
in der Klasse<br />
E 2 (v) + g<br />
∫ +1<br />
−1<br />
v(x) dx −→ min!<br />
˜C := {v ∈ C 4 ([−1, +1]) : v(−1) = 0 = v(+1), v ′ (−1) = 0 = v ′ (+1)};<br />
die zweite Randbedingung bedeutet dabei, dass die Enden des Balkens auch in ihrer Richtung<br />
fixiert sind.<br />
Zur Lösung nehmen wir nun an, dass das Funktional einen Minimierer u ∈ C 4 ([−1, +1])<br />
hat. Allgemein lauten die Euler-Langrange-Gleichungen für den Fall, dass das Funktional<br />
auch von der zweiten Ableitung abhängig ist, also mit einem Integranden F =<br />
F (x, z, p, r), wobei für r die zweiten Ableitungen u ′′ einer Funktion u eingesetzt werden,<br />
F z (x, u, u ′ , u ′′ ) −<br />
In unserem Beispiel reduziert sich das zu<br />
Viermalige Integration liefert<br />
Nutzt man nun die Randbedingungen<br />
d<br />
dx F p(x, u, u ′ , u ′′ ) +<br />
d2<br />
dx 2 F r(x, u, u ′ , u ′′ ) = 0.<br />
g + 2Hu ′′′′ (x) = 0. (ELG 1.14 )<br />
2Hu(x) = − g 24 x4 + c 1<br />
6 x3 + c 2<br />
2 x2 + c 3 x + c 4 .<br />
0 = 2Hu ′ (+1) = − g 6 + c 1<br />
2 + c 2 + c 3<br />
0 = 2Hu ′ (−1) = g 6 + c 1<br />
2 − c 2 + c 3<br />
0 = 2Hu(+1) = − g 24 + c 1<br />
6 + c 2<br />
2 + c 3 + c 4<br />
0 = 2Hu(−1) = − g 24 − c 1<br />
6 + c 2<br />
2 − c 3 + c 4 ,<br />
6 Hier ergibt sich die Näherung aus der Linearisierung der Krümmung<br />
( )<br />
u ′ ′<br />
u ′′<br />
κ = √ = √ ∼ 1 + u<br />
′2 1 + u<br />
′2 3 = u ′′<br />
für |u ′ | genügend klein.
28 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
so kann man die Werte der Integrationskonstanten berechnen, und die Lösung lautet<br />
u(x) = −<br />
g<br />
48H (x2 − 1) 2 .<br />
Auch hier ist bei einer punktförmig in der Mitte ansetzenden Kraft das zugehörige Variationsproblem<br />
E 2 (u) + gu(0) −→ min!<br />
mit den hier entwickelten Methoden nicht zu behandeln; man kann mit anderen Techniken<br />
zeigen, dass sich als (nichtglatte) Lösung die Funktion<br />
ergibt.<br />
u(x) = − 1<br />
48H (2|x|3 − 3x 2 + 1)<br />
Allgemein halten geometrische Randwertprobleme höherer Ordnung in höheren Dimensionen<br />
bis heute viele offene Fragen bereit.<br />
Den Beweis von Proposition 1.19 hat der Satz über implizite Funktionen merklich vereinfacht.<br />
Ein Beispiel für ein etwas komplizierteres Problem, bei dem die Aussage dieses<br />
Satzes nur noch „von Hand“ verfügbar gemacht werden kann, ist die folgende<br />
Proposition 1.20 [Lagrange-Multiplikator-Ungleichung]<br />
Seien F, G ∈ C 1 (I × R N × R N ), α, β ∈ R N , ω ∈ R, δ > 0 und K ⊂ R N eine abgeschlossene<br />
Menge. Es gelte für u ∈ C(α, β, ω, K)<br />
wobei<br />
F(u) ≤ F(v) für alle v ∈ C(α, β, ω, K) mit ‖u − v‖ C 1 (I,R N ) < δ,<br />
C(α, β, ω, K) := {v ∈ C 1 (I, R N ) : v(a) = α, v(b) = β, G(v) = ω, v(I) ⊂ K}.<br />
Weiterhin gebe es eine Funktion ˜ψ ∈ C ∞ 0 (I, RN ) und t 0 = t 0 ( ˜ψ) > 0, so dass<br />
δG(u, ˜ψ) ≠ 0 und (u + t ˜ψ)(I) ⊂ K ∀|t| ≤ t 0 .<br />
Dann existiert ein λ ∈ R, so dass für alle ϕ ∈ C ∞ 0 (I \ supp ˜ψ, R N ), für die es eine Zahl<br />
ε 0 = ε 0 (ϕ) > 0 mit der Eigenschaft<br />
gibt, die Ungleichung<br />
gültig ist.<br />
(u + εϕ)(I) ⊂ K für alle ε ∈ [0, ε 0 ) (1.21)<br />
δF(u, ϕ) + λδG(u, ϕ) ≥ 0 (1.22)<br />
Bemerkung:<br />
Gibt es sogar zwei Funktionen ˜ψ i ∈ C ∞ 0 (I, RN ), i = 1, 2, mit supp ˜ψ 1 ∩ supp ˜ψ 2 = ∅ und<br />
δG(u, ˜ψ i ) ≠ 0, sowie (u + t ˜ψ i )(I) ⊂ K für |t| ≪ 1, i = 1, 2, dann kann man (1.22) als<br />
eine schwache Form einer Differentialungleichung für u für Regularitätsuntersuchungen für<br />
u heranziehen. Tatsächlich gilt dann für einen beliebigen Punkt x 0 ∈ I, dass x 0 ∉ supp ˜ψ 1<br />
oder x 0 ∉ supp ˜ψ 2 . Wenn also z.B. x 0 ∉ supp ˜ψ 1 , dann kann man (1.22) für alle ϕ ∈
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 29<br />
C ∞ 0 (B δ(x 0 ), R N ) mit δ < dist (x 0 , supp ˜ψ 1 ) nutzen, solange ϕ die zusätzliche Bedingung<br />
(1.21) erfüllt. Die Differentialungleichung (1.22) für u auf B δ (x 0 ) führt unter Umständen<br />
auf Regularitätsaussagen nahe x 0 , etwa mit den Methoden aus Kapitel 4.<br />
Eine Lagrange-Multiplikator-Ungleichung wie in Proposition 1.20 wurde von Hildebrandt<br />
und Wente [35] bewiesen, um die Regularität von Minimalflächen mit Hindernissen<br />
unter einer Volumennebenbedingung zu untersuchen. Eine ähnliche Anwendung findet<br />
man in einer Arbeit von Dierkes, Hildebrandt und Lewy [14] zum Fadenproblem, bei<br />
dem man Minimalflächen betrachtet, die von einer festen Randkurve einerseits und einem<br />
frei beweglichen Faden andererseits berandet werden. In [72] und [73] wurde eine verfeinerte<br />
Version der Lagrange-Multiplikator-Ungleichung verwendet, um die Regularität von minimierenden<br />
Kurven der Krümmungsenergie ∫ κ 2 ds in vorgegebenen Knotenklassen (=Isotopieklassen)<br />
zu untersuchen. Dabei tritt eine Ungleichungsbedingung im Variationsproblem<br />
auf, die den Selbstschnitt von Kurven und damit das Verlassen der gegebenen Knotenklasse<br />
verhindert. Da das Hindernis in diesem Fall allein durch den Minimierer selbst bestimmt<br />
wird, hängt die erzielte Regularität von der Art der jeweiligen Berührsituation ab, siehe<br />
[72],[73] für die Details und die dem folgenden Beweis nachgestellten skizzenhaften Ausführungen.<br />
Beweis von Proposition 1.20. Für ψ :=<br />
˜ψ<br />
gilt wegen der Linearität von δG(u, ·)<br />
δG(u, ˜ψ)<br />
δG(u, ψ) = 1.<br />
Sei eine Funktion ϕ ∈ C ∞ 0 (I \ supp ψ, RN ) gegeben. Wir setzen<br />
Für<br />
{<br />
}<br />
δ<br />
t 1 := min t 0 ,<br />
2‖ψ‖ C 1 (I,R N )<br />
J 1 := supp ϕ,<br />
J 2 := supp ψ.<br />
und die Störungen u ε,t := u + εϕ + tψ hat man<br />
und ε 1 := min<br />
{<br />
ε 0 ,<br />
}<br />
δ<br />
2(‖ϕ‖ C 1 (I,R N ) + 1)<br />
‖u ε,t − u‖ C 1 (I,R N ) < δ für alle ε ∈ [0, ε 1), |t| < t 1 . (1.23)<br />
Außerdem gilt wegen der kompakt in I enthaltenen Träger von ϕ und ψ, dass u ε,t (a) = α<br />
und u ε,t (b) = β für alle ε ∈ [0, ε 1 ) und |t| < t 1 . Desweiteren ist nach den Voraussetzungen<br />
an u, ϕ und ψ<br />
u ε,t (I) = u(I \ (J 1 ∪ J 2 )) ∪ (u + εϕ)(J 1 ) ∪ (u + tψ)(J 2 ) ⊂ K ∀ε ∈ [0, ε 1 ), |t| < t 1 . (1.24)<br />
Wir schreiben<br />
Φ(ε, t) := F(u ε,t ) = F I\(J1 ∪J 2 )(u ε,t ) + F J1 (u ε,t ) + F J2 (u ε,t )<br />
= F I (u) + (F J1 (u + εϕ) − F J1 (u)) + (F J2 (u + tψ) − F J2 (u))<br />
=: Φ 0 + Φ 1 (ε) + Φ 2 (t).<br />
Durch eine analoge Aufspaltung erhalten wir für Γ(ε, t) := G(u ε,t )<br />
Γ(ε, t) = Γ 0 + Γ 1 (ε) + Γ 2 (t),
30 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
wobei nach Voraussetzung Γ 0 = G(u) = c. Die gewählten Hilfsfunktionen haben folgende<br />
Eigenschaften, die im weiteren Verlauf des Beweises von Nutzen sein werden:<br />
Φ 1 : [0, ε 0 ) −→ R , Φ 1 (0) = 0,<br />
Γ 1 : [0, ε 0 ) −→ R , Γ 1 (0) = 0,<br />
Φ 2 : (−t 0 , t 0 ) −→ R , Φ 2 (0) = 0,<br />
Γ 2 : (−t 0 , t 0 ) −→ R , Γ 2 (0) = 0.<br />
Nach Voraussetzung gilt Φ 1 , Γ 1 ∈ C 1 ([0, ε 0 )), Φ 2 , Γ 2 ∈ C 1 ( (−t 0 , t 0 ) ), und nach Definition<br />
der ersten Variation gilt<br />
Γ ′ 2(0) = δG J2 (u, ψ) = δG(u, ψ) = 1.<br />
Das letzte Gleichheitszeichen folgt aufgrund der speziellen Wahl der Funktion ψ. Weiterhin<br />
gilt<br />
Γ 2 (t) = Γ 2 (0) + tΓ ′ 2(0) + o(|t|) = t(1 + η(t))<br />
mit einer Funktion η(t) → 0 falls |t| → 0. Sei ρ 0 ∈ (0, t 1 /2) so klein gewählt, dass |η(t)| ≤ 1/2<br />
für alle |t| < 2ρ 0 , dann gilt<br />
Γ 2 (t) ≥ 1 2 t für alle t ∈ [0, 2ρ 0) und Γ 2 (t) ≤ − 1 2 |t| für alle t ∈ (−2ρ 0, 0],<br />
woraus mit der Stetigkeit von Γ 2 und dem Zwischenwertsatz folgt:<br />
[−ϱ, +ϱ] ⊂ Γ 2 ([−2ϱ, +2ϱ]) ∀0 ≤ ϱ ≤ ϱ 0 . (1.25)<br />
Da Γ 1 stetig ist und Γ 1 (0) = 0, existiert ein ε 2 ∈ (0, ε 1 ), so dass<br />
|Γ 1 (ε)| < ϱ 0 ∀ ε ∈ [0, ε 2 ).<br />
Für alle ε ∈ [0, ε 2 ) gibt es nun nach (1.25) ein τ = τ(ε) ∈ [−2Γ 1 (ε), 2Γ 1 (ε)] mit<br />
τ(ε)(1 + η(τ(ε))) = Γ 2 (τ(ε)) ! = −Γ 1 (ε), (1.26)<br />
und |τ(ε)| ≤ 2|Γ 1 (ε)| < 2ϱ 0 < t 1 . Es ist zu bemerken, dass aufgrund der Stetigkeit von Γ 1<br />
auf [0, ε 0 ) und der Identität Γ 1 (0) = 0 gilt: lim ε→0 |τ(ε)| = 0 = τ(0). Wir beachten ferner,<br />
dass mit (1.26)<br />
τ ε (0) := lim<br />
ε↘0<br />
τ(ε) − τ(0)<br />
ε<br />
−Γ 1 (ε)<br />
= lim<br />
ε→0 (1 + η(τ(ε)))ε<br />
= lim<br />
ε→0<br />
(<br />
Γ1 (0) − Γ 1 (ε)<br />
ε<br />
) (<br />
·<br />
1<br />
1 + η(τ(ε))<br />
= −Γ ′ 1(0). (1.27)<br />
)<br />
Für den weiteren Beweis gilt nun<br />
Γ(ε, τ(ε)) = Γ 0 + Γ 1 (ε) + Γ 2 (τ(ε)),<br />
wobei die beiden letzten Terme sich nach (1.26) gerade gegenseitig aufheben. Es folgt<br />
G(u ε,τ(ε) ) = G(u + εϕ + τ(ε)ψ) = Γ(ε, τ(ε)) = Γ 0 = c für alle ε ∈ [0, ε 2 ).
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 31<br />
Abbildung 1.8: Ein verknoteter elastischer Draht.<br />
Also gilt unter Berücksichtigung von (1.23) und (1.24)<br />
u ε,τ(ε) ∈ C(α, β, δ, c, K) für alle ε ∈ [0, ε 2 ),<br />
und wir nutzen die Minimalität von u in C(α, β, δ, c, K), um zu schließen, dass<br />
so dass<br />
0 ≤<br />
Φ(ε, τ(ε)) − Φ(0, 0)<br />
ε<br />
Mit (1.27) ergibt sich<br />
Φ(ε, τ(ε)) ≥ Φ(0, 0) für alle ε ∈ (0, ε 2 ),<br />
= Φ 1(ε) + Φ 2 (τ(ε))<br />
ε<br />
0 ≤ Φ ′ 1(0) − Φ ′ 2(0)Γ ′ 1(0).<br />
−→ Φ ′ 1(0) + Φ ′ 2(0)τ ε (0) für ε → 0.<br />
Wir setzen nun λ := −Φ ′ 2 (0) = −δF J 2<br />
(u, ψ) = −δF(u, ψ) und erhalten mit Γ ′ 1 (0) =<br />
δG J1 (u, ϕ) = δG(u, ϕ) und Φ ′ 1 (0) = δF J 1<br />
(u, ϕ) = δF(u, ϕ) schließlich<br />
0 ≤ δF(u, ϕ) + λδG(u, ϕ).<br />
Für eine Anwendung der Lagrange-Multiplikator-Ungleichung aber auch zur Motivation<br />
der in Kapitel 3 beschriebenen Existenztheorie in Sobolevklassen skizzieren wir im<br />
Folgenden eine Anwendung aus der Geometrischen Knotentheorie, vgl. [72], [73].<br />
Beispiel 1.15 [Elastische Knoten im R 3 ]<br />
Zur Beschreibung von verknoteten elastischen Drähten (siehe Abbildung 1.8) liegt es nahe,<br />
die Drähte durch geschlossene Raumkurven u : S 1 ∼ = R/(2πZ) → R 3 zu beschreiben. Zur<br />
Modellierung dieses Problems aus der Elastizitätstheorie kann man in erster Näherung die<br />
Krümmungsenergie (vgl. auch Beispiel 1.14)<br />
∫<br />
E(u) :=<br />
γ<br />
κ 2 ds :=<br />
∫ 2π<br />
0<br />
|u ′ (x) ∧ u ′′ (x)| 2<br />
|u ′ (x)| 6 · |u ′ (x)| dx
32 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
auf<br />
C 2 (S 1 , R 3 ) := {u ∈ C 2 ([0, 2π], R 3 ) : u(0) = u(2π), u ′ (0) = u ′ (2π),<br />
u ′′ (0) = u ′′ (2π), u ′ (x) ≠ 0 für alle x ∈ [0, 2π]},<br />
also auf der Klasse der C 2 -regulären, geschlossenen Raumkurven minimieren. Man beachte,<br />
dass sich im Falle einer nach der Bogenlänge parametrisierten Kurve u die Beziehung |u ′ | ≡ 1<br />
ergibt, was das Krümmungsfunktional wegen u ′ (x) ⊥ u ′′ (x) für alle x ∈ S 1 auf die einfache<br />
Gestalt<br />
E(u) =<br />
∫ 2π<br />
0<br />
|u ′′ (x)| 2 dx<br />
reduziert. Im Vorgriff auf das Kapitel 3 über die Existenztheorie ist bereits jetzt zu bemerken,<br />
dass es gar nicht klar ist, dass Grenzwerte von Minimalfolgen {u i } ⊂ C 2 (S 1 , R 3 ) wieder in<br />
dieser Klasse liegen. Man weicht deshalb bei der exakten Behandlung dieses Problems auf die<br />
in Kapitel 2 vorgestellten Sobolevräume aus, die für Existenzprobleme dieser Art geeignet<br />
sind.<br />
Zur Modellierung der fixierten Knotenklasse benutzen wir den Begriff der Isotopie, den<br />
wir hier nur grob beschreiben: zwei stetige doppelpunktfreie Kurven w 1 , w 2 sind zueinander<br />
isotop (w 1 ≃ w 2 ), wenn sie sich zusammen mit offenen Umgebungen stetig und überschneidungsfrei,<br />
d.h. mit einer stetigen und auf offenen Umgebungen definierten Homöomorphismenschar<br />
ineinander überführen lassen. Die fixierte Knotenklasse (oder Isotopieklasse) ω n<br />
beschreiben wir mit Hilfe eines Vertreters in unserer Situation als<br />
C n := {u ∈ C 2 (S 1 , R 3 ) : ∃w ∈ ω n : u ≃ w}.<br />
Um Selbstüberschneidung bei der Minimierung der elastischen Energie E auf C n zu vermeiden,<br />
betrachten wir zu gegebener “Dicke” θ > 0 die Klasse der selbstschnittfreien Kurven<br />
[<br />
C θ := {u ∈ C 2 (S 1 , R 3 ) : |u(x) − u(y)| ≥ min θ, 1 ∫ y<br />
|u ′ (t)| dt, 1 ∫ x<br />
]<br />
|u ′ (t)| dt }.<br />
2 x 2 y<br />
Man beachte, dass man in einer solchen Selbsthindernisbedingung irgendwie garantieren<br />
muss, dass sich die Kurven in stetiger Weise schließen. In der Definition von C θ geschieht dies<br />
durch eine Art Bogen-Sehnen-Bedingung, bei der man den euklidischen Abstand |u(x)−u(y)|<br />
unterhalb der ad hoc gewählten Schwelle θ > 0 mit der Länge des kürzeren der beiden<br />
Kurvenbögen vergleicht, die die Punkte u(x) und u(y) verbinden 7 .<br />
Auch mit dieser quantitativen Vorschrift einer Mindestdicke ist die Minimierungsaufgabe<br />
für E auf C n ∩ C θ noch nicht wohlgestellt, wie man sich durch die Skalierung u ↦→ Ru<br />
klarmacht: Es gilt<br />
E(Ru) = 1 E(u) → 0 für R → ∞,<br />
R<br />
das heißt durch einfaches Hochskalieren einer festen Kurve kann man die Krümmungsenergie<br />
auf Null drücken. Außerdem ist E noch translationsinvariant, man muss also dafür sorgen,<br />
dass man beispielsweise einen Raumpunkt fixiert: u(0) = 0. Zur Beseitigung des Skalierungsproblems<br />
betrachtet man beispielsweise eine isoperimetrische Nebenbedingung, indem<br />
7 Dies ist nur eine von mittlerweile zahlreichen Möglichkeiten, Kurven eine positive Dicke zuzuschreiben,<br />
siehe z.B. auch [27] oder [67] und die dort zitierte Literatur.
1.3. VARIATIONSPROBLEME MIT NEBENBEDINGUNGEN 33<br />
man die Länge der Vergleichskurven festlegt: Für eine Konstante l > 0 setzen wir<br />
C l := {u ∈ C 2 (S 1 , R 3 ) : L(u) :=<br />
und betrachten nun das Minimierungsproblem 8<br />
Dann gilt der folgende Existenzsatz:<br />
∫ 2π<br />
0<br />
|u ′ (x)| dx = l, u(0) = 0}<br />
E(·) → min! in C(n, θ, l) := C n ∩ C θ ∩ C l .<br />
Satz 1.21 [Existenz minimierender Knoten [73]]<br />
Sei θ < l/8. Falls C(n, θ, l) ≠ ∅, dann 8 existiert u θ ∈ C(n, θ, l) mit |u ′ θ<br />
(x)| = l/(2π) für alle<br />
x ∈ S 1 und<br />
E(u θ ) = inf E(·).<br />
C(n,θ,l)<br />
Die Existenz eines minimierenden Knotens in der Sobolevklasse W 2,2 wirft die grundsätzliche<br />
Frage nach der wirklichen Regularität dieses ausgezeichneten Vertreters der gegebenen<br />
Knotenklasse auf. Die Regularitätstheorie ist also eine natürliche Konsequenz aus der<br />
Tatsache, dass man für die Sicherung der Existenz von Minimierern auf größere Funktionenräume<br />
ausweichen musste. Systematisch untersuchen wir die Regularitätsfragen für eindimensionale<br />
Variationsprobleme im vierten Kapitel. Hier möchten wir lediglich skizzieren,<br />
an welcher Stelle der Regularitätsuntersuchungen im vorliegenden Beispiel die Lagrange-<br />
Multiplikator-Ungleichung, Proposition 1.20, nützlich ist. Die Schwierigkeit ist, dass man<br />
a priori keine Information über mögliche Selbstberührungen des Minimierers hat. Gerade<br />
die Geometrie der Berührsituation beeinflusst aber die Menge der zur Verfügung stehenden<br />
äußeren Variationen. Grob gesprochen gilt: Je mehr Variationsrichtungen zur Verfügung stehen,<br />
desto mehr Informationen über die Güte des Minimierers lassen sich extrahieren und<br />
desto höhere Regularität ist zu erwarten.<br />
Man kann unter anderem folgenden Regularitätssatz zeigen:<br />
Satz 1.22 [Regularität an isolierten Berührstellen [73]]<br />
Der minimierende Knoten u θ ∈ C(n, θ, l) besitzt eine beschränkte Krümmung in der Nähe<br />
isolierter einfacher Berührstellen, falls θ genügend klein ist.<br />
Beweisidee: Schritt I. Man zeigt mit Hilfe einer Taylorentwicklung, dass für genügend<br />
kleine vorgeschriebene Mindestdicke θ die Gleichheit in der Hindernisbedingung zu einer<br />
vereinfachten geometrischen Situation führt: Wenn Selbstberührung stattfindet, ist das ein<br />
globales Phänomen, d.h. Kurvenpunkte mit gewissem Abstand auf der Kurve haben minimalen<br />
euklidischen Abstand θ. Gleichheit in der Hindernisbedingung durch auf der Kurve<br />
eng beieinander liegende Punkte, also lokale Berührphänomene lassen sich ausschließen.<br />
Lemma 1.23<br />
Sei C(n, θ 1 , l) ≠ ∅ für ein θ 1 > 0. Dann gibt es eine Zahl θ 0 ∈ (0, θ 1 ], so dass für alle<br />
θ ∈ (0, θ 0 ] und die zugehörigen Minimierer u θ Folgendes gilt: Falls<br />
{<br />
|u θ (x) − u θ (y)| = min θ, 1 ∫ y<br />
|u ′ θ<br />
2<br />
(t)| dt, 1 ∫ x<br />
}<br />
|u ′ θ<br />
2<br />
(t)| dt ,<br />
x<br />
8 Tatsächlich ersetzt man in der Definition von C(n, θ, l) die Klasse C 2 (S 1 , R 3 ) durch den Sobolevraum<br />
W 2,2 (S 1 , R 3 ) := {u ∈ W 2,2 ((0, 2π), R 3 ) : u(0) = u(2π), u ′ (0) = u ′ (2π), u ′ (x) ≠ 0 für alle x ∈ [0, 2π]}, vgl.<br />
Kapitel 2.<br />
y
34 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
dann gilt |u θ (x) − u θ (y)| = θ.<br />
Isolierte Berührpunkte x ∈ S 1 sind damit dadurch charakterisiert, dass es genau einen<br />
Parameter y ∈ S 1 \ {x} und eine Zahl ρ > 0 gibt mit |u θ (x) − u θ (y)| = θ und<br />
|u θ (ξ) − u θ (η)| > θ für alle ξ ∈ B ρ (x) \ {x}, η ≠ ξ. (1.28)<br />
Schritt II. Nun kann man annehmen, dass der Kurvenpunkt u θ (x) nicht auf einem geraden<br />
Kurvenstück von u θ liegt; denn sonst wäre u θ nahe x sowieso linear und damit analytisch.<br />
Dann gilt das für die Anwendung der Lagrange-Multiplikator-Ungleichung wichtige<br />
Lemma 1.24 [Nichtentartung der isoperimetrischen Nebenbedingung [73]]<br />
Es gibt eine Funktion ˜ψ ∈ C ∞ 0 (I \ {x}, R3 ) und τ 0 > 0, so dass<br />
(i) u θ + τ ˜ψ ∈ C θ ∩ C n für alle |τ| < τ 0 ,<br />
(ii) δL(u θ , ˜ψ) ≠ 0.<br />
Tatsächlich ist die Ungleichungsnebenbedingung, die die Klasse C θ definiert, nach (1.28)<br />
in der Nähe aber außerhalb des isolierten Berührparameters x mit einer echten Ungleichung<br />
erfüllt, so dass man den Minimierer u θ dort durch den additiven Term τ ˜ψ für |τ| ≪ 1 stören<br />
kann, ohne diese Ungleichungsbedingung zu verletzen. Auch das Verbleiben in derselben<br />
Knotenklasse C n wird durch hinreichend kleine Störungen aus Stetigkeitsgründen nicht gefährdet,<br />
womit man die Aussage (i) einsieht. Für die Aussage (ii) bemerkt man ähnlich wie<br />
in Beispiel 1.10, dass das Verschwinden von δL(u, ψ) für alle ψ mit Träger nahe x dazu<br />
führen würde, dass x auf einem Geradenstück läge. Das war aber bereits ausgeschlossen.<br />
Schritt III. Durch geeignete Drehung des Koordinatensystems kann man nun annehmen,<br />
dass<br />
u θ (x) − u θ (y) = θe 3 und u ′ θ (x) = e 1, (1.29)<br />
wobei e i der i-te Einheitsvektor im R 3 ist, so dass wir eine einfache geometrische Berührsituation<br />
vorliegen haben. Variationen in die positive e 3 -Richtung sind nun nahe x erlaubt,<br />
was uns mit Proposition 1.20 auf die Differentialungleichung<br />
δE(u θ , ϕ) + λδL(u θ , ϕ) ≥ 0<br />
für alle<br />
⎛<br />
ϕ := ⎝<br />
0<br />
0<br />
η<br />
⎞<br />
⎠ , η ≥ 0, η ∈ C ∞ 0 (B ρ (x) \ supp ψ)<br />
führt. Das liefert eine Differentialungleichung für die dritte Komponente u 3 θ<br />
, die man mit<br />
Hilfe der Distributionstheorie von L. Schwartz [60] in eine Differentialgleichung für u 3 θ<br />
umschreiben kann, vgl. mit Abschnitt 5.1 unserer Vorlesung über das Hindernisproblem.<br />
Daraus lässt sich zunächst ableiten, dass zumindest u 3 θ<br />
eine höhere Regularität besitzt. Im<br />
Anschluss macht man sich klar, dass auch Störungen der Form<br />
⎛<br />
ϕ := ⎝<br />
0<br />
ση<br />
η<br />
⎞<br />
⎠ , η ≥ 0, η ∈ C ∞ 0 (B ρ (x) \ supp ψ)
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 35<br />
für hinreichend kleine Konstanten σ > 0 zulässig sind, was zu einer Differentialungleichung<br />
für (u 2 θ , u3 θ ) führt. Nutzt man die schon bewiesene höhere Regularität von u3 θ<br />
aus, dann kann<br />
man beweisen, dass auch u 2 θ so regulär wie u3 θ ist.<br />
Schritt IV. Für die verbleibende Komponente u 1 θ<br />
muss man nun nur noch die aus dem<br />
Existenzsatz 1.21 gewonnene konstante Geschwindigkeit |u ′ θ<br />
| = l/(2π) quadrieren und differenzieren,<br />
was auf die Identität<br />
u 1 ′<br />
θ u<br />
1′′ θ = l/(2π) − u<br />
2′ θ u<br />
2′′ θ − u<br />
3′ θ u<br />
3′′<br />
θ<br />
führt. Die schon bewiesene höhere Regularität von u 2 θ und u3 θ<br />
liefert wegen<br />
u 1 θ′<br />
(x) = 1 ⇒ u 1 ′<br />
θ ≥ 1/2 nahe x<br />
(1.29)<br />
die gewünschte höhere Regularität von u 1 θ und damit von u θ nahe x.<br />
Bemerkung:<br />
Der letzte Schluss ist typisch für die Regularitätstheorie auch bei höherdimensionalen Variationsproblemen:<br />
Wenn eine letzte Komponente der Lösung eine noch unbekannte Regularität<br />
aufweist und die zugehörige Variationsrichtung nicht zulässig ist, dann kann man<br />
mit Hilfe einer geeigneten ausgezeichneten Parametrisierung eine weitere i.A. nichtlineare<br />
Differentialgleichung zur Hilfe nehmen. Im Gegensatz zum Fall von Kurven, wo die Parametrisierung<br />
mit konstanter Geschwindigkeit diese Differentialgleichung liefert, kann im Fall<br />
zweidimensionaler Flächen eine konforme Parametrisierung diese letzte Information liefern,<br />
siehe z.B. [13, Chapter 7.3]. Auch bei Regularitätsuntersuchungen für elliptische partielle<br />
Differentialgleichungen in der Nähe des Randes tritt das Phänomen auf, dass man für die<br />
Normalkomponente der Lösung am Rand keine Information hat. Hat man aber für alle Tangentialkomponenten<br />
genügend Regularität, kann man die verbleibende Normalkomponente<br />
in der zugrunde liegenden Differentialgleichung isolieren und so deren Regularität beweisen,<br />
vgl. z.B. [25, Theorem 6.19].<br />
1.4 Hamiltonsche Gleichungen<br />
Als Alternative zu den Euler-Lagrange-Gleichungen kann mit Hilfe der Legendre-<br />
Transformation zu den Hamiltonschen Gleichungen übergehen. Das werden wir im Folgenden<br />
kurz ausführen. Wesentlich ausführlicher wird die Hamilton-Formulierung z.B. in<br />
[24, Vol. II] behandelt.<br />
Definition 1.25 [Hamilton-Funktion]<br />
Für F ∈ C k (R × R N × R N ), k ≥ 2, definiert<br />
die Hamilton-Funktion zu F .<br />
H(x, z, ζ) := sup<br />
p∈R N {ζ · p − F (x, z, p)}<br />
Man bezeichnet dieses mit Hilfe von F gebildete Supremum auch mit F ∗ (x, z, ζ), die<br />
man auch die Legendre-Transformierte von F (x, z, ·) nennt (bezüglich der dritten Variablen<br />
von F bei festgehaltenen Parametern x und z). Ziel dieses Abschnitts ist es, die
36 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Äquivalenz zwischen den Euler-Lagrange-Gleichungen und den sogenannten Hamilton-<br />
Gleichungen herzuleiten:<br />
{<br />
u ′ (x) = H ζ (x, u(x), v(x))<br />
v ′ (HAM)<br />
(x) = −H z (x, u(x), v(x)) für alle x ∈ I.<br />
Zunächst erkennt man, dass dieses System von Differentialgleichungen wiederum die Euler-<br />
Lagrange-Gleichungen des Wirkungsfunktionals<br />
∫<br />
J(u, v) := [u ′ (x)v(x) − H(x, u(x), v(x))] dx<br />
I<br />
sind. Tatsächlich ergibt sich (unter geeigneten Regularitätsannahmen an u, v und H) für<br />
beliebige Funktionen ϕ, ψ ∈ C ∞ 0 (I, RN ) die Rechnung<br />
δJ((u, v), (ϕ, ψ)) = d J(u + εϕ, v + εψ)<br />
dε | ε=0<br />
= d (∫<br />
)<br />
[(u ′ + εϕ ′ )(v + εψ) − H(x, u + εϕ, v + εψ)] dx<br />
dε | ε=0 I<br />
= d (∫<br />
)<br />
[u ′ v + εϕ ′ v + εu ′ ψ − H(x, u + εϕ, v + εψ)] dx + O(ε 2 )<br />
dε | ε=0 I<br />
∫<br />
= [vϕ ′ + u ′ ψ − H z (x, u, v)ϕ − H ζ (x, u, v)ψ] dx<br />
∫I<br />
= [(−ϕ)(v ′ + H z (x, u, v)) + ψ(u ′ − H ζ (x, u, v))] dx,<br />
I<br />
woraus mit dem Fundamentallemma, Lemma 1.4, die Gültigkeit von (HAM) folgt.<br />
Das folgende technische Resultat enthält die wesentlichen analytischen Grundlagen.<br />
Lemma 1.26<br />
Sei k ∈ N \ {1} und F ∈ C k (R × R N × R N ) erfülle die Bedingungen<br />
(i)<br />
N∑<br />
F p i p j(x, z, p)ξi ξ j > 0 für alle ξ ∈ R N \ {0}, (x, z, p) ∈ R × R N × R N .<br />
i,j=1<br />
(ii) Es gibt stetige Funktionen g : R × R N<br />
lim t→∞<br />
ω(t)<br />
t<br />
= ∞, so dass<br />
→ R und ω : R → R mit der Eigenschaft<br />
F (x, z, p) ≥ ω(|p|) + g(x, z) für alle (x, z, p) ∈ R × R N × R N .<br />
Dann ist H ∈ C k (R × R N × R N ) und erfüllt die Gleichungen<br />
(H1)<br />
H x (x, z, ζ) = −F x (x, z, H ζ (x, z, ζ)),<br />
H z (x, z, ζ) = −F z (x, z, H ζ (x, z, ζ)),
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 37<br />
(H2)<br />
H(x, z, ζ) = ζH ζ (x, z, ζ) − F (x, z, H ζ (x, z, ζ)),<br />
(H3) ζ = F p (x, z, p) ⇐⇒ p = H ζ (x, z, ζ).<br />
Die Aussagen dieses Lemmas bleiben im Wesentlichen auch noch richtig, wenn man statt<br />
(i) nur verlangt, dass die Zuordnung p ↦→ F (x, z, p) für alle (x, z) ∈ R × R N strikt konvex<br />
ist. Dann kann man allerdings nicht erwarten, dass die Hamilton-Funktion H glatter ist<br />
als C 1 , wie das folgende Beispiel zeigt.<br />
Beispiel 1.16<br />
Es sei N = 1. Man kann zeigen, dass die zu F (x, z, p) = F (p) := 1 4 |p|4 gehörige Hamilton-<br />
Funktion H(x, z, ζ) := 3 4 |ζ|4/3 ist, und diese Funktion ist nicht von der Klasse C 2 (R).<br />
Lemma 1.26 bleibt zudem noch in Teilen richtig, wenn auch das superlineare Wachstum<br />
von F in p, also die Bedingung (ii) verletzt ist. Allerdings könnte die Hamilton-Funktion<br />
dann auch unendliche Werte annehmen:<br />
Beispiel 1.17<br />
Die Funktion F (x, z, p) = F (p) := √ 1 + p 2 ist strikt konvex und besitzt die Funktion<br />
{<br />
− √ 1 − ζ<br />
H(x, z, ζ) = H(ζ) :=<br />
2 für |ζ| ≤ 1<br />
+∞ für |ζ| > 1<br />
als Hamilton-Funktion.<br />
Beweis von Lemma 1.26. Wir unterteilen den Beweis in mehrere Schritte.<br />
Behauptung A. Zu jedem (x, z, ζ) ∈ R × R N × R N existiert ein Vektor p = p(x, z, ζ) ∈ R N<br />
mit<br />
H(x, z, ζ) = ζ · p(x, z, ζ) − F (x, z, p(x, z, ζ)). (1.30)<br />
Denn wäre diese Behauptung falsch, dann hätte man für jedes noch so groß gewählte<br />
R > 0 die Ungleichung<br />
H(x, z, ζ) ><br />
max {ζ · p − F (x, z, p)}. (1.31)<br />
p∈B R (0)<br />
Wenn nun zusätzlich H(x, z, ζ) < ∞, dann existiert demnach eine folge {p m } ⊂ R N mit<br />
|p m | −−−−→ m→∞ ∞, so dass<br />
ζ · 0 − F (x, z, 0) < H(x, z, ζ) ≤ 1 m + ζ · p m − F (x, z, p m )<br />
(ii)<br />
≤<br />
1<br />
m + |p m| ζ · p m<br />
|p m |<br />
[ ζ · pm<br />
|p m |<br />
m→∞<br />
−−−−→ −∞,<br />
= 1 m + |p m|<br />
− ω(|p m |) − g(x, z)<br />
− ω(|p ]<br />
m|)<br />
− g(x, z)<br />
|p m |<br />
im Widerspruch zur Voraussetzung, dass −F (x, z, 0) ∈ R. Wenn aber H(x, z, ζ) ≮ ∞<br />
und (1.31) gilt, dann gibt es auch eine Folge {p m } ⊂ R N m→∞<br />
mit |p m | −−−−→ ∞, so dass
38 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
−F (x, z, 0) < ζ · p m − F (x, z, p m ), was mit der gleichen Schlussweise wie gerade denselben<br />
Widerspruch erzeugt, womit Behauptung A bewiesen ist.<br />
Da der Vektor p(x, z, ζ) ∈ R N das Supremum in der Definition 1.25 von H realisiert gilt<br />
zudem<br />
0 = d dp |p=p(x,z,ζ)<br />
{ζ · p − F (x, z, p)} = ζ − F p (x, z, p(x, z, ζ)). (1.32)<br />
Behauptung B. Für alle R > 0 existiert eine Zahl R 1 > 0, so dass für den Behauptung A<br />
gefundenen Vektor p(x, z, ζ) ∈ R N folgende Abschätzung gilt:<br />
|p(x, z, ζ)| ≤ R 1 für alle (x, z, ζ) ∈ B R (0) × B R (0) × B R (0) ⊂ R × R N × R N .<br />
Tatsächlich existieren zu vorgegebenem R > 0 zwei Zahlen R 2 , R 3 > 0, so dass<br />
{ ω(|p|)<br />
|p|<br />
≥ R + 1 für alle |p| ≥ R 2 vgl. Voraussetzung (ii)<br />
F (x, z, 0) − g(x, z) ≤ R 3 für alle (x, z) ∈ B R (0) × B R (0) ⊂ R × R N ,<br />
(1.33)<br />
da F und g stetig sind.<br />
Für R 1 := max{R 2 , R 3 } und (x, z, ζ) ∈ B R (0) × B R (0) × B R (0) ⊂ R × R N × R N gilt<br />
demnach für ¯p := p(x, z, ζ) wegen Voraussetzung (ii) und (1.30)<br />
ω(|¯p|)+g(x, z)−|ζ||¯p| ≤ F (x, z, ¯p)−ζ·¯p = −H(x, z, ζ) ≤ −{ζ·0−F (x, z, 0)} = F (x, z, 0).<br />
(ii)<br />
(1.30)<br />
Daraus folgt wegen (1.33) für diese (x, z, ζ)<br />
R 3<br />
≥ F (x, z, 0) − g(x, z) ≥ ω(|¯p|) − |ζ||¯p|<br />
(1.33)<br />
[ ω(|¯p|)<br />
= |¯p|<br />
|¯p|<br />
[ ω(|¯p|)<br />
≥<br />
|¯p|<br />
|¯p|<br />
]<br />
− |ζ|<br />
]<br />
− R<br />
≥ |¯p|,<br />
(1.33)<br />
falls |¯p| ≥ R 2 . Falls nicht, dann gilt aber |¯p| < R 2 ≤ R 1 nach Definition. Also folgt in jedem<br />
Falle |¯p| ≤ R 1 , was die Behauptung B beweist.<br />
Behauptung C. H ∈ C 0 (R × R N × R N ).<br />
In der Tat existieren zu Tripeln (x, z, ζ) und (x ′ , z ′ , ζ ′ ) eine Zahl R > 0, so dass<br />
(x, z, ζ), (x ′ , z ′ , ζ ′ ) ∈ B R (0) × B R (0) × B R (0) ⊂ R × R N × R N ,<br />
und Vektoren p = p(x, z, ζ), p ′ = p(x ′ , z ′ , ζ ′ ) ∈ R N , so dass nach Behauptung A<br />
H(x, z, ζ) = ζ · p − F (x, z, p) und H(x ′ , z ′ , ζ ′ ) = ζ ′ · p ′ − F (x ′ , z ′ , p ′ ).<br />
Folglich gelten die Abschätzungen<br />
H(x, z, ζ) − H(x ′ , z ′ , ζ ′ ) = ζ · p − F (x, z, p) − H(x ′ , z ′ , ζ ′ )<br />
≤<br />
ζ · p − F (x, z, p) − (ζ ′ · p − F (x ′ , z ′ , p))<br />
= (ζ − ζ ′ ) · p + F (x ′ , z ′ , p) − F (x, z, p)
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 39<br />
und<br />
H(x ′ , z ′ , ζ ′ ) − H(x, z, ζ) = ζ ′ · p ′ − F (x ′ , z ′ , p ′ ) − H(x, z, ζ)<br />
so dass durch Kombination dieser beiden Ungleichungen<br />
|H(x, z, ζ) − H(x ′ , z ′ , ζ ′ )| ≤ |ζ − ζ ′ | max{|p|, |p ′ |}<br />
≤ ζ ′ · p ′ − F (x ′ , z ′ , p ′ ) − (ζ · p ′ − F (x, z, p ′ ))<br />
= (ζ ′ − ζ) · p ′ + F (x, z, p ′ ) − F (x ′ , z ′ , p ′ ),<br />
+ max{|F (x ′ , z ′ , p) − F (x, z, p)|, |F (x, z, p ′ ) − F (x ′ , z ′ , p ′ )|}<br />
≤ R 1 |ζ − ζ ′ | + ‖∇F ‖ C<br />
Beh.B<br />
0 (B R (0)×B R (0)×B R1<br />
(|x − x ′ | 2 + |z − z ′ | 2) 1/2<br />
(0),R 1+2N )<br />
folgen. Für die Gültigkeit der letzten Ungleichung betrachte man beispielsweise<br />
|F (x ′ , z ′ , p) − F (x, z, p)| =<br />
∫ 1<br />
d<br />
[<br />
]<br />
∣ F (tx ′ + (1 − t)x, tz ′ + (1 − t)z, p)<br />
dt∣<br />
0 dt } {{ }<br />
=:η(t)<br />
≤<br />
=<br />
∫ 1<br />
0<br />
∫ 1<br />
0<br />
|F x (η(t))(x ′ − x) + F z (η(t)) · (z ′ − z)| dt<br />
⎛<br />
x ′ ⎞<br />
− x<br />
∣<br />
∣∇F (η(t)) · ⎝ z ′ − z ⎠ ∣ ∣ dt<br />
0<br />
⎛<br />
≤ ‖∇F ‖ ⎝<br />
C 0 (B R (0)×B R (0)×B R1 (0),R 1+2N )<br />
∣<br />
x ′ − x<br />
z ′ − z<br />
0<br />
⎞<br />
⎠<br />
∣ ,<br />
da η(t) = (tx ′ + (1 − t)x, tz ′ + (1 − t)z, p) ∈ B R (0) × B R (0) × B R1 (0) für alle t ∈ (0, 1) nach<br />
Behauptung B.<br />
Behauptung D. Die Zuordnung (x, z, ζ) ↦→ p(x, z, ζ), wobei der Vektor p := p(x, z, ζ) ∈ R N<br />
die Beziehung (1.30) erfüllt, ist eindeutig.<br />
Gäbe es neben p noch einen weiteren von p verschiedenen Vektor ¯p ∈ R N , der auch die<br />
Beziehung (1.30) und damit auch (1.32) erfüllt, also so dass<br />
dann folgt mit<br />
0 = F pi (x, z, p) − F pi (x, z, ¯p)<br />
=<br />
=<br />
∫ 1<br />
0<br />
∫ 1<br />
0<br />
ζ =<br />
(1.32)<br />
F p (x, z, p) =<br />
(1.32)<br />
F p (x, z, ¯p),<br />
d<br />
dt F p i<br />
(x, z, tp + (1 − t)¯p) dt<br />
N∑<br />
F pi p j<br />
(x, z, tp + (1 − t)¯p)(p j − ¯p j ) dt<br />
j=1<br />
für alle i = 1, . . . , N<br />
der Widerspruch wegen der positiven Definitheit von F pp (Voraussetzung (i)):<br />
0 <<br />
∫ 1<br />
0<br />
N∑<br />
(p i − ¯p i )F pi p j<br />
(x, z, tp + (1 − t)¯p)(p j − ¯p j ) dt = 0.<br />
j=1
40 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Damit ist Behauptung D gezeigt.<br />
Behauptung E. Die Zuordnung (x, z, ζ) ↦→ p = p(x, z, ζ) ist lokal Lipschitzstetig 9 .<br />
Zunächst ist nach Behauptung B die Funktion p = p(x, z, ζ) lokal beschränkt:<br />
Für alle R > 0 existiert R 1 = R 1 (R) > 0, so dass ‖p‖ L ∞ (B R (0)×B R (0)×B R (0),R N ) ≤ R 1 .<br />
Da F ∈ C 2 (R×R N ×R N ) ist F p lokal Lipschitzstetig, d.h. es gibt eine Zahl γ 1 = γ 1 (R) > 0,<br />
so dass<br />
)<br />
|F p (x, z, p) − F p (x ′ , z ′ , p ′ )| ≤ γ 1<br />
(|x − x ′ | + |z − z ′ | + |p − p ′ | (1.34)<br />
für alle (x, z, p), (x ′ , z ′ , p ′ ) ∈ B R (0) × B R (0) × B R1 (0). Andererseits gibt es wegen Voraussetzung<br />
(i) eine Konstante γ 2 > 0, so dass für den kleinsten Eigenwert λ(x, z, p) der<br />
symmetrischen, positiv definiten Matrix F pp (x, z, p) gilt 10<br />
min λ(x, z, p) ≥ γ 2 ,<br />
B R (0)×B R (0)×B R1 (0)<br />
so dass nach der Rechnung zur Behauptung D für Vektoren p ≠ ¯p ∈ R N folgt<br />
|p − ¯p||F p (x, z, p) − F p (x, z, ¯p)| ≥<br />
und damit<br />
=<br />
N∑ (<br />
)<br />
(p i − ¯p i ) F pi (x, z, p) − F pi (x, z, ¯p)<br />
i=1<br />
∫ 1<br />
0<br />
N∑<br />
(p i − ¯p i )F pi p j<br />
(x, z, tp + (1 − t)¯p)(p j − ¯p j ) dt<br />
i=1<br />
≥ γ 2 |p − ¯p| 2 ,<br />
|F p (x, z, p) − F p (x, z, ¯p)| ≥ γ 2 |p − ¯p| für alle (x, z) ∈ B R (0) × B R (0), p, ¯p ∈ B R1 (0),<br />
(1.35)<br />
da diese Ungleichung für p = ¯p trivialerweise auch erfüllt ist.<br />
Nun schließen wir für<br />
(x, z, ζ), (x ′ , z ′ , ζ ′ ) ∈ B R (0) × B R (0) × B R (0)<br />
und zugehörige Vektoren p := p(x, z, ζ), p ′ := p(x ′ , z ′ , ζ ′ ) ∈ B R1 (0) mit (1.35), (1.32) und<br />
(1.34) wie folgt:<br />
γ 2 |p − p ′ |<br />
≤<br />
(1.35)<br />
| F p (x, z, p) −F p (x, z, p ′ )|<br />
} {{ }<br />
= ζ (1.32)<br />
= |ζ − ζ ′ + F p (x ′ , z ′ , p ′ ) −F p (x, z, p ′ )|<br />
} {{ }<br />
= 0 (1.32)<br />
≤<br />
(1.34)<br />
|ζ − ζ ′ | + γ 1<br />
(|x − x ′ | + |z − z ′ | + |p ′ − p ′ |<br />
} {{ }<br />
=0<br />
)<br />
.<br />
9 Dieser Teil ist für den Beweis des Lemmas nicht relevant, zeigt aber explizite Lipschitzabschätzungen<br />
10 Wäre inf BR (0)×B R (0)×B R1 (0)<br />
λ(x, z, p) = 0, dann würde dieses Infimum wegen der Stetigkeit des kleinsten<br />
Eigenwertes λ(·, ·, ·) auf der kompakten Menge B R(0) × B R(0) × B R1 (0) realisiert – im Widerspruch zur<br />
Voraussetzung (i).
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 41<br />
Damit ist die Zuordnung (x, z, ζ) ↦→ p(x, z, ζ) lokal Lipschitzstetig.<br />
Behauptung F. Die Zuordnung (x, z, ζ) ↦→ p(x, z, ζ) ist von der Klasse C 1 (R × R N ×<br />
R N , R N ).<br />
Tatsächlich ist die Gleichung<br />
0 = G(x, z, ζ, p) := ζ − F p (x, z, p)<br />
nach der Identität (1.32) erfüllt für den Vektor p = p(x, z, ζ), und zusätzlich gilt<br />
det(D p G(x, z, ζ, p)) = (−1) N det F pp (x, z, p)<br />
≠ 0,<br />
Vor.(i)<br />
so dass nach dem Satz über implizite Funktionen zu einem beliebigen Punkt (x, z, ζ) ∈<br />
R × R N × R N eine offene Umgebung V = V x,z,ζ ⊂ R × R N × R N existiert, die (x, z, ζ)<br />
enthält, und es gibt eine eindeutig bestimmte Funktion P ∈ C 1 (V, R N ), so dass<br />
0 = G(x ′ , z ′ , ζ ′ , P (x ′ , z ′ , ζ ′ )) für alle (x ′ , z ′ , ζ ′ ) ∈ V.<br />
Damit stimmt die bereits global definierte Funktion p(·, ·, ·) auf dieser Umgebung V mit<br />
der C 1 -Funktion P überein, woraus folgt, dass p(·, ·, ·) ∈ C 1 (R × R N × R N ), da die stetige<br />
Differenzierbarkeit eine lokale Eigenschaft ist und da (x, z, ζ) beliebig in R × R N × R N<br />
gewählt werden kann. Damit ist Behauptung F bewiesen.<br />
Abschließend bemerken wir, dass aufgrund der Regularitätsvoraussetzung an F in Kombination<br />
mit Behauptung F die Zuordnungen<br />
(x, z, ζ) ↦→ p(x, z, ζ)<br />
(x, z, ζ) ↦→ F x (x, z, p(x, z, ζ))<br />
(x, z, ζ) ↦→ F z (x, z, p(x, z, ζ))<br />
(x, z, ζ) ↦→ F p (x, z, p(x, z, ζ))<br />
sämtlich von der Klasse C 1 auf R × R N × R N sind, so dass mit (1.30) direkt H ∈ C 1 (R ×<br />
R N × R N ) folgt. Durch Differentiation erhält man mit Hilfe von (1.32)<br />
und<br />
sowie<br />
H x (x, z, ζ) = ζ · p x (x, z, ζ) − F x (x, z, p(x, z, ζ)) − F p (x, z, p(x, z, ζ)) · p x (x, z, ζ)<br />
[<br />
= ζ − F p (x, z, p(x, z, ζ))<br />
} {{ }<br />
=<br />
· p x (x, z, ζ) − F x (x, z, p(x, z, ζ)), (1.36)<br />
(1.32) 0 ]<br />
H z (x, z, ζ) = ζ · p z (x, z, ζ) − F z (x, z, p(x, z, ζ)) − F p (x, z, p(x, z, ζ)) · p z (x, z, ζ)<br />
[<br />
= ζ − F p (x, z, p(x, z, ζ))<br />
} {{ }<br />
=<br />
· p z (x, z, ζ) − F z (x, z, p(x, z, ζ)), (1.37)<br />
(1.32) 0 ]<br />
H ζ (x, z, ζ) = p(x, z, ζ) + ζ · p ζ (x, z, ζ) − F p (x, z, p(x, z, ζ)) · p ζ (x, z, ζ)<br />
[<br />
= p(x, z, ζ) + ζ − F p (x, z, p(x, z, ζ))<br />
} {{ }<br />
=<br />
· p ζ (x, z, ζ) (1.38)<br />
(1.32) 0 ]<br />
= p(x, z, ζ), (1.39)
42 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
woraus sofort H ∈ C 2 (R × R N × R N ) folgt, falls k ≥ 2. Allgemeiner erhält man über<br />
den Impliziten Funktionensatz im Beweis von Behauptung F aus der Voraussetzung F ∈<br />
C k (R×R N × R N ) die Regularität p(·, ·, ·) ∈ C k−1 (R×R N × R N ), so dass die Zuordnungen<br />
(x, z, ζ) ↦→ p(x, z, ζ)<br />
(x, z, ζ) ↦→ F x (x, z, p(x, z, ζ))<br />
(x, z, ζ) ↦→ F z (x, z, p(x, z, ζ))<br />
(x, z, ζ) ↦→ F p (x, z, p(x, z, ζ))<br />
sämtlich von der Klasse C k−1 auf R × R N × R N sind, so dass man aus (1.30) zunächst<br />
H ∈ C k−1 (R × R N × R N ) gewinnt, um dann aus (1.36)–(1.39) zu schließen, dass H ∈<br />
C k (R × R N × R N ).<br />
Mit (1.39) folgen die Behauptungen (H1) aus (1.36) und (1.37), (H2) aus (1.30). Zum<br />
Beweis von (H3) bemerken wir, dass jeder Vektor p ∈ R N mit ζ = F p (x, z, p) ein kritischer<br />
Punkt der Funktion q ↦→ {ζ · q − F (x, z, q)} ist, und damit automatisch ein Maximum dieser<br />
Funktion, da deren Hessesche durch die negativ definite symmetrische Matrix −F qq (x, z, q)<br />
gegeben ist. Wir hatten aber schon in Behauptung D gesehen, dass es genau ein Maximum<br />
gibt, so dass dieser kritische Punkt p mit p(x, z, ζ) übereinstimmen muss. Damit folgt p =<br />
H ζ (x, z, ζ) aus (1.39) und damit eine Richtung in der behaupteten Äquivalenz in (H3).<br />
Nimmt man umgekehrt an, dass p = H ζ (x, z, ζ), dann schließt man in folgender Weise:<br />
Wir wissen nach Behauptung A, dass p(x, z, ζ) ∈ R N existiert, so dass<br />
H(x, z, ζ) = ζ · p(x, z, ζ) − F (x, z, p(x, z, ζ)),<br />
und für diesen Vektor p(x, z, ζ) haben wir die Gleichung (1.39) hergeleitet, aus der dann<br />
sofort p = p(x, z, ζ) folgt. Andererseits gilt für p(x, z, ζ) die Gleichung (1.32), und damit<br />
auch für p, was die Behauptung für die Rückrichtung in (H3) ist.<br />
Damit ist das Lemma vollständig bewiesen.<br />
Satz 1.27 [Hamilton-Gleichungen]<br />
Sei F ∈ C 2 (R × R N × R N ) und H die zugehörige Hamilton-Funktion. Weiterhin erfülle<br />
F die Voraussetzungen<br />
(i)<br />
N∑<br />
F p i p j(x, z, p)ξi ξ j > 0 für alle ξ ∈ R N \ {0}, (x, z, p) ∈ R × R N × R N .<br />
i,j=1<br />
(ii) Es gibt stetige Funktionen g : R × R N<br />
lim t→∞<br />
ω(t)<br />
t<br />
= ∞, so dass<br />
→ R und ω : R → R mit der Eigenschaft<br />
F (x, z, p) ≥ ω(|p|) + g(x, z) für alle (x, z, p) ∈ R × R N × R N .<br />
Dann gilt für Funktionen u, v ∈ C 1 (I, R N ) mit<br />
{<br />
u ′ (x) = H ζ (x, u(x), v(x))<br />
v ′ (x) = −H z (x, u(x), v(x)) für alle x ∈ I.<br />
(HAM)
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 43<br />
die höhere Regularität u, v ∈ C 2 (I, R N ), und u erfüllt die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
d<br />
[<br />
]<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = F z (x, u(x), u ′ (x)) für alle x ∈ I. (ELG)<br />
dx<br />
Falls umgekehrt u ∈ C 2 (I, R N ) die Gleichung (ELG) auf I löst, dann lösen u, v das<br />
Hamilton-System (HAM) auf I, wenn<br />
v(x) := F p (x, u(x), u ′ (x)), x ∈ I,<br />
gesetzt wird, und v ist von der Klasse C 2 (I, R N ).<br />
Beweis. Falls u, v die Gleichungen (HAM) auf I erfüllen, dann folgt aus der ersten Gleichung<br />
in (HAM) bereits, dass u ′ mit einer stetig differenzierbaren Funktion übereinstimmt, da<br />
H ∈ C 2 (R × R N × R N ) nach Lemma 1.26. Also ist u ∈ C 2 (I, R N ). Aus der zweiten<br />
Gleichung folgt analog, dass v ∈ C 2 (I, R N ). Nach (H3) und (H1) aus Lemma 1.26 gilt<br />
u ′ (x) =<br />
(HAM) H ζ(x, u(x), v(x)) ⇐⇒<br />
(H3)<br />
v(x) = F p (x, u(x), u ′ (x)) für alle x ∈ I.<br />
Daraus folgt durch Differentiation<br />
d<br />
[<br />
]<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = v ′ (x) =<br />
dx<br />
(HAM)<br />
=<br />
(H1)<br />
−H z (x, u(x), v(x))<br />
F z (x, u(x), H ζ (x, u(x), v(x)) ),<br />
} {{ }<br />
=u ′ (x)<br />
was (ELG) beweist.<br />
Andererseits folgt aus v(x) = F p (x, u(x), u ′ (x)) nach (H3) die Beziehung u ′ (x) =<br />
H ζ (x, u(x), v(x)) für alle x ∈ I, also damit die erste Gleichung in (HAM). Weiterhin ist<br />
wegen u ∈ C 2 (I, R N ) und H ∈ C 2 (R×R N × R N ) die Funktion v von der Klasse C 1 (I, R N )<br />
und Differentiation ergibt unter Ausnutzung von (ELG) und (H1)<br />
v ′ (x) = d [<br />
]<br />
F p (x, u(x), u ′ (x))<br />
dx<br />
=<br />
(ELG)<br />
=<br />
1.Gl.von(HAM)<br />
=<br />
(H1)<br />
F z (x, u(x), u ′ (x))<br />
F z (x, u(x), H ζ (x, u(x), v(x)))<br />
−H z (x, u(x), v(x)) für alle x ∈ I,<br />
womit (HAM) vollständig bewiesen ist. Aus dieser letzten Gleichung lässt sich auch direkt<br />
ablesen, dass v ′ überall auf I mit einer C 1 -Funktion übereinstimmt, woraus v ∈ C 2 (I, R N )<br />
folgt.<br />
Beispiel 1.18<br />
Für N = 1, m > 0, I = (a, b) ⊂ R mit L 1 (I) < ∞ sei g ∈ C 2 (R), und wir betrachten (vgl.<br />
Beispiel 1.6) die Funktion F ∈ C 2 (R × R × R) gegeben durch<br />
F (x, z, p) := m 2 p2 − g(x)z<br />
für (x, z, p) ∈ R × R × R
44 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
mit partiellen Ableitungen F p (x, z, p) = mp und F z (x, z, p) = −g(x) und F pp (x, z, p) = m ><br />
0. Damit erfüllt F die Voraussetzungen (i) und (ii) von Satz 1.27. Die Euler-Lagrange-<br />
Gleichung ELG ist in diesem Beispiel die Newtonsche Bewegungsgleichung<br />
mu ′′ (x) = −g(x) für alle x ∈ I. (ELG 1.8 )<br />
Die Hamilton-Funktion H von F lässt sich wie folgt umschreiben:<br />
wobei<br />
H(x, z, ζ) = sup{ζp − F (x, z, p)} = sup{ζp − m<br />
p∈R<br />
p∈R 2 p2 + g(x)z}<br />
0 = d dp |p=p ∗<br />
{ζp − m 2 p2 + g(x)z}<br />
= ζ − mp ∗ ,<br />
woraus p ∗ = ζ/m folgt. Einsetzen von p ∗ in (1.40) ergibt<br />
H(x, z, ζ) = ζ · 1<br />
m ζ − m ( 1<br />
) 2<br />
2 m ζ + g(x)z<br />
( 1<br />
=<br />
m − m 2 · 1<br />
)<br />
m 2 ζ 2 + g(x)z<br />
= 1<br />
2m ζ2 + g(x)z,<br />
= ζp ∗ − m 2 (p∗ ) 2 + g(x)z, (1.40)<br />
und damit H ζ (x, z, ζ) = 1 m ζ und H z(x, z, ζ) = g(x). Also folgt aus Satz 1.27 das Hamilton-<br />
System {<br />
u ′ (x) = H ζ (x, u(x), v(x)) = 1 m v(x)<br />
v ′ (HAM 1.8 )<br />
(x) = −H z (x, u(x), v(x)) = −g(x)<br />
für die Impulsvariable<br />
v(x) := F p (x, u(x), u ′ (x)) = mu ′ (x).<br />
Beispiel 1.19<br />
Für N = 1, q > 1 und 1 q + 1 q ′ = 1, also q ′ = q<br />
q−1 und mit einer Funktion g ∈ C2 (R × R)<br />
betrachte die Funktion F ∈ C 1 (R × R × R) gegeben durch<br />
mit partiellen Ableitungen<br />
F (x, z, p) := 1 q |p|q − g(x, z)<br />
F p (x, z, p) = |p| q−2 p und F z (x, z, p) = −g z (x, z).<br />
Damit ist zwar Lemma 1.26 nicht unmittelbar anwendbar, trotzdem kann man die zugehörige<br />
Hamiltonfunktion H ermitteln (siehe Übungsaufgabe), und es ergibt sich die C 1 -Funktion<br />
H(x, z, ζ) := 1 q ′ |ζ|q′ + g(x, z)
1.4. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN 45<br />
mit partiellen Ableitungen<br />
H ζ (x, z, ζ) = |ζ| q′ −2 ζ und H z (x, z, ζ) = g z (x, z).<br />
Als Euler-Lagrange-Gleichung erhählt man<br />
d<br />
[<br />
]<br />
|u ′ (x)| q−2 u ′ (x) = −g z (x, u(x)), (ELG 1.19 )<br />
dx<br />
und eine Argumentation 11 wie in Satz 1.27 liefert das Hamilton-System<br />
{<br />
u ′ (x) = H ζ (x, u(x), v(x)) = |v(x)| q′ −2 v(x)<br />
v ′ (x)<br />
= −H z (x, u(x), v(x)) = −g z (x, u(x)).<br />
(HAM 1.19 )<br />
Beispiel 1.20<br />
Betrachte F = F (p) ∈ C 2 (R) mit F ′′ (p) > 0 für alle p ∈ R (oder zumindest sei F strikt<br />
konvex) mit superlinearem Wachstum:<br />
F (p)<br />
lim = +∞,<br />
|p|→∞ |p|<br />
womit die Voraussetzungen des Satzes 1.27 erfüllt sind. Die zugehörige Euler-Lagrange-<br />
Gleichung lautet<br />
d<br />
[ ]<br />
F p (u ′ (x)) = 0, (ELG 1.20 )<br />
dx<br />
woraus die Existenz einer Konstanten c 1 ∈ R folgt, so dass<br />
Die Hamilton-Funktion<br />
F p (u ′ (x)) = c 1 für alle x ∈ I. (1.41)<br />
H(x, z, ζ) = H(ζ) = sup{ζp − F (p)}<br />
p∈R<br />
hat die partiellen Ableitungen H ζ (ζ) = H ′ (ζ) und H z (ζ) = 0, womit das Hamilton-System<br />
folgende Gestalt nach Satz 1.27 hat:<br />
{<br />
u ′ (x) = H ζ (x, u(x), v(x)) = H ′ (v(x))<br />
v ′ (HAM 1.20 )<br />
(x) = −H z (x, u(x), v(x)) = −H z (v(x)) = 0.<br />
Aus der zweiten Hamilton-Gleichung folgt sofort, dass v(x) konstant auf I ist. Diese Konstante<br />
ist hier aber wegen der Definition von v (siehe Satz 1.27) bereits durch (1.41) festgelegt:<br />
v(x) := F p (u ′ (x)) = c 1 für alle x ∈ I.<br />
Damit impliziert aber die erste Gleichung in (HAM 1.20 ) u ′ (x) = H ′ (c 1 ) und folglich<br />
u(x) = H ′ (c 1 )x + c 2<br />
für eine Konstante c 2 ∈ R. Diese Lösung beschreibt also eine gleichförmige lineare Bewegung,<br />
und der Impuls v ist konstant.<br />
11 Satz 1.27 ist nicht unmittelbar anwendbar, da F nicht genügend glatt ist und Voraussetzung (i) nicht<br />
erfüllbar ist, wenn q ∈ (1, 2).
46 KAPITEL 1. EULER-LAGRANGE-GLEICHUNGEN<br />
Beispiel 1.21<br />
Wir wollen nun einen direkten Bezug zu dem Erhaltungssatz Proposition 1.13 herstellen.<br />
Sei dazu N = 1, F (x, z, p) = F (z, p) ∈ C 2 (R × R), und F erfülle die Voraussetzungen von<br />
Satz 1.27. Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet<br />
Andererseits gilt für die Hamilton-Funktion<br />
d<br />
[<br />
]<br />
F p (u(x), u ′ (x)) = F z (u(x), u ′ (x)). (ELG 1.21 )<br />
dx<br />
H(x, z, ζ) = H(z, ζ) = sup{ζp − F (z, p)} = ζp ∗ − F (z, p ∗ )<br />
p∈R<br />
mit ζ = F p (z, p ∗ ) (vgl. Lemma 1.26) nach Satz 1.27 das Hamilton-System<br />
{<br />
u ′ (x) = H ζ (u(x), v(x))<br />
v ′ (x)<br />
= −H z (u(x), v(x))<br />
(HAM 1.21 )<br />
für v(x) := F p (u(x), u ′ (x)), so dass<br />
d<br />
[<br />
]<br />
H(u(x), v(x))<br />
dx<br />
= H z (u(x), v(x))u ′ (x) + H ζ (u(x), v(x))v ′ (x)<br />
=<br />
(HAM 1.21 )<br />
−v ′ (x)u ′ (x) + u ′ (x)v ′ (x) = 0 für alle x ∈ I.<br />
Folglich ist H eine Erhaltungsgröße entlang der Lösungen (u, v) von (HAM 1.21 ). Dies ist<br />
allerdings keine Erweiterung des klassischen Erhaltungssatzes, Proposition 1.13; denn nach<br />
(H2) in Lemma 1.26 gilt für F = F (z, p)<br />
H(u(x), v(x)) =<br />
(H2)<br />
=<br />
(HAM 1.21 )<br />
v(x)H ζ (u(x), v(x)) − F (u(x), H ζ (u(x), v(x))<br />
v(x)u ′ (x) − F (u(x), u ′ (x))<br />
=<br />
Def.von v F p(u(x), u ′ (x))u ′ (x) − F (u(x), u ′ (x)) ≡ Φ(u(x), u ′ (x)) für alle x ∈ I.<br />
Mit anderen Worten, falls F = F (z, p) die Voraussetzungen 12 von Satz 1.27 erfüllt, dann ist<br />
die Hamilton-Funktion H entlang der Lösungen (u, v) des Hamilton-Systems (HAM 1.21 )<br />
identisch mit der klassischen Erhaltungsgröße Φ(z, p) = pF p (z, p) − F (z, p) entlang der<br />
Lösung u der Euler-Lagrange-Gleichung (ELG 1.21 ).<br />
12 Man beachte, dass die Voraussetzungen des Satzes 1.27 insbesondere wegen der Konvexitätsforderung<br />
stärker sind als die von Proposition 1.13.
Kapitel 2<br />
Sobolevräume<br />
Zur Motivation dieses Kapitels erinnern wir an das in Kapitel 1 beschriebene Beispiel 1.15<br />
der elastischen Knoten im R 3 . Dort hatten wir angemerkt, dass es für den Existenzbeweis<br />
zu Satz 1.21 nicht ausreicht, sich auf den Raum C 2 (S 1 , R 3 ) der geschlossenen, regulären<br />
C 2 -Kurven zu beschränken. Vielmehr ist hierfür der weiter unten definierte Sobolevraum<br />
W 2,2 nützlich.<br />
Außerdem wurde schon vorher in verschiedenen Beispielen deutlich, dass die Räume<br />
der klassisch differenzierbaren Funktionen häufig zu klein sind, um Existenz zu beweisen.<br />
Tatsächlich kann man in manchen Fällen sogar die Nichtexistenz von klassischen Lösungen<br />
nachweisen.<br />
Modellhaft wollen wir mit dem Ansatz der direkten Methode für die Existenztheorie<br />
aufzeigen, wo man mit klassischen Funktionenräumen auf Probleme stößt. Wir betrachten<br />
dazu für N = 1 die Dirichlet-Energie<br />
D(u) := 1 ∫<br />
|u ′ (x)| 2 dx,<br />
2<br />
die wir für gegebene Konstanten α, β ∈ R in der Klasse<br />
I<br />
C(α, β) := { v ∈ C 1 (I) : v(a) = α, v(b) = β }<br />
minimieren möchten. Da C(α, β) ≠ ∅, können wir eine Minimalfolge {u i } i∈N ⊂ C(α, β) mit<br />
der Eigenschaft<br />
D(u i ) −→ inf D ∈ [0, ∞)<br />
i→∞ C(α,β)<br />
wählen. Folglich existiert ein Index i 0 , so dass für alle i ≥ i 0<br />
Die zentralen Fragen der direkten Methode sind nun,<br />
D(u i ) ≤ 2 inf D + 1 < ∞. (2.1)<br />
C(α,β)<br />
1. ob eine Teilfolge {u ik } ⊂ {u i } in einer geeigneten Topologie gegen eine Funktion u<br />
konvergiert,<br />
2. ob u ∈ C(α, β), und<br />
3. ob D(u) = lim k→∞ D(u ik ) = inf C(α,β) D(·), oder ob zumindest D(u) ≤<br />
lim inf k→∞ D(u ik ) = inf C(α,β) D(·).<br />
47
48 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Es ist nicht klar (und i.A. auch falsch), dass (2.1) eine Konvergenz u ik → u in C 1 (I) impliziert.<br />
Eine möglicherweise weniger restriktive Topologie könnte unter Umständen eine<br />
schwächere Form der Konvergenz sichern, andererseits aber dazu führen, dass die Grenzfunktion<br />
u nicht mehr die Randwerte α und β annimmt, oder vielleicht nicht mehr in der<br />
Klasse C 1 (I) liegt. Zudem könnte es sein, dass das Funktional D in einer anderen Topologie<br />
keine ausreichenden Stetigkeitseigenschaften mehr hat.<br />
In vielen Fällen liefern die im Folgenden definierten Sobolevräume genau die Eigenschaften,<br />
die für die gerade skizzierte direkte Methode der <strong>Variationsrechnung</strong> relevant sind.<br />
Da die Theorie der Sobolevfunktionen in vielen Feldern der <strong>Mathematik</strong> zum Standardrepertoire<br />
gehören, behandeln wir hier die wichtigsten Sätze und Definitionen für den Fall<br />
von n-dimensionalen Definitionsbereichen, also offenen Mengen Ω ⊂ R n . An manchen Stellen<br />
verzichten wir auf den vollständigen Beweis und verweisen auf die einschlägige Literatur<br />
[1], [2], [18], [19], [25], [43], [75]. Der Beweis des Sobolevschen und Morreyschen<br />
Einbettungssatzes wird hier nur in der wesentlich vereinfachten Situation eindimensionaler<br />
Definitionsbereiche geführt, siehe Satz 2.14.<br />
Definition 2.1 [Sobolevräume]<br />
Seien k ∈ N, q ∈ [1, ∞], Ω ⊂ R n , Ω offen und Ω ≠ ∅.<br />
(i) Der Raum W k,q (Ω) der Sobolevfunktionen von der Differenzierbarkeitsordnung k und<br />
mit Integrabilität q ist definiert durch<br />
W k,q (Ω) :=<br />
{<br />
u ∈ L q (Ω) : ∀ Multiindizes γ mit |γ| ≤ k ∃u γ ∈ L q (Ω) :<br />
∫<br />
∫<br />
}<br />
u(x)∂ γ ϕ(x) dx = (−1) |γ| u γ (x)ϕ(x) dx ∀ϕ ∈ C0 ∞ (Ω) .<br />
Ω<br />
von u (zum Mul-<br />
Die zu u gehörigen Funktionen u γ =: ∂ γ u heißen schwache Ableitungen<br />
tiindex γ). Weiterhin definieren wir W 0,q (Ω) := L q (Ω).<br />
Ω<br />
Bemerkung:<br />
Eine auf Ω ⊂⊂ R n klassisch differenzierbare Abbildung ist auch in dem entsprechenden<br />
Sobolevraum zu jeder Integrabilität. Das ist i.A. falsch, wenn man die Differenzierbarkeit<br />
nur in Ω hat:<br />
u ∈ C k (Ω), Ω ⊂⊂ R n ⇒ u ∈ W k,q (Ω) für alle q ∈ [1, ∞]<br />
u ∈ C k (Ω)<br />
⇏<br />
i.A.<br />
u ∈ W k,q (Ω).<br />
( ∑<br />
(ii) Als Norm auf W k,q (Ω) definieren wir ‖u‖ W k,q (Ω) := ∫<br />
1/q<br />
|γ|≤k Ω |∂γ u| dx) q für q ∈<br />
[1, ∞) und ‖u‖ W k,∞ (Ω) := ∑ |γ|≤k esssup x∈Ω|∂ γ u(x)|.<br />
(iii) Für 1 ≤ q < ∞ definieren wir<br />
W k,q<br />
0 (Ω) := C ∞ 0 (Ω)‖·‖ W k,q (Ω)<br />
.<br />
Der Ausdruck auf der rechten Seite bezeichnet den Abschluss oder die Vervollständigung des<br />
Raumes C ∞ 0 (Ω) bezüglich der gerade definierten W k,q -Norm. Diesen Raum nennen wir den<br />
Sobolevraum der Ordnung k und Integrabilität q mit schwachen Nullrandwerten.
49<br />
Bemerkung:<br />
Automatisch ist damit W k,q<br />
0 (Ω) ⊂ W k,q (Ω) und zu u ∈ W k,q<br />
0 (Ω) und ε > 0 finden wir eine<br />
Funktion u ε ∈ C0 ∞(Ω) mit ‖u − u ε ‖ W k,q (Ω) < ε.<br />
(iv) Für Ω ⊂ A ⊂ Ω definieren wir den lokalen Sobolevraum<br />
}<br />
W k,q<br />
loc<br />
{u (A) := ∈ L q loc (Ω) : ∀x ∈ A ∃ρ x > 0 : u ∈ W k,q (Ω ∩ B ρx (x)) ,<br />
und speziell: W k,q<br />
loc (Ω) := { u ∈ L q loc (Ω) : ∀ Ω′ ⊂⊂ Ω : u ∈ W k,q (Ω ′ ) } .<br />
Proposition 2.2 [Sobolevräume sind Banachräume]<br />
Der Sobolevraum W k,q (Ω) ist ein Banachraum, d.h. ein vollständiger linearer normierter<br />
Raum, für alle 1 ≤ q ≤ ∞. Ebenso ist der Raum W k,q<br />
0 (Ω) ein Banachraum für alle 1 ≤<br />
q < ∞. Für q = 2 sind beide Räume Hilberträume mit dem Skalarprodukt<br />
〈f, g〉 W k,2 (Ω) :=<br />
∑ ∫<br />
∂ γ f(x) ∂ γ g(x) dx.<br />
0≤|γ|≤k<br />
Beweis. Wir werden zeigen, dass der Raum W k,q (Ω) isometrisch isomorph zu einem abgeschlossenen<br />
Unterraum von L q (Ω) × · · · × L q (Ω) versehen mit der Norm<br />
(<br />
∑ M<br />
‖(u 1 , u 2 , . . . , u M )‖ L q (Ω)×···×L q (Ω) := ‖u i ‖ q L q (Ω)<br />
ist. Da das endliche kartesische Produkt der Banachräume L q (Ω) wieder ein Banachraum<br />
ist und jeder abgeschlossene Unterraum eines Banachraumes selbst ein Banachraum ist<br />
(siehe z.B. [2, Übung U0.8]), ist auch der Sobolevraum W k,q (Ω) ein Banachraum. Dazu<br />
betrachtet man die isometrische lineare Abbildung<br />
Ω<br />
i=1<br />
J : W k,q (Ω) → L q (Ω) × · · · × L q (Ω),<br />
u ↦→ (u γ ) |γ|≤k ,<br />
) 1/q<br />
deren Bild nach Definition 2.1<br />
⎧<br />
( ) ⎨<br />
J W k,q (Ω) =<br />
⎩ (uγ ) |γ|≤k ∈ L q (Ω) × · · · × L q (Ω) :<br />
∫<br />
Ω<br />
u ∂ γ ϕ = (−1) |γ| ∫<br />
Ω<br />
u γ ϕ<br />
⎫<br />
⎬<br />
∀ϕ ∈ C0 ∞ (Ω), |γ| ≤ k<br />
⎭<br />
ein abgeschlossener Unterraum von L q (Ω) × · · · × L q (Ω) ist. Tatsächlich gilt für u i → u in<br />
W k,q (Ω) (⇒ u γ i −→ uγ in L q (Ω) für alle |γ| ≤ k)<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
u∂ γ ϕ dx ←− u i ∂ γ ϕ dx = (−1) |γ| u γ<br />
i→∞<br />
i<br />
ϕ dx −→ u γ ϕ dx für alle ϕ ∈ C0 ∞ (Ω).<br />
i→∞<br />
Ω<br />
Ω<br />
Ω<br />
Für q = 2 prüft man die Skalarprodukteigenschaften direkt nach. Der Raum W k,q<br />
0 (Ω) ist<br />
nach Definition ein bezüglich der W k,q (Ω)-Norm abgeschlossener Unterraum von W k,q (Ω)<br />
und damit wiederum nach [2, Übung U0.8] ebenfalls ein Banachraum.<br />
Ω
50 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Wenn die schwachen Ableitungen identisch verschwinden, dann ist die Sobolevfunktion<br />
auf Zusammenhangskomponenten des Definitionsbereichs konstant:<br />
Lemma 2.3 [∇u ≡ 0 ⇒ u ≡ konst.]<br />
Falls Ω offen und zusammenhängend ist und für u ∈ W 1,1<br />
loc<br />
(Ω) die Identität ∇u = 0 in Ω<br />
gilt, dann folgt:<br />
u ≡ konst. L n -fast überall in Ω.<br />
Bemerkung:<br />
Speziell können wir durch Abänderung auf einer L n -Nullmenge einen (guten) Repräsentanten<br />
u ∗ ∈ [u] : u ∗ (x) = konst. für alle x ∈ Ω<br />
finden. In der Regel können wir ohne Einschränkung mit dem optimalen Repräsentanten u ∗<br />
(weiter)rechnen, wobei wir dann der Einfachheit halber die Bezeichnung u wählen. Allerdings<br />
gibt es Situationen, bei denen die Auswahl ausgezeichneter Sobolev-Repräsentanten mit<br />
Vorsicht getroffen werden sollte, siehe hierzu z.B. die Arbeit von P. Hajłasz [28] und die<br />
dort zitierte Literatur.<br />
Beweis. Für x 0 ∈ Ω wählt man ρ > 0, so dass B 2ρ (x 0 ) ⊂ Ω, und zu 0 < ε < ρ betrachtet<br />
man den Faltungskern (siehe Definition A.20 im Anhang) ϕ ε (x) := 1<br />
ε<br />
ϕ( x n ε ), ϕ ∈ C∞ 0 (B 1(0)).<br />
Für x ∈ B ρ (x 0 ) gilt dann<br />
ϕ ε (x − ·) ∈ C ∞ 0 (B ε (x)) ⊂ C ∞ 0 (B 2ρ (x 0 )) ⊂ C ∞ 0 (Ω).<br />
Für die Faltung u ε := ϕ ε ∗ u = ∫ R n ϕ ε (. − y)u(y) dy berechnen wir für x ∈ B ρ (x 0 )<br />
∇ x u ε (x) =<br />
∫<br />
∇ x (ϕ ε (x − y)) u(y) dy<br />
R n<br />
∫<br />
= −<br />
∇ y (ϕ ε (x − y)) u(y) dy<br />
Def.2.1<br />
=<br />
∫<br />
R n<br />
ϕ ε (x − y) ∇ y u(y) dy<br />
R n<br />
schwache Ableitung<br />
∫<br />
von u<br />
{ }} {<br />
= ϕ ε (x − y) ∇ y u(y)<br />
} {{ }<br />
Ω<br />
= 0<br />
= (∇u) ε (x) = 0.<br />
Daraus folgt u ε ≡ const ε auf B ρ (x 0 ). Aus Satz A.21 im Anhang wissen wir, dass u ε −→ u<br />
in L 1 loc (Ω) für ε → 0, speziell also u ε −→ u L n -fast überall in Ω für ε → 0. Damit folgt<br />
schließlich u ≡ konst. in B ρ (x 0 ), und da Ω zusammenhängend ist auch u ≡ konst. L n -fast<br />
überall in Ω.<br />
Zentral für das Arbeiten mit Sobolevfunktionen ist die Tatsache, dass man solche<br />
Funktionen mit Hilfe von glatten Funktionen approximieren kann.<br />
Proposition 2.4 [Lokale Approximation von W k,q -Funktionen]<br />
Seien k ∈ N ∪ {0}, 1 ≤ q < ∞.<br />
dy
51<br />
(i) Sei u ∈ W k,q<br />
loc (Ω) und u ε die Faltung von u wie im Beweis von Lemma 2.3. Dann gilt<br />
u ε ∈ C ∞ (Ω ′ ) für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω und 0 < ε < dist(Ω ′ , ∂Ω) und u ε −→ u in W k,q<br />
ε→0<br />
loc (Ω).<br />
Falls u ∈ W k,q (Ω), dann ist u ε ∈ C ∞ (R n ).<br />
(ii) Falls u ∈ W k,q (Ω) und supp u ⊂⊂ Ω, dann existiert eine Folge {u m } m∈N ⊂ C0 ∞(Ω),<br />
so dass u m −→ u in W k,q (Ω) 1 .<br />
m→∞<br />
Falls Ω = R n und u ∈ W k,q (R n ), dann existert eine Folge {u m } m∈N ⊂ C0 ∞(Rn ), so<br />
dass u m −→ u in W k,q (R n ). (In diesem Sinne ist W k,q (R n ) = W k,q<br />
m→∞<br />
0 (R n ).)<br />
(iii) Falls Ω = R n + := Rn−1 × (0, ∞) und u ∈ W k,q (R n +), dann existiert eine Folge<br />
{u m } m∈N ⊂ C0 ∞(Rn−1 × [0, ∞)) : u m −→ u in W k,q (R n<br />
m→∞<br />
+).<br />
Beweis. Wir werden hier nur die für uns relevanten Teile (i) und (ii) beweisen.<br />
(i) Da der Faltungskern ϕ ε von der Klasse C ∞ 0 (B ε(0)) ⊂ C ∞ (R n ) ist, muss man für die<br />
Glattheit von u ε lediglich den Definitionsbereich von u beachten. Für x ∈ Ω ′ ⊂⊂ Ω und<br />
0 < ε < dist(Ω ′ , ∂Ω) ist<br />
supp ϕ ε (x − ·) ⊂⊂ B ε (Ω ′ ) := {y ∈ R n : dist(y, Ω ′ ) < ε} ⊂ Ω,<br />
und wegen u ∈ L q loc (Ω) ist u auf supp ϕ ε(x−.) definiert. Weiterhin sind alle Voraussetzungen<br />
für die Vertauschbarkeit von Differentiation und Integration erfüllt (siehe z.B. [3, Bd.II, p.<br />
289]), womit man durch wiederholtes Differenzieren die Relation u ε ∈ C ∞ (Ω ′ ) nachweist.<br />
Falls u ∈ W k,q (Ω), kann man u als L q -Funktion (aber im Allgemeinen nicht als W k,q -<br />
Funktion, vgl. den kommenden Fortsetzungssatz Satz 2.12!) durch den Wert Null auf ganz<br />
R n fortsetzen, womit u ε ∈ C ∞ (R n ) folgt.<br />
Für x ∈ Ω und 0 < ε < dist(x, ∂Ω) betrachten wir ϕ ε (x − ·) ∈ C0 ∞(B ε(x)) ⊂ C0 ∞(Ω)<br />
und berechnen wie im Beweis von Lemma 2.3<br />
∫<br />
∂xu γ ε (x) = ∂x(ϕ γ ε (x − y)) u(y) dy<br />
R n<br />
= (−1) |γ| ∫<br />
∂ γ y (ϕ ε (x − y)) u(y) dy<br />
Def.2.1<br />
=<br />
∫<br />
R n<br />
R n<br />
ϕ ε (x − y) ∂ γ u(y)<br />
} {{ }<br />
dy = (∂ γ u) ε (x).<br />
schwache<br />
Ableitung<br />
Nun liefert der Satz A.21 im Anhang für alle Multiindices γ mit |γ| ≤ k:<br />
∂ γ (u ε ) = (∂ γ u) ε −→<br />
ε→0<br />
(∂ γ u)<br />
in L q loc (Ω).<br />
Somit folgt u ε −→<br />
ε→0<br />
u in W k,q<br />
loc (Ω).<br />
1 Diesen Teil der Proposition benutzt man für den letzten Grenzübergang (1.10) im Beweis des Fundamentallemmas<br />
von DuBois-Reymond, Lemma 1.10. Man muss dort nur nachweisen, dass die stückweise<br />
linearen Funktionen ζ ε kompakten Träger haben und von der Klasse W 1,q (I) für ein q ∈ [1, ∞) sind. Letzteres<br />
kann man entweder direkt anhand von Definition 2.1 nachweisen, oder man zitiert den noch zu beweisenden<br />
Satz 2.6.
52 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
(ii) Für 0 < ε < 1 2 dist(supp u, ∂Ω) gilt supp u ε ⊂ B ε (supp u) ⊂ B σ (supp u) ⊂⊂ Ω für<br />
σ := 1 2 dist(supp u, ∂Ω) und daher u ε ∈ C0 ∞ (Ω). Aus dem oben bewiesenen Teil (i) folgt<br />
u ε −→ u in W k,q<br />
ε→0<br />
loc<br />
(Ω) und damit hat man<br />
‖u − u ε ‖ W k,q (Ω) = ‖u − u ε ‖ W k,q (B σ(supp<br />
−→ 0 für ε → 0.<br />
u))<br />
Falls Ω = R n , so betrachte die Faltung u ε ∈ C ∞ (R n ), mit Satz A.21 im Anhang und Teil (i)<br />
folgt nun u ε −→<br />
ε→0<br />
u in W k,q (R n ). Allerdings haben diese approximierenden Funktionen u ε<br />
i.A. keinen kompakten Träger im R n . Deswegen betrachtet man Abschneidefunktionen η R ∈<br />
C ∞ 0 (B 2R(0)), wobei η R ≡ 1 auf B R (0) und 0 ≤ η R ≤ 1, mit den Eigenschaften<br />
Dann folgt für u ε,R := η R u ε<br />
|∂ γ η R | ≤ C(l)<br />
R l χ B2R \B R (0) für alle l ∈ N, |γ| = l.<br />
∂ γ u ε,R =<br />
‖∂ γ u ε,R − η R ∂ γ u ε ‖ L q (R n ) =<br />
≤<br />
R≥1<br />
∑<br />
0≤β≤γ<br />
∑<br />
∥<br />
0≤β≤γ<br />
|β|>0<br />
( γ<br />
β)<br />
∂ β η R ∂ γ−β u ε für alle |γ| ≤ k,<br />
( γ<br />
β)<br />
∂ β η R ∂ γ−β u ε<br />
∥ ∥∥∥∥∥∥<br />
L q (R n )<br />
C(k, n)<br />
R ‖u ε‖ W k,q (R n )<br />
} {{ }<br />
0<br />
konstatieren. Das bedeutet<br />
−→ 0.<br />
R→∞<br />
−→ ∂ γ u ε in L q (R n ) für alle |γ| ≤ k.<br />
R→∞<br />
∂ γ u ε,R −→ ∂ γ u ε in L q (R n ) für R → ∞ für alle |γ| ≤ k<br />
u ε,R −→ u ε in W k,q (R n ) für R → ∞.<br />
Für alle σ > 0 wähle 0 < ε ≪ 1, so dass ‖u ε − u‖ W k,q (R n ) < σ 2<br />
und dann R ≫ 1, so dass<br />
‖u ε − u ε,R ‖ W k,q (R n ) < σ 2 . Damit folgt nun ‖u − u ε,R‖ W k,q (R n ) < σ.<br />
Beispiel 2.1<br />
Wir betrachten für α > 0 die stückweise definierte und damit im Ursprung singuläre Funktion<br />
u : Ω := B 1 (0) ⊂ R n −→ R<br />
erklärt durch<br />
u(x) :=<br />
{ 1<br />
|x| α für x ≠ 0<br />
17 für x = 0.<br />
Es gilt u ∉ C 1 (B 1 (0)), aber es stellt sich die Frage:
53<br />
Für welche q, n, α ist u ∈ W 1,q (B 1 (0))?<br />
Zunächst stellen wir fest, dass u ∈ C ∞ (B 1 (0) \ {0}) und wir berechnen für x ≠ 0 und<br />
α > 0 die ersten Ableitungen<br />
∂ i u(x) = − α x i<br />
|x| α+1 |x| = −α x i<br />
|x| α+2 ,<br />
⇒ |∇u(x)| =<br />
1<br />
|α|<br />
|x| α+1 .<br />
Falls α + 1 < n, so folgt |∇u| ∈ L 1 (B 1 (0)); denn mit Hilfe von Polarkoordinaten berechnet<br />
man<br />
∫<br />
∫<br />
dx<br />
|∇u(x)| dx = |α|<br />
|x| α+1<br />
B 1 (0)<br />
= |α|<br />
B 1 (0)<br />
∫ 1<br />
0<br />
r n−1<br />
r α+1 dr H n−1 (S n−1 )<br />
} {{ }<br />
nω n<br />
= C(α, n)<br />
[r n−(α+1)] 1<br />
< ∞,<br />
0<br />
wobei ω n := L n (B 1 (0)). Mit einer analogen Rechnung erhält man für 0 < α < n, dass<br />
u ∈ L 1 (B 1 (0)). Zur Überprüfung der in Definition 2.1 enthaltenen Regel der partiellen Integration<br />
schneidet man zunächst die Singularität im Ursprung aus dem Integrationsgebiet.<br />
D.h. für ε > 0 und für alle ϕ ∈ C0 ∞(B 1(0)) betrachtet man<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
u(x) ∂ i ϕ(x) dx = (−1) ∂ i u(x) ϕ(x) dx+ u(ζ)ϕ(ζ) ν i (ζ) dH n−1 (ζ),<br />
B 1 (0)\B ε(0)<br />
B 1 (0)\B ε(0)<br />
∂B ε(0)<br />
wobei ν i die i-te Komponente des äußeren Einheitsnormalenvektors an den Rand des Integrationsbereichs<br />
bezeichnet. Der Grenzübergang ε → 0 liefert<br />
∫<br />
∫<br />
u(x) ∂ i ϕ(x) dx = (−1) ∂ i u(x) ϕ(x) dx + 0;<br />
B 1 (0)<br />
B 1 (0)<br />
denn aus α + 1 < n folgt für das Randintegral<br />
∫<br />
1<br />
ε<br />
∣<br />
α ϕ(ζ)ν i(ζ) dH n−1 1<br />
(ζ)<br />
≤ ‖ϕ‖ L ∞ (B 1 (0))<br />
ε<br />
∣<br />
α C(n)εn−1 −→<br />
∂B ε(0)<br />
ε→0<br />
0.<br />
Falls α + 1 < n erfüllt ist, gilt folglich u ∈ W 1,1 (B 1 (0)).<br />
Entsprechend ist u ∈ W 1,q (B 1 (0)), falls α + 1 < n q<br />
für q ∈ [1, ∞), da α + 1 < n q ≤ n<br />
für alle q ≥ 1. Tatsächlich gilt die Regel der partiellen Integration, da wir für die obige<br />
Rechnung nur u ∈ L 1 und ∇u ∈ L 1 benötigen. Weiterhin prüft man für α + 1 < n q<br />
leicht<br />
nach, dass ∇u ∈ L q (B 1 (0)), denn aus (α + 1)q < n folgt<br />
∫<br />
∫ 1<br />
|∇u| q r n−1<br />
[<br />
dx = C(n, α)<br />
r (α+1)q dr = C(n, α) r n−(α+1)q] 1<br />
< ∞.<br />
0<br />
B 1 (0)<br />
0
54 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Analog zeigt man, dass u ∈ L q (B 1 (0)). Andererseits sieht man mit diesen Rechnungen, dass<br />
u ∉ W 1,q (B 1 (0)) für q ≥ n. Zusammenfassend haben wir für diese Beispielfunktion<br />
u ∈ W 1,q (B 1 (0)) ⇔ 0 < α < n q − 1.<br />
Die von Nirenberg entwickelte Technik von Regularitätsbeweisen mittels Differenzenquotienten<br />
basiert im Wesentlichen auf dem folgenden Lemma. In der Regularitätstheorie<br />
der <strong>Variationsrechnung</strong> (und bei partiellen Differentialgleichungen) nutzt man dabei Differenzenquotienten<br />
der Lösungen als zulässige Testfunktionen in den schwachen Euler-<br />
Lagrange-Gleichungen, um Integralabschätzungen für Potenzen dieser Differenzenquotienten<br />
zu gewinnen. Dann verbessert Teil (ii) des folgenden Resultates die Differenzierbarkeitsordnung<br />
der Lösung um eine Stufe, was einen Regularitätsgewinn bedeutet. Wir werden<br />
diese Technik z.B. bei der Untersuchung eines Hindernisproblems in Abschnitt 5.1 benutzen.<br />
Lemma 2.5 [Differenzenquotienten in Sobolevräumen]<br />
Sei k ∈ N, Ω ⊂ R n offen, h ∈ R \ {0}, l ∈ {1, . . . , n}. e l ∈ S n−1 sei der l-te Standardbasisvektor,<br />
u ∈ L 1 loc<br />
(Ω), und<br />
∆ e l<br />
h u(x) := u(x + he l) − u(x)<br />
h<br />
der für L n -fast alle x ∈ Ω definierte Differenzenquotient von u in die l-te Koordinatenrichtung.<br />
Dann ist Folgendes wahr:<br />
(i) Für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω und 0 < |h| < dist(Ω ′ , ∂Ω) und für u ∈ W k,q (Ω), 1 ≤ q < ∞, gilt<br />
und<br />
‖∆ e l<br />
h u‖ W k−1,q (Ω ′ ) ≤ ‖∂ l u‖ W k−1,q (Ω) für alle l = 1, . . . , n,<br />
∆ e l<br />
h u −→<br />
h→0 ∂ lu<br />
in W k−1,q<br />
loc<br />
(Ω).<br />
(ii) Falls u ∈ W k−1,q<br />
loc<br />
(Ω), 1 < q < ∞, und falls für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω eine Konstante C(Ω ′ ) <<br />
∞ existiert, die unabhängig von h mit 0 < |h| < dist(Ω ′ , ∂Ω) ist, so dass<br />
dann ist u ∈ W k,q<br />
loc (Ω).<br />
‖∆ e l<br />
h u‖ W k−1,q (Ω ′ ) ≤ C(Ω ′ ),<br />
Beweis. (i) Sei zunächst u ∈ W k,q (Ω) ∩ C ∞ (Ω), |γ| ≤ k − 1. Es gilt für x ∈ Ω ′ und<br />
0 < |h| < dist(Ω ′ , ∂Ω)<br />
∂ γ ∆ e l<br />
h u(x) = 1 h (∂γ u(x + he l ) − ∂ γ u(x)) = 1 h<br />
= 1 h<br />
∫ 1<br />
0<br />
∇∂ γ u(x + the l ) · he l dt =<br />
∫ 1<br />
0<br />
∫ 1<br />
0<br />
d<br />
dt ∂γ u(x + the l ) dt<br />
∂ l ∂ γ u(x + the l ) dt.<br />
Also folgt mit der Jensen-Ungleichung und dem Satz von Fubini<br />
∫ ∫ 1<br />
∫ 1 ∫<br />
‖∂ γ ∆ e l<br />
h u‖q L q (Ω ′ ) ≤ |∂ γ ∂ l u(x + the l )| q dt dx = |∂ γ ∂ l u(x + the l )| q<br />
Ω ′ 0<br />
0 Ω<br />
∫ ′ 1 ∫<br />
≤ |∂ γ ∂ l u(z)| q dz dt = ‖∂ γ ∂ l u‖ q L q (Ω) .<br />
0<br />
Ω<br />
dx dt
55<br />
Weiterhin gilt ∆ e l<br />
h u −→ ∂ lu in C s (Ω) für alle s ∈ N und l = 1 . . . , n, da u ∈ C ∞ (Ω). Also<br />
h→0<br />
gilt die Konvergenz auch in W k−1,q<br />
loc<br />
(Ω). Für eine allgemeine Funktion u ∈ W k,q (Ω) existiert<br />
eine Folge {u m } m ⊂ C ∞ (Ω), so dass nach Proposition 2.4 gilt u m −→ u in W k,q<br />
m→∞ loc<br />
(Ω). Sei<br />
nun Ω ′′ := B δ (Ω ′ ) := {x ∈ R n |dist(x, Ω ′ ) < δ} für δ < dist(Ω ′ , ∂Ω). Für 0 < |h| < δ hat<br />
man dann<br />
‖∆ e l<br />
h u‖ W k−1,q (Ω ′ )<br />
←−<br />
m→∞<br />
‖∆e l<br />
h u m‖ W k−1,q (Ω ′ ) ≤ ‖∂ l u m ‖ W k−1,q (Ω ′′ )<br />
−→<br />
m→∞<br />
‖∂ lu‖ W k−1,q (Ω ′′ ) ≤ ‖∂ l u‖ W k−1,q (Ω).<br />
Folglich ist nach der soeben bewiesenen Abschätzung angewendet auf die Differenz u−u m ∈<br />
W k,q (Ω) und die Definitionsbereiche Ω ′ ⊂⊂ Ω ′′<br />
lim sup ‖∆ e l<br />
0≠h→0<br />
h u − ∂ lu‖ W k−1,q (Ω ′ ) ≤ lim sup<br />
h→0<br />
‖∆ e l<br />
h (u − u m)‖ W k−1,q (Ω ′ )<br />
+ lim sup ‖∆ e l<br />
h u m − ∂ l u m ‖ W k−1,q (Ω ′ )<br />
h→0<br />
+ lim sup ‖∂ l (u − u m )‖ W k−1,q (Ω ′ )<br />
h→0<br />
≤ 2‖∂ l (u − u m )‖ W k−1,q (Ω ′′ ) −→ 0;<br />
m→∞<br />
denn aus der Glattheit von u m folgt lim sup h→0 ‖∆ e l<br />
h u m − ∂ l u m ‖ W k−1,q (Ω ′ ) = 0.<br />
(ii) L q (Ω) ist ein reflexiver Banachraum (siehe Definition A.4 im Anhang) und damit auch<br />
W k−1,q (Ω) für 1 < q < ∞. Man wählt eine Ausschöpfung {Ω i } i von Ω mit Ω i ⊂⊂ Ω i+1 für<br />
alle i ∈ N und Ω = ⋃ ∞<br />
i=1 Ω i. Nach Voraussetzung gilt<br />
‖∆ e l<br />
h u‖ W k−1,q (Ω i ) ≤ C(Ω i ).<br />
Zu Ω 1 gibt es eine Teilfolge h 1 → 0 und Funktionen v γ,l<br />
1 ∈ L q (Ω 1 ) mit<br />
∂ γ ∆ e l<br />
h 1<br />
u ⇀<br />
h1 →0 vγ,l 1 in L q (Ω 1 ) ∀|γ| ≤ k − 1, l = 1, . . . , n.<br />
Zu Ω 2 existieren eine Teilfolge {h 2 } ⊂ {h 1 } und Funktionen v γ,l<br />
2 ∈ L q (Ω 2 ) mit h 2 → 0 und<br />
∂ γ ∆ e l<br />
h 2<br />
u ⇀<br />
h2 →0 vγ,l 2 in L q (Ω 2 ) ∀|γ| ≤ k − 1, l = 1, . . . , n.<br />
Die Fortsetzung dieses Auswahlverfahrens und ein darauffolgendes Diagonalfolgenargument<br />
liefert eine Folge h → 0 und Funktionen u γ,l ∈ L q loc<br />
(Ω) definiert durch<br />
u γ,l (x) := v γ,l<br />
N (x) für x ∈ Ω N,<br />
so dass 2<br />
∂ γ ∆ e l<br />
h u ⇀<br />
h→0 uγ,l in L q loc<br />
(Ω) ∀|γ| ≤ k − 1, l = 1, . . . , n.<br />
2 Tatsächlich findet man zu einem beliebigen Kompaktum K ⊂ Ω ein N ∈ N, so dass aufgrund der<br />
Ausschöpfungseigenschaft K ⊂ Ω N , und daraus folgt<br />
lim<br />
h→0 ‖∂γ ∆ e l<br />
h u − uγ,l ‖ L q (K) = lim<br />
h→0<br />
‖∂ γ ∆ e l<br />
h u − vγ,l N ‖ L q (K) = 0.
56 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Zu einem Multiindex ¯γ mit 0 ≤ |¯γ| ≤ k findet man einen Multiindex γ mit 0 ≤ |γ| ≤ k − 1<br />
und eine Koordinatenrichtung gegeben durch den Standardbasisvektor e l ∈ S n−1 für ein<br />
l ∈ {1, . . . , n}, so dass ¯γ = γ + e l . Damit ergibt sich für ϕ ∈ C0 ∞ (Ω) mit der Regel der<br />
diskreten partiellen Integration<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
u∂¯γ ϕ dx ←− u∆ e l<br />
Ω<br />
h i →0<br />
−h i<br />
∂ γ ϕ dx = (−1) ∆ e l<br />
Ω<br />
Aufg. 21<br />
h i<br />
u∂ γ ϕ dx<br />
Ω<br />
= (−1) |¯γ| ∫<br />
−→<br />
h i →0<br />
Aufgrund von Definition 2.1 gilt somit u ∈ W k,q<br />
loc (Ω).<br />
(−1) |¯γ| ∫<br />
Ω<br />
Ω<br />
∂ γ ∆ e l<br />
h i<br />
uϕ dx<br />
u γ,l ϕ dx.<br />
Wir beweisen nun die folgende Charakterisierung von Lipschitzstetigen Funktionen.<br />
Satz 2.6 [C k−1,1 (Ω) ∼ = W k,∞ (Ω)]<br />
Sei k ∈ N, Ω ⊂ R n offen. Dann gilt:<br />
(i) C k−1,1 (Ω) ⊂ W k,∞ (Ω).<br />
(ii) Falls Ω beschränkt ist und ∂Ω ∈ C k−1,1 , dann gilt W k,∞ (Ω) ⊂ C k−1,1 (Ω).<br />
Bemerkung:<br />
Teil (ii) besagt genauer: Es gibt einen Repräsentanten u ∗ in der Funktionenklasse [u] ∈<br />
W k,∞ (Ω), so dass u ∗ ∈ C k−1,1 (Ω). Mit diesem (schönen) Repräsentanten u ∗ wird in der<br />
Regel weitergerechnet und man verwendet stillschweigend die Bezeichnung u. Man beachte<br />
aber die grundsätzliche Bemerkung zur Auswahl von günstigen Repräsentanten nach Lemma<br />
2.3.<br />
Beweis. Wir führen den Beweis exemplarisch für k = 1, für k > 1 betrachtet man anstelle<br />
von u die Ableitungen von u zur Ordnung k.<br />
(i) Man hat für alle ϕ ∈ C0 ∞ (Ω) mit Hilfe der diskreten partiellen Integration<br />
∫<br />
∫<br />
∣ ∫<br />
∣ ∣ u ∂ l ϕ dx<br />
∣ ←−<br />
∣∣∣ ∣ u ∆ e l<br />
−h ϕ dx ∣∣∣<br />
=<br />
Aufg. 21<br />
∣ − ∆ e l<br />
h u ϕ dx ≤ Lip Ω u ‖ϕ‖ L 1 (Ω);<br />
Ω<br />
h→0<br />
Ω<br />
denn es gilt<br />
1<br />
h |u(x + he l) − u(x)| ≤ |he l|<br />
h<br />
Lip Ωu.<br />
Mit dem weiter unten bewiesenen Lemma 2.7 folgt u ∈ W 1,∞ (Ω).<br />
(ii) Sei Ω = B 1 (0). Der allgemeinere Fall folgt aus einem Überdeckungsargument 3 , auf das<br />
wir hier verzichten werden. Betrachte nun die Faltung u ε = ϕ ε ∗ u für einen Faltungskern<br />
ϕ ∈ C0 ∞(B 1(0)) mit ϕ ≥ 0 und ∫ ϕ = 1, so dass ϕ<br />
R n ε (x − ·) ∈ C0 ∞ (B ε(x)) ⊂ C0 ∞ (B 1(0))<br />
für x ∈ B 1−ε (0). Dies erlaubt nach Definition 2.1 die Rechnung<br />
∫<br />
∫<br />
∇ x (u ε ) (x) = ∇ x ϕ ε (x − y)u(y) dy = ∇ x ϕ ε (x − y)u(y) dy<br />
B 1 (0)<br />
∫<br />
= − ∇ y ϕ ε (x − y)u(y) dy =<br />
B 1 (0)<br />
Def. 2.1<br />
∫<br />
B 1 (0)<br />
B 1 (0)<br />
3 Für dieses Argument wird die Regularität des Randes von Ω benötigt.<br />
Ω<br />
ϕ ε (x − y)∇ y u(y) dy für alle x ∈ B 1−ε (0).
57<br />
und<br />
Wegen ∫ R n ϕ ε = 1 (siehe Bemerkung 5.3 im Anhang) folgt<br />
‖u ε ‖ C 0 (B 1−δ (0)) ≤ ‖u ε‖ C 0 (B 1−ε (0)) ≤ ‖u‖ L ∞ (Ω) für 0 < ε < δ (2.2)<br />
Lip B1−δ (0)u ε ≤ Lip B1−ε (0)u ε ≤ ‖∇u ε ‖ C 0 (B 1−ε (0),R n ) ≤ ‖∇u‖ L ∞ (B 1 (0),R n ) für 0 < ε < δ.<br />
(2.3)<br />
Sei δ j → 0 eine beliebige streng monoton fallende Nullfolge. Zunächst liefert der Satz von<br />
Arzelà-Ascoli eine Teilfolge u εi −→ u in C 0 (B 1−δ1 (0)) für beliebiges δ 1 ∈ (0, 1). Für<br />
i→∞<br />
δ 2 ∈ (0, δ 1 ) können wir aus dieser Teilfolge eine weitere Teilfolge auswählen, die gleichmäßig<br />
auf B 1−δ2 (0) konvergiert, und so fahren wir für alle δ j fort. Die Auswahl einer Diagonalfolge<br />
liefert schließlich die lokal gleichmäßige Konvergenz<br />
u ε −→<br />
ε→0<br />
u in C 0 (B 1 (0)).<br />
Dann folgt für beliebige Punkte x, y ∈ B 1 (0) und d < 1 2 min (dist(x, ∂B 1(0)), dist(y, ∂B 1 (0)))<br />
|u(x) − u(y)| ≤ |u(x) − u ε (x)| + |u ε (x) − u ε (y)| + |u ε (y) − u(y)|<br />
≤ 2‖u − u ε ‖ C 0 (B 1−d (0)) + Lip B 1−d (0)u ε |x − y|<br />
≤<br />
(2.3)<br />
2 ‖u − u ε ‖ C 0 (B 1−d<br />
+‖∇u‖<br />
(0)) L<br />
} {{ }<br />
∞ (B 1 (0))|x − y|,<br />
−→ 0 ε→0<br />
also u ∈ C 0,1 (B 1 (0)) mit Lip B1 (0)u ≤ ‖∇u‖ L ∞ (B 1 (0)). Nach stetiger Fortsetzung dieser auf<br />
B 1 (0) gleichmäßig stetigen Funktion u folgt auch u ∈ C 0,1 (B 1 (0)).<br />
Wir haben bei dem Beweis von Satz 2.6 die auch in anderen Situationen sehr nützliche<br />
Charakterisierung von Sobolevfunktionen verwendet:<br />
Lemma 2.7 [Charakterisierung von W k,q ]<br />
Sei k ∈ N ∪ {0}, 1 < q ≤ ∞. Dann sind äquivalent:<br />
(i) u ∈ W k,q (Ω),<br />
(ii) u ∈ L q loc (Ω) und es gibt eine Konstante M = M u, so dass<br />
∫<br />
∣ (−1)|γ| u∂ γ ϕ dx<br />
∣ ≤ M u‖ϕ‖ L q ′ (Ω)<br />
für alle ϕ ∈ C0 ∞ (Ω), |γ| ≤ k, wobei 1 q + 1 q ′ = 1.<br />
Ω<br />
Falls (ii) gilt, dann kann man zusätzlich zeigen, dass die schwachen Ableitungen ∂ γ u für alle<br />
|γ| ≤ k die Abschätzung ‖∂ γ u‖ L q (Ω) ≤ M u erfüllen.<br />
Beweis. Falls (i) gilt, können wir mit der Hölder-Ungleichung abschätzen:<br />
∫<br />
∫<br />
∣ (−1)|γ| u∂ γ ϕ dx<br />
∣ =<br />
∣ ∂ γ uϕ dx<br />
∣<br />
Ω<br />
Def. 2.1<br />
und es gilt u ∈ L q (Ω) ⊂ L q loc (Ω).<br />
Ω<br />
≤<br />
Hölder-Ungl.<br />
‖∂ γ u‖ L q (Ω) ‖ϕ‖<br />
} {{ } L q ′ (Ω) ,<br />
≤‖u‖ W k,q (Ω)<br />
=:M u
58 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Für den Fall, dass (ii) wahr ist, bemerken wir zunächst, dass für q ′ ∈ [1, ∞) der Raum<br />
C0 ∞(Ω) eine bezüglich der Lq′ -Norm dichte Teilmenge in L q′ (Ω) ist, da bekanntlich C0 0(Ω)<br />
dicht in L q′ (Ω) liegt, und man C0 0-Funktionen durch Faltung mit C∞ 0 -Funktionen in der<br />
C 0 -Norm und damit auch in der L q′ -Norm approximieren kann, vergleiche Korollar A.22 im<br />
Anhang.<br />
Für jeden Multiindex γ mit |γ| ≤ k ist die Zuordnung ϕ ↦→ L γ (ϕ) := (−1) |γ| ∫ Ω u ∂γ ϕ dx<br />
ein lineares und nach Voraussetzung bezüglich der L q′ -Norm stetiges Funktional auf C0 ∞(Ω).<br />
Durch stetige Fortsetzung erhält man für jeden Multiindex γ mit |γ| ≤ k ein Funktional<br />
Bekanntlich ist<br />
˜L γ ∈<br />
(<br />
L q′ (Ω)) ∗<br />
.<br />
(<br />
L q′ (Ω)) ∗<br />
∼= L q (Ω) (siehe z.B. [2, Satz 4.12]). Dies liefert die Existenz einer<br />
Funktion u γ ∈ L q (Ω) mit<br />
∫<br />
˜L γ (ϕ) =<br />
Ω<br />
u γ ϕ dx<br />
für alle ϕ ∈ L q′ (Ω),<br />
speziell also<br />
˜L γ (ϕ) = (−1) |γ| ∫<br />
Ω<br />
∫<br />
u ∂ γ ϕ dx =<br />
Ω<br />
u γ ϕ dx<br />
für alle ϕ ∈ C ∞ 0 (Ω).<br />
Als schwache Ableitungen von u definieren wir ∂ γ u := u γ ∈ L q (Ω) für |γ| ≤ k. Schließlich<br />
beachtet man, dass für γ = 0 nach dem Fundamentallemma, Lemma 1.5, gilt u = u 0 L n -<br />
fast überall auf Ω. Damit stimmt u L n -fast überall mit der Funktion u 0 ∈ L q (Ω) überein,<br />
also ergibt sich sogar u ∈ L q (Ω). Zusammen ergibt dies nach Definition 2.1 u ∈ W k,q (Ω).<br />
Zusätzlich gilt wegen der (nach [2, Satz 4.12] gültigen) Isometrie (L q′ (Ω)) ∗ ∼ = L q (Ω) und<br />
wegen der Dichtheit von C ∞ 0 (Ω) in Lq′ (Ω)<br />
‖∂ γ u‖ L q (Ω) = ‖u γ ‖ L q (Ω) = ‖˜L γ ‖ (L q ′ (Ω)) ∗ =<br />
sup |L γ (ϕ)| ≤ M u .<br />
ϕ∈C<br />
0<br />
∞(Ω)<br />
(ii)<br />
‖ϕ‖<br />
L q ′ (Ω) ≤1<br />
Von fundamentaler Bedeutung für die Beziehung zwischen verschiedenen Sobolevräumen<br />
und zwischen Sobolevräumen und klassischen Funktionenräumen sind die<br />
Einbettungssätze von Sobolev und Morrey, die wir hier für allgemeine Raumdimensionen<br />
n ≥ 1 nur nennen, aber nicht beweisen wollen. Die in unserem Kontext relevante<br />
Raumdimension n = 1 erlaubt allerdings einen elementaren Beweis von stärkeren Einbettungsaussagen,<br />
die wir später in Satz 2.14 nachholen.<br />
Satz 2.8 [Einbettungssätze für Sobolevfunktionen]<br />
Seien k, l ∈ N ∪ {0}, 1 ≤ p, q < ∞, Ω ⊂⊂ R n , ∂Ω ∈ C 0,1 , α ∈ (0, 1). Dann gelten die<br />
Aussagen:<br />
(i) (Sobolev) Falls k ≥ l und k − n q ≥ l − n p<br />
, dann existiert eine stetige Einbettung<br />
W k,q (Ω) ↩→ W l,p (Ω).
59<br />
Das bedeutet, dass W k,q (Ω) ⊂ W l,p (Ω) und dass es eine von u unabhängige Konstante<br />
C = C(Ω, n, p, q, l, k) gibt, so dass ‖u‖ W l,p (Ω) ≤ C‖u‖ W k,q (Ω) für alle u ∈ W k,q (Ω).<br />
Falls zusätzlich k − n q > l − n p<br />
und k > l, dann ist diese Einbettung kompakt, das<br />
heißt, falls {u i } i ⊂ W k,q (Ω) mit ‖u i ‖ W k,q (Ω) ≤ C (unabhängig von i), dann existiert<br />
eine Teilfolge {u ij } j mit u ij −→ u in W l,p (Ω).<br />
j→∞<br />
(ii) (Morrey) Falls k > l und k − n q<br />
Falls zusätzlich k − n q<br />
≥ l + α, dann gibt es eine stetige Einbettung<br />
W k,q (Ω) ↩→ C l,α (Ω).<br />
> l + α, dann ist diese Einbettung kompakt.<br />
Bemerkung: 1. Wie schon mehrfach bemerkt (vgl. z.B. die Bemerkung im Anschluss<br />
an Lemma 2.3), muss man die Einbettungsaussagen im Sinne von Repräsentanten<br />
verstehen. So bedeutet beispielsweise Teil (ii) der obigen Aussage genauer: unter den<br />
genannten Voraussetzungen an die Exponenten k, l, n, q und α gibt es zu jeder Funktionenklasse<br />
[u] ∈ W k,q (Ω) einen Vertreter u ∗ ∈ [u] mit u ∗ ∈ C l,α (Ω). In der Regel<br />
wird man mit diesem durch seine Regularität ausgezeichneten Vertreter weiterargumentieren.<br />
Der Einfachheit halber nennt man diesen Repräsentanten wieder u.<br />
2. Falls man den Differenzierbarkeitsindex k der Sobolevfunktion genügend weit „hochschrauben“<br />
kann (z.B. mit Hilfe von Differenzenquotienten bei Lösungen von Variationsproblemen<br />
(vgl. Kapitel 5.1)), dann liefert (ii) klassische Regularität.<br />
3. Betrachte den Grenzfall p = ∞, der in (i) nicht erlaubt ist, für k = 1, l = 0. Mit<br />
1 − n q = 0 − n ∞<br />
= 0 ergibt sich n = q. Es gilt tatsächlich<br />
W 1,n (Ω) ⊄ L ∞ (Ω).<br />
Das sieht man etwa durch die Funktion u(x) := log (1 + | log |x||) für x ∈ B 1 (0);<br />
denn u /∈ L ∞ (B 1 (0)) aber für n ≥ 2 ist u ∈ W 1,n (B 1 (0)).Für n = 1 hingegen gilt<br />
W 1,1 (Ω) ⊂ C 0 (Ω) ⊂ L ∞ (Ω) wie wir in Satz 2.14 beweisen.<br />
Aus dem hier unbewiesenen Satz 2.8 lassen sich einige für den Umgang mit Sobolevfunktionen<br />
im R n sehr nützliche Hilfsmittel herleiten, die wir hier nur zum Teil beweisen<br />
werden: Poincaré-Ungleichungen (Korollare 2.9 und 2.10), Produkt- und Kettenregel<br />
(Proposition 2.11 (i), (ii)), Transformationssatz (Proposition 2.11 (iii)) und einen Fortsetzungssatz<br />
für Sobolevfunktionen (Satz 2.12). Auch für diese Resultate kann man im Fall<br />
n = 1 teilweise stärkere Versionen mit elementaren Beweisen erzielen, siehe z.B. die für die<br />
Existenztheorie nützlichen Varianten der auf Satz 2.14 beruhenden Poincaré-Ungleichungen,<br />
die wir im Anschluss an diesen Satz angeben.<br />
Korollar 2.9 [„Abstrakte“ Poincaré-Ungleichung]<br />
Sei 1 ≤ q ≤ ∞, Ω eine beschränkte, zusammenhängende, offene Teilmenge des R n mit Lipschitzrand.<br />
Sei K ⊂ W 1,q (Ω) eine bezüglich ‖ · ‖ W 1,q abgeschlossene Menge, die zusätzlich<br />
ein Kegel ist, das heißt für u ∈ K ist auch λu ∈ K für alle λ > 0, und 0 ∈ K sei die einzige<br />
konstante Funktion in K.<br />
Dann existiert eine Konstante C = C(n, q, Ω) mit<br />
‖u‖ L q (Ω) ≤ C‖∇u‖ L q (Ω) für alle u ∈ K.
60 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Beweis. Die Annahme des Gegenteils führt auf die Existenz einer Folge {u m } m ⊂ K \ {0},<br />
so dass<br />
‖∇u m ‖ L q (Ω) < 1 m ‖u m‖ L q (Ω) für alle m ∈ N.<br />
Für v m :=<br />
u m<br />
‖u m‖ L q (Ω)<br />
, gilt ‖v m ‖ L q (Ω) = 1 für alle m, und<br />
‖∇v m ‖ L q (Ω) = ‖∇u m‖ L q (Ω)<br />
‖u m ‖ L q (Ω)<br />
< 1 m<br />
für alle m ∈ N. (2.4)<br />
Das bedeutet insbesondere<br />
‖v m ‖ W 1,q (Ω) ≤ 1 + 1 m ≤ 2.<br />
Wir unterscheiden jetzt die beiden folgenden Fälle:<br />
1. Fall: q = ∞<br />
Satz 2.6 (ii) liefert W 1,∞ (Ω) ⊂ C 0,1 (Ω) und die Abschätzung ‖v m ‖ C 0,1 (Ω)<br />
≤ C. Der Satz von<br />
Arzelà-Ascoli liefert eine Teilfolge, für die gilt v mi<br />
v mi −→ v in L q (Ω).<br />
i→∞<br />
2. Fall: q < ∞<br />
−→ v in C 0 (Ω). Also insbesondere<br />
i→∞<br />
Satz 2.8 (i) mit k = 1, l = 0 und der Tatsache k − n q > 0 − n q liefert eine Teilfolge4 {v mi } i ,<br />
für die gilt v mi −→ v in L q (Ω).<br />
i→∞<br />
Damit folgt in beiden Fällen für die Grenzfunktion ‖v‖ L q (Ω) = 1. Die Regel der partiellen<br />
Integration (Definition 2.1) liefert für alle i ∈ N, l ∈ {1, . . . , n} und ϕ ∈ C0 ∞ (Ω) die<br />
Beziehung<br />
∫<br />
∫<br />
v mi ∂ l ϕ dx = − ∂ l v mi ϕ dx.<br />
Ω<br />
Ω<br />
Der Grenzübergang i → ∞ liefert dann wegen (2.4) mit der Hölder-Ungleichung<br />
∫<br />
∫<br />
v∂ l ϕ dx = − 0ϕ dx für alle ϕ ∈ C0 ∞ (Ω). (2.5)<br />
Ω<br />
Ω<br />
Also ist v ∈ W 1,q (Ω) mit schwacher Ableitung ∇v = 0 und v mi −→ v in W 1,q (Ω). Da K<br />
i→∞<br />
ein abgeschlossener Kegel bezüglich ‖ · ‖ W k,q ist, gilt v ∈ K. Da Ω als zusammenhängend<br />
vorausgesetzt ist, impliziert Lemma 2.3, dass 5 v ≡ konst. in Ω. Nach Voraussetzung muss<br />
damit v = 0 sein. Das ist jedoch ein Widerspruch zu ‖v‖ L q (Ω) = 1.<br />
Korollar 2.10 [Poincaré-Ungleichungen]<br />
Seien Ω ⊂⊂ R n offen und 1 ≤ q ≤ ∞. Dann gilt:<br />
(i) Falls q ∈ [1, ∞), dann existiert eine Konstante C = C(Ω, n, q), so dass<br />
∫<br />
∫<br />
|u| q dx ≤ C |∇u| q dx für alle u ∈ W 1,q<br />
0 (Ω).<br />
Ω<br />
Ω<br />
4 Normalerweise ist es üblich, für dieses Argument den Einbettungssatz von Rellich (siehe z.B. [2,<br />
Satz A6.1]) zu zitieren; der Sobolevsche Einbettungssatz, Satz 2.8 (i), ist hier eigentlich nicht nötig. Aus<br />
pragmatischen Gründen verzichten wir in unserer Darstellung aber auf den Rellichschen Satz.<br />
5 Diesen Schluss erhielte man für n = 1 mit (2.5) auch durch Anwendung des Fundamentallemmas von<br />
DuBois-Reymond, Lemma 1.10 für Ω := I = (a, b) ⊂ R.
61<br />
(ii) Falls Ω zusammenhängend ist und ∂Ω ∈ C 0,1 , dann gibt es für alle β ∈ (0, 1] eine<br />
Konstante C = C(Ω, n, q, β), so dass<br />
∫<br />
∫<br />
|u| q dx ≤ C |∇u| q dx für alle u ∈ W 1,q (Ω) mit L n ({u = 0}) ≥ βL n (Ω).<br />
Ω<br />
Ω<br />
(iii) Falls Ω zusammenhängend ist und ∂Ω ∈ C 0,1 , dann gibt es eine Konstante C =<br />
C(Ω, n, q), so dass<br />
∫<br />
∫<br />
|u − u Ω | q dx ≤ C |∇u| q dx für alle u ∈ W 1,q (Ω),<br />
Ω<br />
Ω<br />
wobei<br />
∫<br />
u Ω := u(x) dx.<br />
Ω<br />
Zusatz: Falls Ω = B R (x) für ein x ∈ R n und 1 ≤ q < ∞, dann gilt C(Ω, n, q) = C(n, q)R q<br />
in Teil (i) und (iii), sowie C(Ω, n, q, β) = C(n, q, β)R q in Teil (ii).<br />
Bemerkung:<br />
Für den Grenzfall q = ∞, der in den Teilen (ii) und (iii) zugelassen ist, muss man die<br />
Integrale durch das essentielle Supremum ersetzen. Genauer gesagt gelten die Ungleichungen<br />
‖u‖ L ∞ (Ω) ≤ C‖∇u‖ L ∞ (Ω,R n )<br />
für alle u ∈ W 1,∞ (Ω) mit L n ({u = 0}) ≥ βL n (Ω)<br />
unter den Voraussetzungen in (ii), sowie<br />
‖u − u Ω ‖ L ∞ (Ω) ≤ C‖∇u‖ L ∞ (Ω,R n )<br />
für alle u ∈ W 1,∞ (Ω).<br />
Beweis. Der Teil (iii) folgt direkt aus der abstrakten Poincaré-Ungleichung, Korollar 2.9.<br />
Den Teil (i) kann man entweder direkt beweisen (vgl. z.B. [2, Lemma 4.7]) oder über ein<br />
indirektes Argument wie im Beweis von Korollar 2.9. Den Teil (ii) kann man ebenfalls<br />
über ein indirektes Argument ähnlich wie im Beweis von Korollar 2.9 zeigen – eine direkte<br />
Anwendung dieses Korollars auf die vorliegende Situation scheint indes nicht möglich.<br />
Die explizite Abhängigkeit vom Radius R für Ω = B R (x) (oder für ähnlich gleichmäßig<br />
skalierende Gebiete wie z.B. für Ω := B R (x) \ B R/2 (x)) erhält man mit einem einfachen<br />
Skalierungsargument.<br />
Mit Hilfe von Approximationsargumenten kann man aus der klassischen Produktund<br />
Kettenregel für glatte Funktionen die entsprechenden Differentiationsregeln für Sobolevfunktionen<br />
herleiten. Gleiches gilt für den Transformationssatz, wenn man Sobolevfunktionen<br />
mit Lipschitzstetigen Funktionen komponiert. Wenn man Sobolevfunktionen<br />
mit Sobolevfunktionen verknüpfen will, bedarf es einer eingehenden Untersuchung<br />
der Abbildungseigenschaften. Insbesondere die Lusineigenschaft ist dabei zu<br />
beachten: Eine Funktion besitzt die Lusineigenschaft, wenn sie Nullmengen auf Nullmengen<br />
abbildet. Diese Eigenschaft kann man in der Tat für Lipschitzstetige Transformationen<br />
vergleichsweise leicht nachweisen, siehe z.B. [2, Lemma 2.26]. Eine allgemeinere Kettenregel<br />
für Sobolevfunktionen findet man beispielsweise in [75]. Zur Lusineigenschaft auch im Zusammenhang<br />
mit der Gültigkeit der Flächenformel findet man interessante Informationen
62 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
in [28] und in den dort zitierten Arbeiten. So haben Malý und Martio [41] durch Modifikation<br />
eines Beispiels von Cesari eine Sobolevfunktion ψ ∈ W 1,n (R n , R n ) ∩ C 0 (R n , R n )<br />
mit der überraschenden Eigenschaft<br />
ψ([0, 1] × {0} × . . . × {0}) = [0, 1] n ⊂ R n<br />
konstruiert. Offensichtlich hat diese Funktion ψ nicht die Lusineigenschaft, so dass die<br />
Flächenformel und der Transformationssatz auf diese Transformation nicht anwendbar sind.<br />
Proposition 2.11 [Produkt- und Kettenregel, Transformationssatz]<br />
(i) Seien u ∈ W 1,q (Ω), v ∈ W 1,p (Ω) und 1 ≤ p, q, r ≤ ∞ mit 1 q + 1 p<br />
uv ∈ W 1,r (Ω) mit<br />
∇(uv) = (∇u)v + u(∇v).<br />
= 1 r<br />
. Dann ist<br />
(ii) Seien f ∈ C 0,1 (R) mit 6 f(0) = 0, und u ∈ W 1,q (Ω), 1 ≤ q ≤ ∞. Dann ist f ◦ u ∈<br />
W 1,q (Ω) mit<br />
∇(f ◦ u) = f ′ (u)∇u L n -fast überall in Ω.<br />
(Nach dem Satz von Rademacher (siehe z.B. [76]) folgt aus f ∈ C 0,1 (R) die Existenz<br />
von f ′ (z) für L n -fast alle z ∈ R; allgemeiner gilt für F ∈ C 0,1 (R n , R m ) die (totale)<br />
Differenzierbarkeit von F L n -fast überall.)<br />
(iii) Seien Ω 1 , Ω 2 offen im R n , ψ : Ω 1 → Ω 2 ein Bi-Lipschitzhomöomorphismus mit<br />
Lip Ω1<br />
ψ ≤ L, Lip Ω2<br />
ψ −1 ≤ L und u ∈ W 1,q (Ω 2 ), 1 ≤ q ≤ ∞. Dann ist u ◦ ψ ∈ W 1,q (Ω 1 )<br />
mit<br />
∇(u ◦ ψ) = [(∇u) ◦ ψ]Dψ L n -fast überall in Ω 1<br />
und<br />
‖u ◦ ψ‖ W 1,q (Ω 1 ) ≤ C(n, L)‖u‖ W 1,q (Ω 2 ).<br />
Beweis. Für Teil (iii) verweisen wir auf den Beweis von [2, Satz 2.25], der sich auf die<br />
vorliegende Situation übertragen lässt. Eine vereinfachte Variante von Teil (ii) wird in einer<br />
Übungsaufgabe behandelt, die allgemeine Aussage wird z.B. in dem Buch von Ziemer [76]<br />
bewiesen.<br />
Es soll hier nur Teil (i) für den Fall p, q < ∞ bewiesen werden. Nach Proposition 2.4 (i)<br />
existieren u m , v m ∈ C ∞ (Ω), so dass u m → u in W 1,q<br />
loc (Ω) und v m → v in W 1,p<br />
loc<br />
(Ω). Wegen<br />
u m , v m ∈ C ∞ (Ω) gilt<br />
∇(u m v m ) = (∇u m )v m + u m (∇v m ) für alle m ∈ N.<br />
Man hat u m v → uv in L r loc (Ω), weil für Ω′ ⊂⊂ Ω wegen r p + r q = r 1 r<br />
= 1 mit der Hölder-<br />
Ungleichung<br />
∫<br />
Ω ′ |u m v − uv| r dx<br />
≤<br />
(∫Ω ′ |u m − u| r q r dx<br />
) r<br />
q (∫ Ω ′ |v| r p r<br />
= ‖u m − u‖ r L q (Ω ′ ) ‖v‖r L p (Ω ′ )<br />
−→<br />
m→∞<br />
0.<br />
dx<br />
) r<br />
p<br />
6 Die Zusatzbedingung f(0) = 0 ist für beschränkte Gebiete nicht nötig, für q = ∞ ist sie auch für<br />
unbeschränkte Gebiete nicht nötig.
63<br />
Weiterhin ist u m v ∈ W 1,r (Ω); denn wie oben zeigt man mit der Hölder-Ungleichung<br />
angewandt auf u m v, dass u m v ∈ L r (Ω). Damit ist u m v ∈ W 1,r (Ω) mit schwacher Ableitung<br />
∇(u m v) = (∇u m )v + u m (∇v); denn es gilt nach der klassischen Produktregel<br />
∫<br />
∫<br />
u m v m ′(∂ l ϕ) dx = − ((∂ l u m )v m ′ + u m (∂ l v m ′))ϕ dx für alle ϕ ∈ C0 ∞ (Ω),<br />
Ω<br />
also nach dem Grenzübergang m ′ → ∞ für festes m ∈ N<br />
∫<br />
∫<br />
u m v(∂ l ϕ) dx = − ((∂ l u m )v + u m (∂ l v))ϕ dx<br />
Ω<br />
Ω<br />
Ω<br />
für alle ϕ ∈ C ∞ 0 (Ω)<br />
mit (∂ l u m )v + u m (∂ l v) =: ∂ l (u m v) ∈ L r (Ω). Die letzte Inklusion folgt erneut aus der<br />
Hölder-Ungleichung. Als letzten Schritt zeigt man für m → ∞ die L r loc-Konvergenz (wieder<br />
mit der Hölder-Ungleichung) ∂ l (u m v) → ∂ l (uv) := (∂ l u)v + u(∂ l v) ∈ L r (Ω).<br />
Also gilt<br />
(u m v, ∂ l (u m v)) → (uv, ∂ l (uv)) in L r (Ω ′ ) × L r (Ω ′ ) für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω,<br />
also ist {u m v} eine Cauchy-Folge in W 1,r (Ω ′ ) für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω und, da W 1,r (Ω ′ ) für jedes<br />
Ω ′ ⊂⊂ Ω ein Banachraum ist, folgt uv ∈ W 1,r (Ω ′ ) für jedes Ω ′ ⊂⊂ Ω mit schwacher<br />
Ableitung ∂ l (uv) ∈ L r (Ω). Damit ist zunächst uv ∈ W 1,r<br />
loc (Ω), aber neben ∂ l(uv) ist nach der<br />
Hölder-Ungleichung auch uv ∈ L r (Ω), sodass uv ∈ W 1,r (Ω) mit schwachem Gradienten<br />
∇(uv) = (∇u)v + (u∇v) ∈ L r (Ω) gezeigt ist.<br />
Sobolevfunktionen lassen sich auf größere Gebiete fortsetzen, falls der Rand des ursprünglichen<br />
Definitionsbereichs genügend glatt ist. Dabei erhält man auf dem größeren<br />
Gebiet eine Sobolevfunktion mit verallgemeinerten Nullranddaten. Auch für weniger glatte<br />
Gebiete kann man Fortsetzungssätze beweisen, siehe dazu z.B. [71].<br />
Satz 2.12 [Fortsetzungssatz]<br />
Seien 1 ≤ q < ∞, k ∈ N, Ω ⊂⊂ R n mit ∂Ω ∈ C k−1,1 und u ∈ W k,q (Ω). Dann existiert für<br />
alle ˜Ω ⊃⊃ Ω eine Abbildung E : W k,q (Ω) → W k,q<br />
0 (˜Ω) mit Eu| Ω<br />
= u und<br />
‖Eu‖ W l,p (˜Ω) ≤ C(Ω, ˜Ω, k, q)‖u‖ W l,p (Ω) für alle 0 ≤ l ≤ k und 1 ≤ p ≤ q.<br />
Beweis. Betrachte zunächst die folgende Modellsituation.<br />
Für u ∈ C0 ∞(Rn−1 × [0, ∞)) definiere<br />
{<br />
u(y, t) für t ≥ 0,<br />
E 0 u(y, t) := ∑ k+1<br />
i=1 σ iu(y, −it) für t < 0,<br />
wobei ∑ k+1<br />
i=1 σ i(−i) m = 1 für alle m = 0, . . . , k gelte. Nach dem Resultat einer Übungsaufgabe<br />
hat man E 0 u ∈ C0 k(Rn ).<br />
Da nach Voraussetzung Ω ⊂⊂ R n und ∂Ω ∈ C k−1,1 , existieren Punkte x j ∈ ∂Ω, j = 1, . . . , R,<br />
und Umgebungen U j mit x j ∈ U j sowie Abbildungen ϕ j ∈ C k−1,1 (D j ) auf Gebieten<br />
D j ⊂ R n−1 , so dass U j ∩ ∂Ω = graph(ϕ j ).<br />
Damit existieren weiterhin invertierbare Abbildungen ψ j ∈ C k−1,1 (U j , R n ) mit ψ j (U j ) =<br />
B 1 (0) und ψj<br />
−1 ∈ C k−1,1 (B 1 (0), R n ), die (nach geeigneter Rotation) gegeben sind durch<br />
ψ j (y, t) := 1 λ j<br />
((y, t − ϕ j (y)) − x j )<br />
für alle (y, t) ∈ U j
64 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
und<br />
ψ −1<br />
j<br />
(ξ, τ) = x j + λ j (ξ, τ + ϕ(ξ)) für alle (ξ, τ) ∈ B 1 (0),<br />
wobei λ j > 0 geeignete Streckungsfaktoren sind. Es gilt ψ j (x j ) = 0 und ψ j (U j ∩ Ω) =<br />
B 1 + (0) = B 1(0) ∩ {R n−1 × (0, ∞)}, und durch Auswahl eventuell kleinerer Teilgebiete kann<br />
man es einrichten, dass ∂Ω ⊂ U 1 ∪ . . . ∪ U R ⊂⊂ ˜Ω. Zusätzlich existiert ein U 0 ⊂ Ω offen,<br />
so dass Ω ⊂ ⋃ R<br />
j=0 U j. Wählt man nun zu dieser Überdeckung eine Zerlegung der Eins, d.h.<br />
Funktionen η j ∈ C0 ∞(U j) mit 0 ≤ η j ≤ 1 und ∑ R<br />
j=0 η j = 1 in Ω, dann gilt für<br />
(<br />
E j u :=<br />
(E 0 (η j u) ◦ ψ −1 ∣<br />
◦ ψ j ,<br />
dass<br />
(<br />
supp (η j u) ◦ ψj<br />
−1 ∣<br />
)<br />
∣<br />
B<br />
+<br />
1 (0)<br />
j<br />
))<br />
∣<br />
B<br />
+<br />
1 (0)<br />
⊂⊂ B + 1 (0) ∪ ( B n−1<br />
1 (0) × {0} )<br />
und durch Fortsetzung durch den Wert Null außerhalb des Trägers<br />
(η j u) ◦ ψj<br />
−1<br />
∣ ∈ W k,q (R n−1 × (0, ∞)).<br />
B<br />
+<br />
1 (0)<br />
Damit ist supp(E j u) ⊂⊂ U j ⊂⊂ ˜Ω, und nach Proposition 2.4 (ii) ist E j u ∈ W k,q<br />
0 (˜Ω). Mit<br />
Proposition 2.11 gilt dann<br />
‖E j u‖ W k,q (˜Ω) ≤ C(ψ j, U j , n, k)‖u‖ W k,q (Ω).<br />
Man hat<br />
(<br />
))<br />
E j u| Ω<br />
=<br />
(E 0 (η j u) ◦ ψj<br />
−1<br />
∣ ◦ ψ<br />
B<br />
+<br />
j |<br />
1 (0) Ω<br />
(<br />
))∣<br />
=<br />
(E 0 (η j u) ◦ ψj<br />
−1<br />
∣∣∣B<br />
∣ ◦ ψ<br />
B<br />
+<br />
j |<br />
1 (0) + Ω<br />
1 (0)<br />
= (η j u) ◦ ψj<br />
−1<br />
∣ ◦ ψ B<br />
+ j|<br />
1 (0) Ω<br />
= η j u.<br />
Die Setzung Eu := η 0 u + ∑ R<br />
j=1 E ju liefert also mit Hilfe der Eigenschaften der Zerlegung<br />
der Eins<br />
‖Eu‖ W k,q (˜Ω) ≤ C(Ω, ˜Ω, n, k)‖u‖ W k,q (Ω)<br />
und Eu| Ω<br />
= η 0 u + ∑ R<br />
j=1 E ju| Ω<br />
= ∑ R<br />
j=0 η ju = u.<br />
Mit Hilfe dieses Fortsetzungssatzes kann man das lokale Approximationsresultat für<br />
Sobolevfunktionen, Proposition 2.4, durch einen globalen Approximationssatz ergänzen.<br />
Korollar 2.13 [Globale Approximation]<br />
Seien 1 ≤ q < ∞, k ∈ N und Ω ⊂⊂ R n mit ∂Ω ∈ C k−1,1 . Dann existiert zu u ∈ W k,q (Ω)<br />
eine Folge {u m } ⊂ C ∞ (Ω) mit u m → u in W k,q (Ω).<br />
Beweis. Betrachte mit Satz 2.12 Eu ∈ W k,q<br />
0 (˜Ω) für ein Gebiet ˜Ω ⊃⊃ Ω. Dann existieren<br />
nach Definition 2.1 (iii) v m ∈ C0 ∞(˜Ω) mit v m −→ Eu in W k,q (˜Ω). Damit folgt für u m :=<br />
m→∞<br />
v m | Ω<br />
∈ C ∞ (Ω) die Konvergenz u m −→ u in W k,q (Ω).<br />
m→∞
65<br />
Wir beenden dieses Kapitel mit einigen Resultaten für die spezielle Situation einer<br />
Raumdimension. Von zentraler Bedeutung für den weiteren Verlauf der Vorlesung ist der<br />
folgende Einbettungssatz, den man elementar beweisen kann. Daraus ergeben sich einfache<br />
Varianten der Poincaré-Ungleichungen und ein Hebbarkeitssatz für Singularitäten<br />
von Sobolevfunktionen auf Intervallen. Letzteres erlaubt eine einfache Konstruktion<br />
von Vergleichsfunktionen für Variationsprobleme durch “Zusammenkleben” geeigneter<br />
Sobolevfunktionen sowie eine elementare Version des Fortsetzungssatzes von Sobolevfunktionen<br />
für n = 1.<br />
Satz 2.14 [Einbettungssatz für n = 1]<br />
Sei Ω = I = (a, b) ⊂ R mit −∞ < a < b < ∞.<br />
(i) Sei u ∈ W 1,1 (I), dann ist u ∈ C0 (Ī) mit<br />
∫<br />
∫<br />
‖u‖ C 0 (Ī) ≤ |u(x)| dx +<br />
und<br />
I<br />
u(x) − u(y) =<br />
∫ x<br />
y<br />
I<br />
|u ′ (x)| dx ≤ C(I)‖u‖ W 1,1 (I)<br />
u ′ (t) dt für alle x, y ∈ Ī.<br />
(ii) Sei u ∈ W 1,q (I) für q ∈ (1, ∞], dann ist u ∈ C 0,1− 1 q (Ī) mit<br />
und<br />
‖u‖ C 0 (Ī) ≤ (∫<br />
I<br />
) 1<br />
(∫<br />
) 1<br />
|u(x)| q q<br />
dx + L 1 (I) 1− 1 q |u ′ (x)| q q<br />
dx<br />
I<br />
|u(x) − u(y)| ≤ |x − y| 1− 1 q ‖u ′ ‖ L q (I) für alle x, y ∈ Ī.<br />
Bemerkung:<br />
Teil (i) beinhaltet die stetige Einbettung also W 1,1 (I) ↩→ C0 (Ī). Wir erinnern daran, dass<br />
dies in höheren Raumdimensionen nicht richtig ist: W 1,n (Ω) ̸↩→ C 0 (Ω) für n ≥ 2, vgl. Bemerkung<br />
3 nach Satz 2.8 und die zugehörige Übungsaufgaben. W 1,n -Funktionen sind für n ≥ 2<br />
noch nicht einmal beschränkt. Der Teil (ii) von Satz 2.14 konstatiert die stetige Einbettung<br />
W 1,q (I) ↩→ C 0,1− 1 q (Ī) für q ∈ (1, ∞]. Für q > 1 ist diese Einbettung sogar kompakt. Im<br />
Grenzfall q = ∞ muss man die L q -Normen auf der rechten Seite der Abschätzungen jeweils<br />
durch das essentielle Supremum von u und u ′ ersetzen (vgl. auch Satz 2.6 für n ≥ 2):<br />
und<br />
‖u‖ C 0 (Ī) ≤ ‖u‖ L ∞ (I) + ‖u ′ ‖ L ∞ (I)L 1 (I)<br />
|u(x) − u(y)| ≤ |x − y|‖u ′ ‖ L ∞ (I) für alle x, y ∈ Ī,<br />
so dass man eine Konstante C = C(I) findet, so dass<br />
‖u‖ C 0,1 (Ī) ≤ C(I)‖u‖ W 1,∞ (I).<br />
Beweis. (i) Betrachte zunächst I ′ ⊂⊂ I. Nach Proposition 2.4 existieren u m ∈ C∞ (Ī) mit<br />
u m → u in W 1,1 (I ′ ). Es gilt nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung<br />
u m (x) − u m (y) =<br />
∫ x<br />
y<br />
u ′ m(t) dt für alle x, y ∈ Ī und für alle m ∈ N. (2.6)
66 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
Zwischenbehauptung: Die Mengenfunktionen E ↦→ ∫ E |u′ m(t)| dt sind gleichmäßig absolutstetig,<br />
d.h. für alle ε > 0 existiert ein δ(ε) > 0, so dass<br />
∫<br />
|u ′ m(t)| dt < ε für alle E ⊂ I ′ mit L 1 (E) < δ und für alle m ∈ N.<br />
E<br />
Beweis der Zwischenbehauptung: Wir wählen zu ε > 0 ein δ 1 > 0 und ein M(ε) ∈ N, so dass<br />
∫<br />
|u ′ (t)| dt < ε für alle E ⊂ I ′ mit L 1 (E) < δ 1<br />
2<br />
und<br />
Damit folgt<br />
∫<br />
E<br />
E<br />
∫<br />
I ′ |u ′ m(t) − u ′ (t)| dt < ε 2<br />
∫<br />
|u ′ m(t)| dt ≤<br />
E<br />
für alle m ≥ M(ε).<br />
∫<br />
|u ′ (t)| dt + |u ′ m(t) − u ′ (t)| dt < ε<br />
I ′<br />
für alle E ⊂ I ′ mit L 1 (E) < δ 1 und für alle m ≥ M(ε).<br />
Wähle nun noch ein δ ≤ δ 1 , so dass<br />
M(ε)−1<br />
∑<br />
m=1<br />
∫<br />
E<br />
|u ′ m(t)| dt < ε für alle E ⊂ I ′ mit L 1 (E) < δ.<br />
Damit folgt die Zwischenbehauptung.<br />
Benutzt man |u m (x) − u m (y)| ≤ ∣ ∫ x ∣<br />
y |u′ m(t)| dt∣, so findet man zu jedem ε > 0 also ein<br />
δ > 0, so dass<br />
|u m (x) − u m (y)| ≤ ε für alle x, y ∈ I ′ mit |x − y| < δ und für alle m ∈ N. (2.7)<br />
Es gilt auch |u m (x)| ≤ |u m (y)| + ∣ ∫ x ∣<br />
y |u′ m(t)| dt∣. Integration über I ′ liefert<br />
also<br />
∫<br />
∫<br />
L 1 (I ′ )|u m (x)| ≤ |u m (y)| dy + L 1 (I ′ )<br />
∣ |u ′ m(t)| dt<br />
∣ für alle m ∈ N,<br />
I ′ I ′<br />
‖u m ‖ C 0 (I ′ ) ≤ ∫<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
|u m (y)| dy + |u ′ m(t)| dt −→ |u(y)| dy + |u ′ (t)| dt. (2.8)<br />
I ′ I ′ m→∞<br />
I ′ I ′<br />
Wegen (2.7) und (2.8) gibt es nach dem Satz von Arzelà-Ascoli eine Teilfolge u mk → ũ<br />
in C 0 (I ′ ). Wegen der Eindeutigkeit des Grenzwerts folgt ũ = u fast überall auf I ′ , also ist<br />
ũ ∈ C 0 (I ′ ) der eindeutige stetige Repräsentant von u, und wir schreiben einfach u ∈ C 0 (I ′ ).<br />
Der Grenzübergang m k → ∞ in (2.6) liefert<br />
u(x) − u(y) =<br />
∫ x<br />
y<br />
u ′ (t) dt für alle x, y ∈ I ′ . (2.9)<br />
Da I ′ ⊂⊂ I beliebig gewählt war, schließen wir u ∈ C 0 (I) und (2.9) gilt für alle x, y ∈ I.<br />
Mit der Absolutstetigkeit der Mengenfunktion E ↦→ ∫ E u′ (t) dt, E ⊂ I, folgt aus (2.9)
67<br />
die gleichmäßige Stetigkeit 7 von u auf I. Folglich können wir u stetig auf I fortsetzen und<br />
erhalten die Gültigkeit von (2.9) für alle x, y ∈ I. Die behauptete Abschätzung der C 0 -Norm<br />
von u auf I folgt aus dieser Identität in derselben Weise, wie wir es für die approximierenden<br />
Funktionen u m auf I ′ gezeigt haben.<br />
(ii) Da I beschränkt ist, gilt W 1,q (I) ⊂ W 1,1 (I), und wir können (2.9) für alle x, y ∈ I<br />
verwenden, um mit der Hölder-Ungleichung zu schließen<br />
|u(x) − u(y)| ≤<br />
∣<br />
∫ x<br />
y<br />
(∫<br />
|u ′ (t)| dt<br />
∣ ≤<br />
I<br />
) 1<br />
|u ′ (t)| q dt<br />
q<br />
1− |x − y| 1 q für alle x, y ∈ Ī.<br />
Damit ist u ∈ C 0,1− 1 q (I). Ebenfalls wie im Beweis von Teil (i) erhält man für die Abschätzung<br />
der C 0 -Norm<br />
∫<br />
∫<br />
|u(x)| ≤ |u(t)| dt + |u ′ (t)| dt<br />
≤<br />
I<br />
(∫<br />
I<br />
|u(t)| q dt<br />
I<br />
) 1<br />
q<br />
+ L 1 (I) 1− 1 q<br />
(∫<br />
I<br />
) 1<br />
|u ′ (t)| q q<br />
dt<br />
für alle x ∈ Ī.<br />
Bemerkung:<br />
Die Gültigkeit des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung für Sobolevfunktionen<br />
(siehe Teil (i) von Satz 2.14) impliziert die für die eindimensionale <strong>Variationsrechnung</strong><br />
sehr nützlichen Poincaré-Ungleichungen<br />
∫<br />
∫<br />
|u(x) − u(x 0 )| q dx ≤ (L 1 (I)) q |u ′ (x)| q dx für alle u ∈ W 1,q (I), x 0 ∈ I<br />
I<br />
und damit auch<br />
∫<br />
∫<br />
|u(x) − ū I | q dx ≤ (L 1 (I)) q<br />
I<br />
I<br />
I<br />
|u ′ (x)| q dx für alle u ∈ W 1,q (I),<br />
wobei ū I := ∫ I<br />
u(x) dx den Integralmittelwert bezeichnet, vgl. Korollar 2.10.<br />
Korollar 2.15 [u ′ = 0 f.ü. auf {u = 0}]<br />
Für u ∈ W 1,q (I), q ∈ [1, ∞], gilt<br />
u ′ (x) = 0 für L 1 -fast alle x ∈ {z ∈ I : u(z) = 0}.<br />
Beweis. Sei x 0 ∈ N u := {z ∈ I : u(z) = 0} ein Lebesgue-Punkt von u ′ und ein Häufungspunkt<br />
von N u . Nach Teil (i) von Satz 2.14 gilt für {z i } ⊂ N u \ {x 0 } mit z i → x 0<br />
0 = u(z i ) − u(x 0 ) =<br />
∫ zi<br />
x 0<br />
u ′ (t) dt für alle i ∈ N<br />
7 Tatsächlich ist wegen u ′ ∈ L 1 (I) die Funktion x ↦→ ∫ x<br />
y u′ (t) dt gleichmäßig stetig; denn für alle ε > 0 gibt<br />
es δ(ε) > 0, so dass ∫ E u′ (t) dt < ε für alle E ⊂ I mit L 1 (E) < δ(ε), also ist für x, y ∈ I mit |x − y| < δ(ε)<br />
∫ x<br />
∫<br />
|u(x) − u(y)| ≤<br />
∣ u ′ (t) dt<br />
∣ ≤ |u ′ (t)| dt < ε.<br />
y<br />
[y,x]
68 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
und damit auch<br />
0 =<br />
∫<br />
1 zi<br />
u ′ (t) dt −→ u ′ (x 0 ).<br />
(z i − x 0 ) x 0<br />
i→∞<br />
Lemma 2.16 [Hebbarkeitssatz]<br />
Seien I = (a, b) ⊂ R mit −∞ < a < b < ∞, 1 ≤ q ≤ ∞ und c ∈ (a, b). Dann gilt<br />
u ∈ W 1,q (I) ⇐⇒ u ∈ W 1,q (I\{c}) und<br />
lim u(y) =:<br />
y→c u(c− ) = u(c + ) := lim u(y).<br />
− y→c +<br />
Bemerkung:<br />
Zur Präsisierung dieser Aussage sei bemerkt, dass unter der Voraussetzung u ∈ W 1,q (I) die<br />
Grenzwertaussage des Lemmas für den eindeutigen stetigen Repräsentanten von u gilt. Die<br />
Rückrichtung lässt sich so interpretieren: Gilt für die stetigen Repräsentanten der beiden<br />
Sobolevfunktionen u 1 := u| (a,c) und u 2 := u (c,b) die Grenzwertaussage, dann kann man diese<br />
Funktionen zu einer globalen Sobolevfunktion<br />
{<br />
u 1 auf (a, c)<br />
u :=<br />
u 2 auf (c, b)<br />
“zusammenkleben”.<br />
Für W k,q (I) mit k > 1 ist diese Aussage falsch. Um z.B. zwei W 2,2 -Funktionen auf<br />
angrenzenden Intervallen (a, c) und (c, b) “zusammenzukleben”, muss man dafür sorgen,<br />
dass auch die ersten Ableitungen der beiden Funktionen bei c übereinstimmen.<br />
Beweis von Lemma 2.16. „⇒“: Für u, u ′ ∈ L q (I) gilt u, u ′ ∈ L q (I\{c}) und die Regel der<br />
partiellen Integration in Definition 2.1 gilt auch für alle ϕ ∈ C0 ∞ (I\{c}). Außerdem ist<br />
u ∈ W 1,q (I) ↩→ C0 (Ī) nach Satz 2.14.<br />
„⇐“: Für a < x 1 < y 1 < c < y 2 < x 2 < b gilt mit Satz 2.14 für den eindeutigen stetigen<br />
Vertreter von u auf (a, c) und für den stetigen Vertreter von u auf (c, b)<br />
u(x 2 ) − u(x 1 ) − (u(y 2 ) − u(y 1 ))<br />
= u(y 1 ) − u(x 1 ) + u(x 2 ) − u(y 2 )<br />
∫ y1<br />
∫ x2<br />
∫<br />
= u ′ (t) dt + u ′ (t) dt =<br />
x 1 y 2<br />
=<br />
=<br />
∫ x2<br />
x<br />
∫ 1<br />
x2<br />
x 1<br />
u ′ (t) dt −<br />
u ′ (t) dt −<br />
∫ y2<br />
y<br />
∫ 1<br />
c<br />
u ′ (t) dt<br />
y 1<br />
u ′ (t) dt −<br />
∫ y2<br />
c<br />
[x 1 ,x 2 ]\[y 1 ,y 2 ]<br />
u ′ (t) dt.<br />
u ′ (t) dt<br />
Der<br />
∫<br />
Grenzübergang y 1 → c − , y 2 → c + auf beiden Seiten liefert dann u(x 2 ) − u(x 1 ) =<br />
x2<br />
x 1<br />
u ′ (t) dt. Mit u, u ′ ∈ L q (I\{c}) = L q (I) und mit dem Resultat einer Übungsaufgabe<br />
folgt damit u ∈ W 1,1 (I) und damit u ∈ W 1,q (I).<br />
Bemerkung: 1. Eine Anwendung von Lemma 2.16 ist die Konstruktion von (zulässigen)<br />
Vergleichsfunktionen für Minimierungsaufgaben: Wir nehmen im Vorgriff auf die<br />
Regularitätstheorie, Kapitel 4, an, dass<br />
F(u) ≤ F(v) für alle v ∈ W 1,q (I) mit u − v ∈ W 1,q<br />
0 (I),
69<br />
und stellen die Frage:<br />
Besitzt u ∈ W 1,q (I) eine höhere Regularität?<br />
Ein möglicher erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage ist die Konstruktion von<br />
zulässigen Vergleichsfunktionen.<br />
h<br />
u<br />
a x 1 x 2 b<br />
Abbildung 2.1: Konstruktion zulässiger Vergleichsfunktionen durch Ersetzung auf (x 1 , x 2 ) :=<br />
B ε (x 0 ).<br />
Sei x 0 ∈ I. Dann betrachtet man<br />
v(x) :=<br />
{<br />
u(x) für x ∈ I\B ε (x 0 ),<br />
h(x) für x ∈ B ε (x 0 ),<br />
wobei h| ∂Bε(x 0 ) = u| ∂B ε(x 0 ) und ε < dist(x 0, ∂I). Man hat also den Minimierer u lokal<br />
um x 0 durch eine andere Funktion h ersetzt und erhofft sich dadurch Aussagen über<br />
die Regularität von u nahe x 0 . Zunächst hat man dadurch die Minimierungseigenschaft<br />
von u auf B ε (x 0 ) lokalisiert:<br />
F I\Bε(x 0 )(u) + F Bε(x 0 )(u) = F I (u) ≤ F I (v) = F I\Bε(x 0 )(u) + F Bε(x 0 )(h),<br />
also F Bε(x0 )(u) ≤ F Bε(x0 )(h). Diese Ungleichung kann man nun durch Wahl besonderer<br />
Vergleichsfunktionen h auf B ε (x 0 ) ausnutzen. Ideen von Morrey folgend kann man<br />
z.B. h harmonisch wählen, was insbesondere für den Fall n = 2 für Minimalflächen oder<br />
H-Flächen erfolgreich ist (vgl. [46] und [13]). Für den Fall allgemeiner parametrischer<br />
Variationsprobleme, also für Cartan-Funktionale auf Flächen (n = 2) hat Morrey<br />
auch biharmonische Vergleichsfunktionen h eingesetzt (vgl. [46, Chapter 9]. Auch<br />
für Variationsprobleme höherer Ordnung können biharmonische Vergleichsfunktionen<br />
nützlich sein, siehe etwa die richtungsweisende Arbeit von L. Simon [64] zur Existenz<br />
von Tori, die das Willmore-Funktional<br />
∫<br />
H 2 dA<br />
Σ
70 KAPITEL 2. SOBOLEVRÄUME<br />
minimieren, wobei H die mittlere Krümmung der Fläche Σ bezeichnet; siehe auch [61].<br />
Für die Regularitätstheorie allgemeiner Variationsprobleme mit nichtglatten Integranden<br />
kann auch eine geeignete Konvexkombination von u und ∫ Ω<br />
u als Vergleichsfunktion<br />
h gewählt werden, siehe z.B. [22, Chapter V, Theorem 3.1].<br />
2. Mit Satz 2.14 und dem Hebbarkeitsresultat, Lemma 2.16, ergibt sich für n = 1 auch eine<br />
einfache Variante des Fortsetzungssatzes, Satz 2.12: Eine Funktion u ∈ W 1,q ((a, b))<br />
besitzt nach Satz 2.14 klassische Randwerte u(a) und u(b). Falls I ⊂⊂ Ĩ, Ĩ = (c, d),<br />
dann kann man lineare Funktionen l 1 , l 2 mit l 1 (a) = u(a), l 2 (b) = u(b) wählen, so dass<br />
l 1 (c) = 0 und l 2 (d) = 0. Die zusammengesetzte Funktion<br />
⎧<br />
⎪⎨ l 1 (x) für x ∈ (c, a]<br />
ũ(x) := u(x) für x ∈ (a, b)<br />
⎪⎩<br />
l 2 (x) für x ∈ [b, d)<br />
ist dann nach Lemma 2.16 in der Klasse W<br />
1,q<br />
(Ĩ) und nach einer Übungsaufgabe sogar<br />
in W 1,q<br />
0 (Ĩ).
Kapitel 3<br />
Unterhalbstetigkeit und<br />
Existenztheorie<br />
Zunächst bestimmen wir eine große Klasse von Integranden F , so dass das zugehörige Variationsintegral<br />
∫<br />
F(u) := F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
auf Sobolevfunktionen wohldefiniert ist.<br />
Proposition 3.1<br />
Sei F : R × R N × R N → [0, ∞) eine Carathéodory-Funktion, d.h.<br />
I<br />
F (·, z, p) ist messbar für alle (z, p) ∈ R N × R N<br />
und F (x, ·, ·) ∈ C 0 (R N × R N ) für L 1 -fast alle x ∈ I.<br />
Dann ist F(u) für alle u ∈ W 1,q (I) mit q ∈ [1, ∞] wohldefiniert mit Werten in [0, ∞].<br />
Beweis. Es ist zu zeigen, dass F (·, u(·), u ′ (·)) messbar ist. Dazu reicht es zu zeigen, dass Superniveaumengen<br />
messbar sind. Wäre F = F (z, p) (und damit nach Voraussetzung stetig),<br />
dann hätte man mit der Messbarkeit von u, u ′ ∈ L q (I, R N ) und der Stetigkeit von F sofort<br />
die Messbarkeit der Verkettung F ◦ (u, u ′ ) auf I.<br />
Im allgemeinen Fall F = F (x, z, p) argumentiert man folgendermaßen. Für u, u ′ ∈<br />
L q (I, R N ) gibt es eine Folge von Paaren von Treppenfunktionen (t j , t ′ j), die mit j → ∞ L 1 -<br />
fast überall punktweise gegen (u, u ′ ) konvergiert. Wir schreiben diese Treppenfunktionen in<br />
der Form<br />
(t j (x), t ′ j(x)) =<br />
l j<br />
∑<br />
i=1<br />
µ j i χ A j i<br />
(x)<br />
mit µ j i ∈ R2N , messbaren disjunkten Mengen A j i<br />
⊂ I und zugehörigen charakteristischen<br />
Funktionen<br />
{<br />
1 für x ∈ A j i<br />
χ A<br />
j(x) :=<br />
,<br />
i 0 für x ∉ A j i .<br />
71
72 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Dann gilt für alle r ∈ R<br />
(<br />
F (·, t j (·), t ′ j(·)) −1((r,<br />
∞)) = {x ∈ I : F (x, tj (x), t ′ j(x)) > r}<br />
=<br />
l j<br />
⋃<br />
i=1<br />
(<br />
)<br />
{x ∈ I : F (x, µ j i ) > r} ∩ Aj i<br />
∪ {x ∈ I : F (x, 0, 0) > r}.<br />
Die Mengen A j i , {x ∈ I : F (x, µj i<br />
) > r} und {x ∈ I : F (x, 0, 0) > r} sind nach Voraussetzung<br />
an F messbar, damit auch die Vereinigung auf der rechten Seite, und deshalb schließlich auch<br />
F (·, t j (·), t ′ j(·)) für alle j ∈ N.<br />
Da F für L 1 -fast alle x ∈ I in den letzten beiden Variablen stetig ist, gilt<br />
F (x, t j (x), t ′ j(x)) j→∞<br />
−−−→ F (x, u(x), u ′ (x)) für L 1 -fast alle x ∈ I,<br />
und damit ist F (·, u(·), u ′ (·)) messbar als punktweiser Grenzwert einer Folge von messbaren<br />
Funktionen, vgl. [2, Lemma 1.11].<br />
Zentral für die direkte Methode der <strong>Variationsrechnung</strong>, die in diesem Kapitel präsentiert<br />
werden soll, ist der Begriff der Unterhalbstetigkeit, siehe auch die zugehörigen Übungsaufgaben.<br />
Zur Motivation dieser schwächeren Form von Stetigkeit skizzieren wir in einer<br />
abstrakten Situation die direkte Methode der <strong>Variationsrechnung</strong>:<br />
1. Man wählt sich eine geeignete, nichtleere Klasse C von Funktionen, auf der das Variationsintegral<br />
F wohldefiniert ist, und auf der man F minimieren möchte.<br />
2. Man beweist die Existenz einer unteren Schranke für F, d.h. die Existenz einer Konstanten<br />
0 ≤ C < ∞, so dass<br />
inf F ≥ −C.<br />
C<br />
3. Dann wählt man sich eine Minimalfolge für F, das heißt eine Folge {u i } ⊂ C mit<br />
F(u i ) −→ inf<br />
C<br />
F für i → ∞.<br />
4. Man beweist die Existenz einer Teilfolge {u ik } ⊂ {u i }, die in einer geeigneten Topologie<br />
gegen ein Grenzelement u ∈ C konvergiert.<br />
5. Man nutzt die Unterhalbstetigkeit von F bezüglich der im vorigen Schritt verwendeten<br />
Topologie, um zu schließen<br />
−∞ <<br />
Schritt 2<br />
inf<br />
C F ≤<br />
Schritt 4<br />
F(u)<br />
≤<br />
F unterhalbstetig<br />
lim inf<br />
k→∞ F(u i k<br />
) =<br />
Schritt 3<br />
inf<br />
C F,<br />
woraus Gleichheit in dieser Ungleichungskette und damit<br />
F(u) = inf<br />
C<br />
folgt. Damit ist das Existenzproblem gelöst.<br />
F
73<br />
In der Tat ist die Wahl einer geeigneten, dem jeweiligen Variationsproblem angemessenen<br />
Topologie entscheidend: Für Schritt 4, d.h. für die Auswahl von konvergenten Teilfolgen<br />
bevorzugt man eine möglichst wenig restriktive Topologie, wohingegen man für die Unterhalbstetigkeit<br />
des Funktionals, also für den abschließenden Schritt 5, gerne eine möglichst<br />
starke Topologie zur Verfügung hätte. Das Ausbalancieren dieser beiden gegenläufigen Effekte<br />
sichert bei den hier betrachteten Variationsintegralen die schwache Topologie in Sobolevräumen.<br />
Die Unterhalbstetigkeit der Funktionale bezüglich der schwachen Konvergenz<br />
soll nun untersucht werden. Wir suchen nach Bedingungen an F für dessen schwache Unterhalbstetigkeit<br />
und formulieren dazu in der nächsten Proposition zunächst die notwendige<br />
Bedingung der Quasikonvexität, welche auf C.B. Morrey zurückgeht. Unterhalbstetigkeitssätze<br />
für höherdimensionale Variationsprobleme findet man in den Lehrbüchern von<br />
Dacorogna [11] und Fonseca und Leoni [21]. Für abstrakte Versionen in allgemeinen<br />
Banachräumen verweisen wir auf die Diplomarbeit von U. Menne [44] und auf die dort<br />
zitierte Literatur.<br />
Proposition 3.2 [Notwendige Bedingung für schwache Unterhalbstetigkeit]<br />
Sei I = (a, b) ⊂ R ein endliches Intervall, q ∈ [1, ∞), F ∈ C 0 (R × R N × R N ) und F<br />
schwach unterhalbstetig in W 1,q (I, R N ), d.h.<br />
F(u) ≤ lim inf<br />
m→∞ F(u m)<br />
für alle Folgen {u m } ⊂ W 1,q (I, R N ) und Funktionen u ∈ W 1,q (I, R N ) mit u m ⇀ u in<br />
W 1,q (I, R N ) für m → ∞.<br />
Dann gilt für alle (x 0 , z 0 , p 0 ) ∈ I × R N × R N<br />
∫<br />
F (x 0 , z 0 , p 0 + ϕ ′ (x)) dx ≥ L 1 (I) F (x 0 , z 0 , p 0 ) ∀ϕ ∈ C 0,1 (I, R N ) mit ϕ(a) = ϕ(b) = 0 ;<br />
I<br />
außerdem ist F (x, z, ·) konvex für alle (x, z) ∈ I × R N .<br />
(3.1)<br />
Definition 3.3 [Quasikonvexität]<br />
Eine stetige Funktion F = F (x, z, p) heißt quasikonvex (in p) genau dann, wenn die Ungleichung<br />
(3.1) für alle ϕ ∈ C ∞ 0 (I, RN ) erfüllt ist.<br />
Bemerkung:<br />
Zwar gilt immer die Implikation „konvex ⇒ quasikonvex“ , doch in mehreren Raumdimensionen<br />
n ≥ 2 gilt die Umkehrung im Allgemeinen nicht. Dazu verweisen wir zum Beispiel<br />
auf das Buch von Dacorogna [11, Ch. 4.1]. (Dort wird übrigens für die Definition der<br />
Quasikonvexität nur die Messbarkeit und lokale Integrierbarkeit von F (x, z, ·) gefordert.)<br />
Die Quasikonvexität ist eine schwer zu verifizierende Bedingung, deshalb sind einfach nachzuweisende,<br />
hinreichende Bedingungen für die Unterhalbstetigkeit von Funktionalen von<br />
großer Bedeutung für die <strong>Variationsrechnung</strong>, wie z.B. die Polykonvexität von Integranden<br />
in mehreren Raumdimensionen, siehe z.B. [11].<br />
Beweis von Proposition 3.2. Ohne Einschränkung sei I = (0, 1).<br />
Fall 1: F = F (p). Sei p 0 ∈ R N gegeben. Wir setzen ϕ ∈ C 0,1 (I, R N ) durch den Wert<br />
ϕ(x − m) für x ∈ [m, m + 1) und m ∈ Z, auf ganz R fort, und bezeichnen die so gewonnene<br />
1-periodische Funktion wieder mit ϕ, so dass nun ϕ ∈ C 0,1 (R, R N ) gilt. Sei nun ϕ m (x) :=<br />
1<br />
m ϕ(mx) für m ∈ N. Dann ist ϕ′ m(x) = ϕ ′ (mx) für L 1 -fast alle x ∈ R, und ‖ϕ ′ m‖ L ∞ (I,R N ) ≤
74 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
c. Mit u 0 (x) := p 0 x und u m (x) := u 0 (x) + ϕ m (x) gilt dann<br />
und<br />
|u ′ m(x)| ≤ |u ′ 0(x)| + |ϕ ′ m(x)| = |p 0 | + |ϕ ′ m(x)| ≤ c ′ für fast alle x ∈ I<br />
|u m (x) − u 0 (x)| = |ϕ m (x)| = | 1 m ϕ(mx)| ≤ 1 m ‖ϕ‖ C 0 (I,R N )<br />
m→∞<br />
−−−−→ 0 für alle x ∈ I,<br />
also u m → u 0 in C 0 (I, R N ). Darüberhinaus haben wir ‖u m ‖ C 0,1 (I,R N )<br />
≤ C und damit<br />
‖u m ‖ W 1,q ′ (I,R N ) ≤ C für alle q′ ∈ [1, ∞]. Falls das in den Voraussetzungen gegebene q in<br />
(1, ∞) liegt, folgt wegen der Reflexivität (siehe Satz A.19 im Anhang) direkt die Existenz<br />
einer Teilfolge u mk ⇀ u 0 in W 1,q (I, R N ) für k → ∞ und mit dem Teilfolgenprinzip dann<br />
auch für die ganze Folge u m ⇀ u 0 in W 1,q (I, R N ) für m → ∞. Wenn q = 1, dann nutzt<br />
man die Beschränktheit des Intervalls I, um mit der Hölder-Ungleichung W 1,q′ (I, R N ) ⊂<br />
W 1,1 (I, R N ) für alle q ′ ∈ (1, ∞) und damit die umgekehrte Inklusion für die Dualräume<br />
(W 1,1 (I, R N )) ∗ ⊂ (W 1,q′ (I, R N )) ∗ zu schließen 1 . Aus u m ⇀ u 0 in W 1,q′ (I, R N ) folgt nun<br />
auch u m ⇀ u 0 in W 1,1 (I, R N ) für m → ∞.<br />
Also ist für jedes gegebene q ∈ [1, ∞) die Funktionenfolge {u m } m∈N zulässig in der<br />
Voraussetzung<br />
∫<br />
der Proposition, d.h. es gilt F(u 0 ) ≤ lim inf m→∞ F(u m ). Nun ist F(u 0 ) =<br />
I F (p 0) dx = L 1 (I)F (p 0 ), also folgt mit der Transformation z := mx und der Periodizität<br />
von ϕ<br />
∫<br />
L 1 (I)F (p 0 ) = F(u 0 ) ≤ lim inf F(u m) = lim inf F (p 0 + ϕ ′<br />
m→∞ m→∞<br />
m(x)) dx<br />
∫<br />
I<br />
= lim inf F (p 0 + ϕ ′ (mx)) dx<br />
m→∞<br />
I<br />
∫<br />
1<br />
= lim inf F (p 0 + ϕ ′ (z)) dz<br />
m→∞ m mI<br />
1<br />
= lim inf<br />
m→∞ m<br />
∫I<br />
m F (p 0 + ϕ ′ (z)) dz<br />
∫<br />
= F (p 0 + ϕ ′ (z)) dz.<br />
I<br />
Fall 2: F = F (x, z, p). Sei x 0 ∈ I, z 0 ∈ R N und p 0 ∈ R N . Wir definieren<br />
R h := (x 0 , x 0 + h) für 0 < h < dist(x 0 , ∂I) < 1.<br />
Wir setzen ϕ ∈ C 0,1 (I, R N ) wie im ersten Fall 1-periodisch auf R fort und definieren ϕ m<br />
für m ∈ N durch<br />
ϕ m (x) := h ( m<br />
)<br />
m ϕ h (x − x 0) ,<br />
1 Genauer gesagt: die Konvergenz u k→∞<br />
k ⇀ u in W 1,q (I, R N ) bedeutet l(u k ) k→∞<br />
−−−→ l(u) für alle linearen<br />
Funktionale l ∈ (W 1,q (I, R N )) ∗ . Für ein ˜l ∈ (W 1,1 (I, R N )) ∗ und v ∈ W 1,q (I, R N ) ⊂ W 1,1 (I, R N ) gilt aber<br />
nach der Hölder-Ungleichung<br />
|˜l(v)| ≤ ‖˜l‖ (W 1,1 (I,R N )) ∗‖v‖ W 1,1 (I,R N ) ≤ ‖˜l‖ (W 1,1 (I,R N )) ∗‖v‖ W 1,q (I,R N ) L 1 (I) 1− 1 q ,<br />
also ‖˜l‖ (W 1,q (I,R N )) ∗ ≤ ‖˜l‖ (W 1,1 (I,R N )) ∗L 1 (I) 1−(1/q) . Insgesamt hat man also ˜l(u k ) k→∞<br />
−−−→ ˜l(u) für alle<br />
˜l ∈ (W 1,1 (I, R N )) ∗ .
75<br />
so dass ϕ m | Rh ∈ C 0,1 (R h , R N ) mit ϕ m | Rh (x 0 ) = ϕ m | Rh (x 0 + h) = 0, da I = (0, 1). Sei<br />
u 0 (x) := z 0 + p 0 (x − x 0 ) und<br />
{<br />
u 0 (x) + ϕ m (x) für x ∈ R h ,<br />
u m (x) :=<br />
u 0 (x) für x ∈ I \ R h .<br />
Dann gilt wieder u m<br />
m→∞<br />
−−−−→ u 0 in C 0 (I, R N ), weil<br />
‖ϕ m ‖ C 0 (R,R N ) ≤ h m ‖ϕ‖ C 0 (I,R N )<br />
m→∞<br />
−−−−→ 0.<br />
Da ϕ ′ m(x) = ϕ ′ ( m h (x − x 0)) für alle m ∈ N, sind die Funktionen u ′ m gleichmäßig beschränkt<br />
auf I, womit {u m } m∈N mit demselben Argument wie in Fall 1 als zulässige Folge in der<br />
Voraussetzung identifiziert werden kann. Wir betrachten nun<br />
∫<br />
F Rh (u m ) = F (x, u m (x), u ′ m(x)) dx<br />
R h<br />
=<br />
m−1<br />
∑<br />
i=0<br />
∫<br />
I i<br />
F (x, u m (x), u ′ m(x)) dx,<br />
wobei I i := (x i , x i+1 ) für i = 0, . . . , m − 1, und x i := x 0 + ih m<br />
, i = 0, . . . , m. Die Substitution<br />
x = x i + h m y liefert dann wegen y(I i) = I und wegen<br />
(<br />
ϕ ′ m(x) = ϕ ′ m<br />
)<br />
h (x − x 0)<br />
die Identität<br />
F Rh (u m ) =<br />
m−1<br />
∑<br />
i=0<br />
Zwischenbehauptung: Es gilt<br />
lim F R<br />
m→∞ h<br />
(u m ) =<br />
( m<br />
= ϕ ′ h (x i + h )<br />
m y − x 0)<br />
= ϕ ′ (y + i) =<br />
ϕ 1-periodisch ϕ′ (y)<br />
∫<br />
h<br />
F (x i + h m I m y, u m(x i + h m y), p 0 + ϕ ′ (y)) dy.<br />
∫R h<br />
∫<br />
I<br />
F (x, u 0 (x), p 0 + ϕ ′ (y)) dy dx.<br />
Beweis der Zwischenbehauptung. Mit F ∈ C 0 (R × R N × R N m→∞<br />
) und u m −−−−→ u 0 in<br />
C 0 (I, R N ) folgt: Für alle ε > 0 gibt es N = N(ε) ∈ N, so dass für alle m ≥ N(ε) und<br />
i ∈ {0, 1, . . . , m − 1}<br />
∫<br />
∫<br />
∣ F (x i , u 0 (x i ), p 0 + ϕ ′ (y)) dy − F (x i + h m y, u m(x i + h m y), p 0 + ϕ ′ (y)) dy<br />
∣ < ε 2 ,<br />
I<br />
woraus<br />
∣ F R h<br />
(u m ) −<br />
≤<br />
m−1<br />
∑<br />
i=0<br />
h<br />
m<br />
m−1<br />
∑<br />
i=0<br />
∫<br />
∣<br />
I<br />
∫<br />
h<br />
m I<br />
< εh m−1<br />
∑<br />
1 = εh 2m 2 < ε 2<br />
i=0<br />
F (x i , u 0 (x i ), p 0 + ϕ ′ (y)) dy<br />
∣<br />
I<br />
F (x i + h m y, u m(x i + h ∫<br />
m y), p 0 + ϕ ′ (y)) dy −<br />
für alle m ≥ N(ε)<br />
I<br />
F (x i , u 0 (x i ), p 0 + ϕ ′ (y)) dy<br />
∣
76 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
folgt. Nun ist die auf I stetige Funktion<br />
∫<br />
f(x) := F (x, u 0 (x), p 0 + ϕ ′ (y)) dy, x ∈ I,<br />
I<br />
Riemann-integrierbar auf R h , was die Existenz einer Zahl N 1 (ε) ∈ N mit N 1 (ε) ≥ N(ε)<br />
impliziert, so dass für alle m ≥ N 1 (ε)<br />
∫<br />
m−1<br />
∑<br />
∫<br />
F (x, u 0 (x), p 0 + ϕ<br />
∣<br />
∫R ′ h<br />
(y)) dy dx − F (x i , u 0 (x i ), p 0 + ϕ ′ (y)) dy<br />
h<br />
m I<br />
∣ < ε 2 .<br />
Insgesamt ergibt sich<br />
∣ F R h<br />
(u m ) −<br />
I<br />
∫R h<br />
∫<br />
I<br />
i=0<br />
F (x, u 0 (x), p 0 + ϕ ′ (y)) dy dx<br />
∣ < ε<br />
womit die Zwischenbehauptung bewiesen ist.<br />
für alle m ≥ N 1(ε),<br />
Wegen der vorausgesetzten Unterhalbstetigkeit hat man<br />
∫<br />
∫<br />
F (x, u 0 (x), p 0 ) dx + F (x, u 0 (x), p 0 ) dx = F(u 0 )<br />
I\R h R<br />
⎡<br />
h<br />
⎤<br />
∫<br />
∫<br />
⎢<br />
≤ lim inf ⎣ F (x, u m (x), u ′<br />
m→∞<br />
I\R h<br />
} {{ } m(x) ) dx + F (x, u<br />
} {{ }<br />
m (x), u ′ ⎥<br />
m(x)) dx⎦<br />
R h<br />
=u 0 (x) =u ′ 0<br />
∫<br />
(x) ∫<br />
= F (x, u 0 (x), p 0 ) dx + lim inf F (x, u m (x), u ′<br />
I\R<br />
m→∞<br />
m(x)) dx,<br />
h R<br />
} h<br />
{{ }<br />
=F Rh (u m)<br />
da u m = u 0 auf I\R h . Es gilt also nach der Zwischenbehauptung<br />
∫<br />
1<br />
F (x, u 0 (x), p 0 ) dx ≤ 1 lim inf<br />
h R h<br />
h F R<br />
m→∞ h<br />
(u m ) = 1 h lim F R<br />
m→∞ h<br />
(u m )<br />
= 1 h<br />
∫R h<br />
∫<br />
I<br />
F (x, u 0 (x), p 0 + ϕ ′ (y)) dy dx.<br />
Für h → 0 folgt dann mit dem Mittelwertsatz der Integralrechnung und der Definition von<br />
u 0 ∫<br />
F (x 0 , z 0 , p 0 ) ≤ F (x 0 , z 0 , p 0 + ϕ ′ (y)) dy,<br />
I<br />
womit die Beziehung (3.1) gezeigt ist; denn es gilt L 1 (I) = 1.<br />
Es bleibt die Konvexität von F (x, z, ·) zu beweisen. Seien nun dazu p 1 , p 2 ∈ R N und<br />
p = λp 1 +(1−λ)p 2 für eine beliebige Zahl λ ∈ [0, 1]. Außerdem definiere die Lipschitzstetige<br />
Funktion<br />
{<br />
xp 1<br />
für x ∈ [0, λ],<br />
˜ϕ(x) :=<br />
λp 1 + (x − λ)p 2 für x ∈ (λ, 1],<br />
so dass<br />
˜ϕ ′ (x) =<br />
{<br />
p 1 für x ∈ [0, λ),<br />
p 2 für x ∈ (λ, 1].
77<br />
Sei nun ϕ(x) := ˜ϕ(x) − ˜ϕ(0) − px ∈ C 0,1 ([0, 1], R N ). Dann gelten nach Definition von ˜ϕ<br />
die Identitäten ϕ(0) = 0 und ϕ(1) = ˜ϕ(1) − ˜ϕ(0) − p = 0. Also ergibt sich mit der oben<br />
bewiesenen Ungleichung für p 0 := p und diese Wahl von ϕ<br />
F (x 0 , z 0 , λp 1 + (1 − λ)p 2 ) = F (x 0 , z 0 , p)<br />
∫<br />
≤ F (x 0 , z 0 , p + ϕ ′ (y)) dy<br />
∫I<br />
= F (x 0 , z 0 , ˜ϕ ′ (y)) dy<br />
=<br />
I<br />
∫ λ<br />
0<br />
F (x 0 , z 0 , p 1 ) dy +<br />
∫ 1<br />
λ<br />
F (x 0 , z 0 , p 2 ) dy<br />
= λF (x 0 , z 0 , p 1 ) + (1 − λ)F (x 0 , z 0 , p 2 ).<br />
Bemerkung:<br />
Fordert man die schwache Oberhalbstetigkeit (d.h. F(u) ≥ lim sup m→∞ F(u m )) anstelle der<br />
schwachen Unterhalbstetigkeit in Proposition 3.2, dann ergibt sich (3.1) mit umgekehrtem<br />
Ungleichheitszeichen, und F (x, z, ·) ist konkav in p.<br />
Mit dieser Beobachtung erhält man<br />
Korollar 3.4<br />
Sei I = (a, b) mit −∞ < a < b < +∞ und F ∈ C 0 (I × R N × R N ), q ∈ [1, ∞). Dann ist<br />
die Abbildung v ↦→ ∫ I F (x, v(x), v′ (x)) dx genau dann schwach stetig in W 1,q (I, R N ), also<br />
stetig bezüglich der schwachen Konvergenz in W 1,q (I, R N ), wenn F (x, z, p) linear in p ist<br />
für alle (x, z) ∈ I × R N , d.h. wenn es A ∈ C 0 (I × R N , R N ) und B ∈ C 0 (I × R N ) gibt, so<br />
dass<br />
F (x, z, p) = A(x, z) · p + B(x, z) für (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
Beweis. „⇒ “: Mit der schwachen Stetigkeit von F ist F(u) = lim m→∞ F(u m ) für alle in<br />
W 1,q (I, R N ) schwach konvergenten Folgen u m ⇀ u. Also ist F schwach unterhalb- und<br />
oberhalbstetig, d.h. F (x, z, ·) ist konkav und konvex nach Proposition 3.2 und der sich<br />
daran anschließenden Bemerkung. Damit ist F linear in p. Die Stetigkeit von A und B folgt<br />
aus der Tatsache, dass F ∈ C 0 (I × R N × R N ).<br />
„⇐ “: Wir zeigen die Rückrichtung der Einfachheit halber nur für q > 1. Eine Folge<br />
{u m } ⊂ W 1,q (I, R N m→∞<br />
) mit u m ⇀ u in W 1,q (I, R N ) ist nach Lemma A.8 in W 1,q (I, R N )<br />
beschränkt, d.h., es gibt eine Konstante C unabhängig von m, so dass ‖u m ‖ W 1,q (I,R N ) ≤ C<br />
für alle m ∈ N. Weiterhin gibt es nach Satz 2.14 in Verbindung mit dem Satz von Arzelà-<br />
Ascoli eine Teilfolge, die gegen u in C 0 (I, R N ) konvergiert. Nach dem Teilfolgenprinzip
78 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
gilt dann auch u m → u in C 0 (I, R N ) für m → ∞, und wir können abschätzen<br />
∫<br />
∫<br />
|F(u m ) − F(u)| =<br />
∣ F (x, u m (x), u ′ m(x)) dx − F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
∣<br />
I<br />
I<br />
∫<br />
≤<br />
∣ A(x, u(x)) · (u ′ m(x) − u ′ (x)) dx<br />
∣<br />
I<br />
∫<br />
+<br />
∣ |A(x, u m (x)) − A(x, u(x))||u ′ m(x)| dx<br />
∣<br />
I<br />
∫<br />
+<br />
∣ |B(x, u m (x)) − B(x, u(x))| dx<br />
m→∞<br />
∣ −−−−→ 0 ;<br />
I<br />
denn mit der Stetigkeit von A und B und der gleichmäßigen Konvergenz der u m gegen u<br />
gehen die letzten beiden Terme auf der rechten Seite wegen ‖u m ‖ W 1,q (I,R N ) ≤ C gegen Null,<br />
m→∞<br />
während mit der schwachen Konvergenz u m ⇀ u der erste Ausdruck auf der rechten Seite<br />
gegen Null konvergiert. Damit gilt also<br />
|F(u m ) − F(u)| m→∞ −−−−→ 0.<br />
Ein in den Anwendungen leicht nachprüfbares hinreichendes Kriterium für die Unterhalbstetigkeit<br />
von Variationsintegralen liefert der Unterhalbstetigkeitssatz von Tonelli.<br />
Satz 3.5 [Tonelli]<br />
Sei I = (a, b) mit −∞ < a < b < +∞ und außerdem<br />
(i) F, F p ∈ C 0 (I × R N × R N ),<br />
(ii) F ≥ 0 (alternativ auch F (x, z, p) ≥ g(x) für alle (z, p) ∈ R N × R N und L 1 -fast alle<br />
x ∈ I und für eine Funktion g ∈ L 1 (I)),<br />
(iii) F (x, z, ·) konvex in p für alle (x, z) ∈ I × R N .<br />
Dann ist F(u) := ∫ I F (x, u(x), u′ (x)) dx schwach unterhalbstetig in W 1,q (I, R N ) für alle<br />
q ∈ [1, ∞).<br />
DeGiorgi [12] konnte einen solchen Satz unter einer abgeschwächten ersten Bedingung<br />
beweisen: Anstelle von Voraussetzung (i) reicht es, wenn F eine Carathéodory-Funktion<br />
ist, d.h. F (·, z, p) ist messbar für alle (z, p) ∈ R N × R N und F (x, ·, ·) ist stetig für L 1 -<br />
fast alle x ∈ I. Diese DeGiorgi-Variante werden wir für den Existenzbeweis für Cartan-<br />
Funktionale in Abschnitt 5.2 benötigen. Es gibt zahlreiche weitere Verallgemeinerungen und<br />
Verschärfungen dieses Unterhalbstetigkeitssatzes auch in Dimension n = 1, siehe dazu die<br />
Resultate und weiterführenden Literaturhinweise in [4, S. 109ff].<br />
Beweis von Satz 3.5. Wir führen den Beweis nur unter der Voraussetzung F ≥ 0 (sonst<br />
betrachte das modifizierte Funktional F + ∫ I<br />
|g(x)| dx). Da I ⊂ R beschränkt ist, können wir<br />
ohne Einschränkung annehmen, dass die Folge {u k } k∈N schwach in W 1,1 (I, R N ) konvergiert,<br />
vgl. mit dem Argument im Beweis von Proposition 3.2. Wegen der kompakten Einbettung<br />
W 1,1 (I, R N ) ↩→ L 1 (I, R N ) (siehe Satz 2.8 (i)) konvergiert zunächst eine Teilfolge und dann<br />
nach dem Teilfolgenprinzip auch die ganze Folge {u k } stark gegen u in L 1 (I, R N ) und damit<br />
auch L 1 -fast überall gegen u.
79<br />
Wegen der Absolutstetigkeit der Mengenfunktion<br />
∫<br />
I ⊃ E ↦→<br />
E<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
(vgl. [2, Lemma A1.17]) gibt es zu ε > 0 eine Zahl δ(ε) > 0, so dass<br />
∫<br />
E<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx ≥ F(u) − ε<br />
für alle Borelmengen E ⊂ I mit L 1 (I \ E) < δ(ε).<br />
(3.2)<br />
(Falls F(u) = ∞, was nach Proposition 3.1 möglich ist, dann findet man δ(ε) > 0, so dass<br />
∫<br />
E F (x, u(x), u′ (x)) dx ≥ 1 ε für alle Borelemengen E ⊂ I mit L 1 (I \ E) < δ(ε).) Nach dem<br />
Satz von Egorov [2, Satz A1.18] existiert eine Borelmenge E δ(ε) ⊂ I mit L 1 (I \ E δ(ε) ) <<br />
δ(ε)/2, so dass u k auf E δ(ε) gleichmäßig gegen u konvergiert, d.h.<br />
sup |u k (x) − u(x)| → 0 für k → ∞.<br />
x∈E δ(ε)<br />
Weiterhin findet man nach dem Satz von Lusin (vgl. [2, Satz A4.7]) eine kompakte Menge<br />
K(ε) ⊂ E δ(ε) , so dass neben der Funktion u auch die schwache Ableitung u ′ stetig auf K(ε)<br />
ist, und so dass<br />
L 1 (E δ(ε) \ K(ε)) < δ(ε)<br />
2<br />
⇒<br />
L 1 (I \ K(ε)) < δ(ε).<br />
Somit folgt aus (3.2)<br />
∫<br />
K(ε)<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx ≥ F(u) − ε (3.3)<br />
(oder ∫ K(ε) F (x, u(x), u′ (x)) dx > 1/ε, falls F(u) = ∞).<br />
F(x, z, ·)<br />
u ′<br />
u ′ k<br />
p<br />
Abbildung 3.1: F ist konvex in p.<br />
Wegen F ≥ 0 und der Konvexität von F können wir das Funktional nun folgendermaßen
80 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
abschätzen:<br />
F(u k )<br />
≥<br />
≥<br />
=<br />
k→∞<br />
−−−→<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
K(ε)<br />
K(ε)<br />
K(ε)<br />
∫<br />
+<br />
F (x, u k (x), u ′ k (x)) dx<br />
∫<br />
F (x, u k (x), u ′ (x)) dx + F p (x, u k (x), u ′ (x)) · (u ′ k (x) − u′ (x)) dx<br />
K(ε)<br />
K(ε)<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
∫<br />
F (x, u k (x), u ′ (x)) dx −<br />
K(ε)<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
} {{ }<br />
∫<br />
=:A<br />
+ F p (x, u(x), u ′ (x)) · (u ′ k (x) − u′ (x)) dx<br />
K(ε)<br />
} {{ }<br />
∫<br />
=:B<br />
+ [F p (x, u k (x), u ′ (x)) − F p (x, u(x), u ′ (x))] · (u ′ k (x) − u′ (x)) dx<br />
∫<br />
K(ε)<br />
} {{ }<br />
=:C<br />
K(ε)<br />
F (x, u(x), u ′ (x)) dx;<br />
denn die Terme A, B, C streben für k → ∞ gegen Null: Es gilt A −−−→ k→∞ 0, da F ∈ C 0 (I ×<br />
R N × R N k→∞<br />
) und u k −−−→ u gleichmäßig auf K(ε) und u ′ beschränkt auf K(ε). Weiterhin<br />
hat man B −−−→ k→∞<br />
k→∞<br />
0, weil u k ⇀ u in W 1,1 (I, R N ) und F p (·, u(·), u ′ (·)) ∈ C 0 (K(ε), R N ).<br />
Schließlich sieht man ein, dass C −−−→ k→∞ 0, da F p ∈ C 0 (I×R N ×R N k→∞<br />
), u k −−−→ u gleichmäßig<br />
auf K(ε) und da ‖u ′ k − u′ ‖ L 1 (I,R N ) beschränkt ist, weil {u k } k∈N schwach konvergent ist, vgl.<br />
Lemma A.8 im Anhang.<br />
Schließlich folgt also wegen F ≥ 0 mit (3.3) im Fall F(u) < ∞<br />
∫<br />
lim inf F(u k) ≥ F (x, u(x), u ′ (x)) dx<br />
k→∞ K(ε)<br />
∫<br />
≥ F (x, u(x), u ′ (x)) dx − ε = F(u) − ε ∀ ε > 0.<br />
I<br />
Falls F(u) = ∞ folgt lim inf k→∞ F(u k ) ≥ 1/ε für das beliebig vorgegebene ε > 0.<br />
Nun sind wir in der Lage, die am Anfang dieses Kapitels skizzierte direkte Methode für<br />
den Beweis eines Existenzsatzes anzuwenden.<br />
Satz 3.6 [Existenzsatz von Tonelli]<br />
Sei I = (a, b) mit −∞ < a < b < +∞, q ∈ (1, ∞) und α, β ∈ R N . Außerdem gelte<br />
(i) F, F p ∈ C 0 (I × R N × R N );<br />
(ii) es gibt Konstanten c 0 > 0 und c 1 ≥ 0, so dass<br />
c 0 |p| q − c 1 ≤ F (x, z, p) ∀ (x, z, p) ∈ I × R N × R N ;
81<br />
(iii) F (x, z, ·) ist konvex (in p) für alle (x, z) ∈ I × R N .<br />
Dann gibt es eine Funktion u in der Klasse<br />
C(α, β) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : v(a) = α, v(b) = β},<br />
welche das Funktional F in C(α, β) minimiert:<br />
∫<br />
F(u) = F (x, u(x), u ′ (x)) dx = inf F(·).<br />
C(α,β)<br />
I<br />
I<br />
Beweis. Ohne Einschränkung führen wir den Beweis für den Fall c 1 = 0, ansonsten kann<br />
man zuerst das Hilfsfunktional ˜F(·) := F(·) + L 1 (I)c 1 betrachten, dessen Integrand nach<br />
Voraussetzung (ii) nichtnegativ ist. Der für ˜F gefundene Minimierer minimiert dann auch<br />
das ursprüngliche Funktional F.<br />
Zunächst ist die Klasse zulässiger Funktionen C(α, β) nicht leer, zum Beispiel liegt<br />
die die Randwerte verbindende Gerade, also die lineare Funktion l : R → R N mit<br />
l(a) = α und l(b) = β, in dieser Menge. Es existiert also eine Minimalfolge, d.h. eine Folge<br />
{u k } k∈N ⊂ C(α, β) mit F(u k ) −−−→ k→∞ inf C(α,β) F(·). Aus Voraussetzung (ii) (für c 1 = 0) folgt<br />
die Abschätzung ∫<br />
c 0 |u ′ k (x)|q dx ≤ F(u k ) −−−→<br />
k→∞ inf F(·) < ∞,<br />
C(α,β)<br />
was bedeutet, dass ‖u ′ k ‖ L q (I,R N ) unabhängig von k beschränkt ist. Außerdem folgt aus<br />
|u k (x)| ≤ |u k (a)| + |u k (x) − u k (a)|, dass<br />
|u k (x)| q ≤ 2 q−1[ |u k (a) | q + |u<br />
} {{ } k (x) − u k (a)| q] .<br />
=α<br />
Aus dieser Ungleichung folgt 2 mit Hilfe der Poincaré-Ungleichung (siehe Bemerkung nach<br />
Satz 2.14)<br />
∫<br />
∫<br />
|u k (x)| q dx ≤ c + c |u k (x) − u k (a)| q dx<br />
I<br />
∫I<br />
≤ c + c |u ′ k (x)|q dx ≤ c,<br />
also ist ‖u k ‖ L q (I,R N ) und damit insgesamt ‖u k ‖ W 1,q (I,R N ) gleichmäßig beschränkt. Da für<br />
q ∈ (1, ∞) der Raum W 1,q (I, R N ) ein reflexiver Banachraum ist, gibt es nach Satz A.10<br />
im Anhang eine Funktion u ∈ W 1,q (I, R N ) und eine in W 1,q (I, R N ) gegen u schwach konvergente<br />
Teilfolge {u ki } i∈N . Nach Satz 2.14 ist ‖u k ‖<br />
0,1− 1q gleichmäßig beschränkt,<br />
C (I,R N )<br />
womit man mit Hilfe des Satzes von Arzelà-Ascoli auf die Existenz einer weiteren Teilfolge<br />
schließt, die wir ebenfalls mit {u ki } i∈N bezeichnen, welche in C 0 (I, R N ) ebenfalls gegen<br />
u konvergiert. Deshalb gilt u(a) = lim i→∞ u ki (a) = α und u(b) = lim i→∞ u ki (b) = β, so<br />
dass u ∈ C(α, β). Damit und mit der Unterhalbstetigkeit von F, die Satz 3.5 garantiert,<br />
folgt, dass u ein Minimierer von F ist:<br />
inf F(·) ≤ F(u) ≤ lim inf F(u k i<br />
) = lim F(u k) = inf F(·).<br />
C(α,β) i→∞<br />
k→∞ C(α,β)<br />
I<br />
2 Hier und im Folgenden bezeichnet c oder C eine generische Konstante, deren Wert sich zwar von Zeile<br />
zu Zeile ändern kann, die aber nicht von k sondern nur von den Daten q, F, I, c 0, c 1, α, β abhängt.
82 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Bemerkung: 1. Die erste Bedingung in Satz 3.6 lässt sich durch die Forderung ersetzen,<br />
dass F eine Carathéodory-Funktion ist, vergleiche mit der Voraussetzung von Proposition<br />
3.1. Dann sind auch die Voraussetzungen (ii) und (iii) nur für L 1 -fast alle<br />
x ∈ I zu fordern.<br />
2. Die zweite Bedingung des Satzes kann auch durch die eines superlinearen Wachstumsverhaltens<br />
ersetzt werden (siehe Übungsaufgabe):<br />
F (x, z, p) ≥ θ(p) ≥ 0<br />
θ(p)<br />
mit lim = ∞ ∀ (x, z) ∈ I × R N .<br />
|p|→∞ |p|<br />
Allerdings benötigt man dann für den Existenzbeweis ein Kompaktheitsresultat für<br />
den nichtreflexiven Banachraum W 1,1 (I, R N ), vgl. [4, Theorem 3.7 & 2.12].<br />
3. Anstelle von C(α, β) kann zum Beispiel auch eine der folgenden Mengen als Klasse<br />
zulässiger Vergleichsfunktionen gewählt werden, denn auch dann ist die Poincaré-<br />
Ungleichung anwendbar, vgl. mit der Bemerkung nach dem Beweis von Satz 2.14:<br />
C(α) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : v(a) = α},<br />
C(β) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : v(b) = β},<br />
C(x 0 ) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : v(x 0 ) = 0} für beliebiges x 0 ∈ I,<br />
∫<br />
C(M) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : M(v) := − v(x) dx = 0}.<br />
Beispiel 3.1<br />
Wir betrachten für q ∈ (1, ∞) das Variationsintegral<br />
∫<br />
F(v) := |v ′ (x)| q dx,<br />
welches zu gegebenen Randdaten α, β ∈ R N in der Klasse<br />
I<br />
C(α, β) := {v ∈ W 1,q (I, R N ) : v(a) = α, v(b) = β}<br />
minimiert werden soll. Man prüft leicht nach, dass alle Voraussetzungen des Existenzsatzes,<br />
Satz 3.6, erfüllt sind. Also existiert ein Minimierer u ∈ C(α, β) mit<br />
F(u) =<br />
inf F.<br />
C(α,β)<br />
Für höhere Raumdimensionen n ≥ 2 nennt man die Minimierer der zugehörigen Variationsintegrale<br />
∫<br />
F(v) := |∇v(x)| q dx, Ω ⊂⊂ R n ,<br />
Ω<br />
auch q-harmonische Abbildungen. Von besonderem Interesse sind hier q-harmonische Abbildungen,<br />
die auf Riemannschen oder Finslerschen Mannigfaltigkeiten definiert sind,<br />
und die in eine andere Riemannsche oder Finslersche Mannigfaltigkeit abbilden. Der<br />
Fall q = 2 mit Riemannschem Urbild und Riemannscher Zielmannigfaltigkeit ist hier<br />
am besten untersucht, man nennt die 2-harmonischen Abbildungen einfach harmonische Abbildungen.<br />
Einblicke in diese mittlerweile sehr breite Forschungsrichtung gewähren z.B. die<br />
Monographien von Eells und Fuglede [17] und von Hélein [29], siehe auch [26], [23] und<br />
die aktuelleren Arbeiten [45], [62], [69], [70], [74] zu harmonischen Abbildungen zwischen<br />
Finslermannigfaltigkeiten.<br />
I
83<br />
Beispiel 3.2<br />
Wir betrachten für N = 1, I = (0, 1), µ ∈ R und q ∈ (1, ∞) das Funktional F µ,q definiert<br />
durch<br />
F µ,q (v) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
x µ |v ′ (x)| q dx<br />
und damit für gegebene Randdaten α, β ∈ R das Variationsproblem<br />
F µ,q (v) −→ min! in C(α, β) := {v ∈ W 1,q (I) : v(0) = α, v(1) = β}.<br />
Zuerst untersuchen wir den auf Weierstraß zurückgehenden Spezialfall µ = 2 = q.<br />
Dann existiert kein Minimierer in C(α, β), falls α ≠ β, was wir durch ein Widerspruchsargument<br />
beweisen: Offensichtlich ist F µ,q ≥ 0 für alle q ∈ (0, ∞) und µ ∈ R, und es<br />
gibt eine Folge {u k } k∈N ⊂ C(α, β) mit F 2,2 (u k ) −−−→ k→∞ 0, wie unten gezeigt wird; also ist<br />
inf C(α,β) F 2,2 (·) = 0. Gäbe es nun ein u ∈ C(α, β) mit F 2,2 (u) = inf C(α,β) F 2,2 (·) = 0, so wäre<br />
notwendig u ′ = 0 L 1 -fast überall in (0, 1). Nach Lemma 2.3 wäre u dann aber konstant auf<br />
[0, 1], was sich nicht mit u(0) = α ≠ β = u(1) vereinbaren ließe.<br />
Die genannte Folge {u k } ⊂ C(α, β) ∩ C ∞ (R) ist gegeben durch<br />
arctan kx<br />
u k (x) := α + (β − α)<br />
arctan k<br />
für x ∈ R.<br />
Tatsächlich sind wegen u k (0) = α, u k (1) = β diese Funktionen in C(α, β) für alle k ∈ N.<br />
Weiterhin berechnet man<br />
F 2,2 (u k ) =<br />
=<br />
∫ 1<br />
0<br />
(β − α) 2 k 2 x 2<br />
(arctan k) 2 (1 + k 2 x 2 ) 2 dx<br />
(β − α) 2 [<br />
2k(arctan k) 2 arctan k −<br />
k ]<br />
1 + k 2<br />
k→∞<br />
−−−→ 0.<br />
Nun wenden wir uns allgemeineren Betrachtungen des gegebenen Variationsproblems zu und<br />
beweisen folgende Aussagen:<br />
1. Falls µ ≤ 0 und q > 1, dann gibt es genau eine Lösung u ∈ C(α, β) für gegebene<br />
Randdaten α, β ∈ R. Es wird sich herausstellen, dass diese Lösung darüberhinaus<br />
mindestens von der Klasse C ∞ ((0, 1]) ∩ C 1 ([0, 1]) ist.<br />
2. Falls µ > 0 und q > µ + 1, dann gibt es genau eine Lösung u ∈ W 1,˜q (I) mit u(0) = α<br />
q<br />
und u(1) = β für gegebene Randdaten α, β ∈ R, wobei ˜q ∈ (1,<br />
µ+1<br />
) beliebig gewählt<br />
werden kann. Hier ist die Lösung darüberhinaus von der Klasse C ∞ ((0, 1]) aber nicht<br />
in C 1 ([0, 1]).<br />
3. Falls µ > 0 und 1 < q ≤ µ + 1 sowie α ≠ β, dann gibt es keine Lösung in C(α, β).<br />
1. Fall: µ ≤ 0<br />
Wir behaupten: Es gibt einen eindeutigen, explizit bestimmbaren Minimierer von F µ,q .<br />
Mit x µ = x −|µ| ≥ 1 −|µ| = 1 für alle x ∈ (0, 1] ist<br />
F (x, z, p) = F (x, p) = x µ |p| q ≥ |p| q für alle x ∈ (0, 1], p ∈ R.
84 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
F (·, p) ist messbar auf I für alle p ∈ R und F (x, ·) stetig in R für alle x ∈ (0, 1]. Wegen<br />
q > 1 und<br />
F p (x, p) = qx µ |p| q−2 p für x > 0<br />
ist strikt monoton wachsend, und damit ist F strikt konvex in p für alle x ∈ (0, 1]. Deshalb<br />
lässt sich der Existenzsatz, Satz 3.6, in Kombination mit der sich daran anschließenden<br />
ersten Bemerkung anwenden, d.h. es gibt ein u ∈ C(α, β) mit<br />
F µ,q (u) =<br />
inf F µ,q(·). (3.4)<br />
C(α,β)<br />
Die Eindeutigkeit von u folgt aus der strikten Konvexität von F (x, ·) in der Variablen p und<br />
der Tatsache, dass F = F (x, p) nicht von z ∈ R abhängt: Für u 1 , u 2 ∈ C(α, β) und λ ∈ [0, 1]<br />
ist nämlich auch<br />
λu 1 + (1 − λ)u 2 ∈ C(α, β). (3.5)<br />
Dann ist für λ ∈ (0, 1) und u 1 ≠ u 2<br />
F µ,q (λu 1 + (1 − λ)u 2 ) =<br />
<<br />
∫<br />
∫<br />
I<br />
I<br />
F (x, λu ′ 1 + (1 − λ)u ′ 2) dx<br />
[<br />
]<br />
λF (x, u ′ 1) + (1 − λ)F (x, u ′ 2) dx<br />
= λF µ,q (u 1 ) + (1 − λ)F µ,q (u 2 ).<br />
(3.6)<br />
Wären nun u und v zwei unterschiedliche globale Minimierer von F µ,q auf C(α, β), dann<br />
ergäbe sich für den Fall λ = 1 2<br />
für u ≠ v wegen F µ,q(u) = F µ,q (v) aus (3.4)–(3.6) ein<br />
Widerspruch:<br />
F µ,q (u) = 1 2 F µ,q(u) + 1 2 F µ,q(v) ><br />
(3.6)<br />
F µ,q ( 1 2 u + 1 2 v)<br />
≥<br />
(3.5),(3.4)<br />
F µ,q (u).<br />
Die Funktion u ist also der eindeutige Minimierer von F µ,q .<br />
Alternativ kann man für den Beweis der Eindeutigkeit auch das folgende stärkere Resultat benutzen (siehe die zugehörige<br />
Übungsaufgabe, deren Lösung mit einem ähnlichen Schluss gefunden werden kann):<br />
Behauptung: Jede schwache Extremale eines Variationsintegrals mit einem in p strikt konvexen Integranden F =<br />
F (x, p) ist strikter globaler Minimierer (und damit eindeutig). Genauer gilt für alle u ∈ C(α, β) mit δF(u, ϕ) = 0 für<br />
alle ϕ ∈ W 1,q<br />
0 (I, R N ) die Identität F(u) < F(v) für alle v ∈ C(α, β) \ {u}.<br />
Beweis. Man testet die schwache Euler-Lagrange-Gleichung<br />
∫<br />
F p(x, u ′ (x)) · ϕ ′ (x) dx = 0<br />
I<br />
mit ϕ := u − v ∈ W 1,q<br />
0 (I, R N ) und erhält mit der strikten Konvexität von F (x, ·)<br />
∫<br />
∫ [<br />
]<br />
F(v) = F (x, v ′ (x)) dx > F (x, u ′ (x)) + F p(x, u ′ (x)) · (v ′ (x) − u ′ (x)) dx = F(u).<br />
I<br />
I<br />
Zur expliziten Bestimmung dieser eindeutigen Lösung können wir die indirekten Methoden<br />
des ersten Kapitels anwenden; denn wenn wir eine glatte Lösung in C(α, β) finden, so ist dies
85<br />
die eindeutige Lösung. Für eine Lösung u ∈ C 2 (I) (oder auch nur u ∈ C 1 (I), vgl. Korollar<br />
1.11) lautet die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
d (<br />
x µ q|u ′ (x)| q−2 u ′ (x) ) = 0. (ELG 3.2 )<br />
dx<br />
Es gibt also ein c ∈ R mit<br />
q|u ′ (x)| q−2 u ′ (x) = cx −µ .<br />
Mit einem noch zu bestimmenden Exponenten t > 0 machen wir den Ansatz<br />
u(x) = a 1 x t + a 2 , d.h. u ′ (x) = a 1 tx t−1<br />
und<br />
q|a 1 | q−2 |t| q−2 x (q−2)(t−1) a 1 tx t−1 = cx −µ .<br />
Man folgert mit Exponentenvergleich (q − 2)(t − 1) + (t − 1) = −µ, also<br />
t = −µ<br />
q − 1 + 1 = −µ + q − 1 ≥ 1.<br />
q − 1<br />
Aus den Randbedingungen folgt<br />
und<br />
a 2 = u(0) = α<br />
a 1 + α = u(1) = β,<br />
also<br />
u(x) = (β − α)x q−1−µ<br />
q−1 + α.<br />
Als Ergebnis lässt sich festhalten:<br />
u(x) = (β − α)x q−1−µ<br />
q−1 + α ∈ C(α, β) ∩ C ∞ ((0, 1]) ∩ C l,α ([0, 1])<br />
ist der gesuchte kritische Punkt und damit auch der gesuchte eindeutige Minimierer, wobei<br />
⌊ ⌋ q − 1 − µ<br />
l :=<br />
q − 1<br />
und α := q − 1 − µ<br />
q − 1<br />
− l.<br />
Falls q−1−µ<br />
q−1<br />
∈ N, dann ist u ∈ C ∞ (R), sogar reell analytisch, man schreibt dann u ∈ C ω (R).<br />
2. Fall: µ > 0.<br />
In diesem Fall lässt sich folgende Aussage zeigen: Es gibt einen eindeutigen Minimierer<br />
u ∈ W 1,˜q q<br />
(I) für jedes ˜q ∈ (1,<br />
µ+1<br />
) mit den gegebenen Randwerten α, β ∈ R, wenn µ + 1 < q<br />
gilt. Falls α ≠ β und µ + 1 ≥ q > 1, dann existiert kein Minimierer in C(α, β).<br />
Beweis der Existenz für µ + 1 < q: Satz 3.6 lässt sich nicht direkt anwenden, da es kein<br />
c 0 > 0 mit F (x, p) ≥ c 0 |p| q gibt, also die zweite Bedingung des Satzes verletzt wird. Diese<br />
Schwierigkeit kann aber folgendermaßen umgangen werden:
86 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Sei ˜q ∈ (1,<br />
Für Minimalfolgen<br />
gilt also<br />
q<br />
µ+1<br />
). Dann schätzt man mit der Hölder-Ungleichung ab<br />
∫<br />
∫<br />
|u ′ (x)|˜q dx = |u ′ (x)|˜q x µ˜q<br />
q x − µ˜q<br />
q dx<br />
I<br />
≤<br />
I<br />
(∫<br />
I<br />
= F µ,q (u) ˜q q<br />
= F µ,q (u) ˜q q<br />
) ˜q<br />
x µ |u ′ (x)| q dx<br />
(∫<br />
(<br />
I<br />
q (∫ I<br />
(x − µ˜q<br />
q<br />
) q−˜q<br />
x −µ˜q<br />
q<br />
q−˜q dx<br />
1<br />
1 − µ˜q<br />
q−˜q<br />
) q−˜q<br />
q<br />
.<br />
) q<br />
q−˜q<br />
) q−˜q<br />
q<br />
dx<br />
{u k } k∈N ⊂ ˜C(α, β) := {v ∈ W 1,˜q (I) : v(0) = α, v(1) = β}<br />
‖u ′ k ‖ L˜q (I) ≤ cF µ,q (u k ) 1 q<br />
Mit der Poincaré-Ungleichung folgt<br />
‖u k ‖ W 1,˜q (I) ≤ c,<br />
k→∞<br />
−−−→ c inf<br />
˜C(α,β)<br />
1<br />
q<br />
Fµ,q.<br />
und wegen ˜q ∈ (1, ∞) liefert der Satz A.10 im Anhang in Kombination mit Satz 2.14 eine<br />
Teilfolge {u ki } ki ∈N ⊂ {u k } k∈N mit u ki ⇀ u in W 1,˜q (I) und u ki → u in C 0 (I) für i → ∞,<br />
womit u ∈ ˜C(α, β) folgt. Mit der Unterhalbstetigkeit von F µ,q auch bezüglich der schwachen<br />
Konvergenz in W 1,˜q (I) (vgl. Satz 3.5) ist u ein Minimierer in der Klasse ˜C(α, β).<br />
Die Eindeutigkeit folgt wie im ersten Fall aus der Konvexität von F (x, ·) für q > 1, also ist<br />
der gefundene Minimierer der einzige kritische Punkt von F µ,q . Die explizite Gestalt dieses<br />
kritischen Punktes ermittelt man mit dem gleichen Potenzansatz wie in Fall 1. Dann gilt<br />
wie dort<br />
u(x) = (β − α)x q−1−µ<br />
q−1 + α,<br />
allerdings ist diese Funktion zwar in C ∞ ((0, 1]), hat aber wegen µ > 0 eine unbeschränkte<br />
erste Ableitung auf (0, 1]. Wir bemerken, dass der Exponent ˜q und die Funktionenklasse<br />
˜C(α, β) nur aus technischen Gründen eingeführt wurden, um die Kompaktheit einer Minimalfolge<br />
in ˜C(α, β) zu sichern. Bei der expliziten eindeutigen Lösung u ∈ ˜C(α, β) taucht der<br />
Exponent ˜q nicht mehr auf.<br />
Beweis der Nichtexistenz für α ≠ β und µ + 1 ≥ q > 1.<br />
Tatsächlich werden wir inf C(α,β) F µ,q (·) = 0 zeigen, aber für jedes u ∈ C(α, β) mit F(u) = 0<br />
ist u ′ = 0 L 1 -fast überall auf I = (0, 1). Daraus würde aber u = konst. auf I folgen. Im<br />
Falle von α ≠ β ist dies ein Widerspruch (vgl. das Weierstrass-Beispiel für µ = q = 2).<br />
Um zu beweisen, dass tatsächlich inf C(α,β) F µ,q (·) = 0, können wir ohne Einschränkung<br />
annehmen, dass µ + 1 = q; denn für σ ≥ γ > 0 ist<br />
∫<br />
∫<br />
0 ≤ F σ,q (v) = x σ |v ′ (x)| q dx ≤ x γ |v ′ (x)| q dx = F γ,q (v) ∀v ∈ C(α, β)<br />
I<br />
I
87<br />
und deswegen<br />
0 ≤ inf F σ,q(·) ≤ inf F γ,q(·).<br />
C(α,β) C(α,β)<br />
Wenn also für den maximal möglichen Wert q = µ + 1 die Beziehung inf C(α,β) F µ,q = 0<br />
gezeigt wird, dann folgt auch inf C(α,β) F µ,q = 0 für alle q ∈ (1, µ + 1].<br />
Die Folge<br />
u ε (x) := (β − α) log(1 + x ε )<br />
log(1 + 1 ε ) + α<br />
∈ C(α, β) ∩ C1 (I)<br />
mit<br />
u ′ ε(x) =<br />
β − α<br />
log(1 + 1 ε ) · 1<br />
1 + x · 1<br />
ε<br />
ε = β − α<br />
(ε + x) log(1 + 1 ε )<br />
leistet wegen µ = q − 1 und q > 1 das Gewünschte:<br />
F µ,q (u ε ) =<br />
=<br />
≤<br />
=<br />
=<br />
=<br />
=<br />
ε↘0<br />
−−→ 0.<br />
(β − α) q ∫ 1<br />
log q (1 + 1 ε ) x q−1 1<br />
0 (ε + x) q dx<br />
(β − α) q ∫ 1<br />
( ) x q−1<br />
1<br />
log q (1 + 1 ε ) ε + x ε + x dx<br />
(β − α) q ∫ 1<br />
1<br />
log q (1 + 1 ε ) ε + x dx<br />
0<br />
0<br />
(β − α) q<br />
log q (1 + 1 + 1) − log ε)<br />
ε<br />
)(log(ε<br />
(β − α) q<br />
log q (1 + 1 ε ) log ε + 1<br />
ε<br />
(β − α) q<br />
log q (1 + 1 ε ) log(1 + 1 ε )<br />
(β − α) q<br />
log q−1 (1 + 1 ε )<br />
Beispiel 3.3<br />
Wir betrachten für I = (0, 1) und N = 1 das Variationsproblem<br />
in der Klasse<br />
F(v) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
(<br />
)<br />
(1 − |v ′ (x)| 2 ) 2 + v 2 (x) dx −→ min!<br />
C(0, 0) := {v ∈ W 1,4 (I) : v(0) = v(1) = 0}.<br />
Der Integrand F = F (z, p) = (1 − p 2 ) 2 + z 2 ist nicht konvex in p; denn<br />
F p (z, p) = 2(1 − p 2 )(−2p) = −4(p − p 3 ),<br />
F pp (z, p) = −4 + 12p 2 < 0 für |p| < 1 √<br />
3<br />
.<br />
Folglich ist der Existenzsatz, Satz 3.6, nicht anwendbar. Tatsächlich werden wir zeigen, dass<br />
das Minimierungsproblem in C(0, 0) nicht lösbar ist.
88 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Die Struktur des Integranden bevorzugt offensichtlich Lösungen u mit u ′ = ±1, dadurch<br />
besteht hier eine gewisse Analogie zur Eikonal-Gleichung |∇u| = 1. Solche Lösungstypen<br />
tauchen auch in den Materialwissenschaften unter dem Stichwort Mikrostrukturen auf, siehe<br />
z.B. [49] und dortige Referenzen.<br />
1<br />
2<br />
˜ϕ<br />
ϕ<br />
ϕ 2<br />
Sei nun<br />
−1 − 1 2<br />
0 1 1 3<br />
2<br />
2<br />
Abbildung 3.2: Zackenfunktion.<br />
˜ϕ(x) := 1 2 − |x − 1 | , x ∈ [0, 1].<br />
2<br />
2<br />
Dann ist ˜ϕ Lipschitzstetig, und ϕ ∈ C 0,1 (R) ∼ = W 1,∞ (R) sei die periodische Fortsetzung<br />
von ˜ϕ auf R. Wir setzen<br />
ϕ k (x) := 1 ϕ(kx) für k ∈ N.<br />
k<br />
Dann ist ϕ ′ k (x) = ±1 für L 1 -fast alle x ∈ (0, 1) und ϕ k (0) = ϕ k (1) = 0. Also ist {ϕ k } k∈N ⊂<br />
C(0, 0) ∩ W 1,∞ (I), und mit der Substitution z = kx berechnet man<br />
F(ϕ k ) =<br />
=<br />
=<br />
=<br />
ϕ periodisch<br />
∫ 1<br />
0<br />
k→∞<br />
−−−→ 0.<br />
ϕ 2 k (x) dx<br />
∫<br />
1 1<br />
k 2 ϕ 2 (kx) dx<br />
0<br />
∫ k<br />
1 1<br />
k 2 ϕ 2 (z) dz<br />
k 0<br />
∫<br />
1 1<br />
k 2 ϕ 2 (z) dz<br />
Mit F ≥ 0 folgt inf C(0,0) F = 0. Für einen Minimierer u ∈ C(0, 0) müsste also ∫ 1<br />
0 u2 (x) dx<br />
verschwinden, d.h. u = 0 zunächst L 1 -fast überall in (0, 1), dann wegen u ∈ W 1,4 (I) ⊂<br />
C 0,1− 1 4 (I) (nach Satz 2.14) auch u = 0 überall in I. Dann ist aber auch u ′ = 0 auf (0, 1),<br />
was andererseits aber<br />
impliziert, Widerspruch.<br />
F(u) =<br />
∫ 1<br />
0<br />
(1 − |u ′ (x)| 2 ) 2 dx = 1<br />
Beispiel 3.4<br />
Wir betrachten für I = (0, 1), N = 1 und gegebene Randwerte α, β ∈ R das gegenüber<br />
0
89<br />
Beispiel 3.3 leicht modifizierte Variationsproblem<br />
in der Klasse<br />
F(v) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
(<br />
)<br />
(1 − |v ′ (x)| 2 ) 2 + v(x) dx −→ min!<br />
C(α, β) := {v ∈ W 1,4 (I) : v(0) = α, v(1) = β} ≠ ∅,<br />
das nun allerdings lösbar ist, obwohl F (z, ·) wie in Beispiel 3.3 nicht konvex in p ist. Satz 3.6<br />
ist daher auf dieses Problem ebenfalls nicht anwendbar. Wir behelfen uns mit der konvexen<br />
Einhüllenden ϕ des Ausdrucks f(p) := (1 − p 2 ) 2 , also dem punktweisen Supremum aller in<br />
p ∈ R konvexen Funktionen, deren Werte noch unterhalb denen von f(.) liegen. Hier ist<br />
diese Funktion explizit gegeben durch<br />
{<br />
(1 − p 2 ) 2 für |p| > 1,<br />
ϕ(p) :=<br />
0 für |p| ≤ 1.<br />
Wir betrachten das neue Variationsproblem<br />
G(v) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
(<br />
ϕ(v ′ (x)) + v(x) ) dx −→ min! in C(α, β).<br />
Noch ist aber die Wachstumsbedingung (ii) in Satz 3.6 nicht erfüllt. Aus der Abschätzung<br />
(1 − p 2 ) 2 = 1 − 2p 2 + p 4 > 1 2 p4 für p 2 > 4<br />
folgt aber für beliebiges v ∈ C(α, β) ≠ ∅ und ε > 0<br />
∫ 1<br />
0<br />
|v ′ (x)| 4 dx =<br />
∫<br />
∫<br />
< 2<br />
I∩{|v ′ | 2 >4}<br />
I∩{|v ′ | 2 >4}<br />
∫<br />
≤ 2G(v) − 2<br />
∫<br />
|v ′ (x)| 4 dx +<br />
I<br />
I∩{|v ′ | 2 ≤4}<br />
|v ′ (x)| 4 dx<br />
(1 − |v ′ (x)| 2 ) 2 dx + 16L 1 (I)<br />
v(x) dx + 16<br />
(∫ ) 1<br />
≤ 2G(v) + 2(L 1 (I)) 1− 1 4 |v(x)| 4 4<br />
dx + 16 (Hölder-Ungleichung)<br />
I<br />
≤ 2G(v) + c‖v ′ ‖ L 4 (I) + c (Poincaré-Ungleichung)<br />
≤ 2G(v) + c(ε) + ε‖v ′ ‖ 4 L 4 (I)<br />
(Youngsche Ungleichung).<br />
Wir wählen nun ε = 1 2 und erhalten 1<br />
2 ‖v′ ‖ 4 L 4 (I)<br />
< 2G(v) + c′<br />
mit einer von v unabhängigen Konstanten c ′ , so dass inf C(α,β) G ≥ −c ′ /2 > −∞ ist. Sei nun<br />
{v k } k∈N eine Minimalfolge für G, d.h.<br />
G(v k ) −−−→<br />
k→∞ inf G(·) < ∞.<br />
C(α,β)
90 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Dann ist die Zahlenfolge {|G(v k )|} ⊂ R beschränkt, somit auch ‖v ′ k ‖ L 4 (I) und mit der<br />
Poincaré-Ungleichung folgt sofort, dass<br />
‖v k ‖ W 1,4 (I) ≤ c.<br />
Nach Satz A.10 im Anhang und Satz 2.14 gibt es ein u ∈ W 1,4 (I) und eine Teilfolge v ki ⇀ u<br />
in W 1,4 i→∞<br />
(I) mit v ki −−−→ u in C 0 (I) für i → ∞. Nach Satz 3.5 ist G schwach unterhalbstetig 3 ,<br />
und daher ist<br />
G(u) = inf G(·), (3.7)<br />
C(α,β)<br />
denn u ∈ C(α, β), da {v ki } i∈N in C 0 (I) gegen u konvergiert. Mit Hilfe der ersten Variation<br />
und einer partiellen Integration lässt sich zeigen (vgl. Übungsaufgabe), dass<br />
∫<br />
I<br />
(<br />
ϕ ′ (u ′ (x)) − x ) η ′ (x) dx = 0<br />
für alle η ∈ C ∞ 0<br />
(I) gilt. Nach Lemma 1.10 gibt es also ein c ∈ R mit<br />
ϕ ′ (u ′ (x)) − x = c für L 1 -fast alle x ∈ I. (3.8)<br />
Da ϕ aber so gewählt war, dass ϕ ′ (p) = 0 für |p| ≤ 1 gilt, muss |u ′ | > 1 L 1 -fast überall auf<br />
I sein 4 . Dann ist wegen ϕ(p) + z ≤ (1 − p 2 ) 2 + z = F (z, p)<br />
inf F(·) ≤ F(u) = (<br />
ϕ(u<br />
C(α,β)<br />
∫I<br />
′ (x)) + u(x) ) dx = G(u) = inf G(·) ≤ inf F(·),<br />
C(α,β) C(α,β)<br />
also<br />
F(u) =<br />
inf F(·).<br />
C(α,β)<br />
Es bleibt noch die Eindeutigkeit des Minimierers zu zeigen. Nehmen wir an, es gebe ein<br />
v ∈ C(α, β), u ≠ v, mit F(v) = inf C(α,β) F(·). Dann ist<br />
inf F(·) = F(v) ≥ G(v) ≥ G(u) = inf<br />
C(α,β)<br />
G(·) = F(u) = inf<br />
C(α,β)<br />
F(·),<br />
C(α,β)<br />
und damit<br />
G(v) =<br />
inf G(·),<br />
C(α,β)<br />
so dass wie zuvor aus der DuBois-Reymond-Gleichung (3.8) |v ′ | > 1 L 1 -fast überall auf<br />
I folgt. Da ϕ außerhalb von [−1, +1] strikt konvex ist, gilt für λ ∈ (0, 1)<br />
λϕ(v ′ (x))+(1−λ)ϕ(u ′ (x)) > ϕ(λv ′ (x)+(1−λ)u ′ (x))<br />
für L 1 -fast alle x ∈ I mit v ′ (x) ≠ u ′ (x)<br />
3 Präziser gesagt besteht G aus einem wegen der Konvexität von p ↦→ ϕ(p) nach Satz 3.5 schwach unterhalbstetigen<br />
und einem linearen also schwach stetigen Zusatzterm und ist deshalb schwach unterhalbstetig.<br />
4 Wäre |u ′ | = 0 auf einer Menge E ⊂ I mit L 1 (E) > 0, dann wäre nach (3.8) und nach Definition von ϕ<br />
die Gleichung 0 = c + x für L 1 -fast alle x ∈ E gültig. Damit könnte man schreiben E = {−c} ∪ N für eine<br />
Menge N ⊂ I mit L 1 (N) = 0, so dass im Widerspruch zur Voraussetzung L 1 (E) = 0 folgen würde.
91<br />
und folglich 5 ∫<br />
λG(v) + (1 − λ)G(u) = λ<br />
I<br />
∫<br />
ϕ(v ′ (x)) dx + λ<br />
∫<br />
v(x) dx<br />
I<br />
∫<br />
+ (1 − λ) ϕ(u ′ (x)) dx + (1 − λ)<br />
∫<br />
I<br />
> ϕ(λv ′ (x) + (1 − λ)u ′ (x)) dx<br />
I∫<br />
+ (λv(x) + (1 − λ)u(x)) dx<br />
I<br />
= G(λv + (1 − λ)u).<br />
I<br />
u(x) dx<br />
Wählen wir nun λ = 1 2 , so folgt wie in Beispiel 3.2 wegen 1 2 u + 1 2v ∈ C(α, β) aus (3.7)<br />
G(u) = 1 2 (G(u) + G(v)) > G(1 2 u + 1 2 v) ≥ G(u).<br />
(3.7)<br />
Dies ist offensichtlich ein Widerspruch.<br />
Dieses Beispiel mit dem Hilfsfunktional G zeigt gewisse Parallelen mit der erstmals von<br />
Morrey eingebrachten Idee allgemeiner Dominanzfunktionen für Integranden von geometrischen<br />
Variationsintegralen, vgl. [46, Chapter 9]. Die zugehörigen Hilfsfunktionale haben<br />
oft bessere Wachstumsbedingungen und Regularitätseigenschaften, die für Existenztheorie<br />
und Regularitätssätze benutzt werden können, vgl. z.B. [13, Chapter 4] für die Existenz von<br />
Minimalflächen und [32] für die Anwendung bei Cartan-Funktionalen.<br />
Das folgende Beispiel ist die eindimensionale Variante einer typischen Problemstellung<br />
der konformen Geometrie, einem Teilgebiet der Differentialgeometrie. Hier erweist sich die<br />
<strong>Variationsrechnung</strong> als ein sehr nützliches Mittel zur Lösung. Weiterführende und grundlegende<br />
Arbeiten zu diesem Thema sind u.a. von Kazdan-Werner [36], Moser [47] für<br />
den Fall zweidimensionaler Mannigfaltigkeiten und von S.-Y. A. Chang, P. Young [7]<br />
Branson [5] oder Paneitz [52] für vier- und höherdimensionale Mannigfaltigkeiten erschienen,<br />
siehe auch die Referenzen in diesen Arbeiten und die Monographie von Chang<br />
[6]. Auch heute noch ist dieser Teilbereich der Differentialgeometrie ein Gebiet mit höchster<br />
Forschungsaktivität.<br />
Beispiel 3.5 [Vorgeschriebene Gauß-Krümmung in konformen Metriken]<br />
Zur Motivation beschreiben wir kurz das Problem der vorgeschriebenen Gauß-Krümmung<br />
auf zweidimensionalen Mannigfaltigkeiten. Dazu betrachtet man eine zweidimensionale, orientierte,<br />
kompakte, geschlossene Mannigfaltigkeit M mit einer Riemannschen Metrik g 0 ,<br />
und man bezeichnet mit K 0 die Gaußsche Krümmung von M . Für w ∈ C 2 (M ) ist dann<br />
g := e w g 0 eine zu g 0 konforme Metrik.<br />
Es stellt sich folgende Frage: Gegeben sei eine Funktion K : M → R. Gibt es ein<br />
w : M → R, so dass (M , g) die Gaußsche Krümmung K hat?<br />
Eine Lösung muss die Gleichung vorgeschriebener Gauss-Krümmung<br />
∆ g0 w = K 0 − Ke w<br />
5 Wäre v ′ (x) = u ′ (x) für L 1 -fast alle x ∈ I, dann gäbe es nach Lemma 2.3 eine Konstante c ∈ R, so dass<br />
v(x) = u(x) + c für alle x ∈ I, woraus sofort c = 0 und damit u = v im Widerspruch zur Voraussetzung<br />
folgt, da v(a) = α = u(a) ist.
92 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
erfüllen, wie man nachrechnen kann. Dies ist eine partielle Differentialgleichung mit einer exponentiellen<br />
Nichtlinearität, wobei der Hauptteil durch den Laplace-Beltrami-Operator<br />
∆ g0 bezüglich der Riemannschen Metrik g 0 gegeben ist. Der Laplace-Beltrami-Operator<br />
hat Divergenzgestalt. Integrieren wir diese Differentialgleichung über M , so erhalten wir<br />
deswegen mit dem Gaußschen Divergenzsatz und dem in der Differentialgeometrie behandelten<br />
Satz von Gauß-Bonnet<br />
∫<br />
0 = ∆ g0 w dv 0<br />
∫M<br />
∫<br />
= K 0 dv 0 − Ke w dv 0<br />
M<br />
∫<br />
M<br />
= 2πχ M − Ke w dv 0 ,<br />
M<br />
wobei χ M die Euler-Charakteristik, also eine topologische Invariante der Mannigfaltigkeit<br />
M bezeichnet. Diese Identität liefert uns also eine für die Lösbarkeit des Problems notwendige<br />
Bedingung an die vorgegebene Funktion K, die die vorzuschreibende Gauß-Krümmung<br />
mit der Topologie der Mannigfaltigkeit verknüpft.<br />
Im Folgenden beschränken wir uns der Einfachheit halber auf das eindimensionale Modellproblem<br />
{ w ′′ = K 0 − Ke w in I = (0, 1)<br />
w ′ (0) = w ′ (1) = 0,<br />
bei dem wir auch notwendige Bedingungen für die Lösbarkeit des Problems beachten müssen.<br />
Diese Aufgabe lässt sich zunächst auf das Problem reduzieren, in dem K 0 konstant ist: Sei<br />
z die Lösung von<br />
∫<br />
z ′′ = K 0 − − K 0 (x) dx mit z ′ (0) = z ′ (1) = 0. (3.9)<br />
I<br />
Falls w bekannt wäre, so kann u := w − z definiert werden. Daraus resultiert nun zum einen<br />
u ′ (0) = u ′ (1) = 0 und außerdem<br />
u ′′ = w ′′ − z ′′<br />
∫<br />
= K 0 − Ke w − K 0 + − K 0 (x) dx<br />
∫<br />
I<br />
= − K 0 (x) dx − Ke u+z<br />
∫I<br />
= − K 0 (x) dx − Ke z e u .<br />
I<br />
Das eigentliche Problem ist es also, die folgende Differentialgleichung zu lösen:<br />
u ′′ = c − he u mit u ′ (0) = u ′ (1) = 0, (3.10)<br />
wobei c ∈ R und h ∈ C 0 (I) gegeben sind. Hat man u als Lösung von (3.10) gefunden, dann<br />
ermittelt man z als Lösung von (3.9) durch einfache Integration und erhält durch w := u+z<br />
die Lösung des ursprünglichen Problems.<br />
1. Fall: c = 0. Die Gleichung (3.10) vereinfacht sich zu<br />
u ′′ = −he u mit u ′ (0) = u ′ (1) = 0. (3.11)
93<br />
Der triviale Fall h = 0 führt sofort zu u(x) = ax + b und wegen a = u ′ (0) = 0 zu<br />
u(x) = b für alle x ∈ I. Wir wollen also den Fall weiter untersuchen, in dem h nicht<br />
identisch verschwindet. Als erstes finden wir durch Integration die notwendige Bedingung<br />
0 = u ′ (1) − u ′ (0) = −<br />
∫ 1<br />
0<br />
h(x)e u(x) dx. (3.12)<br />
Das bedeutet, dass h in I mindestens einmal sein Vorzeichen wechseln muss. Weiterhin ergibt<br />
sich aus (3.11) durch Multiplikation mit der Funktion e −u und nach partieller Integration<br />
−<br />
∫ 1<br />
0<br />
h(x) dx =<br />
∫ 1<br />
0<br />
u ′′ (x)e −u(x) dx<br />
=<br />
[u ′ (x)e −u(x)] 1<br />
+<br />
0<br />
} {{ }<br />
=0<br />
∫ 1<br />
0<br />
(u ′ (x)) 2 e −u(x) dx > 0.<br />
(3.13)<br />
Das letzte Integral ist strikt positiv, da sonst u ′ ≡ 0 und was den trivialen Fall h ≡ 0<br />
impliziert.<br />
Nun machen wir einen Variationsansatz zur Lösung von (3.11):<br />
D(v) := 1 ∫<br />
|v ′ (x)| 2 dx −→ min!<br />
2<br />
in der Klasse<br />
C I := {v ∈ W 1,2 (I) :<br />
∫ 1<br />
0<br />
I<br />
v(x) dx = 0,<br />
∫ 1<br />
0<br />
h(x)e v(x) dx = 0}.<br />
Zur Motivation dieses Ansatzes bemerken wir, dass das Dirichlet-Integral mit der Euler-<br />
Lagrange-Gleichung den Hauptteil der Differentialgleichung (3.11) erzeugt, und die natürlichen<br />
Randbedingungen sind nach Proposition 1.12 genau v ′ (0) = v ′ (1) = 0. Da das<br />
Mittelwertintegral über v verschwindet, kann die Poincaré-Ungleichung 2.10 genutzt werden,<br />
so dass ‖v‖ L 2 (I) ≤ c‖v ′ ‖ L 2 (I) für alle v ∈ C I . Die Lagrange-Multiplikator-Regel in<br />
Verbindung mit der zweiten Nebenbedingung in der Klasse C I wird auf die richtige Form<br />
der Differentialgleichung (3.11) führen.<br />
(i) C I ist nicht die leere Menge. Um zu zeigen, dass die Klasse C I nicht leer ist,<br />
konstruieren wir durch die Linearkombination zweier Funktionen ein w ∈ W 1,2 (I),<br />
das den Nebenbedingungen genügt. Dazu sei v 1 ≡ 0, so dass wegen der notwendigen<br />
Bedingung (3.13) an h gilt<br />
∫<br />
∫<br />
h(x)e v1(x) dx = h(x) dx < 0.<br />
I<br />
Nun suchen wir ein v 2 ∈ W 1,2 (I), für welches ∫ I h(x)ev 2(x) dx > 0 ist. Hierfür fixieren<br />
wir x 0 ∈ I und r ∈ R, so dass<br />
B r (x 0 ) ⊂ B 2r (x 0 ) ⊂ {x ∈ I : h(x) > 1 2 sup h(·)} ⊂ {x ∈ I : h(x) > 0},<br />
I<br />
I
94 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
was möglich ist, da h nach (3.12) irgendwo auf I positiv sein muss, und wählen ein<br />
v 2 ∈ C0 ∞(B 2r(x 0 )) mit<br />
∫<br />
e v2(x) 2<br />
><br />
sup I h(·) · I<br />
|h(z)| dz + 1<br />
L 1 ∀ x ∈ B r (x 0 ).<br />
(B r (x 0 ))<br />
Daraus folgt<br />
∫<br />
h(x)e v2(x) dx =<br />
I<br />
><br />
∫<br />
+<br />
∫<br />
{h≤0}<br />
∫<br />
{h≤0}<br />
∫<br />
h(x)e v2(x) dx +<br />
h(x)e v2(x) dx<br />
{h>0}∩B r(x 0 )<br />
} {{ }<br />
=B r(x 0 )<br />
{h>0}\B r(x 0 )<br />
h(x)e v 2(x) dx<br />
} {{ }<br />
>0<br />
h(x) dx + 2L ∫<br />
1 (B r (x 0 )) 1<br />
sup I h(·) 2 sup I<br />
|h(z)| dz + 1<br />
h(·)<br />
I L 1 (B r (x 0 ))<br />
≥ 1 > 0.<br />
Wir definieren die stetige Funktion f durch<br />
∫<br />
f(t) := h(x)e tv 1(x)+(1−t)v 2 (x) dx für t ∈ [0, 1].<br />
I<br />
Es gilt also f(0) > 0 und f(1) < 0, so dass der Zwischenwertsatz garantiert, dass es<br />
ein t ∗ ∈ [0, 1] gibt mit f(t ∗ ) = 0. Jetzt können wir setzen<br />
∫<br />
w ∗ := t ∗ v 1 + (1 − t ∗ )v 2 ∈ W 1,2 (I) ⇒ h(x)e w∗ (x) dx = 0,<br />
∫<br />
I<br />
w := w ∗ − − w ∗ (x) dx,<br />
I<br />
wobei nun w auch die Nebenbedingungen erfüllt:<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
w(x) dx = 0 und h(x)e w(x) dx = e −∫ I w∗ (y) dy<br />
I<br />
also w ∈ C I .<br />
I<br />
(ii) Existenz. Für eine Minimalfolge {v k } k∈N ⊂ C I ,<br />
D(v k ) = 1 ∫<br />
|v k ′ 2<br />
(x)|2 dx −−−→ k→∞ inf D(·) ∈ [0, D(w)],<br />
C I<br />
I<br />
I<br />
h(x)e w∗ (x) dx = 0,<br />
ergibt sich sofort, dass ‖v ′ k ‖ L 2 (I) gleichmäßig beschränkt ist. Da ∫ I v k(x) dx = 0, kann<br />
auch die Poincaré-Ungleichung, Lemma 2.10, angewandt werden, so dass ‖v k ‖ W 1,2 (I)<br />
gleichmäßig beschränkt ist. Dann existiert nach Satz 2.14 eine Teilfolge {v ki } und ein<br />
v ∈ W 1,2 (I) mit<br />
v ki<br />
i→∞ ⇀ v<br />
v ki<br />
i→∞<br />
−−−→ v<br />
in W 1,2 (I)<br />
in C 0 (I),
95<br />
so dass v ∈ C I , denn 6 ∫<br />
und natürlich auch<br />
I<br />
h(x)e v(x) dx = lim<br />
∫<br />
I<br />
k→∞<br />
∫<br />
h(x)e vk(x) dx = 0<br />
I<br />
} {{ }<br />
=0<br />
∫<br />
v(x) dx = lim v k (x) dx = 0.<br />
k→∞ I<br />
Da aber D schwach unterhalbstetig in W 1,2 (I) ist, gilt schließlich D(v) = inf CI D(·).<br />
(iii) Lagrange-Multiplikatoren. Um die Nebenbedingungen<br />
∫<br />
G 1 (v) := v(x) dx = 0,<br />
∫I<br />
G 2 (v) := h(x)e v(x) dx = 0<br />
I<br />
mit Hilfe der Regel der Lagrange-Multiplikatoren (Proposition 1.19 und zugehörige<br />
Übungsaufgaben) zu berücksichtigen, muss folgendes gelten:<br />
∃ψ 1 , ψ 2 ∈ C ∞ (I) : (δG i (v, ψ j )) i,j<br />
∈ GL(2).<br />
Wäre δG 2 (v, ψ) = 0 für alle ψ ∈ C ∞ (I), dann bedeutete dies<br />
d<br />
∫<br />
∣ G 2 (v + εψ) = h(x)ψ(x)e v(x) dx = 0 ∀ψ ∈ C ∞ (I).<br />
dε ε=0<br />
I<br />
Nach dem Fundamentallemma 1.5 folgt dann aber h(x)e v(x) = 0 auf I, also h ≡ 0 auf<br />
I, was wir aber schon anfangs ausgeschlossen haben. Folglich gibt es mindestens ein<br />
ψ ∈ C ∞ (I) mit δG 2 (v, ψ) ≠ 0. Damit setzen wir<br />
ψ<br />
˜ψ 2 :=<br />
⇒ δG 2 (v,<br />
δG 2 (v, ψ)<br />
˜ψ 2 ) = 1,<br />
∫<br />
ψ 2 := ˜ψ 2 − − ˜ψ 2 (x) dx,<br />
und es folgt<br />
∫ ∫ ( ∫ )<br />
δG 1 (v, ψ 2 ) = ˜ψ 2 (x) − − ˜ψ 2 (y) dy dx = 0,<br />
I<br />
∫ (<br />
I I<br />
∫ )<br />
δG 2 (v, ψ 2 ) = h(x) ˜ψ 2 (x) − − ˜ψ 2 (y) dy e v(x) dx<br />
I<br />
( ∫<br />
I<br />
) ∫<br />
= δG(v, ˜ψ 2 ) − − ˜ψ 2 (y) dy h(x)e v(x) dx<br />
I<br />
I<br />
} {{ }<br />
=0<br />
I<br />
6 Der Nachweis, dass diese hochgradig nichtlineare isoperimetrische Nebenbedingung für die Grenzfunktion<br />
v erfüllt ist, erfordert in höheren Dimensionen n ≥ 2 erheblich mehr Aufwand, siehe z.B. [6, Chapter<br />
2].<br />
= 1.
96 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Wählen wir nun noch ein ψ 1 ∈ C ∞ (I) mit ∫ I ψ 1(x) dx ≠ 0, also δG 1 (v, ψ 1 ) ≠ 0, können<br />
wir die Matrix in der Form<br />
( )<br />
δG1 (v, ψ<br />
(δG i (v, ψ j )) i,j<br />
=<br />
1 ) 0<br />
δG 2 (v, ψ 1 ) 1<br />
schreiben, aus der sofort ersichtlich ist, dass ihre Determinante nicht verschwindet.<br />
Ähnlich wie in Proposition 1.19 zeigt man in einer Übungsaufgabe die Existenz von<br />
Zahlen λ 1 , λ 2 ∈ R mit<br />
⇔<br />
δD(v, ϕ) + λ 1 δG 1 (v, ϕ) + λ 2 δG 2 (v, ϕ) = 0 ∀ ϕ ∈ C ∞ (I) (3.14)<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
v ′ (x)ϕ ′ (x) dx + λ 1 ϕ(x) dx + λ 2 h(x)ϕ(x)e v(x) dx = 0 ∀ ϕ ∈ C ∞ (I).<br />
I<br />
I<br />
Da wir aber eine starke Form der Differentialgleichung herleiten wollen, muss nun<br />
gezeigt werden, dass v ∈ C 2 (I). Dazu führen wir in der letzten Gleichung zwei partielle<br />
Integrationen aus:<br />
∫<br />
∫ x<br />
]<br />
[v ′ (x) − λ 1 x − λ 2 h(y)e v(y) dy ϕ ′ (x) dx = 0 ∀ ϕ ∈ C0 ∞ (I) ⊂ C ∞ (I).<br />
I<br />
0<br />
Nach dem Lemma von DuBois-Reymond, Lemma 1.10, gibt es ein c 3 ∈ R, so dass<br />
I<br />
∫ x<br />
v ′ (x) − λ 1 x − λ 2 h(y)e v(y) dy = c 3 für L 1 -fast alle x ∈ I; (3.15)<br />
0<br />
hier stehen nun neben v ′ ausschließlich C 1 -Funktionen von x, so dass auch v ′ selbst<br />
aus C1 (Ī) sein muss, also v ∈ C2 (Ī). Also haben wir (3.15) für alle x ∈ I, und wir<br />
können in (3.15) differenzieren und erhalten die Euler-Lagrange-Gleichung<br />
v ′′ (x) − λ 1 − λ 2 h(x)e v(x) = 0 für alle x ∈ I. (ELG 3.51 )<br />
(iv) Natürliche Randbedingungen. Da (3.14) für alle ϕ ∈ C ∞ (I) gilt 7 , können wir<br />
Proposition 1.12 anwenden und finden, dass das gestellte Variationsproblem wegen<br />
F p (0, v(0), v ′ (0)) + λ 1 G 1 p (0, v(0), v ′ (0)) + λ 2 G 2 p (0, v(0), v ′ (0)) = 0,<br />
F p (1, v(1), v ′ (1)) + λ 1 G 1 p (1, v(1), v ′ (1)) + λ 2 G 2 p (1, v(1), v ′ (1)) = 0<br />
auch die Neumann-Randbedingungen<br />
liefert.<br />
v ′ (0) = v ′ (1) = 0<br />
Um den Existenzbeweis für eine Lösung von (3.11) abzuschließen, betrachten wir jetzt<br />
noch die Lagrange-Multiplikatoren genauer. Aus (ELG 3.51 ) folgt durch Integration<br />
über I = (0, 1):<br />
∫<br />
−λ 1 − λ 2<br />
v ′ (1) − v ′ (0)<br />
} {{ }<br />
=0<br />
h(x)e v(x) dx = 0,<br />
I<br />
} {{ }<br />
=0<br />
7 Man beachte dabei, dass die Klasse C I neben den beiden isoperimetrischen Bedingungen keine Randbedingungen<br />
enthält, weswegen Störungen ϕ ∈ C ∞ (I) zulässig sind. Dies hatten wir auch schon im Schritt<br />
(iii) genutzt, als wir die Funktionen ψ 1, ψ 2 ∈ C ∞ (I) gewählt haben.
97<br />
also λ 1 = 0. Multiplizieren wir (ELG 3.51 ) mit e −v(x) und integrieren abermals, so<br />
finden wir mit einer partiellen Integration<br />
∫<br />
∫<br />
v ′′ (x)e −v(x) dx − λ 2 h(x) dx = 0<br />
I<br />
I<br />
∣ ∫<br />
∫<br />
⇔ v ′ (x)e −v(x) ∣∣<br />
1<br />
+ (v ′ (x)) 2 e −v(x) dx −λ 2 h(x) dx = 0.<br />
0<br />
} {{ } I<br />
I<br />
} {{ } } {{ }<br />
=0<br />
>0<br />
0. Dann ist<br />
(∫<br />
−1<br />
ṽ 2 := log h(y)e dy) v2(y) + v 2 ∈ C II .<br />
I<br />
(ii) Beschränktheit. Sei v ∈ C II und w := v − ∫ I v(x) dx. Dann gilt ∫ I<br />
w(x) dx = 0 und<br />
D(v) = D(w), und wir schreiben<br />
∫<br />
∫<br />
1 = h(x)e v(x) ∫<br />
dx = h(x)e I v(y) dy+w(x) ∫<br />
∫<br />
dx = e I v(y) dy h(x)e w(x) dx,<br />
I<br />
I<br />
I<br />
so dass<br />
∫<br />
[∫<br />
] −1<br />
e I v(y) dy = h(x)e w(x) dx<br />
I
98 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
beziehungsweise ∫<br />
[∫<br />
]<br />
v(y) dy = − log h(x)e w(x) dx .<br />
I<br />
I<br />
Das Funktional F lässt sich also auch folgendermaßen schreiben:<br />
[∫<br />
]<br />
F(v) = D(v) − log h(x)e w(x) dx .<br />
Um zu untersuchen, ob F nach unten beschränkt ist, gilt es nun zwei Fälle zu<br />
unterscheiden. Ist das Argument des Logarithmus kleiner oder gleich eins, so ist<br />
F(v) ≥ D(v) ≥ 0.<br />
Falls aber ∫ I h(x)ew(x) dx > 1, so können wir mit Hilfe von Satz 2.14 und der<br />
Poincaré-Ungleichung abschätzen, da L 1 (I) −1 ∫ I<br />
w(x) dx = 0:<br />
‖w‖ C 0 (I) ≤ c′ ‖w‖ W 1,2 (I) ≤ c ′′ ‖w ′ ‖ L 2 (I) ≤ c‖v ′ ‖ L 2 (I).<br />
I<br />
Es ist also ‖he w ‖ C 0 (I) ≤ ‖h‖ C 0 (I) ec‖v′ ‖ L 2 (I)<br />
, so dass für beliebiges v ∈ C II<br />
F(v) ≥ D(v) − |log‖h‖ C 0 (I) | − c‖v′ ‖ L 2 (I)<br />
≥<br />
D(v) − |log‖h‖ C 0 (I) | − c(ε) − ε‖v′ ‖ 2 L 2 (I)<br />
≥ 1 4 ‖v′ ‖ 2 L 2 (I)<br />
− ˜c, (3.17)<br />
wobei im zweiten Schritt die Youngsche Ungleichung benutzt und im dritten ε := 1/4<br />
gesetzt wurde.<br />
Insgesamt folgt also<br />
inf F(·) ∈ [−˜c , F(ṽ 2 )].<br />
C II<br />
k→∞<br />
(iii) Existenz. Wir können nun eine Minimalfolge {v k } k∈N wählen mit F(v k ) −−−→<br />
inf CII F(·) und sehen aufgrund der Abschätzung (3.17), dass ‖v<br />
k ′ ‖ L 2 (I) ≤ c unabhängig<br />
von k ist. Um auch die gleichmäßige Beschränktheit von ‖v k ‖ L 2 (I) und somit von<br />
‖v k ‖ W 1,2 (I) einzusehen, schätzen wir für beliebiges x ∈ I = (0, 1) ab:<br />
∫<br />
∫<br />
|v k (x)| = |v k (x) − − v k (y) dy + v k (y) dy|<br />
∫I<br />
I<br />
= |v k (x) − − v k (y) dy + F(v k ) − D(v k )|<br />
∫I<br />
≤ |v k (x) − − v k (y) dy| + |F(v k )| + |D(v<br />
I<br />
} {{ } k )| .<br />
} {{ }<br />
≤c ≤c<br />
Auf den ersten Summanden können wir die Poincaré-Ungleichung, Korollar 2.10,<br />
anwenden, so dass<br />
∫<br />
∫ ∣<br />
I<br />
∫<br />
|v k (x)| 2 dx ≤ c<br />
∫<br />
≤<br />
c<br />
I<br />
I<br />
∣<br />
∣v k (x) − −<br />
|v ′ k (x)|2 dx + c ,<br />
I<br />
v k (y) dy∣ 2 dx + c
99<br />
womit ‖v k ‖ W 1,2 (I) ≤ c unabhängig von k folgt. Nach Satz 2.14, Satz A.10 und dem<br />
Satz von Arzelà-Ascoli gibt es also eine Teilfolge {v ki } i∈N und ein v ∈ W 1,2 (I) mit<br />
v ki<br />
v ki<br />
i→∞ ⇀ v in W 1,2 (I),<br />
i→∞<br />
−−−→ v in C 0 (I),<br />
wobei auch v ∈ C II , da ∫ I h(x)ev(x) dx = lim i→∞<br />
∫I h(x)ev k i (x) dx = 1.<br />
Nun ist D schwach unterhalbstetig und ∫ I u(x) dx sogar schwach stetig in W 1,2 (I), so<br />
dass F schwach unterhalbstetig ist. Folglich gilt<br />
F(v) = inf<br />
C II<br />
F(·).<br />
(iv) Lagrange-Multiplikator. Ähnlich wie in Proposition 1.19 und in einer Übungsaufgabe<br />
können wir auf die Existenz eines Lagrange-Multiplikators λ ∈ R mit<br />
δF(v, ϕ) + λδG(v, ϕ) = 0<br />
∀ ϕ ∈ C ∞ (I)<br />
schließen, wobei G(u) := ∫ I G(x, u(x), u′ (x)) dx := ∫ I h(x)eu(x) dx. Dazu ist ähnlich<br />
wie im ersten Fall zu zeigen, dass es ein ψ ∈ C ∞ (I) gibt, so dass δG(v, ψ) ≠ 0, was in<br />
diesem Fall wegen h ≢ 0 möglich ist. Außerdem ergibt sich aus Regularitätsbetrachtungen<br />
wie im ersten Fall, dass v ∈ C2 (Ī), so dass wir wegen<br />
F z (x, z, p) = 1 , F p (x, z, p) = p , G z (x, z, p) = h(x)e z , G p (x, z, p) = 0<br />
die Euler-Lagrange-Gleichung in ihrer starken Form erhalten:<br />
v ′′ − 1 − λhe v = 0. (ELG 3.52 )<br />
(v) Natürliche Randbedingungen. Wir wenden nun erneut Proposition 1.12 an und<br />
finden so die natürlichen Randbedingungen<br />
v ′ (0) = v ′ (1) = 0<br />
des Variationsproblems. Durch Integration von (ELG 3.52 ) über I = (0, 1) ergibt sich<br />
∫<br />
∫<br />
0 = v ′ (1) − v ′ (0) − 1 − λ h(x)e v(x) dx = −1 − λ h(x)e v(x) dx = −1 − λ,<br />
I<br />
also λ = −1, womit v die gegebene Differentialgleichung (3.16) löst:<br />
v ′′ = 1 − he v mit v ′ (0) = v ′ (1) = 0.<br />
I<br />
3. Fall: c = −1. Zu lösen ist das Problem<br />
u ′′ = −1 − he u mit u ′ (0) = u ′ (1) = 0.<br />
Auch hier gilt h ≢ 0, da sonst u ′ (x) = −x+d, was wegen 0 = u ′ (0) zunächst auf d = 0 führt,<br />
woraus aber wegen 0 = u ′ (1) = −1 + d ein Widerspruch folgt. Durch Multiplikation mit e −u
100 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
und anschließender Integration werden wir auch hier auf eine notwendige Bedingung an h<br />
geführt (für den Fall, dass h nicht identisch verschwindet), denn es gilt<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
0 < (u ′ (x)) 2 e −u(x) dx + e −u(x) dx = − h(x) dx.<br />
I<br />
Jedoch lässt sich das Problem nach bisherigem Erkenntnisstand nicht mit einem Variationsansatz<br />
lösen. Stattdessen führt die Perronsche Methode zum Erfolg, siehe [36, Section<br />
9].<br />
I<br />
I<br />
Bemerkung:<br />
Die direkte Methode der <strong>Variationsrechnung</strong> erfordert im Allgemeinen, dass man das Minimierungsproblem<br />
auf größere Funktionenräume ausdehnen muss, etwa von C 1 auf den<br />
Sobolevraum W 1,q für einen geeigneten, dem Variationsintegral angepassten Integrabilitätskoeffizienten<br />
q. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass das Infimum über dieser größeren<br />
Funktionenklasse echt kleiner ist als das Infimum über dem klassischen Funktionenraum,<br />
in dem man eigentlich die Lösung sucht. Dieser Effekt heißt Lavrentiev-Phänomen und<br />
kann tatsächlich eintreten, wie das folgende Beispiel von Manià zeigt. Das Lavrentiev-<br />
Phänomen kann sogar dann auftreten, wenn man eine polynomiale Schranke in p von unten<br />
für den Integranden hat, wie wir beispielsweise in Proposition 4.7 sehen werden. Polynomiales<br />
Wachstum in p nach oben verhindert das Lavrentiev-Phänomen, was wir in Satz 3.8<br />
beweisen werden.<br />
Beispiel 3.6 [Manià [42]]<br />
Die Funktion<br />
genügt der Identität<br />
für<br />
x ↦→ u(x) := x 1/3 ∈ C(0, 1) := {v ∈ W 1,1 ((0, 1)) : v(0) = 0, v(1) = 1}<br />
F(v) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
F(u) = 0 = inf<br />
C(0,1) F<br />
(v 3 (x) − x) 2 (v ′ (x)) 6 dx, v ∈ C(0, 1).<br />
Andererseits kann man zeigen (siehe z.B. [4, Chapter 4.3]), dass es eine Konstante σ > 0<br />
gibt, so dass F(w) ≥ σ für alle w ∈ C 1 ([0, 1]) ∩ C(0, 1).<br />
Lemma 3.7<br />
Sei q ∈ [1, ∞) und<br />
(i) F ∈ C 0 (I × R N × R N ) (oder alternativ F eine Carathéodory-Funktion).<br />
(ii) Es gebe c 1 , c 2 ∈ R mit 0 < c 1 , 0 ≤ c 2 , so dass<br />
0 ≤ F (x, z, p) ≤ c 1 |p| q + c 2 ∀ (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
Falls dann eine Folge {u k } k∈N ⊂ W 1,q (I, R N ) gegen u ∈ W 1,q (I, R N k→∞<br />
) konvergiert, u k −−−→<br />
u, so gilt auch<br />
F(u k ) −−−→ k→∞ F(u),<br />
d.h. F ist stetig bezüglich der (starken) W 1,q -Topologie.
101<br />
Beweis. Wir wählen eine Teilfolge mit<br />
u ki<br />
u ′ k i<br />
i→∞<br />
−−−→ u L 1 -fast überall in I,<br />
i→∞<br />
−−−→ u ′ L 1 -fast überall in I,<br />
so dass wegen der Stetigkeit von F (x, ·, ·)<br />
F (x, u ki (x), u ′ k i<br />
(x)) i→∞ −−−→ F (x, u(x), u ′ (x)) für L 1 -fast alle x ∈ I. (3.18)<br />
Nun lässt sich die Wachstumsbedingung (ii) anwenden, um zu schließen, dass mit dem<br />
Konvergenzsatz von Vitali [2, Satz 1.21] wegen u ′ k i<br />
→ u ′ in L q (I, R N ) für i → ∞<br />
∫<br />
sup<br />
i∈N E<br />
∫<br />
]<br />
|F (x, u ki (x), u ′ k i<br />
(x))| dx ≤ sup<br />
[c 1 |u ′ k i<br />
(x)| q + c 2 dx → 0 für E ⊂ I, L 1 (E) → 0.<br />
i∈N E<br />
Zusammen mit (3.18) ergibt dies wieder mit dem Satz von Vitali, dass F (·, u ki (·), u ′ k i<br />
(·)) →<br />
F (·, u(·), u ′ (·)) in L 1 (I) für i → ∞, und es folgt mit dem Teilfolgenprinzip für die ganze<br />
Folge {u k }<br />
F(u k ) −−−→ k→∞ F(u).<br />
Satz 3.8 [Ausschluss des Lavrentiev-Phänomens]<br />
Sei q ∈ (1, ∞) und<br />
(i) F, F p ∈ C 0 (I × R N × R N ).<br />
(ii) F weise ein polynomiales Wachstum auf, d. h. es gebe Konstanten c 0 , c 1 , c 2 , c 3 ∈ R<br />
mit 0 < c 0 ≤ c 1 , 0 ≤ c 2 , c 3 , so dass<br />
c 0 |p| q − c 3 ≤ F (x, z, p) ≤ c 1 |p| q + c 2 ∀ (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
(iii) F (x, z, ·) sei konvex (in p).<br />
Dann gibt es für alle u ∈ W 1,q (I, R N ) eine Folge {u k } k∈N ⊂ C ∞ (I, R N ) mit u k (a) =<br />
u(a), u k (b) = u(b) für alle k, so dass<br />
‖u k − u‖ W 1,q (I,R N )<br />
k→∞<br />
−−−→ 0 und F(u k ) −−−→ k→∞ F(u).<br />
Außerdem stimmt F mit seiner Relaxation überein, d.h. es gilt<br />
F(u) = inf {lim inf<br />
k→∞<br />
F(v k) : v k ∈ C 1 (I, R N k→∞<br />
), v k (a) = u(a), v k (b) = u(b), v k ⇀<br />
und schließlich für α, β ∈ R N und C(α, β) := {w ∈ W 1,q (I, R N ) : w(a) = α, w(b) = β}<br />
inf F(·) = inf {F(v) : v ∈<br />
C(α,β) C1 (I, R N ), v(a) = α, v(b) = β}.<br />
u},
102 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Bemerkung:<br />
Das Infimum auf der linken Seite der letzten Identität wird aufgrund von Satz 3.6 angenommen.<br />
Falls man zeigen kann, dass der zugehörige Minimierer von der Klasse C 1 (I, R N ) ist,<br />
dann weiß man auch, dass das Infimum auf der rechten Seite angenommen wird. Dies ist<br />
also eine Fragestellung der Regularitätstheorie, die wir in Kapitel 4 behandeln.<br />
Beweis. Für die Approximation von u betrachtet man die Funktion ũ := u−l, wobei l linear<br />
ist mit l(a) = u(a), l(b) = u(b). Nach dem Resultat einer Übungsaufgabe ist ũ ∈ W 1,q<br />
0 (I, RN )<br />
und wird demnach nach Definition 2.1 durch eine Folge {ũ k } k∈N ⊂ C0 ∞(I, RN ) bezüglich<br />
der W 1,q -Norm approximiert. Die Funktionen u k := ũ k + l ∈ C ∞ (I, R N ) bilden dann eine<br />
Folge mit den vorgegebenen Randwerten und den gewünschten Konvergenzeigenschaften.<br />
Lemma 3.7 liefert wegen der starken Konvergenz in W 1,q (I, R N ) dann F(u k ) −−−→ k→∞ F(u).<br />
Die Ungleichung<br />
F(u) = lim<br />
k→∞ F(u k) = lim inf<br />
k→∞ F(u k)<br />
≥<br />
inf {lim inf<br />
k→∞<br />
F(v k) : v k ∈ C 1 (I, R N ), v k (a) = u(a), v k (b) = u(b), v k<br />
k→∞ ⇀ u}<br />
folgt damit sofort, da stark konvergente Folgen auch schwach konvergent sind, vgl. Lemma<br />
A.8 im Anhang.<br />
Umgekehrt sind die Voraussetzungen von Satz 3.5 erfüllt, so dass F schwach unterhalbstetig<br />
ist, d.h.<br />
Daher gilt auch<br />
F(u) ≤ lim inf F(ṽ k→∞<br />
k) für alle {ṽ k } k∈N mit ṽ k ⇀ u in W 1,q (I, R N ).<br />
k→∞<br />
F(u) ≤ inf {lim inf<br />
k→∞<br />
F(ṽ k) : ṽ k<br />
k→∞ ⇀ u in W 1,q (I, R N )}<br />
≤ inf {lim inf<br />
k→∞ F(ṽ k) : ṽ k ∈ C 1 (I, R N ), ṽ k (a) = u(a), ṽ k (b) = u(b), ṽ k ⇀ u in W 1,q (I, R N )}.<br />
Schließlich gibt es nach Satz 3.6 ein u ∈ C(α, β) mit F(u) = inf C(α,β) F(·), und nach dem<br />
schon bewiesenen Teil existiert eine Folge {u k } k∈N ⊂ C 1 (I, R N ) mit {u k } k∈N ⊂ C(α, β)<br />
k→∞<br />
und u k −−−→ u in W 1,q (I, R N ), für welche nach Lemma 3.7 auch F(u k ) −−−→ k→∞ F(u) gilt.<br />
Durch die Abschätzung<br />
inf F(·) = lim F(u k) ≥ inf {F(v) : v ∈ C 1 (I, R N ), v(a) = α, v(b) = β} ≥ inf F(·)<br />
C(α,β) k→∞ C(α,β)<br />
ergibt sich<br />
inf<br />
C(α,β) F(·) = inf {F(v) : v ∈ C1 (I, R N ), v(a) = α, v(b) = β}.<br />
Unter gewissen Umständen kann die schwache Konvergenz (z.B. von Minimalfolgen)<br />
zusammen mit der Konvergenz der Werte des Funktionals die starke Konvergenz implizieren.<br />
Proposition 3.9 [Reshetnyak]<br />
Sei q ∈ (1, ∞) und
103<br />
(i) F, F p ∈ C 0 (I × R N × R N ).<br />
(ii) Es gebe c 0 , c 1 , c 2 , c 3 ∈ R mit 0 < c 0 ≤ c 1 , 0 ≤ c 2 , c 3 , so dass<br />
c 0 |p| q − c 3 ≤ F (x, z, p) ≤ c 1 |p| q + c 2 ∀ (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
(iii) Es gebe ein µ 0 ∈ (0, c 0 ], so dass F (x, z, ·) − µ 0 | · | q konvex in p ist.<br />
k→∞<br />
Dann gilt für alle Folgen {u k } k∈N mit u k ⇀<br />
dass diese Folgen auch stark konvergieren:<br />
u in W 1,q (I, R N ) und F(u k ) k→∞ −−−→ F(u),<br />
u k<br />
k→∞<br />
−−−→ u in W 1,q (I, R N ).<br />
Die obere Schranke in Voraussetzung (ii) ist nicht nötig, wenn man der Konvention folgt,<br />
dass die vorausgesetzte Konvergenz F(u k ) → F(u) insbesondere beinhaltet, dass alle dort<br />
auftretenden Werte des Funktionals wohldefiniert und endlich sind. Y.G. Reshetnyak<br />
konnte das Resultat ohne Voraussetzung (iii) beweisen [54], der Einfachheit halber haben<br />
wir aber diese Bedingung einer gleichmäßig strikten Konvexität hier eingefügt. Doch vor<br />
dem Beweis betrachten wir<br />
Beispiel 3.7<br />
Vergleichbare Voraussetzungen wie in Proposition 3.9 führen für parametrische Variationsprobleme<br />
für Flächen im R 3 zur Existenz konformer Lösungen, wobei man beim Existenzbeweis<br />
ausnutzt, dass schwach konvergente Folgen mit speziellen Eigenschaften tatsächlich<br />
auch stark konvergieren. Zur Erläuterung unternehmen wir nun einen kurzen Ausflug in<br />
die Flächentheorie. Sei also u ∈ W 1,2 (B, R 3 ) die Parametrisierung einer Fläche über der<br />
Einheitskreisscheibe B := B 1 (0) ⊂ R 2 . Man betrachtet dann sogenannte parametrische<br />
Funktionale oder Cartan-Funktionale<br />
∫<br />
F B (u) := F (u(x), u x 1(x) ∧ u x 2(x)) dx 1 dx 2<br />
mit<br />
B<br />
F (z, tν) = tF (x, ν) für alle t > 0, z ∈ R 3 , ν ∈ R 3 . (3.19)<br />
Wegen der Bedingung (3.19) an F folgt (siehe z.B. [46, Ch. 9.1] und vgl. mit der zugehörigen<br />
Übungsaufgabe)<br />
F B (u) = F Ω (u ◦ τ) für alle C 1 -Diffeomorphismen τ : Ω −→ B .<br />
Man betrachtet das Variationsproblem<br />
F B (u) −→ min! in der Klasse C(Γ) := {u ∈ W 1,2 (B, R 3 ) ∩ C 0 (∂B, R 3 ) : u(∂B) = Γ},<br />
wobei Γ eine vorgegebene geschlossene Jordankurve in R 3 ist. Für den Fall, dass F = F (z) =<br />
|z| gilt, ist F = A mit A(u) := ∫ B |u x 1 ∧ u x 2| dx1 dx 2 , das klassische Flächenfunktional.<br />
Die Idee zur Lösung des allgemeinen Falls ist es nun, vorerst zu versuchen, das Funktional<br />
F ε := F + εD zu minimieren, und dann später den Grenzwert ε → 0 zu bilden. Hierbei<br />
bezeichnet D wie schon im eindimensionalen Fall das Dirichletintegral (vgl. z.B. mit der<br />
zugehörigen Übungsaufgabe)<br />
∫<br />
D(u) := D B (u) := |∇u(x)| 2 dx 1 dx 2 .<br />
B
104 KAPITEL 3. UNTERHALBSTETIGKEIT UND EXISTENZTHEORIE<br />
Dabei zeigt sich, dass es u ε ∈ C(Γ) gibt mit F ε (u ε ) = inf C(Γ) F ε (·), und es gilt u ε ε→0 ⇀ u,<br />
wobei u ∈ C(Γ) und F(u) = inf C(Γ) F(·). Darüberhinaus übertragen sich „schöne“ Eigenschaften<br />
von u ε auf u; so ist u ε zum Beispiel konform für alle ε > 0, d.h. |u ε x<br />
| = |u ε 1 x<br />
| 2<br />
und u ε x<br />
· u ε 1 x<br />
= 0 L 2 -fast überall auf B, was man mit Hilfe innerer Variationen beweisen<br />
2<br />
kann, vgl. Abschnitt 1.2. Hierbei spielt das Dirichletintegral D die entscheidende Rolle,<br />
da F als parameterinvariantes Funktional unter inneren Variationen invariant ist. Aus einer<br />
Voraussetzung an F ähnlich wie in Proposition 3.9 (iii) ergibt sich die starke Konvergenz<br />
u ε → u in W 1,2 (B, R 3 ) für ε → 0, und damit auch |u x 1| = |u x 2| und u x 1 · u x 2 = 0, also die<br />
Konformität des Minimierers, vgl. [31]. (Tatsächlich kann man mit einem Trick auf diese der<br />
Voraussetzung (iii) vergleichbare Annahme verzichten, siehe dazu die Verschärfung in [32]<br />
und Kapitel 5.2, wo wir das in einer Dimension vorführen werden.)<br />
Beweis zu Proposition 3.9. Nach Voraussetzung (ii) wissen wir<br />
F (x, z, p) − µ 0 |p| q ≥ (c 0 − µ 0 )|p| q − c 3 ≥ −c 3 ,<br />
und F (x, z, ·) − µ 0 | · | q ist konvex in p und genügend glatt. Nach Satz 3.5 (für die in<br />
diesem Satz zugelassene Variante mit der L 1 -Funktion g(x) := −c 3 ) ist also das Funktional<br />
u ↦→ F(u) − µ 0<br />
∫I |u′ (x)| q dx schwach unterhalbstetig in W 1,q (I, R N ), so dass für<br />
{u k } k ⊂ W 1,q (I, R N k→∞<br />
) mit u k ⇀ u in W 1,q (I, R N ) und F(u k ) −−−→ k→∞ F(u) gilt<br />
∫<br />
∫<br />
]<br />
F(u) − µ 0 |u ′ (x)| q dx ≤ lim inf<br />
[F(u k ) − µ 0 |u ′ k<br />
I<br />
k→∞<br />
(x)|q dx<br />
I<br />
∫<br />
≤ lim F(u k) − µ 0 lim sup |u ′ k<br />
k→∞ (x)|q dx<br />
k→∞ I<br />
∫<br />
≤ F(u) − µ 0 lim sup |u ′ k (x)|q dx.<br />
k→∞ I<br />
Da µ 0 > 0, folgt also<br />
∫<br />
∫<br />
∫<br />
lim sup |u ′ k (x)|q dx ≤ |u ′ (x)| q dx ≤ lim inf |u ′ k<br />
k→∞<br />
k→∞<br />
(x)|q dx;<br />
I<br />
I<br />
denn auch die L q -Norm ist schwach unterhalbstetig, vgl. mit der zugehörigen Übungsaufgabe.<br />
Es ergibt sich somit ∫<br />
∫<br />
lim |u ′ k<br />
k→∞<br />
(x)|q dx = |u ′ (x)| q dx,<br />
I<br />
I<br />
und da L q (I, R N ) für q ∈ (1, ∞) uniform konvex ist (vgl. Übungsaufgaben), gilt mit dem<br />
Resultat einer Übungsaufgabe<br />
u ′ k<br />
I<br />
k→∞<br />
−−−→ u ′ in L q (I, R N ). (3.20)<br />
k→∞<br />
Außerdem ist ‖u k ‖ W 1,q (I,R N ) beschränkt, da u k ⇀ u in W 1,q (I, R N ), und aufgrund von<br />
Satz 2.14 gilt dann auch ‖u k ‖<br />
0,1− 1q < c unabhängig von k. Nach dem Satz von<br />
C (I,R N )<br />
Arzelà-Ascoli existiert also eine Teilfolge mit u ki −−−→ u in C 0 (I, R N ), und nach<br />
k→∞<br />
dem Teilfolgenprinzip ist sogar u k −−−→ u in C 0 (I, R N k→∞<br />
), also insbesondere u k −−−→ u<br />
in L q (I, R N ). Zusammen mit (3.20) folgt schließlich<br />
u k<br />
i→∞<br />
k→∞<br />
−−−→ u in W 1,q (I, R N ).
Kapitel 4<br />
Regularitätstheorie und<br />
Singularitäten<br />
Wir beginnen zunächst mit einem einfachen Beispiel, bei dem man die Regularität direkt<br />
nachweisen kann.<br />
Beispiel 4.1<br />
Sei I = (a, b) ⊂ R ein beschränktes Intervall, c ∈ C 0 (I) mit Werten in [0, ∞) und α, β ∈ R N<br />
vorgegeben. Wir betrachten das Funktional<br />
∫<br />
∫ [<br />
F(v) := F (x, v(x), v ′ (x)) dx := |v ′ (x)| 2 + c(x)|v(x)| 6] dx,<br />
I<br />
für welches man mit den Techniken aus Kapitel 3 die Existenz eines Minimierers u in der<br />
Klasse<br />
C(α, β) := {v ∈ W 1,2 (I, R N ) : v(a) = α, v(b) = β}<br />
nachweisen kann. Wir nutzen die Minimalität von u nun aus, um zu zeigen, dass u ∈<br />
C 2 (I, R N ). Tatsächlich folgt aus der Beziehung<br />
F(u) ≤ F(u + εϕ) für alle ε ∈ R, ϕ ∈ C ∞ 0 (I, R N ),<br />
dass 1 δF(u, ϕ) = 0 und damit die schwache Euler-Lagrange-Gleichung<br />
∫ [<br />
]<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx = 0 für alle ϕ ∈ C0 ∞ (I, R N )<br />
I<br />
und damit durch partielle Integration (vgl. mit der Herleitung der DuBois-Reymond-<br />
Gleichung in Proposition 1.9) für d ∈ I<br />
∫ [<br />
∫ x<br />
]<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) − F z (y, u(y), u ′ (y)) dy · ϕ ′ (x) dx = 0 für alle ϕ ∈ C0 ∞ (I, R N ).<br />
I<br />
d<br />
Nach Lemma 1.10 existiert demnach ein konstanter Vektor c d ∈ R N , so dass<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = c d +<br />
∫ x<br />
d<br />
I<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy für L 1 -fast alle x ∈ I.<br />
1 Bei der Herleitung der schwachen Euler-Lagrange-Gleichung und der DuBois-Reymond-Gleichung<br />
muss man lediglich beachten, dass für dieses Beispiel sämtliche Integralausdrücke existieren, was mit u ∈<br />
W 1,2 (I, R N ) ⊂ C 0,1/2 (I, R N ) (Satz 2.14) leicht nachzuweisen ist.<br />
105
106 KAPITEL 4. REGULARITÄTSTHEORIE UND SINGULARITÄTEN<br />
Mit F z (·, u(·), u ′ (·)) = 6c(·)|u(·)| 4 u(·) ∈ C 0 (I, R N ) folgt<br />
2u ′ (x) = F p (x, u(x), u ′ (x)) ∈ C 1 (I, R N ),<br />
also u ∈ C 2 (I, R N ). Die Regularität folgt also in diesem Beispiel aus der Tatsache, dass der<br />
Ausdruck F p (x, z, p) die Isolation der p-Variablen explizit (und hier in sehr einfacher Weise)<br />
erlaubt. Der nun folgende Regularitätssatz gibt allgemeine Bedingungen an, unter denen<br />
eine solche Schlussweise noch möglich ist.<br />
Satz 4.1<br />
Seien I = (a, b) mit −∞ < a < b < +∞, q ∈ (1, ∞) und α, β ∈ R N , außerdem gelte:<br />
(i) F ∈ C 2 (I × R N × R N ).<br />
(ii) Es gebe c 0 , c 1 , c 2 , c 3 ∈ R mit 0 < c 0 ≤ c 1 , 0 ≤ c 2 , c 3 , so dass<br />
c 0 |p| q − c 3 ≤ F (x, z, p) ≤ c 1 |p| q + c 2<br />
für alle (x, z, p) ∈ I × R N × R N<br />
(polynomiales Wachstum).<br />
(iii) ∑ N<br />
i,k=1 F p i p k(x, z, p)ξi ξ k > 0<br />
∀ (x, z, p) ∈ I ×R N ×R N , ∀ ξ ∈ R N \{0} (Elliptizität).<br />
(iv) Es gebe eine Funktion M = M(R) > 0, so dass für alle (x, z, p) ∈ I × R N × R N mit<br />
x 2 + |z| 2 ≤ R 2 gilt<br />
Dann gilt für alle<br />
mit F(u) = inf C(α,β) F(·)<br />
|F z (x, z, p)| + |F p (x, z, p)| ≤ M(R) (1 + |p| q ) .<br />
u ∈ C(α, β) := {u ∈ W 1,q (I, R N ) : u(a) = α, u(b) = β}<br />
u ∈ C 2 (I, R N )<br />
und<br />
d<br />
dx F p(x, u(x), u ′ (x)) − F z (x, u(x), u ′ (x)) = 0 ∀ x ∈ I.<br />
Falls F ∈ C k (I × R N × R N ) für k ≥ 2 bzw. F ∈ C ω (I × R N × R N ), dann ist auch<br />
u ∈ C k (I, R N ) bzw. u ∈ C ω (I, R N ), wobei C ω (I, R N ) die Klasse der auf I reell analytischen<br />
Funktionen mit Werten in R N bezeichnet, die sich analytisch über I hinaus fortsetzen lassen.<br />
Auf den Beweis der Analytizität verzichten wir hier, den Beweis der Differenzierbarkeit<br />
führen wir in mehreren Schritten: Zunächst beweisen wir, dass aus C 1 -Regularität die<br />
C 2 -Regularität folgt, dann aber auch höhere Regularität, falls F genügend glatt ist, und<br />
schließlich beweisen wir die C 1 -Regularität für schwache Extremalen von F. Abschließend<br />
bleibt dann nur zu zeigen, dass unter den Voraussetzungen von Satz 4.1 jeder Minimierer<br />
eine schwache Extremale ist.<br />
Proposition 4.2 [“ C 1 ⇒ C 2 ”]<br />
Sei u ∈ C 1 (I, R N ) eine schwache Extremale von F, wobei F, F p i ∈ C 1 (I × R N × R N ) für<br />
i = 1, . . . , N, und F pp (x, u(x), u ′ (x)) für alle x ∈ I invertierbar sei. Dann ist u ∈ C 2 (I, R N ).
107<br />
Beweis. Zuerst bemerken wir, dass der 1-Graph {(x, u(x), u ′ (x)) : x ∈ I} von u kompakt<br />
in I × R N × R N ist, da u ∈ C 1 (I, R N ). Deshalb existiert auch eine offene Umgebung<br />
U ⊂ (R × R N × R N ) des 1-Graphen von u, so dass F, F p ∈ C 1 (U) und F pp | U invertierbar<br />
ist. Für u gilt nach Voraussetzung<br />
∫<br />
[<br />
Fp (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) ] dx = 0 für alle ϕ ∈ C0 ∞ (I, R N ).<br />
I<br />
Nach Proposition 1.9 von DuBois-Reymond existiert ein c ∈ R N mit<br />
∫ x<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = c + F z (y, u(y), u ′ (y)) dy für alle x ∈ I.<br />
a } {{ }<br />
∈C<br />
} {{ 0<br />
}<br />
∈C 1<br />
Für ε > 0 hinreichend klein 2 definieren wir daher G ∈ C 1 (B ε (I) × R N , R N ) durch<br />
und stellen fest, dass<br />
G(x, p) := F p (x, u(x), p) − c −<br />
∫ x<br />
a<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy<br />
G(x, u ′ (x)) = 0 und det G p (x, u ′ (x)) = det F pp (x, u(x), u ′ (x)) ≠ 0 für alle x ∈ I.<br />
Insbesondere gilt für einen beliebigen Punkt x 0 ∈ I, dass G(x 0 , u ′ (x 0 )) = 0, so dass es<br />
nach dem Satz über implizite Funktionen ein δ = δ(x 0 ) > 0 und genau eine Funktion<br />
˜p ∈ C 1 (B δ (x 0 ), R N ) gibt mit G(x, ˜p(x)) = 0 für alle x ∈ B δ (x 0 ). Es folgt u ′ (x) = ˜p(x)<br />
für alle x ∈ B δ (x 0 ), also u ′ ∈ C 1 (B δ (x 0 ), R N ). Da x 0 ∈ I beliebig gewählt war, ergibt sich<br />
u ∈ C 2 (I, R N ).<br />
Proposition 4.3 [“ C 1 ⇒ C k ”]<br />
Sei u ∈ C 1 (I, R N ) eine schwache Extremale von F, wobei F ∈ C k (I × R N × R N ) mit k ≥ 2<br />
bzw. F ∈ C ω (I × R N × R N ), und F pp (x, u(x), u ′ (x)) sei invertierbar für alle x ∈ Ī. Dann<br />
ist u ∈ C k (I, R N ) bzw. u ∈ C ω (I, R N ).<br />
Beweis. Für k = 2 folgt u ∈ C 2 (I, R N ) aus Proposition 4.2. Für k = 3 verfahren wir<br />
zunächst wie in dem Beweis von Proposition 4.2 und definieren<br />
G(x, p) := F p (x, u(x), p) − c −<br />
∫ x<br />
a<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy,<br />
wobei nun G ∈ C 2 (I × R N , R N ). Wie zuvor wenden wir für einen beliebig gewählten Punkt<br />
x 0 ∈ I den Satz über implizite Funktionen an und finden δ = δ(x 0 ) > 0 und eine eindeutige<br />
Funktion ˜p ∈ C 2 (B δ (x 0 ), R N ) mit G(x, ˜p(x)) = 0 für alle x ∈ B δ (x 0 ), welche aber mit u ′<br />
auf B δ (x 0 ) übereinstimmen muss, so dass u ∈ C 3 (B δ (x 0 ), R N ) folgt. Da x 0 ∈ I beliebig<br />
gewählt war, schließt man u ∈ C 3 (I, R N ). Die Aussage für alle größeren k ∈ N beweist man<br />
analog.<br />
2 Da u ∈ C 1 (I, R N ) können wir u und u ′ stetig auf eine Umgebung B ε(I) fortsetzen, so dass der 1-Graph<br />
dieser (noch immer mit u bezeichneten) Fortsetzung immer noch in U liegt.
108 KAPITEL 4. REGULARITÄTSTHEORIE UND SINGULARITÄTEN<br />
Proposition 4.4 [“ W 1,q ⇒ C 1 ”]<br />
Sei q ∈ (1, ∞), I = (a, b) ⊂ R ein beschränktes Intervall und u ∈ W 1,q (I, R N ) eine schwache<br />
Extremale von F. Zusätzlich gelten die folgenden Bedingungen:<br />
(i) F, F p i ∈ C 1 (I × R N × R N ) für i = 1, . . . , N.<br />
(ii) Es gibt Konstanten c 0 > 0, c 3 ≥ 0, so dass<br />
(iii)<br />
c 0 |p| q − c 3 ≤ F (x, z, p) für alle (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
N∑<br />
F p i p k(x, z, p) ξi ξ k > 0 für alle ξ ∈ R N \ {0}, (x, z, p) ∈ I × R N × R N .<br />
i,k=1<br />
(iv) Für alle R > 0 gibt es eine Konstante M = M(R) > 0, so dass<br />
|F z (x, z, p)|+|F p (x, z, p)| ≤ M(R) (1 + |p| q ) ∀ (x, z, p) ∈ I×R N ×R N mit x 2 +|z| 2 ≤ R 2 .<br />
Dann ist u ∈ C 1 (I, R N ).<br />
Beweis. Ohne Einschränkung sei c 3 = 0; denn sonst wäre u auch eine schwache Extremale<br />
für das modifizierte Funktional ˜F mit dem Integranden ˜F (x, z, p) := F (x, z, p) + c3 , und ˜F<br />
würde dann auch alle anderen Voraussetzungen dieser Proposition erfüllen.<br />
Nach Satz 2.14 gilt W 1,q (I, R N ) ⊂ C 0,1− 1 q (I, R N ) (d.h. es gibt Hölderstetige Repräsentanten<br />
in W 1,q (I, R N )), also existiert ein R > 0 mit<br />
Wegen Voraussetzung (iv) gilt dann<br />
x 2 + |u(x)| 2 ≤ R 2 ∀ x ∈ I.<br />
|F z (x, u(x), u ′ (x))| ≤ M(R) ( 1 + |u ′ (x)| q) für L 1 -fast alle x ∈ I,<br />
so dass F z (·, u(·), u ′ (·)) ∈ L 1 (I, R N ). Damit ist die Funktion<br />
f(x) :=<br />
∫ x<br />
a<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy, x ∈ I,<br />
in W 1,1 (I, R N ) mit schwacher Ableitung f ′ (·) = F z (·, u(·), u ′ (·)) ∈ L 1 (I, R N ) (vgl. Übungsaufgabe).<br />
Nach Definition 2.1 hat man also<br />
∫<br />
∫ (∫ x<br />
)<br />
F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx = − F z (˜x, u(˜x), u ′ (˜x)) d˜x · ϕ ′ (x) dx (4.1)<br />
I a<br />
I<br />
für alle ϕ ∈ C0 ∞(I, RN ). Da u eine schwache F-Extremale ist (vgl. Definition 1.2 und die<br />
sich dort anschließende Bemerkung), gilt<br />
∫<br />
∫<br />
0 = F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) dx + F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) dx ∀ϕ ∈ C0 ∞ (I, R N ),<br />
I<br />
I
109<br />
wobei die Existenz aller auftretenden Integrale durch Voraussetzung (iv) gesichert ist. Unter<br />
Ausnutzung von (4.1) folgt aus dem Fundamentallemma von DuBois-Reymond (Lemma<br />
1.10) die Existenz eines Vektors c ∈ R N , so dass<br />
F p (x, u(x), u ′ (x)) = c +<br />
∫ x<br />
a<br />
F z (y, u(y), u ′ (y)) dy für L 1 -fast alle x ∈ I.<br />
Da aber u a priori nicht genügend glatt ist, können wir an dieser Stelle den Satz über<br />
implizite Funktionen nicht anwenden. Wir definieren also<br />
∫ x<br />
π(x) := c + F z (y, u(y), u ′ (y)) dy, x ∈ I,<br />
a } {{ }<br />
∈L<br />
} {{ 1<br />
}<br />
∈C 0<br />
σ(x) := (x, u(x), u ′ (x)) für L 1 -fast alle x ∈ I,<br />
e(x) := (x, u(x), π(x)) für x ∈ I,<br />
ψ(x, z, p) := (x, z, F p (x, z, p)) für (x, z, p) ∈ I × R N × R N ,<br />
woraus<br />
ψ(σ(x)) = e(x) für L 1 -fast alle x ∈ I (4.2)<br />
folgt. Nun gilt es, den Ausdruck σ(x) in dieser Relation freizustellen, um am Ende des<br />
Beweises schließlich einzusehen, dass σ (und damit auch u ′ ) überall mit einer stetigen Funktion<br />
übereinstimmt. Dazu werden wir die Existenz einer stetigen Umkehrfunktion ψ −1 von<br />
ψ zeigen. Zunächst müssen wir die Bijektivität von ψ einsehen.<br />
Um zu zeigen, dass ψ injektiv ist, betrachten wir zwei Vektoren (x 1 , z 1 , p 1 ) ≠ (x 2 , z 2 , p 2 ).<br />
Dann gilt auch ψ(x 1 , z 1 , p 1 ) ≠ ψ(x 2 , z 2 , p 2 ), denn selbst wenn (x 1 , z 1 ) = (x 2 , z 2 ) folgt aus<br />
der Elliptizität von F (Voraussetzung (iii)) für die dritte Komponente von ψ<br />
ψ 3 (x 1 , z 1 , p 1 ) − ψ 3 (x 2 , z 2 , p 2 ) = F p (x 1 , z 1 , p 1 ) − F p (x 1 , z 1 , p 2 )<br />
und damit, falls p 1 ≠ p 2 ,<br />
=<br />
=<br />
∫ 1<br />
d<br />
0 dt F p(x 1 , z 1 , tp 1 + (1 − t)p 2 ) dt<br />
(∫ 1<br />
)<br />
F pp (x 1 , z 1 , tp 1 + (1 − t)p 2 ) dt (p 1 − p 2 ),<br />
0<br />
(p 1 − p 2 ) · [ψ 3 (x 1 , z 1 , p 1 ) − ψ 3 (x 2 , z 2 , p 2 )]<br />
(∫ 1<br />
)<br />
= (p 1 − p 2 ) · F pp (x 1 , z 1 , tp 1 + (1 − t)p 2 ) dt (p 1 − p 2 ) > 0,<br />
0<br />
also ψ(x 1 , z 1 , p 1 )−ψ(x 2 , z 2 , p 2 ) ≠ 0 für (x 1 , z 1 ) = (x 2 , z 2 ) und p 1 ≠ p 2 . Für (x 1 , z 1 ) ≠ (x 2 , z 2 )<br />
ist offensichtlich ψ(x 1 , z 1 , p 1 ) ≠ ψ(x 2 , z 2 , p 2 ).<br />
Für den Nachweis der Surjektivität beachten wir, dass nach Voraussetzung (ii)<br />
F (x, z, p) ≥ c 0 |p| q gilt, und nach einer Übungsaufgabe gilt dann F p (x, z, R N ) = R N für<br />
alle (x, z) ∈ I × R N . Daraus folgt ψ(I × R N × R N ) = I × R N × R N .
110 KAPITEL 4. REGULARITÄTSTHEORIE UND SINGULARITÄTEN<br />
Wir können nun also in der Gleichung ψ(σ(x)) = e(x), die nur für L 1 -fast alle x ∈ I<br />
gilt, den Ausdruck σ(x) für diese x freistellen, nicht 3 aber für alle x ∈ I. Wir müssen noch<br />
zeigen, dass die Umkehrfunktion ψ −1 auf e(I)) wohldefiniert und stetig ist, um die Gleichung<br />
schließlich für alle x ∈ I nach σ(x) freistellen zu können. Mit u ∈ C 0 (I, R N ) ist die Menge<br />
(σ 1 , σ 2 )(I) = I × u(I) ⊂ R × R N<br />
zwar kompakt, aber die dritte Komponente σ 3 (I) ist im Allgemeinen keine kompakte Teilmenge<br />
des R N , womit die Stetigkeit von ψ −1 noch nicht gesichert ist. Deswegen betrachten<br />
wir ψ auf der 1-Punktkompaktifizierung<br />
(R × R N × R N ) ∪ {∞} ∼ = S 2N+1<br />
durch die Fortsetzung ψ(∞) := ∞, womit ψ als bijektive (also umkehrbare) Funktion stetig<br />
fortgesetzt ist; denn wegen der Voraussetzungen (ii) und (iii) gilt nach einer Übungsaufgabe<br />
tatsächlich |F p (x, z, p)| → ∞ für |p| → ∞ und damit auch<br />
Damit ist die Umkehrfunktion<br />
|Ψ(x, z, p)| = |(x, z, F p (x, z, p))|<br />
−→ ∞.<br />
|(x,z,p)|→∞<br />
ψ −1 : ψ(S 2N+1 ) = S 2N+1 −→ S 2N+1<br />
stetig (vgl. z.B. [30, Bd. 1, Satz 4, S. 147]).<br />
Wenden wir nun die Umkehrfunktion ψ −1 auf (4.2) an, so erhält man<br />
(x, u(x), u ′ (x)) = σ(x) = ψ −1 (ψ(σ(x)))<br />
=<br />
(4.2)<br />
ψ −1 (e(x)) = ψ −1 (x, u(x), π(x))<br />
= (x, u(x), (ψ −1 ) 3 (x, u(x), π(x)) ).<br />
} {{ }<br />
∈C 0 (I,R N )<br />
Durch Vergleich der letzten N Einträge dieser vektoriellen Gleichung erhält man u ′<br />
C 0 (I, R N ).<br />
∈<br />
Nach diesen vorbereitenden Propositionen können wir nun den Beweis von Satz 4.1<br />
abschließen. Im Wesentlichen geht es um den Nachweis, dass die minimierende Funktion<br />
u ∈ C(α, β) eine schwache F-Extremale ist.<br />
Beweis von Satz 4.1. Zuerst bemerken wir, dass F(v) wegen der Voraussetzung (ii) des Satzes<br />
für alle v ∈ C(α, β) nicht nur wohldefiniert (vgl. Proposition 3.1) sondern auch endlich<br />
ist. Sei u ein Minimierer von F, dann hat man für eine beliebige Funktion ϕ ∈ C ∞ 0 (I, RN )<br />
die Inklusion<br />
u + εϕ ∈ C(α, β) für alle ε ∈ R,<br />
3 Da die Funktion e stetig auf I ist, ist e(I) nach (4.2) immerhin im Abschluss von Ψ(I × R N × R N ) und<br />
damit in der Kompaktifizierung S 2N+1 ∼ = (R × R N × R N ) ∪ {∞} von R × R N × R N enthalten. Man prüft<br />
zwar leicht nach, dass det DΨ ≠ 0 in I × R N × R N , so dass mit dem Umkehrsatz sofort folgt, dass Ψ −1<br />
stetig differenzierbar auf Ψ(I × R N × R N ) ist, nicht aber notwendig auf dem Abschluss des Bildes von Ψ.
111<br />
und wir setzen Q := ‖ϕ‖ C 1 (I,R N ) . Nach Satz 2.14 ist u + εϕ beschränkt, und zu ε 0 > 0 gibt<br />
es eine Zahl R > 0 mit<br />
Wegen Bedingung (iv) gilt<br />
x 2 + |u(x) + εϕ(x)| 2 ≤ R 2 für alle x ∈ I, |ε| < ε 0 .<br />
|F z (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x))| + |F p (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x))|<br />
und weiterhin können wir abschätzen<br />
so dass wir erhalten<br />
≤ M(R)(1 + |u ′ (x) + εϕ ′ (x)| q ),<br />
|u ′ (x) + εϕ ′ (x)| q ≤ 2 q−1( |u ′ (x)| q + ε q 0 |ϕ′ (x)| q)<br />
≤ 2 q−1( |u ′ (x)| q + ε q 0 Qq) ,<br />
|F z (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x))| + |F p (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x))| ≤ c(1 + |u ′ (x)| q ).<br />
(4.3)<br />
Jetzt können wir zeigen, dass der Minimierer u ∈ W 1,q (I, R N ) auch schwache Extremale<br />
von F ist. Für ε > 0 gilt wegen der Minimaleigenschaft<br />
F(u + εϕ) − F(u)<br />
0 ≤<br />
ε<br />
= 1 [∫<br />
(<br />
F (x, u(x) + εϕ(x), u ′ (x) + εϕ ′ (x)) − F (x, u(x), u ′ (x)) ) ]<br />
dx<br />
ε I<br />
= 1 ∫ ∫ 1<br />
d<br />
ε I 0 dt F (x, u(x) + εtϕ(x), u′ (x) + εtϕ ′ (x)) dt dx<br />
= 1 ∫ ∫ 1<br />
[F z (x, u(x) + εtϕ(x), u ′ (x) + εtϕ ′ (x)) · εϕ(x)<br />
ε I 0<br />
+ F p (x, u(x) + εtϕ(x), u ′ (x) + εtϕ ′ (x)) · εϕ ′ (x)] dt dx.<br />
Da für L 1 -fast alle x ∈ I die Funktion<br />
ξ ↦→ F z (x, u(x) + ξϕ(x), u ′ (x) + ξϕ ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x) + ξϕ(x), u ′ (x) + ξϕ ′ (x)) · ϕ ′ (x)<br />
stetig ist, erhalten wir mit der Substitution ξ = εt aus dem Mittelwertsatz der Integralrechnung<br />
∫ 1<br />
lim<br />
ε→0 0<br />
[F z (x, u(x) + εtϕ(x), u ′ (x) + εtϕ ′ (x)) · ϕ(x)<br />
+ F p (x, u(x) + εtϕ(x), u ′ (x) + εtϕ ′ (x)) · ϕ ′ (x)] dt<br />
∫ ε<br />
1<br />
= lim [F z (x, u(x) + ξϕ(x), u ′ (x) + ξϕ ′ (x)) · ϕ(x)<br />
ε→0 ε 0<br />
+ F p (x, u(x) + ξϕ(x), u ′ (x) + ξϕ ′ (x)) · ϕ ′ (x)] dξ (4.4)<br />
= F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x) für L 1 -fast alle x ∈ I.
112 KAPITEL 4. REGULARITÄTSTHEORIE UND SINGULARITÄTEN<br />
Wegen (4.3) folgt dann nach dem Lebesgueschen Satz über dominierte Konvergenz, dass<br />
∫<br />
[F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x)] dx ≥ 0. (4.5)<br />
I<br />
Die Beziehung (4.5) gilt für alle ϕ ∈ C0 ∞(I, RN ), insbesondere auch wenn wir von ϕ zu −ϕ<br />
übergehen, so dass wegen der Linearität des Ausdrucks in ϕ tatsächlich Gleichheit gilt:<br />
∫<br />
[F z (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ(x) + F p (x, u(x), u ′ (x)) · ϕ ′ (x)] dx = 0,<br />
I<br />
d.h. u ist schwache Extremale von F. Die Aussage des Satzes folgt nun sofort durch Anwenden<br />
der vorherigen Propositionen: Nach Proposition 4.4 ist u ∈ C 1 (I, R N ), nach Proposition<br />
4.2 ist dann u ∈ C 2 (I, R N ), und falls F ∈ C k (I × R N × R N ) für k ≥ 2, gilt nach<br />
Proposition 4.3 auch u ∈ C k (I, R N ).<br />
Die beiden folgenden Beispiele illustrieren die Schärfe der Voraussetzungen von Satz 4.1:<br />
Beispiel 4.2<br />
Wir betrachten für N = 1 das Variationsproblem<br />
in der Klasse<br />
F(u) :=<br />
∫ 1<br />
0<br />
[<br />
(u ′ (x)) 2 − 1 ] 2<br />
dx −→ min!<br />
C(0, 0) := {v ∈ W 1,4 (I) : v(0) = v(1) = 0}.<br />
Offenbar ist inf C(0,0) F(·) = 0, und die Zackenfunktion ˜ϕ ∉ C 2 (I) aus Beispiel 3.3 ist ein<br />
Minimierer. Dies widerspricht jedoch nicht der Aussage des Regularitätssatzes, Satz 4.1;<br />
denn F ist nicht konvex in p:<br />
F pp (z, p) = 12p 2 − 4 < 0 für |p| < 1 √<br />
3<br />
.<br />
(Ein nur leicht modifiziertes Variationsproblem in einer Übungsaufgabe besitzt sogar gar<br />
keine Lösung in C(0, 0).)<br />
Beispiel 4.3<br />
Wie in Beispiel 1.4 (und Übungsaufgabe) betrachten wir für N = 1 das Variationsproblem<br />
jedoch nun in der Klasse<br />
Dann ist<br />
F(u) :=<br />
∫ +1<br />
−1<br />
u 2 (x)(2x − u ′ (x)) 2 dx −→ min!,<br />
C(0, 1) := {v ∈ W 1,2 (I) : v(−1) = 0, v(+1) = 1}.<br />
u ∗ (x) :=<br />
{<br />
0 für x ∈ (−1, 0)<br />
x 2 für x ∈ [0, 1)<br />
ein Minimierer, F(u ∗ ) = inf C(0,1) F(·) = 0, und nach dem Hebbarkeitssatz (Lemma 2.16)<br />
ist u ∗ ∈ W 1,2 ((−1, +1)). Aber auch hier ist u nicht aus C 2 ([−1, +1]). Satz 4.1 ist nicht<br />
anwendbar, weil hier die strikte Konvexität nicht gegeben ist:<br />
F pp (x, z, p) = 2z 2 ≯ 0.
113<br />
Im Rahmen dieser Vorlesung begnügen wir uns mit dem Beweis dieses einen zentralen<br />
Regularitätssatzes, Satz 4.1, wollen aber zum Abschluss dieses Kapitels einen Ausblick auf<br />
weitere Resultate und Phänomene der Regularitätstheorie geben, allerdings ohne Beweis.<br />
Selbst in einer Dimension muss man mit singulären Lösungen rechnen, wie Beispiel 4.2<br />
zeigt. Tatsächlich kann man aber zeigen, dass unter geeigneten milden Voraussetzungen die<br />
Singularitätenmenge eines Minimierers sehr klein ist, was man unter dem Begriff der partiellen<br />
Regularität zusammenfasst. Das Phänomen partieller Regularität und die tatsächliche<br />
Größe der singulären Menge von Lösungen von Variationsproblemen ist insbesondere in<br />
der Theorie harmonischer und biharmonischer Abbildungen in mehreren Dimensionen auch<br />
heute noch Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, siehe z.B. [63], [39], [48], [55] und die<br />
jüngeren Arbeiten [56], [66], [58].<br />
Satz 4.5 [Partielle Regularität]<br />
Seien N = 1, q ∈ [1, ∞) und I = (a, b) ⊂ R ein beschränktes Intervall, α, β ∈ R gegebene<br />
Konstanten und F ∈ C ∞ (I × R × R) mit F pp (x, z, p) > 0 für alle (x, z, p) ∈ I × R × R.<br />
Dann gilt für<br />
u ∈ C(α, β) := {v ∈ W 1,q (I) : v(a) = α, v(b) = β}<br />
mit<br />
F(u) =<br />
inf F(·)<br />
C(α,β)<br />
(i) Die Ableitung u ′ existiert mit Werten in R ∪ {−∞, ∞} überall auf I und ist stetig.<br />
(ii) u ∈ C ∞ (I \ Sing(u)), wobei die singuläre Menge Sing(u) := {x ∈ I : u ′ (x) = ±∞}<br />
abgeschlossen ist und L 1 ( Sing(u)) = 0 gilt.<br />
Bemerkung:<br />
Im Unterschied zu Satz 4.1 fehlen bei den Voraussetzungen zu Satz 4.5 das polynomiale<br />
Wachstum und die Strukturbedingungen (Voraussetzungen (ii) und (iv) von Satz 4.1), die<br />
uns die Herleitung der schwachen Euler-Lagrange-Gleichung ermöglicht haben. Diese<br />
Bedingungen können in der folgenden Weise abgeschwächt werden, um doch noch volle<br />
Regularität des Minimierers zu garantieren.<br />
Korollar 4.6 [Volle Regularität]<br />
F ∈ C ∞ (I × R × R) wachse superlinear, d.h.<br />
F (x, z, p)<br />
lim<br />
= ∞,<br />
|p|→∞ |p|<br />
und es gelte F pp (x, z, p) > 0 für alle (x, z, p) ∈ I × R × R, sowie<br />
F z (·, u(·), u ′ (·)) ∈ L 1 (I)<br />
oder F x (·, u(·), u ′ (·)) ∈ L 1 (I),<br />
und es existiere u ∈ C(α, β) mit F(u) = inf C(α,β) F mit der Klasse C(α, β) wie in Satz 4.5.<br />
Dann gilt u ∈ C ∞ (I) und u erfüllt die (starke) Euler-Lagrange-Gleichung in I.<br />
Der Satz über die partielle Regularität, Satz 4.5, garantiert die Kleinheit der singulären<br />
Menge: L 1 (Sing(u)) = 0. Die in der folgenden Proposition beschriebene Konstruktion verdeutlicht,<br />
dass man diese singuläre Menge beliebig vorschreiben kann. Mit anderen Worten,<br />
zu beliebig vorgegebener L 1 -Nullmenge gibt es ein Variationsintegral, dessen Minimierer<br />
genau diese Menge als singuläre Menge haben.
114 KAPITEL 4. REGULARITÄTSTHEORIE UND SINGULARITÄTEN<br />
Proposition 4.7 [Vorgeschriebene Singularitäten und Lavrentiev-Phänomen]<br />
Sei I = (a, b) mit −∞ < a < b < +∞, E ⊂ I abgeschlossen mit L 1 (E) = 0, E ≠ ∅ und<br />
C(0, 1) := {w ∈ W 1,2 (I) : w(a) = 0, w(b) = 1}.<br />
Dann existieren v ∈ C(0, 1), ϕ, ψ ∈ C ∞ (R) und ε > 0 mit<br />
ψ, ψ ′′ ≥ 0 auf R und ϕ ◦ v ∈ C ∞ (I),<br />
so dass für<br />
und<br />
gilt:<br />
F (x, z, p) := [ϕ(z) − ϕ(v(x))] 2 ψ(p) + εp 2<br />
∫<br />
F(w) := F (x, w(x), w ′ (x)) dx<br />
I<br />
(i) Es gibt ein u ∈ C(0, 1) mit F(u) = inf C(0,1) F(·).<br />
(ii) Sing(u) = E, d.h. u ∈ C ∞ (I\E), u ′ : I −→ R∪{±∞} und E = {x ∈ I : u ′ (x) = ±∞}.<br />
(iii) inf C(0,1) F(·) < inf C(0,1)∩C 1 (I) F(·)<br />
(Lavrentiev-Phänomen).<br />
Bemerkung:<br />
Die Existenz des Minimierers aus C(0, 1) folgt sofort, denn die Voraussetzungen von Satz<br />
3.6 sind erfüllt. Um die Regularität zu zeigen, kann der Satz von Tonelli über partielle<br />
Regularität, Satz 4.5, benutzt werden. Das Konstruktionsprinzip für den Beweis dieser<br />
Proposition ist in [4, Prop. 4.11] dargestellt. Zur Beweisidee bemerken wir hier nur, dass<br />
die Sobolevfunktion v so gewählt wird, dass sie auf der gegebenen Menge E unendliche<br />
Steigung hat. Die glatte Funktion ϕ blendet dann durch Verkettung mit v gerade diese<br />
Singularitätenmenge aus. Die konvexe Funktion ψ sorgt für eine positive untere Schranke<br />
σ 0 > 0 des Funktionals F(w) für glatte Funktionen w ∈ C 1 (I), und ε > 0 wird so klein<br />
gewählt, dass<br />
∫<br />
F(v) = ε |v ′ (x)| 2 dx < σ 0 ,<br />
I<br />
um das Lavrentiev-Phänomen (iii) nachzuweisen. Der Term εp 2 sorgt einerseits dafür,<br />
dass wir eine polynomiale untere Wachstumsschranke haben, womit die Existenz eines Minimierers<br />
nach Satz 3.5 gesichert ist. Andererseits führt dieser Term im Zusammenwirken<br />
mit der konvexen Funktion ψ zur strikten Konvexität des Integranden in p, so dass der<br />
Regularitätssatz Satz 4.5 anwendbar ist.
Kapitel 5<br />
Anwendungen<br />
5.1 Hindernisproblem<br />
5.2 Variationsprobleme für Cartan-Funktionale<br />
5.3 Periodische Lösungen von Differentialgleichungen<br />
115
116 KAPITEL 5. ANWENDUNGEN
Anhang A<br />
Resultate aus der Funktionalanalysis<br />
Im Folgenden werden wir einige Definitionen und Resultate aus der Funktionalanalysis und<br />
verwandten Gebieten angeben, die im vorliegenden Skript benutzt werden. Für Details der<br />
nachstehenden Sätze verweisen wir, soweit nicht anders vermerkt, auf [2], wobei wir uns hier<br />
bei linearen Räumen auf R-Vektorräume beschränken.<br />
Definition A.1 [Banachräume, dichte und separable Teilmengen] (i) Ein linearer<br />
normierter Raum X heißt Banachraum, wenn er vollständig ist, d.h. wenn<br />
alle Cauchy-Folgen in X konvergieren.<br />
(ii) Sei X ein Banachraum. Eine Teilmenge A ⊂ X heißt dicht in X, wenn der bezüglich<br />
der Norm ‖ · ‖ X gebildete Abschluss von A mit X übereinstimmt, d.h. A = X.<br />
X heißt separabel, wenn eine abzählbare, dichte Teilmenge A ⊂ X existiert.<br />
(iii) Ein Banachraum X heißt uniform konvex, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ(ε) > 0<br />
gibt, so dass gilt: Für u, v ∈ X mit ‖u‖ X = ‖v‖ X = 1 und mit ‖u − v‖ X ≥ ε<br />
gilt ‖u + v‖ X ≤ 2(1 − δ); siehe [37, Kapitel 5, S26.6]. (Gleichbedeutend ist: Aus<br />
‖u k ‖ X = ‖v k ‖ X = 1 und ‖u k + v k ‖ X → 2 folgt ‖u k − v k ‖ X → 0 für k → ∞.)<br />
(iv) Ein linearer Raum X mit einem Skalarprodukt (inneren Produkt) 〈·, ·〉 : X × X →<br />
R, welcher bezüglich der von dem Skalarprodukt induzierten Norm ‖ · ‖ X := √ 〈·, ·〉<br />
vollständig ist, heißt Hilbertraum.<br />
Definition A.2 [Lineare Abbildungen] (i) Seien X und Y lineare normierte Räume.<br />
Dann heißt L : X → Y eine lineare Abbildung, falls L(αx 1 +βx 2 ) = αL(x 1 )+βL(x 2 )<br />
für alle x 1 , x 2 ∈ X und α, β ∈ R.<br />
(ii) Eine lineare Abbildung heißt stetig (oder beschränkt oder ein beschränkter linearer<br />
Operator), wenn es eine Konstante C ∈ R gibt, so dass ‖Lx‖ Y ≤ C‖x‖ X für alle<br />
x ∈ X. Mit L(X, Y ) bezeichnen wir den Raum der stetigen linearen Abbildungen von<br />
X nach Y , der mit der Operatornorm<br />
‖L‖ L(X,Y ) :=<br />
ein normierter linearer Raum ist.<br />
sup ‖Lx‖ Y < ∞<br />
‖x‖ X ≤1<br />
(iii) Der Raum X ∗ := L(X, R) heißt der Dualraum von X, die Elemente von X ∗ nennt<br />
man auch lineare Funktionale .<br />
117
118 ANHANG A. RESULTATE AUS DER FUNKTIONALANALYSIS<br />
(iv) Eine injektive lineare stetige Abbildung L ∈ L(X, Y ) heißt Einbettung.<br />
(v) Eine bijektive lineare stetige Abbildung L ∈ L(X, Y ) heißt invertierbar oder ein stetiger<br />
Isomorphismus .<br />
(vi) Eine Abbildung L ∈ L(X, Y ) heißt Isometrie oder isometrisch , wenn ‖Lx‖ Y = ‖x‖ X<br />
für alle x ∈ X.<br />
(vii) Falls X und Y Banachräume sind, und wenn für eine Abbildung K ∈ L(X, Y ) jede<br />
Folge {K(x k )} ⊂ Y eine in Y konvergente Teilfolge besitzt, solange die Urbildfolge<br />
{x k } ⊂ X beschränkt ist, dann heißt K kompakt. Ist diese Abbildung K zusätzlich<br />
eine Einbettung, dann spricht man kurz von einer kompakten Einbettung.<br />
Bemerkung:<br />
Falls der Zielraum Y ein Banachraum ist, dann ist auch L(X, Y ) ein Banachraum. Falls X<br />
und Y Banachräume sind und falls L ∈ L(X, Y ) eine invertierbare lineare stetige Abbildung<br />
ist, dann kann man zeigen, dass L −1 ∈ L(Y, X), wobei L −1 : Y → X die Inverse von L<br />
bezeichnet.<br />
Satz A.3 [Folgerung aus Hahn-Banach]<br />
Sei X ein normierter linearer Raum und x 0 ∈ X \{0}. Dann existiert ein lineares Funktional<br />
l 0 ∈ X ∗ , so dass ‖l 0 ‖ X ∗ = 1 und l 0 (x 0 ) = ‖x 0 ‖ X .<br />
Bemerkung:<br />
Mit der Abbildung J X : X → (X ∗ ) ∗ =: X ∗∗ , definiert durch<br />
(J X x)(l) := l(x) für x ∈ X und alle l ∈ X ∗ ,<br />
ist jeder Banachraum X in natürlicher Weise isometrisch in X ∗∗ eingebettet.<br />
Definition A.4 [Reflexive Banachräume]<br />
Ein Banachraum X heißt reflexiv, wenn die oben genannte isometrische Einbettung J X :<br />
X → X ∗∗ surjektiv, also ein isometrischer Isomorphismus ist.<br />
Satz A.5 [Darstellungssatz von Riesz für Hilberträume]<br />
Jeder Hilbertraum X ist isometrisch isomorph zu seinem Dualraum X ∗ mittels der Abbildung<br />
J : X → X ∗ definiert durch<br />
x ↦→ J(x) := 〈x, ·〉 ∈ X ∗ .<br />
Korollar A.6 [Hilberträume sind reflexiv]<br />
Jeder Hilbertraum ist reflexiv.<br />
Definition A.7 [Schwache Konvergenz]<br />
Sei X ein Banachraum.<br />
(i) Eine Folge {x k } in X konvergiert schwach für k → ∞ gegen ein x ∈ X, wenn<br />
l(x k ) → l(x) für k → ∞ für alle l ∈ X ∗ . Wir schreiben dafür x k ⇀ x für k → ∞.<br />
(ii) Eine Folge {l k } im Dualraum X ∗ konvergiert schwach ∗ für k → ∞ gegen ein l ∈ X ∗ ,<br />
wenn l k (x) → l(x) für k → ∞ für alle x ∈ X. Wir schreiben dafür l k<br />
∗ ⇀ l für k → ∞.<br />
Lemma A.8 [Eigenschaften schwacher Konvergenz]<br />
Sei X ein Banachraum, dann gilt:
119<br />
(i) Der schwache und auch der schwach ∗ Grenzwert einer Folge in X bzw. einer Folge in<br />
X ∗ ist eindeutig bestimmt.<br />
(ii) Falls ‖x k − x‖ X → 0 für k → ∞ (also falls x k stark gegen x konvergiert), dann gilt<br />
∗<br />
auch x k ⇀ x für k → ∞. Falls ‖l k − l‖ X ∗ → 0 für k → ∞, dann gilt auch l k ⇀ l für<br />
k → ∞.<br />
(iii) Falls l k<br />
∗ ⇀ l in X ∗ für k → ∞, dann gilt<br />
(iv) Falls x k ⇀ x in X für k → ∞, dann gilt<br />
‖l‖ X ∗ ≤ lim inf<br />
k→∞ ‖l k‖ X ∗.<br />
‖x‖ X ≤ lim inf<br />
k→∞ ‖x k‖ X .<br />
(iv) Schwach konvergente Folgen in X und auch schwach ∗ konvergente Folgen in X ∗ sind<br />
beschränkt.<br />
∗<br />
(v) Falls x k stark gegen x in X, d.h. ‖x k − x‖ X → 0, und l k ⇀ l in X ∗ für k → ∞, dann<br />
folgt<br />
l k (x k ) → l(x) für k → ∞.<br />
Falls x k ⇀ x in X und ‖l k − l‖ X ∗ → 0 für k → ∞, dann gilt ebenfalls<br />
l k (x k ) → l(x) für k → ∞.<br />
Satz A.9 [Schwach ∗ Folgenkompaktheit]<br />
Für einen separablen Banachraum X ist jede abgeschlossene Kugel im zugehörigen Dualraum<br />
X ∗ schwach ∗ folgenkompakt, d.h. zu jeder in X ∗ beschränkten Folge {l k } ⊂ X ∗ gibt es<br />
eine Teilfolge {l ki } und ein l ∈ X ∗ , so dass l ki<br />
∗ ⇀ l für i → ∞.<br />
Satz A.10 [Schwache Folgenkompaktheit in reflexiven Banachräumen]<br />
Sei X ein reflexiver Banachraum. Dann ist jede abgeschlossene Kugel in X schwach folgenkompakt,<br />
d.h. zu jeder in X beschränkten Folge {x k } ⊂ X gibt es eine Teilfolge {x ki }<br />
und ein x ∈ X, so dass x ki ⇀ x für i → ∞.<br />
Satz A.11 [Starke Konvergenz aus Normkonvergenz und schwacher Konvergenz<br />
[16, Kapitel II.4.28]]<br />
Sei X ein uniform konvexer Banachraum. Dann folgt aus ‖x k ‖ X → ‖x‖ X und x k ⇀ x<br />
auch die starke Konvergenz ‖x k − x‖ X → 0 für k → ∞.<br />
Satz A.12 [Mazur]<br />
Sei C ⊂ X eine konvexe und abgeschlossene Menge eines linearen normierten Raumes X,<br />
dann ist C schwach folgenabgeschlossen, d.h. falls x k ∈ C für alle k ∈ N und x k ⇀ x für<br />
k → ∞, dann ist x ∈ C.<br />
Definition A.13 [Hölderräume]<br />
Seien n ∈ N, k ∈ N ∪ {0} und α ∈ (0, 1]. Für eine nichtleere offene Menge Ω ⊂ R n sei<br />
C k (Ω, R) = C k (Ω) der Raum der auf Ω k-mal stetig differenzierbaren Funktionen und<br />
C k (¯Ω, R) = C k (¯Ω) := {u ∈ C k (Ω) : ∂ γ u besitzt eine stetige Fortsetzung auf ¯Ω für alle |γ| ≤ k},
120 ANHANG A. RESULTATE AUS DER FUNKTIONALANALYSIS<br />
wobei γ ein Multiindex ist. Die Räume C ∞ (Ω) und C ∞ (¯Ω) bestehen aus allen Funktionen,<br />
die in C k (Ω) bzw. in C k (¯Ω) für alle k ∈ N sind. Weiterhin definieren wir die Hölderräume<br />
C k,α (¯Ω) := {u ∈ C k (¯Ω) : Höl Ω,α (∂ γ u) < ∞ für alle |γ| = k},<br />
wobei die Hölderkonstante einer Funktion v : Ω → R durch<br />
|v(x) − v(y)|<br />
Höl Ω,α v := sup<br />
x,y∈Ω |x − y| α<br />
x≠y<br />
gegeben ist. Funktionen mit endlicher Hölderkonstante nennt man auch Hölderstetig.<br />
Falls α = 1 nennt man diese Konstante auch Lipschitzkonstante und bezeichnet sie auch<br />
mit Lip Ω v. Funktionen mit endlicher Lipschitzkonstante heißen Lipschitzstetig.<br />
Mit C0 k (A) bzw. Ck,α 0 (A) oder C0 ∞ (A) bezeichnen wir Funktionen u der entsprechenden<br />
Funktionenklasse, deren Träger<br />
supp u := {x ∈ A : u(x) ≠ 0}<br />
kompakt in A enthalten ist, wobei Ω ⊂ A ⊂ ¯Ω zugelassen ist, etwa wenn A = Ω ∪ Γ<br />
für eine Teilmenge Γ ⊂ ∂Ω. (Der Raum C k (A) ist die Menge aller auf Ω k-mal stetig<br />
differenzierbaren Funktionen, deren sämtliche Ableitungen stetige Fortsetzungen auf A ⊃ Ω<br />
besitzen.)<br />
Bemerkung:<br />
(i) Man kann zeigen, dass der Raum C k (¯Ω) versehen mit der Norm<br />
‖u‖ C k (¯Ω) := ∑<br />
‖∂ γ u‖ C 0 (¯Ω)<br />
|γ|≤k<br />
ein Banachraum ist. Hierbei bezeichnet ‖v‖ C 0 (¯Ω) := sup x∈¯Ω |v(x)| die Supremumsnorm<br />
einer Funktion v : ¯Ω → R. Desweiteren ist auch der Raum C k,α (¯Ω) versehen<br />
mit der Norm<br />
‖u‖ C k,α (¯Ω) := ‖u‖ C k (¯Ω) + ∑<br />
Höl Ω,α (∂ γ u)<br />
ein Banachraum.<br />
(ii) Für Ω ⊂⊂ R n (d.h. ¯Ω ist eine kompakte Teilmenge des R n ) und 0 < β < α kann man<br />
mit dem Satz von Arzelà-Ascoli beweisen, dass die Inklusionen<br />
|γ|=k<br />
C 0,α (¯Ω) ⊂ C 0,β (¯Ω) ⊂ C 0 (¯Ω)<br />
durch kompakte Einbettungen realisiert werden, was zum Beispiel bedeutet, dass jede<br />
beschränkte Folge in (C 0,α (¯Ω), ‖ · ‖ C k,α (¯Ω) ) eine in (C0,β (¯Ω), ‖ · ‖ C k,β (¯Ω) ) konvergente<br />
Teilfolge besitzt. Falls zusätzlich der Rand des Gebietes Ω von der Klasse C 0,1 ist, was<br />
bedeutet, dass sich der Rand ∂Ω lokal durch den Graphen einer Lipschitzstetigen<br />
Funktion darstellen lässt, dann ist für k, l ∈ N∪{0}, k ≥ l, α, β ∈ (0, 1] mit k+α > l+β<br />
die Inklusion C k,α (¯Ω) ⊂ C l,β (¯Ω) eine kompakte Einbettung.<br />
Definition A.14 [Lebesgueräume]<br />
Sei ∅ ≠ Ω ⊂ R n offen, q ∈ [1, ∞]. Dann ist der Lebesgueraum L q (Ω) definiert durch<br />
L q (Ω) := {u : Ω → R<br />
messbar : ‖u‖ L q (Ω) < ∞},
121<br />
wobei<br />
Dabei ist<br />
{(∫<br />
‖u‖ L q (Ω) :=<br />
Ω |u(x)|q dL n (x) ) 1/q<br />
für 1 ≤ q < ∞,<br />
ess sup Ω |u| für q = ∞.<br />
ess sup |u| :=<br />
Ω<br />
inf<br />
sup<br />
L n (N)=0 x∈Ω\N<br />
|u(x)|.<br />
Es gilt u = v in L q (Ω) genau dann, wenn u = v L n -fast überall in Ω, d.h. u(x) = v(x)<br />
für alle x ∈ Ω \ N mit L n (N) = 0. In diesem Sinne ist eine Funktion u ∈ L ( Ω) eine<br />
Äquivalenzklasse aller Funktionen, die L n -fast überall in Ω mit u übereinstimmen. Weiterhin<br />
setzt man<br />
L q loc (Ω) := {u : Ω → R : u ∈ Lq (Ω ′ ) für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω},<br />
und u m → u in L q loc (Ω) bedeutet, dass u m → u in L q (Ω ′ ) für m → ∞ für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω.<br />
Ein Punkt x 0 ∈ Ω heißt Lebesgue-Punkt der Funktion u ∈ L q loc<br />
(Ω), falls<br />
∫<br />
1<br />
lim<br />
δ→0 L n |u(x) − u(x 0 )| dx = 0.<br />
(B δ (x 0 ))<br />
B δ (x 0 )<br />
Bemerkung: (i) Für u ∈ L q loc (Ω) sind L n -fast alle Punkte aus Ω Lebesgue-Punkte;<br />
siehe z.B. [57, S. 138ff].<br />
(ii) Sehr nützlich ist die (verallgemeinerte) Hölderungleichung: Für q i ∈ [1, ∞], i =<br />
1, . . . , m, mit<br />
1<br />
+ 1 + · · · 1 = 1<br />
q 1 q 2 q m<br />
und Funktionen u i ∈ L q i<br />
(Ω) gilt die Ungleichung<br />
∫<br />
∣ u 1 (x)u 2 (x) · · · u m (x) dx<br />
∣ ≤ ‖u 1‖ L q 1 (Ω) · ‖u 2 ‖ L q 2 (Ω) · · · · ‖u m ‖ L qm(Ω).<br />
Ω<br />
(iii) Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere offene Menge. Dann sind die Räume L q (Ω) für q ∈ [1, ∞)<br />
separabel, da der Raum C 0 0 (Ω) dicht in Lq (Ω) liegt, und stetige Funktionen mit Polynomen<br />
nach dem Weierstraßschen Approximationssatz approximierbar sind. Diese<br />
Polynome wiederum kann man durch solche mit rationalen Koeffizienten annähern, da<br />
¯Q = R, also die rationalen Zahlen in R dicht liegen. Falls Ω zusätzlich beschränkt ist,<br />
sind auch die Räume C k (¯Ω) separabel.<br />
Der Raum L ∞ (Ω) hingegen ist nicht separabel.<br />
Satz A.15 [Fischer-Riesz]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere offene Menge. Dann sind für alle q ∈ [1, ∞] die Räume L q (Ω)<br />
vollständig.<br />
Bemerkung:<br />
Der eigentliche Satz von Fischer-Riesz bezieht sich auf den Fall endlicher Exponenten q,<br />
für q = ∞ reicht ein direktes und elementares Argument.<br />
Satz A.16 [Dualraum von L q für q < ∞]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere und offene Menge und 1 ≤ q < ∞. Dann ist der Dualraum<br />
(L q (Ω)) ∗ isometrisch isomorph zu dem Raum L q′ (Ω) für den zu q konjugierten Exponenten
122 ANHANG A. RESULTATE AUS DER FUNKTIONALANALYSIS<br />
q ′ ∈ (1, ∞] mit 1 q + 1 q<br />
= 1. Dieser isometrische Isomorphismus J : L ′<br />
q′ (Ω) → (L q (Ω)) ∗ ist<br />
gegeben durch<br />
∫<br />
v ↦→ J(v)(·) := · v(x) dx ∈ (L p (Ω)) ∗ für v ∈ L q′ (Ω),<br />
also J(v)(u) = ∫ Ω u(x)v(x) dx für u ∈ Lq (Ω).<br />
Ω<br />
Satz A.17 [Riesz-Radon: Dualraum von C 0 (¯Ω) [16, Band I, Kapitel IV.6.3] ]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere und offene Menge. Dann ist der Dualraum (C 0 (¯Ω)) ∗ isometrisch<br />
isomorph zu dem Raum B(Ω) aller regulären Borelmaße auf Ω. Dieser isometrische<br />
Isomorphismus I : B(Ω) → C 0 (¯Ω) ist gegeben durch<br />
∫<br />
µ ↦→ I(µ)(·) := · dµ ∈ (C 0 (¯Ω)) ∗ für µ ∈ B(Ω),<br />
Ω<br />
also I(µ)(u) = ∫ Ω u(x) dµ(x) für u ∈ C0 (¯Ω). Außerdem gilt für reguläre Borelmaße µ, ν ∈<br />
B(Ω) mit µ(E) ≥ ν(E) für alle Borelmengen E ⊂ Ω dann auch, dass I(µ)(u) ≥ I(ν)(u)<br />
für alle u ∈ C 0 (¯Ω) mit u ≥ 0.<br />
Korollar A.18 [Positive Funktionale auf C0 0 (Ω) [2, Übung 4.8] ]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere und offene Menge, und es gebe eine lineare Abbildung T :<br />
C0 0(Ω) → R, so dass T (u) ≥ 0 für alle u ∈ C0 0 (Ω, R +), wobei R + := {x ∈ R : x ≥ 0}. Dann<br />
existiert ein nichtnegatives lokal beschränktes reguläres Borelmaß µ ∈ B(Ω), so dass<br />
∫<br />
T (u) = u(x) dµ(x) für alle u ∈ C0(Ω).<br />
0<br />
Ω<br />
Satz A.19 [Reflexivität]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere offene Menge. Dann sind für q ∈ (1, ∞) die Lebesgue-Räume<br />
L q (Ω) und die Sobolevräume W k,q (Ω), k ∈ N reflexiv. Dagegen sind L 1 (Ω), L ∞ (Ω) nicht<br />
reflexiv. Auch der Raum C 0 (¯Ω) der auf ¯Ω stetigen Funktionen ist nicht reflexiv.<br />
Definition A.20 [Faltung und Dirac-Folge]<br />
Für u ∈ L q (R n ) und ϕ ∈ L 1 (R n ) definiert man die Faltung ϕ ∗ u ∈ L q (R n ) von ϕ mit u<br />
durch<br />
∫<br />
ϕ ∗ u(x) := ϕ(x − y)u(y) dy.<br />
R n<br />
Eine Folge {ϕ k } ⊂ L 1 (R n ) heißt Dirac-Folge, falls<br />
∫<br />
∫<br />
ϕ k ≥ 0, ϕ k (x) dx = 1,<br />
ϕ k (x) dx → 0 für k → ∞ ∀r > 0.<br />
R n<br />
Bemerkung:<br />
eine Dirac-Folge.<br />
R n \B r(0)<br />
(i) Für ϕ ∈ L 1 (R n ) mit ϕ ≥ 0, ∫ R n ϕ(x) dx = 1 bilden die Funktionen<br />
ϕ ε (x) := 1 ( x<br />
)<br />
ε n ϕ , ε > 0,<br />
ε<br />
(ii) Für ϕ ∈ C0 ∞(B 1(0)) ist ϕ ε ∈ C0 ∞(B ε(0)) und damit die Faltung u ε := ϕ ε ∗ u auch für<br />
u ∈ L 1 loc<br />
(Ω) erklärt. Es gelten dann die folgenden Eigenschaften:
123<br />
(a) u ε ∈ C ∞ (Ω ′ ) für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω mit dist(Ω ′ , ∂Ω) > ε.<br />
(b) Falls u ∈ L 1 (Ω), dann ist u ε ∈ C ∞ (R n ), wenn u ≡ 0 auf R n \ Ω gesetzt wird.<br />
(c) Falls supp u ⊂⊂ Ω, dann ist u ε ∈ C0 ∞ (Ω) für alle ε < dist(supp u, ∂Ω).<br />
(d) Für die charakteristische Funktion u := χ Ω ′′ 1 mit Ω ′ ⊂⊂ Ω ′′ ⊂⊂ Ω und<br />
ε < min{dist(Ω ′ , ∂Ω ′′ ), dist(Ω ′′ , ∂Ω)}<br />
gilt: u ε ∈ C ∞ 0 (Ω), 0 ≤ u ε ≤ 1, und u ε ≡ 1 auf Ω ′ .<br />
Satz A.21 [Approximation durch Faltung [25, Kapitel 7.2]]<br />
Sei Ω ⊂ R n eine nichtleere offene Menge.<br />
(i) Für u ∈ L q loc (Ω), 1 ≤ q < ∞, gilt u ε → u in L q loc (Ω) für ε → 0. Ist Ω = Rn und<br />
u ∈ L q (R n ), 1 ≤ q < ∞, dann hat man die Konvergenz u ε → u in L q (R n ) für ε → 0.<br />
(ii) Für u ∈ C 0 (Ω) und alle Ω ′ ⊂⊂ Ω gilt u ε → u in C 0 (Ω ′ ) für ε → 0.<br />
(iii) Für u ∈ C k,α (Ω), 0 < β < α ≤ 1, k ∈ N ∪ {0} gilt u ε → u für ε → 0 in C k,β (Ω ′ ) für<br />
alle Ω ′ ⊂⊂ Ω. Zusätzlich gilt für alle Ω ′ ⊂⊂ Ω ′′ ⊂⊂ Ω die Abschätzung<br />
‖u ε ‖ C k,α (Ω ′ ) ≤ ‖u‖ C k,α (Ω ′′ ) für ε < dist(Ω′ , ∂Ω ′′ ).<br />
Korollar A.22<br />
Der Raum C ∞ 0 (Ω) liegt dicht in Lq (Ω) für alle 1 ≤ q < ∞, d.h. zu einer Funktion u ∈ L q (Ω)<br />
und σ > 0 gibt es eine Funktion u σ ∈ C ∞ 0 (Ω), so dass ‖u − u σ‖ L q (Ω) < σ. Für q = ∞ ist<br />
diese Aussage nicht richtig.<br />
1 Die charakteristische Funktion χ A einer Menge A ist definiert durch χ A(x) = 1, falls x ∈ A, und<br />
χ A(x) = 0, falls x ∉ A.
124 ANHANG A. RESULTATE AUS DER FUNKTIONALANALYSIS
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Index<br />
1-Graph<br />
-einer Funktion, 1<br />
Abbildung<br />
-beschränkte lineare, 117<br />
-invertierbare lineare stetige, 118<br />
-isometrische lineare stetige, 118<br />
-kompakte lineare stetige, 118<br />
-lineare, 117<br />
-stetige lineare, 117<br />
Ableitung<br />
-schwache, 48<br />
absolutstetige Mengenfunktion, 66<br />
Approximation durch Faltung, 123<br />
Ausschöpfung<br />
-einer offenen Menge, 55<br />
Banachraum, 117<br />
-reflexiver, 118<br />
beschränkte lineare Abbildung, 117<br />
beschränkter linearer Operator, 117<br />
Bewegungsgleichung<br />
-von Newton, 5, 11<br />
Bogen-Sehnen-Bedingung, 32<br />
Bogenlänge, 7<br />
Bogenlängenparametrisierung, 7<br />
Borelmaße, 122<br />
Borelmengen, 122<br />
Carathèodory-Funktion, 71, 78, 100<br />
Cartan-Funktional, 69, 78, 91, 103<br />
dicht, 117<br />
Differentialgleichung<br />
-partielle, 92<br />
-quasilinear, 5<br />
-Sturm-Liouville Typ, 5<br />
Differenzenquotient<br />
-von Sobolevfunktionen, 54<br />
Dirac-Folge, 122<br />
direkte Methode, 47, 72<br />
Dirichlet<br />
Dirichlet<br />
-Energie, 47<br />
Dirichletintegral, 103<br />
diskrete partielle Integration, 56<br />
Divergenzsatz von Gauß, 92<br />
Dominanzfunktionen, 91<br />
Douglas<br />
-Bedingung, 25<br />
-Problem, 25<br />
Dualraum, 117<br />
DuBois-Reymond<br />
-Gleichung, 8<br />
-Lemma von, 8<br />
Eigenfunktion, 21<br />
Eigenwert, 21<br />
Eigenwertproblem<br />
-Sturm-Liouville, 21<br />
Eikonal-Gleichung, 88<br />
Einbettung<br />
-kompakt, 118<br />
-kompakte, 59<br />
-lineare stetige, 118<br />
-stetige, 58<br />
Einbettungssatz<br />
-von Morrey, 58<br />
-von Sobolev, 58<br />
Einheitsnormalenvektor, 6<br />
Einheitstangente, 6<br />
Eins-Graph<br />
-einer Funktion, 1<br />
elastischer Balken, 26<br />
elastischer Faden, 25<br />
Elliptizität, 106<br />
Erdmann-Gleichung, 15<br />
Erhaltungssatz, 11<br />
erste (äußere) Variation, 2<br />
I
II<br />
INDEX<br />
Euler-Lagrange<br />
-Gleichung, 42<br />
Euler-Lagrange-Gleichung, 4<br />
Extremale<br />
-F-, 7<br />
-schwache, 2<br />
Fadenproblem, 28<br />
Faltung, 50, 122<br />
Faltungskern, 50<br />
Finslersche Mannigfaltigkeit, 82<br />
Fischer-Riesz<br />
-Satz von, 121<br />
Flächenformel, 61<br />
Flächenfunktional, 103<br />
folgenabgeschlossen<br />
-schwach, 119<br />
folgenkompakt<br />
-schwach, 119<br />
schwach ∗ , 119<br />
Frenet-Gleichungen, 7<br />
Fundamentallemma, 3<br />
-erweitertes, 3<br />
Funktion<br />
-Carathèodory-, 71, 78, 100<br />
-Hölderstetige, 120<br />
-Lipschitzstetige, 120<br />
Funktional<br />
-Relaxation des, 101<br />
-lineares, 117<br />
-parametrisches, 6, 103<br />
-Cartan, 69, 78, 91, 103<br />
Funktionen<br />
-Sobolev-, 48<br />
Gauß-Bonnet<br />
-Satz von, 92<br />
Gauß<br />
-Divergenzsatz von, 92<br />
Gauß-Krümmung, 91<br />
geometrische Randwertprobleme<br />
-höherer Ordnung, 28<br />
gewichtetes Längenfunktional, 6<br />
gleichmäßig absolutstetige Mengenfunktionen,<br />
66<br />
hängende Kette, 23<br />
Hamilton<br />
-Funktion, 35<br />
Hamilton<br />
-Gleichungen, 35<br />
harmonische Abbildungen, 82<br />
Hilbertraum, 117<br />
Hölderkonstante, 120<br />
Hölderraum, 120<br />
Hölderstetigkeit, 120<br />
Hölderungleichung, 121<br />
homogen, 16<br />
Impulsvariable, 44<br />
innere Variation, 13<br />
Integration<br />
-diskrete partielle, 56<br />
invertierbare lineare stetige Abbildung, 118<br />
Isometrie, 118<br />
isometrische lineare stetige Abbildung, 118<br />
Isomorphismus<br />
-stetiger, 118<br />
isotop, 32<br />
Isotopie, 32<br />
Isotopieklassen, 28<br />
Katenoid, 25<br />
Kettenlinie, 25<br />
Kettenregel<br />
-für Sobolevfunktionen, 59<br />
Knotenklassen, 28<br />
kompakte Einbettung, 59, 118<br />
kompakte lineare stetige Abbildung, 118<br />
konforme<br />
-Metrik, 91<br />
-Parametrisierung, 35, 103<br />
-von Flächen, 17<br />
konforme Geometrie, 91<br />
konforme Parametrisierung, 104<br />
konjugierter Exponent, 121<br />
Konvergenz<br />
-schwache, 73, 118<br />
schwach ∗ , 118<br />
-starke, 119<br />
konvex<br />
-uniform, 104, 117<br />
konvexe Einhüllende, 89<br />
Krümmungsgleichung
INDEX<br />
III<br />
-für Extremalen gewichteter Längenfunktionale,<br />
6<br />
Krümmungsenergie, 28<br />
Längenfunktional<br />
-gewichtetes, 6<br />
-nicht-parametrisches, 6<br />
-parametrisches, 18<br />
Lagrange<br />
-Funktion, 1<br />
-Multiplikator<br />
-Regel, 19<br />
-Ungleichung, 28<br />
Laplace-Beltrami-Operator, 92<br />
Lavrentiev-Phanomen, 100<br />
-Ausschluss des, 101<br />
Lebesgueraum, 120<br />
Lebesgue-Punkt, 121<br />
Legendre<br />
-Transformation, 35<br />
lineare Abbildung, 117<br />
lineare Funktionale, 117<br />
Lipschitzkonstante, 120<br />
Lipschitzstetigkeit, 120<br />
lokaler Minimierer, 2<br />
L q -Raum, 120<br />
Lusineigenschaft, 61<br />
Mannigfaltigkeit<br />
-Finslersche, 82<br />
-Riemannsche, 82<br />
Menge<br />
-singuläre, 113<br />
Mengenfunktion<br />
-absolutstetig, 66<br />
Minimalflächen, 28<br />
Minimalflächen, 91<br />
Minimalfläche<br />
-rotationssymmetrische, 25<br />
Minimalfolge, 47, 72<br />
Minimierer<br />
-lokaler, 2<br />
Morreyscher Einbettungssatz, 58<br />
natürliche Randbedingungen, 9<br />
Newton<br />
-Bewegungsgleichung, 43<br />
Newtonsche Bewegungsgleichung, 5, 11<br />
nicht-parametrisches Längenfunktional, 6<br />
Noether-Gleichung, 15<br />
Norm<br />
-Operator-, 117<br />
-Supremums-, 120<br />
Normalenvektor<br />
-Einheits-, 6<br />
Operator<br />
-beschränkter linearer, 117<br />
Operatornorm, 117<br />
Parametervariation<br />
-zulässige, 13<br />
parametrische Funktionale, 6<br />
parametrische Variationsprobleme, 25, 103<br />
parametrisches Funktional, 103<br />
parametrisches Längenfunktional, 18<br />
Parametrisierung<br />
-konform, 104<br />
-konforme von Flächen, 17<br />
partielle Differentialgleichung, 92<br />
Partielle Integration<br />
-diskret, 56<br />
partielle Regularität<br />
-Satz von Tonelli über, 114<br />
partielle Regularität<br />
- von Minimierern, 113<br />
Perron<br />
-Methode von, 100<br />
Plateau<br />
-verallgemeinertes Problem von, 25<br />
Poincaré-Ungleichung, 59<br />
Polykonvexität, 73<br />
polynomiales Wachstum, 101, 106<br />
Produktregel<br />
-für Sobolevfunktionen, 59<br />
Profilkurve, 25<br />
q-harmonische Abbildungen, 82<br />
quasikonvex, 73<br />
Quasikonvexität, 73<br />
quasilineare<br />
-Differentialgleichung, 5<br />
Randbedingungen<br />
-natürliche, 9<br />
Randwerte
IV<br />
INDEX<br />
-schwache, 48<br />
reflexiver Banachraum, 118<br />
reguläre Kurve, 17<br />
Regularitätstheorie, 105<br />
Regularität<br />
- partielle von Minimierern, 113<br />
Regularität<br />
-partielle, 114<br />
Relaxation des Funktionals, 101<br />
Riemannsche Mannigfaltigkeit, 82<br />
Rotationsfläche, 25<br />
Rudin, 121<br />
Satz<br />
-von Gauß-Bonnet, 92<br />
Satz von<br />
- Fischer-Riesz, 121<br />
- Tonelli, Unterhalbstetigkeits-, 78<br />
schwach folgenabgeschlossen, 119<br />
schwach folgenkompakt, 119<br />
schwach stetig, 77<br />
schwache<br />
-F-Extremale, 2<br />
schwache Ableitung, 48<br />
schwache Extremale, 2<br />
schwache Konvergenz, 73, 118<br />
schwache Nullrandwerte, 48<br />
schwache Topologie<br />
-in Sobolevräumen, 73<br />
schwach ∗ folgenkompakt, 119<br />
schwach ∗ Konvergenz, 118<br />
separabel, 117<br />
singuläre Menge, 113<br />
Singularitäten, 105<br />
Sobolevfunktionen, 48<br />
Sobolevraum, 32<br />
Sobolevscher Einbettungssatz, 58<br />
starke Konvergenz, 119<br />
stetig<br />
-schwach, 77<br />
stetige Einbettung, 58<br />
stetige lineare Abbildung, 117<br />
stetiger Isomorphismus, 118<br />
Stützgerade, 21<br />
Stützmannigfaltigkeit, 10<br />
Sturm-Liouville<br />
-Differentialgleichung, 5<br />
-Eigenwertproblem, 21<br />
superlineares Wachstum, 82, 113<br />
Supremumsnorm, 120<br />
Tangente<br />
-Einheits-, 6<br />
Tonelli<br />
-Satz uber partielle Regularitat, 114<br />
-Unterhalbstetigkeitssatz von, 78<br />
Träger<br />
-einer Funktion, 2<br />
Ungleichung<br />
-Lagrange-Multiplikator-, 28<br />
uniform konvex, 104, 117<br />
Unterhalbstetigkeit, 72, 73<br />
-schwache, 73<br />
Unterhalbstetigkeitssatz<br />
-von Tonelli, 78<br />
Variation<br />
-erste, 2<br />
-innere, 13<br />
-zulässige innere, 13<br />
Variationsansatz, 93<br />
Variationsprobleme<br />
-parametrische, 103<br />
Variationsvektorfeld, 13<br />
Volumennebenbedingung, 28<br />
Wachstum<br />
-superlineares, 113<br />
Weierstraß<br />
-Approximationssatz von, 121<br />
-Beispiel von, 83<br />
Willmore<br />
-Funktional, 25<br />
Wirkungsfunktional, 5, 35