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Peter Huchel Dezember 1942 (14 V.) Ernst Jandl Schützengraben ...

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<strong>Peter</strong> <strong>Huchel</strong><br />

<strong>Dezember</strong> <strong>1942</strong> (<strong>14</strong> V.)<br />

<strong>Ernst</strong> <strong>Jandl</strong><br />

<strong>Schützengraben</strong> (35)<br />

Günter Eich<br />

Inventur (28)<br />

Hans Magnus Enzensberger<br />

ins lesebuch für die oberstufe (16)<br />

Ingeborg Bachmann<br />

Alle Tage (20)<br />

Hilde Domin<br />

Auf der andern Seite des Monds (22)<br />

Reiner Kunze<br />

Die Liebe (29)<br />

Christoph Meckel<br />

Andere Erde (16)<br />

Rudolf Hägni<br />

Schwyzertüütsch (20)<br />

<strong>Ernst</strong> Eggimann<br />

psalm 22 (20)


<strong>Peter</strong> <strong>Huchel</strong><br />

[1903-1981]<br />

<strong>Dezember</strong>
<strong>1942</strong>
<br />

Wie Wintergewitter ein rollender Hall.<br />

Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall.<br />

Es liegt die Maria erschlagen vorm Tor,<br />

Ihr blutig Haar an die Steine fror.<br />

Drei Landser ziehen vermummt vorbei.<br />

Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei.<br />

Im Beutel den letzten Sonnblumenkern,<br />

Sie suchen den Weg und sehn keinen Stern.<br />

Aurum, thus, myrrham offerunt …<br />

Um kahles Gehöft streicht Krähe und Hund.<br />

… quia natus est nobis Dominus.<br />

Auf fahlem Gerippe glänzt Öl und Russ.<br />

Vor Stalingrad verweht die Chaussee.<br />

Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.


<strong>Ernst</strong> <strong>Jandl</strong><br />

[1925-2000]<br />

schtzngrmm<br />

schtzngrmm<br />

t-t-t-t<br />

t-t-t-t<br />

grrrmmmmm<br />

t-t-t-t<br />

s--------c--------h<br />

tzngrmm<br />

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tzgrmm<br />

grrmmmmm<br />

schtzn<br />

schtzn<br />

t-t-t-t<br />

t-t-t-t<br />

schtzngrmm<br />

schtzngrmm<br />

tssssssssssssssssssss<br />

grrt<br />

grrrrrt<br />

grrrrrrrrrt<br />

scht<br />

scht<br />

t-t-t-t-t-t-t-t-t-t<br />

scht<br />

tzngrmm<br />

tzngrmm<br />

t-t-t-t-t-t-t-t-t-t<br />

scht<br />

scht<br />

scht<br />

scht<br />

scht<br />

grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr<br />

t-tt


Günter Eich<br />

[1907-1972]<br />

Inventur<br />

Dies ist meine Mütze,<br />

dies ist mein Mantel,<br />

hier mein Rasierzeug<br />

im Beutel aus Leinen.<br />

Konservenbüchse:<br />

Mein Teller, mein Becher,<br />

ich hab in das Weissblech<br />

den Namen geritzt.<br />

Geritzt hier mit diesem<br />

kostbaren Nagel,<br />

den vor begehrlichen<br />

Augen ich berge.<br />

Im Brotbeutel sind<br />

ein Paar wollene Socken<br />

und einiges, was ich<br />

niemand verrate,<br />

so dient es als Kissen<br />

nachts meinem Kopf.<br />

Die Pappe hier liegt<br />

zwischen mir und der Erde.<br />

Die Bleistiftmine<br />

lieb ich am meisten:<br />

Tags schreibt sie mir Verse,<br />

die nachts ich erdacht.<br />

Dies ist mein Notizbuch,<br />

dies meine Zeltbahn,<br />

dies ist mein Handtuch,<br />

dies ist mein Zwirn.


Hans Magnus Enzensberger<br />

[geb. 1929]<br />

ins lesebuch für die oberstufe<br />

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:<br />

sie sind genauer. roll die seekarten auf,<br />

eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.<br />

der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor<br />

schlagen und malen den neinsagern auf die brust<br />

zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:<br />

das viertel wechseln, den pass, das gesicht.<br />

versteh dich auf den kleinen verrat,<br />

die tägliche schmutzige rettung. nützlich<br />

sind die enzykliken zum feueranzünden,<br />

die manifeste: butter einzuwickeln und salz<br />

für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,<br />

in die lungen der macht zu blasen<br />

den feinen tödlichen staub, gemahlen<br />

von denen, die viel gelernt haben,<br />

die genau sind, von dir.


Ingeborg Bachmann<br />

[1926-1973]<br />

Alle Tage<br />

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,<br />

sondern fortgesetzt. Das Unerhörte<br />

ist alltäglich geworden. Der Held<br />

bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache<br />

ist in die Feuerzonen gerückt.<br />

Die Uniform des Tages ist die Geduld,<br />

die Auszeichnung der armselige Stern<br />

der Hoffnung über dem Herzen.<br />

Er wird verliehen,<br />

wenn nichts mehr geschieht,<br />

wenn das Trommelfeuer verstummt,<br />

wenn der Feind unsichtbar geworden ist<br />

und der Schatten ewiger Rüstung<br />

den Himmel bedeckt.<br />

Er wird verliehen<br />

für die Flucht von den Fahnen,<br />

für die Tapferkeit vor dem Freund,<br />

für den Verrat unwürdiger Geheimnisse<br />

und die Nichtachtung<br />

jeglichen Befehls.


Hilde Domin<br />

[1909-2006]<br />

Auf der andern Seite des Monds<br />

Auf der andern Seite des Monds<br />

gehen<br />

in goldene Kleider gehüllt<br />

deine wirklichen Tage<br />

sie wohnen<br />

wie sonst du<br />

in Helle<br />

verscheucht von hier<br />

weggescheucht<br />

wandeln sie dort<br />

du weisst es sind deine.<br />

Du aber empfängst<br />

Morgen nach Morgen<br />

ihre Stellvertreter:<br />

fremder<br />

als jedes fremde Land.<br />

Du weisst<br />

die deinen<br />

wandeln in Helle<br />

sie ziehen Tag um Tag<br />

neben dir her<br />

nur auf der andern Seite des Monds.


Reiner Kunze<br />

[geb. 1933]<br />

Die Liebe<br />

Die liebe<br />

ist eine wilde rose in uns<br />

Sie schlägt ihre wurzeln<br />

in den augen,<br />

wenn sie dem blick des geliebten begegnen<br />

Sie schlägt ihre wurzeln<br />

in den wangen,<br />

wenn sie den hauch des geliebten spüren<br />

Sie schlägt ihre wurzeln<br />

in der haut des armes,<br />

wenn ihn die hand des geliebten berührt<br />

Sie schlägt ihre wurzeln,<br />

wächst wuchert<br />

und eines abends<br />

oder eines morgens<br />

fühlen wir nur:<br />

sie verlangt<br />

raum in uns<br />

Die liebe<br />

ist eine wilde rose in uns,<br />

unerforschbar vom verstand<br />

und ihm nicht untertan<br />

Aber der verstand<br />

ist ein messer in uns<br />

Der verstand<br />

ist ein messer in uns,<br />

zu schneiden der rose<br />

durch hundert zweige<br />

einen himmel


Christoph Meckel<br />

[geb. 1935]<br />

Andere Erde<br />

Wenn erst die Bäume gezählt sind und das Laub<br />

Blatt für Blatt auf die Ämter gebracht wird<br />

werden wir wissen, was die Erde wert war.<br />

Einzutauchen in Flüsse voll Wasser<br />

und Kirschen zu ernten an einem Morgen im Juni<br />

wird ein Privileg sein, nicht für Viele.<br />

Gerne werden wir uns der verbrauchten Welt<br />

erinnern, als die Zeit sich vermischte<br />

mit Monstern und Engeln, als der Himmel<br />

ein offener Abzug war für den Rauch<br />

und Vögel in Schwärmen über die Autobahn flogen<br />

(wir standen im Garten, und unsere Gespräche<br />

hielten die Zeit zurück, das Sterben der Bäume<br />

flüchtige Legenden von Nesselkraut).<br />

Shut up. Eine andere Erde, ein anderes Haus.<br />

(Ein Habichtflügel im Schrank. Ein Blatt. Ein Wasser.)


Rudolf Hägni<br />

[1888-1956]<br />

Schwyzertüütsch<br />

Die Spraach findt nüd vill Gnaad bin Groosse,<br />

si heb de Staalgruch na am Gwand<br />

und polderi, wie wänn en Waage<br />

dethäär chömm dussen uf em Land.<br />

Si wüüsi nüüd vo fyne Tööne<br />

und heb Maniere wien en Puur,<br />

hämpeermlig göng si uf d Wisyte,<br />

vo Bruuch und Aastand e kä Spuur!<br />

S ischt waar, si cha si nüd verstele,<br />

si redt graad use, frisch und frey<br />

und gid au jedem de rächt Name,<br />

Umwääg und Ränk macht si ekei.<br />

Si chund au nüd uf Stöcklischuene<br />

und häd nüüd uf em Noobel-tue<br />

Si frööget nüd lang: „Isches gfelig?“<br />

seid „grüezi“, und sitzt eifach zue.<br />

Nu häd si öppis i den Auge,<br />

es mues es jedes Chind verstaa -<br />

es ischt mer grad, my Mueter sälig<br />

lueg mi so lieb und früntli aa.


<strong>Ernst</strong> Eggimann<br />

[geb. 1936]<br />

psalm 22<br />

es gibt keine zeichen mehr von dir<br />

im himmel im holz in den stirnen<br />

keine schönen geschichten die wir glauben<br />

in denen du engel schickst und sintfluten<br />

flammende schwerter plagen posaunen<br />

wo du mit leuten redest im traum<br />

und der riese goliath fällt auf die stirn<br />

und daniel kommt heil aus der gaskammer<br />

man sagt du seist weg<br />

kümmerst dich nicht mehr um uns<br />

du hast deinen sohn ans kreuz geschlagen<br />

eine kirche gegründet<br />

seitdem bist du weg und<br />

wir brauchen dich nicht<br />

keiner ruft dich<br />

wer dich ruft erwartet nicht dass du ihn hörst<br />

keiner ruft leise genug<br />

keiner klopft an und wird aufgetan<br />

es gibt weder himmel noch hölle<br />

die türe ist offen

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