Fachgebundene Psychotherapie in der ... - Dr. med. Iris Veit
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Herrmann, <strong>Veit</strong>:<br />
<strong>Fachgebundene</strong> <strong>Psychotherapie</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong><strong>med</strong>iz<strong>in</strong><br />
Specialty-Related Psychotherapy <strong>in</strong> Primary Care<br />
35<br />
den Ausbildungs<strong>in</strong>halten und -strukturen<br />
<strong>der</strong> Antrags- und Richtl<strong>in</strong>ienpsychotherapie<br />
und den spezifischen Therapieschulen,<br />
ohne die Beson<strong>der</strong>heiten hausärztlicher<br />
Mediz<strong>in</strong> adäquat zu berücksichtigen.<br />
Beson<strong>der</strong>heiten<br />
hausärztlicher Mediz<strong>in</strong> aus<br />
psychodynamischer Sicht<br />
Nach <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft<br />
für Allgeme<strong>in</strong><strong>med</strong>iz<strong>in</strong> und Familien<strong>med</strong>iz<strong>in</strong><br />
(DEGAM) s<strong>in</strong>d Hausärzte<br />
für die Langzeitversorgung gesun<strong>der</strong><br />
und kranker Menschen zuständig. Diese<br />
umfasst präventive, kurative und rehabilitative<br />
Versorgung und hat e<strong>in</strong> spezifisches<br />
methodisches Vorgehen, das<br />
„hermeneutische Fallverständnis“, zur<br />
Voraussetzung. Unter Berücksichtigung<br />
somatischer, psychosozialer, soziokultureller<br />
und ökologischer Aspekte ist bei<br />
<strong>der</strong> Interpretation von Symptomen und<br />
Befunden von beson<strong>der</strong>er Bedeutung,<br />
den Patienten, se<strong>in</strong> Krankheitskonzept,<br />
se<strong>in</strong> Umfeld und se<strong>in</strong>e Geschichte zu<br />
würdigen. Diese Interpretationsleistung<br />
wird als spezifische professionelle Handhabung<br />
verstanden, die patientenzentriert,<br />
kontextbezogen („psychosozial“,<br />
„soziokulturell“), biografisch („se<strong>in</strong>e<br />
Geschichte“) und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Interpretationsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
von Arzt und Patient<br />
erfolgt, sodass e<strong>in</strong> fallspezifisches <strong>in</strong>dividuelles<br />
Ergebnis daraus hervorgeht. Als<br />
e<strong>in</strong> komplexes Geschehen stellt es hohe<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen an alle Beteiligte. Hausarzt-Mediz<strong>in</strong><br />
muss daher als e<strong>in</strong>e Kette<br />
<strong>in</strong>terpretativer, hermeneutischer Handlungen<br />
und somit als e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />
Verständnis zwischen Arzt und Patient<br />
begriffen werden [10, 11]. So kann es <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> hausärztlichen Behandlung wie an<br />
e<strong>in</strong>em Fallbericht ausführlich dargelegt<br />
[12] zur Wie<strong>der</strong>holung <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit<br />
erlebter Traumata und Entbehrungen<br />
kommen. Im Unterschied zu den oft engen<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Fachpsychotherapie,<br />
vor allem im klassisch<br />
analytischen Sett<strong>in</strong>g mit Anspruch von<br />
Abst<strong>in</strong>enz und Neutralität, bestimmen<br />
den hausärztlichen Kontext Verwicklungen<br />
und E<strong>in</strong>lassungen die Beziehungsgestaltung.<br />
Sie s<strong>in</strong>d bed<strong>in</strong>gt durch<br />
Verordnungen, körperliche Untersuchungen,<br />
Hausbesuche, Mitbehandlung<br />
von Angehörigen, Attestierungen<br />
mit <strong>der</strong> Gewährung von Sozialleistungen,<br />
aber auch durch private Kontakte<br />
und persönliche Mitteilungen. Im Unterschied<br />
zur Fachpsychotherapie spielt<br />
aufgrund <strong>der</strong> ständigen Verwicklungsmöglichkeiten<br />
das <strong>in</strong>tersubjektive, hermeneutische<br />
Geschehen e<strong>in</strong>e herausragende<br />
Rolle.<br />
Neuere Entwicklungen <strong>in</strong> den psychodynamischen<br />
Theorien unterstützen<br />
diese Auffassung und betonen das<br />
<strong>in</strong>tersubjektive Geschehen zwischen<br />
Arzt und Patient. So hat die Säugl<strong>in</strong>gsforschung<br />
Belege geliefert, dass sich Körper<br />
und Geist von Anfang an im kommunikativen<br />
Austausch mit den Eltern<br />
entwickeln [13]. Die B<strong>in</strong>dungsforschung<br />
zeigt, dass sich bereits bis zum<br />
Ende des ersten Lebensjahres e<strong>in</strong> B<strong>in</strong>dungsmuster<br />
entwickelt, das im weiteren<br />
Leben konstant bleibt und als<br />
Muster die Beziehungsgestaltung zu an<strong>der</strong>en<br />
Menschen bestimmt [14]. Auch<br />
zwischen Arzt und Patient wird dieses<br />
Muster wahrnehmbar. Es werden Wahrnehmungen<br />
ausgetauscht, ohne dass<br />
e<strong>in</strong> Gewahr werden o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong> sprachlich<br />
formuliertes Bewusstse<strong>in</strong> davon<br />
entstehen muss. Der Therapeut „fungiert<br />
als Conta<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> die nichtverbale<br />
und nichtwahrgenommene Kommunikation<br />
des Patienten aufnimmt und e<strong>in</strong>er<br />
Transformation unterzieht“ [15].<br />
Damit wird neben Deutung und Beziehung<br />
zunehmend das Pr<strong>in</strong>zip des Handlungsdialogs<br />
(Enactment) als e<strong>in</strong>e Abfolge<br />
wechselseitigen Handelns und Behandelns<br />
zwischen Therapeut und Patient<br />
bedeutsam [16]. Die Intersubjektivitätsdebatte<br />
knüpft so an frühere Ansätze<br />
e<strong>in</strong>er „Zwei-Personen-Psychologie“<br />
im S<strong>in</strong>ne Bal<strong>in</strong>ts an.<br />
Der Therapeut ist nicht mehr länger<br />
unabhängiger Beobachter, <strong>der</strong> die Bedeutung<br />
des seelischen Materials dekodiert<br />
und wie e<strong>in</strong> Schiedsrichter zu entscheiden<br />
hat, was im Verhalten des Patienten<br />
verzerrende Übertragung und<br />
was <strong>der</strong> Realität angemessen ist. Der italienische<br />
Psychoanalytiker Ferro spricht<br />
vom bipersonalen Feld, <strong>in</strong> dem Therapeut<br />
und Patient e<strong>in</strong> unentwirrbar verbundenes<br />
Paar bilden, das nur geme<strong>in</strong>sam<br />
verstanden werden kann [17]. Anstelle<br />
des Fokus auf bewusste und unbewusste<br />
Auswirkungen von Biografie und<br />
äußeren Beziehungen rücken für Ferro<br />
das Geschehen und die Narration zwischen<br />
Therapeut und Patient <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund.<br />
In <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong><strong>med</strong>iz<strong>in</strong><br />
würden wir dies als hermeneutisches<br />
Fallverständnis auffassen, was wir allerd<strong>in</strong>gs<br />
bislang wenig konzeptionalisiert<br />
o<strong>der</strong> gar empirisch erforscht haben.<br />
Schon Bal<strong>in</strong>t betont die beson<strong>der</strong>e psychische<br />
Atmosphäre <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>praxis,<br />
ihre Nie<strong>der</strong>schwelligkeit und das<br />
multiple Rollenangebot: „Wenn die psychotherapeutische<br />
Beziehung abbricht,<br />
verwandelt er sich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Praktiker;<br />
später wird er wie<strong>der</strong> Psychotherapeut,<br />
noch e<strong>in</strong>mal Doktor, dann sogar<br />
Geburtshelfer – <strong>der</strong> als solcher <strong>in</strong>time<br />
Kontakte mit se<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> hat, die e<strong>in</strong>em<br />
Psychiater unmöglich wären – und<br />
schließlich verwandelt er sich <strong>in</strong> den<br />
Freund <strong>der</strong> Familie“ [18].<br />
Diese <strong>in</strong>tersubjektive Perspektive <strong>in</strong>nerhalb<br />
<strong>der</strong> psychodynamischen Theorie<br />
eröffnet die Möglichkeit, das <strong>in</strong>teraktionelle<br />
Feld <strong>der</strong> hausärztlichen „Begegnung“<br />
konzeptionell <strong>in</strong> den Fokus zu<br />
nehmen. Dem Patienten unbewusst<br />
bleibende Beziehungsmuster können<br />
seitens des Arztes <strong>in</strong> vielfältigen Szenen<br />
wahrgenommen und als solche verstanden<br />
werden.<br />
Was ist das Beson<strong>der</strong>e des hausärztlichen<br />
Sett<strong>in</strong>gs? Es ist<br />
• die Nie<strong>der</strong>schwelligkeit des Zugangs,<br />
• <strong>der</strong> E<strong>in</strong>bezug des Körpers,<br />
• die Mitbehandlung des Umfeldes, <strong>in</strong><br />
dem <strong>der</strong> Patient lebt,<br />
• das multiple hausärztliche Rollenangebot<br />
(Berater, Begleiter, Untersucher,<br />
Tröster, Steuerer, Behandler,<br />
Motivator und Mo<strong>der</strong>ator)<br />
• und das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Behandler-Teams.<br />
Diese Beson<strong>der</strong>heiten machen e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
von Verwicklungen zwischen Arzt<br />
und Patient möglich. Sie können z.B. als<br />
Handlungsdialog reflektiert werden. Erlebte<br />
Anamnese und Gegenübertragung<br />
– besser sollte von „erlebter subjektiver<br />
Co-Übertragung“ gesprochen werden –<br />
können für die Reflexion und Analyse<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es hermeneutischen Fallverständnisses<br />
fruchtbar se<strong>in</strong>. Mittels<br />
vorsichtiger Konfrontation kann e<strong>in</strong>e<br />
Verantwortungsübernahme ermöglicht<br />
und heilsame Erfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />
gemacht werden.<br />
Auf <strong>der</strong> Versorgungsebene dient <strong>der</strong> Reflexionsprozess<br />
dazu, negative Auswirkungen<br />
dysfunktionaler Beziehungsmuster<br />
<strong>in</strong> Diagnostik und Therapie zu<br />
vermeiden und e<strong>in</strong>e anteilnehmende,<br />
sorgende Beziehung aufrechtzuerhalten,<br />
die alle<strong>in</strong> schon hilfreich se<strong>in</strong> kann.<br />
© Deutscher Ärzte-Verlag | ZFA | Z Allg Med | 2013; 89 (1) ■