Individuelles Hilfeerfassungssystem - ISG
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E RLÄUTERUNGEN<br />
ZUR I NDIVIDUELLEN H ILFEPLANUNG<br />
IN R HEINLAND-PFALZ<br />
(Dezember 2002)<br />
Autor/innen:<br />
Dr. Heike Engel, <strong>ISG</strong> Köln - Sozialforschung und Gesellschaftspolitik<br />
Thomas Schmitt-Schäfer, transfer – Unternehmen für soziale Innovation, Wittlich<br />
INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP<br />
HANDBUCH (Dezember 2002)
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Individuelle Hilfeplanung im Kontext aktueller Entwicklungen in der Behindertenhilfe .................. 3<br />
2. Individuelle Hilfeplanung im Licht gesetzlicher Regelungen ........................................................ 5<br />
2.1. Die Umsetzung des § 93 BSHG.......................................................................................... 5<br />
2.2. Vereinbarungen zur Umsetzung des § 93 Absatz 2 des Bundessozialhilfegesetzes in<br />
Rheinland-Pfalz ................................................................................................................6<br />
2.3. Individuelle Hilfeplanung in der beruflichen Wiedereingliederung, der Unterstützung von<br />
Menschen in Heimen sowie in der Kinder- und Jugendhilfe.................................................. 8<br />
2.4. Individuelle Hilfeplanung und Gesamtplanung nach dem BSHG ........................................... 9<br />
3. Was ist Hilfeplanung? ............................................................................................................ 10<br />
3.1. Planungselemente .......................................................................................................... 10<br />
3.2. Ziele und Maßnahmen..................................................................................................... 11<br />
3.3. Individuelle Hilfeplanung als Prozess................................................................................ 12<br />
4. Grundhaltung und Vorgehensweise ........................................................................................ 15<br />
4.1. „Verhandeln statt Behandeln“ oder von der Betreuung zur Begleitung .............................. 15<br />
4.1.1. ... mit minderjährigen Kindern ...................................................................................... 16<br />
4.1.2. ... mit schwerst- und mehrfachbehinderten Menschen.................................................... 17<br />
4.2. Ressourcenorientierung und Lebenswelt .......................................................................... 17<br />
5. Anhang................................................................................................................................. 19<br />
5.1. Abbildungsverzeichnis..................................................................................................... 19<br />
5.2. Tabellenverzeichnis......................................................................................................... 19<br />
5.3. Register ......................................................................................................................... 19<br />
<br />
2<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
1. Individuelle Hilfeplanung im Kontext aktueller<br />
Entwicklungen in der Behindertenhilfe<br />
Das neue Verfahren integrierter Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz ist Ausdruck eines tiefgreifenden und<br />
schon länger laufenden Umorientierungsprozesses in der Behindertenhilfe. Von einem veränderten<br />
Selbstverständnis behinderter Menschen, die nicht länger ihre Behinderung, sondern die Möglichkeiten<br />
ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung sehen wollen. Es geht um<br />
die Gleichstellung behinderter Menschen, die Beseitigung von Barrieren und Zugangsschwellen, um die<br />
Anerkennung der Verschiedenartigkeit von Menschen auf der Grundlage gleicher Rechte. Dieser Paradigmenwechsel<br />
findet seinen Ausdruck beispielsweise in der Neudefinition des Behinderungsbegriffes<br />
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit,<br />
Behinderung und Gesundheit (ICF) und im neuen Sozialgesetzbuch IX zu „Rehabilitation und Teilhabe<br />
behinderter Menschen“, das in Deutschland am 01 Juli 2001 in Kraft getreten ist oder auch im „Europäischen<br />
Jahres für behinderte Menschen“, das in 2003 begangen wird. In einer „Deklaration von Madrid“,<br />
haben sich hierzu 600 Menschen mit Behinderungen geäußert:<br />
„So wie viele andere Regionen in der Welt hat die Europäische Union einen langen Weg während<br />
der letzten Dekade zurückgelegt: von der Philosophie der Bevormundung behinderter<br />
Menschen zu dem Versuch, sie zu befähigen, die Kontrolle über ihr eigenes Leben auszuüben.<br />
Die alten Einstellungen, die weitgehend auf Mitleid und Hilflosigkeit behinderter Menschen begründet<br />
waren, gelten nun als unakzeptabel. Die Handlung verlagert sich von der Betonung<br />
der Rehabilitation des Individuums, damit es in die Gesellschaft „passt“, zu einer umfassenden<br />
Philosophie der sich verändernden Gesellschaft, die den Bedarf von allen Personen einschließt<br />
und berücksichtigt, einschließlich der Menschen mit Behinderungen“. 1<br />
Dieser neue Ansatz ist durch die folgenden Kernpunkte gekennzeichnet:<br />
♦<br />
♦<br />
♦<br />
♦<br />
Die Selbstbestimmung behinderter Menschen rückt in den Mittelpunkt. Dazu gehört die weit gehende<br />
Wahlmöglichkeit angestrebter Lebensformen genauso wie die Bestimmung über die dazu<br />
erforderlichen Hilfen.<br />
Hilfen werden nach Art und Umfang entsprechend dem individuellen Bedarf verfügbar gemacht.<br />
Dies erfordert eine Flexibilisierung der Hilfen.<br />
Vorhandene Lebensbezüge und Ressourcen des persönlichen Umfeldes sollen möglichst erhalten<br />
und gestärkt werden. Dies verlangt eine wohnortnahe Organisation der Hilfen.<br />
Wohnform und Hilfegewährung sollen entkoppelt werden. Niemand soll gezwungen sein, umziehen<br />
zu müssen, um ein anderes Maß an Hilfe zu erhalten. Ebenso soll vermieden werden, dass die<br />
Kontinuität der Bezugspersonen gefährdet wird, weil sich der Hilfebedarf ändert.<br />
1 http://www.behinderten-ratgeber.de/2003/Madrid.pdf<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002) 3
♦<br />
♦<br />
Im Sinne des Normalisierungsprinzips soll auf allgemein zur Verfügung stehende Unterstützungsmöglichkeiten<br />
zurückgegriffen werden und der Einsatz behinderungsspezifischer Hilfen auf das<br />
notwendige Minimum reduziert werden.<br />
Damit Hilfen entsprechend dem individuellen Bedarf erbracht werden können, ist eine verstärkte<br />
Kooperation von Leistungsanbietern und Leistungsträgern notwendig. Durch Methoden des Case<br />
Managements ist sicherzustellen, dass die Hilfen koordiniert und auf den Einzelfall bezogen erbracht<br />
werden.<br />
Zentrales Instrument zur Realisierung dieses neuen Ansatzes ist eine individuelle Hilfeplanung, die<br />
möglichst gemeinsam mit dem betroffenen Menschen in einem Verständigungs- und Verhandlungsprozess<br />
entwickelt wird. Sie orientiert sich nicht am bestehenden Angebot von Leistungserbringern, sondern<br />
daran, was der einzelne Leistungsberechtigte, der Mensch mit einer Behinderung für die Erreichung<br />
seiner Ziele benötigt. Individuelle Hilfeplanung bedeutet, dass alle relevanten Lebensbereiche<br />
(Wohnen und Selbstversorgung, soziale Beziehungen, Arbeit, Ausbildung und Tagesstrukturierung,<br />
Bewältigung von Krankheit und Behinderung) in den Blick genommen werden und ein Hilfebedarf zunächst<br />
unabhängig von den Konzepten konkreter Leistungserbringer oder den Zuständigkeitsregelungen<br />
der Leistungsträger beschrieben wird.<br />
Individuelle Hilfeplanung geht aber über die reine Hilfebedarfsermittlung hinaus, indem sie in einem<br />
Aktionsplan auch die Verantwortlichkeiten für die Leistungserbringung und die Koordination feststellt.<br />
4<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
2. Individuelle Hilfeplanung im Licht gesetzlicher<br />
Regelungen<br />
2.1. Die Umsetzung des § 93 BSHG<br />
Äußerer Anlass für die Entwicklung und Einführung des Instruments zur individuellen Hilfeplanung in<br />
Rheinland-Pfalz war die Neugestaltung der §§ 93 ff BSHG, in denen die Vergütung der Dienste und<br />
Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Pflege und der Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer<br />
Schwierigkeiten geregelt sind. Bereits mit dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli<br />
1996 (BGBl. I S. 1088) wurde das neue Finanzierungssystem für die Zeit nach dem 1. Januar 1999<br />
verbindlich ausgestaltet.<br />
Seitdem gilt (§ 93, Abs. 2):<br />
„ Wird die Leistung von einer Einrichtung erbracht, ist der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme<br />
der Vergütung für die Leistung nur verpflichtet, wenn mit dem Träger der Einrichtung oder<br />
seinem Verband eine Vereinbarung über<br />
1. Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen (Leistungsvereinbarung),<br />
2. die Vergütung, die sich aus Pauschalen und Beträgen für einzelne Leistungsbereiche zusammensetzt<br />
(Vergütungsvereinbarung) und<br />
3. die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen (Prüfungsvereinbarung)<br />
besteht. Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und<br />
Leistungsfähigkeit entsprechen.“<br />
Die Vergütung setzt sich zusammen aus einer Grundpauschale für Unterkunft und Verpflegung (bei<br />
stationären Hilfen), der Maßnahmenpauschale und dem Investitionsbetrag für betriebsnotwendige<br />
Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung.<br />
Die Maßnahmenpauschale wird nach § 93a Abs. 2 BSHG "nach Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem<br />
Hilfebedarf kalkuliert ".<br />
Daraus folgt, dass zukünftig mit der Umsetzung der neuen Regelungen nicht unbedingt alle Hilfeempfänger/innen,<br />
die von einer Einrichtung versorgt werden, das gleiche Angebot erhalten; ebenfalls erhält<br />
der Einrichtungsträger nicht mehr die gleiche Vergütung für alle Betreuten.<br />
Es besteht keine bundeseinheitliche Regelung, in welcher Abstufung und nach welchem Verfahren die<br />
„Gruppen vergleichbaren Hilfebedarfs“ zu bilden sind. Auf Länderebene wurden dazu Rahmenverträge<br />
zwischen den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe, den kommunalen Spitzenverbänden und den Vereinigungen<br />
der Träger der Einrichtungen geschlossen, die Regeln für die auf der Einrichtungsebene<br />
abzuschließenden Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen vorgeben.<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002) 5
2.2. Vereinbarungen zur Umsetzung des § 93 Absatz 2<br />
des Bundessozialhilfegesetzes in Rheinland-Pfalz<br />
In Rheinland-Pfalz wurde am 4. Oktober 2000 eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Grundsätze<br />
und Schritte beschreibt, die innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren zu einem Rahmenvertrag führen<br />
sollen. Darin wurde bestimmt, dass bis zum 30.6.2002 auf der Grundlage des Integrierten Behandlungs-<br />
und Rehabilitationsplanes (IBRP) und des Metzler-Verfahrens ein einheitliches Instrumentarium<br />
zur Erhebung von Hilfen entwickelt werden soll, mit dem<br />
„a) die personenbezogenen Hilfen qualitativ (Art und Inhalt der Leistungen) beschrieben und<br />
quantitativ (Umfang der Leistungen) mit der Maßeinheit „Zeit“ erfasst werden,<br />
b) der Zusammenhang von Hilfebedarf, Leistungskomplexen und Leistungstypen geregelt,<br />
c) die notwendige berufliche Qualifikation zur Erbringung der Leistungskomplexe beschrieben<br />
wird und mit dem<br />
d) eine Grundlage zur Kalkulation der Maßnahmepauschale geschaffen wird.“<br />
Die folgende Skizze soll deutlich machen, welche Veränderungen der Reform des § 93 BSHG erfordert<br />
und welche Besonderheiten den rheinland-pfälzischen Weg der Umsetzung kennzeichnen.<br />
6<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
Abbildung 1: Umsetzung des § 93 BSHG in Rheinland-Pfalz<br />
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(Dezember 2002) 7
2.3. Individuelle Hilfeplanung in der beruflichen Wiedereingliederung,<br />
der Unterstützung von Menschen<br />
in Heimen sowie in der Kinder- und Jugendhilfe<br />
Es sind jedoch nicht allein fachliche Erwägungen und die Frage der zukünftigen Finanzierung sozialer<br />
Dienstleistungen in der Behindertenhilfe, die die Einführung einer Individuellen Hilfeplanung plausibel<br />
machen. Eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften fordert die Anwendung einer auf die individuellen<br />
Bedürfnisse und Fähigkeiten bezogenen Planung im Einzelfall.<br />
1. So ist im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung die Existenz von individuellen Förderplänen<br />
eine durchgängige Anforderung an öffentlich finanzierte Maßnahmen. Es heißt<br />
beispielsweise in § 5 der Werkstättenverordnung: „Der Übergang von behinderten Menschen<br />
auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist durch geeignete Maßnahmen zu fördern, insbesondere<br />
auch durch ... Entwicklung individueller Förderpläne, ...“. Ausgehend von dem Ziel einer<br />
Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sollen auf die einzelne Person bezogene<br />
Förderpläne entwickelt werden, die die Fähigkeiten und besonderen Interessen der<br />
Rehabilitanden ebenso berücksichtigen wie die der Behinderung zugrunde liegenden<br />
Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen.<br />
2. Noch deutlicher ist das Heimgesetz. In § 11 Abs. 1 heißt es „Ein Heim darf nur betrieben werden,<br />
wenn der Träger und die Leitung ... gewährleisten, dass in Einrichtungen der Behindertenhilfe<br />
für die Bewohnerinnen und Bewohner Förder- und Hilfepläne aufgestellt und deren<br />
Umsetzung aufgezeichnet werden.“ Zwar enthält das Gesetz keine Angaben darüber, wie die<br />
Förder- und Hilfepläne aufgebaut sein müssen und was sie beinhalten sollen. Da die Heime<br />
jedoch verpflichtet sind, ihre Leistungen nach dem jeweils allgemein anerkannten Stand fachlicher<br />
Erkenntnisse zu erbringen (§ 3 Abs. 1 Heimgesetz), wird auch die Förder- und Hilfeplanung<br />
diesem Stand entsprechen müssen. Das Individuelle Hilfeplanverfahren Rheinland-Pfalz<br />
ist damit ein geeignetes Instrument, um in dieser Hinsicht die gesetzlichen Vorgaben des<br />
Heimgesetzes zu erfüllen.<br />
3. Auch bei Hilfen für Kinder und jungen Erwachsene hat der Gesetzgeber den Leistungsträgern,<br />
Einrichtungen und Diensten eine Verpflichtung zur Erstellung von Hilfeplänen auferlegt. In §<br />
36 Abs. 2, Satz 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wird aufgeführt: „Als Grundlage für die<br />
Ausgestaltung der Hilfe sollen sie (die Fachkräfte, T.S.S.) zusammen mit dem Personensorgeberechtigten<br />
und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen<br />
über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält;<br />
sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig<br />
ist.“ Die weiteren Vorschriften regeln dann, wer im konkreten Einzelfall in die Hilfeplanung mit<br />
eingebunden werden soll. Die Vorschrift selbst klärt den Inhalt der Hilfeplanung: a.) Festlegung<br />
des Bedarfs, b.) die zu gewährende Art der Hilfe und c.) die notwendigen Leistungen.<br />
„Der Wahl und den Wünschen (der Betroffenen; T.S.S.) ist zu entsprechen, sofern sie nicht<br />
mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind, “ d.h. das Kinder- und Jugendhilfegesetz<br />
gibt den persönlichen Zielen der Betroffenen einen breiten Raum.<br />
8<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
2.4. Individuelle Hilfeplanung und Gesamtplanung<br />
nach dem BSHG<br />
Im Bundessozialhilfegesetz finden sich in den §§ 19, 46 und § 72 Vorschriften zu einem „Gesamtplan.“<br />
Ein Gesamtplan ist zu erstellen, „wenn die Eingliederung des behinderten Menschen gleichzeitig mehrere<br />
Maßnahmen umfasst oder andere Träger und Stellen beteiligt sind. 2 “ Ein Gesamtplan soll alle<br />
Maßnahmen enthalten, die notwendig sind, um einem „behinderten Menschen die Teilnahme am Leben<br />
in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern“ ( § 39 Abs. 3 BSHG) und dabei die zeitliche<br />
Abfolge der erforderlichen Leistungen auch unterschiedlicher Leistungsträger beinhalten. Es ist eine<br />
wesentliche Aufgabe des Gesamtplans, „zwischen den Beteiligten eine Übereinstimmung über das<br />
Eingliederungsziel und die Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen zu erreichen“ 3 . Er hat damit koordinierende<br />
Funktion. Gesamtplan und Individueller Hilfeplan sind somit nicht identisch: Der Individuelle<br />
Hilfeplan dient der Ermittlung des Bedarfs und der zur Bedarfsdeckung notwendigen Maßnahmen<br />
zunächst einmal unabhängig von den Zuständigkeiten der jeweiligen Leistungsträger. Hierbei werden<br />
„die persönlichen Verhältnisse, ...die Leistungsfähigkeit (der Betroffenen, T.S.S.) sowie die örtlichen<br />
Verhältnisse“ (§ 33 SGB I) berücksichtigt. Der Gesamtplan bringt die erforderlichen Maßnahmen in<br />
eine (zeitliche) Reihenfolge und sorgt für die Abstimmung zwischen den beteiligten Leistungsträgern<br />
und Leistungserbringern. Der Gesamtplan nach dem Bundessozialhilfegesetz ist damit der umsetzungsorientierte<br />
Teil der Hilfeplanung. In ihn werden nur Maßnahmen aufgenommen, deren Ziel auch<br />
erreichbar scheint.<br />
2 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfe: Empfehlungen zum Gesamtplan nach § 46 BSHG, Beschluss der Mitgliederversammlung<br />
vom 18.11.1999, Hamburg<br />
3 a.a.0.<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002) 9
3. Was ist Hilfeplanung?<br />
Der Unterschied zwischen einem professionellen Helfer und einem Laien besteht vor allem darin, „dass<br />
er – mit fachlicher Kompetenz ausgestattet – gezielt und geplant handelt. In besonderem Maße gilt das<br />
für den Umgang mit Klienten.“ 4<br />
Gezieltes und geplantes Vorgehen im Umgang mit den Klient/innen als Ausdruck eigener Fachlichkeit<br />
wird in der Lehre und Ausbildung sozialer Berufe seit langem vermittelt und damit in den Einrichtungen<br />
und Diensten der Behindertenhilfe und in der Arbeit mit Menschen in besonderen Lebensverhältnissen<br />
mit sozialen Schwierigkeiten berücksichtigt. Hilfeplanung ist daher auch nicht etwas wirklich Neues für<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen und Diensten. Neu ist allerdings die Art und<br />
Weise des Vorgehens und die konkrete Ausgestaltung der einzelnen methodischen Schritte.<br />
Planung ist immer und unabhängig vom Gegenstand der Planung (egal, ob man ein Auto kaufen oder<br />
ein Haus bauen will) „das gedankliche, systematische Gestalten des zukünftigen Handelns“ 5 . Planung<br />
zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus:<br />
1. Planung geschieht zwar in der Gegenwart, ist jedoch auf die Zukunft gerichtet.<br />
2. Planung ist Denken, sie vollzieht sich theoretisch-abstrakt in einer methodischen Abfolge von bestimmten<br />
Denkschritten.<br />
3. Planung ist ein Prozess, der bestimmte, voneinander unterschiedene Phasen (z.B. Zielfindung,<br />
Analyse, Umsetzung, ...) umfasst.<br />
4. Planung setzt Informationen über die planungsrelevanten Sachverhalte voraus.<br />
5. Planung ist dynamisch, sie ist veränderbar und passt sich veränderten Bedingungen an.<br />
3.1. Planungselemente<br />
Bei der Planung selbst können verschiedene Elemente voneinander unterschieden werden. Da Planung<br />
zukunftsgerichtet ist, gibt es keine Planung ohne Ziele. Wo will man überhaupt hin? Was soll erreicht<br />
werden? Ein unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Planung ist daher die Findung, Bestimmung, Beschreibung<br />
von Zielen.<br />
Als weiteres Element tritt die Analyse der Faktoren hinzu, die die Zielerreichung befördern („Stärken –<br />
Analyse“) oder aber behindern („Schwächen – Analyse“). Dabei werden verschiedene Analysemethoden<br />
Anwendung finden je nach dem, um welche Art von Planung es sich handelt und was geplant<br />
werden soll. Es versteht sich, dass im sozialen Bereich andere Analysemethoden Anwendung finden<br />
werden als in der Betriebswirtschaft. Und auch innerhalb des Bereiches der sozialen Hilfen wird man<br />
die einzelnen Arbeitsfelder voneinander unterscheiden.<br />
4 Stübinger M., Apfelbacher W., Reiners-Kröncke, W.: Sozialmanagement 1, Köln 1999<br />
5 Ehrmann, zitiert n. Stübinger M., Apfelbacher W., Reiners-Kröncke, W.: Sozialmanagement 2, Köln 2000<br />
10<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
Sind Zielentwicklung und Problemanalyse abgeschlossen, muss herausgefunden werden, was getan<br />
werden kann, um die Probleme erfolgreich zu bewältigen und die angestrebten Ziele zu erreichen. Es<br />
geht bei diesem Element um die geeigneten Maßnahmen, noch nicht darum, wer sie wann tut. Ist die<br />
Maßnahmenplanung abgeschlossen (Was sind geeignete Maßnahmen?), kann mit der Planung der<br />
Umsetzung begonnen werden. Die Frage hier lautet: Wer tut wann was?<br />
An dieser Stelle hat die Planung dann ihren vorläufigen Abschluss gefunden: nun wird durchgeführt,<br />
was geplant wurde und betrachtet, welche Auswirkungen es gibt. Die Ergebnisse dieser Wirkungsanalyse<br />
fließen in die nächste Planungsphase ein und der Prozess beginnt von Neuem.<br />
3.2. Ziele und Maßnahmen<br />
Ziele sind Etwas, was ich jetzt noch nicht habe, aber erreichen möchte, für das anzustrengen es sich<br />
lohnt. Ziele sind immer auf einen wünschenswerten Zustand in der Zukunft gerichtet, und sollten daher<br />
positiv formuliert sein.<br />
Gemeinhin werden unterschiedliche Zielebenen unterschieden, je nach dem, wie „nah“ oder „fern“ die<br />
Ziele sind. Im sozialen Bereich spricht man von Grundsatzzielen (= strategische oder auch langfristige<br />
Ziele), von Rahmenzielen (= taktische oder auch mittelfristige Ziele) oder Meilensteinen und von Ergebniszielen<br />
(kurzfristige oder auch operative Ziele).<br />
Abbildung 2: Zielebenen 6<br />
Grundsatzziele sind die höchste Zielebene. Sie beinhalten Vorhaben, die über einen längeren Zeitraum<br />
Gültigkeit besitzen. Es handelt sich hier um grundlegende Orientierungen eines Menschen. In<br />
6 nach Stübinger M., Apfelbacher W., Reiners-Kröncke, W.: Sozialmanagement 1, Köln 1999<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
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individuellen Hilfeplanverfahren wie der Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplanung (IBRP)<br />
werden Grundsatzziele über die „angestrebte Wohn- und Lebensform“ abgebildet.<br />
Meilensteine oder Rahmenziele konkretisieren ein Grundsatzziel in der aktuellen Situation. Rahmenzielen<br />
oder Meilensteinen sind mittelfristige Orientierungen eigen.<br />
Ergebnisziele leiten sich aus den Rahmenzielen, diese wiederum aus den Grundsatzzielen ab. Ergebnisziele<br />
sind konkret und realistisch und in einem bestimmten Zeitraum (3 Monate, sechs Monate, 12<br />
Monate) zu erreichen. Wie die übrigen Ziele werden auch die Ergebnisziele positiv formuliert.<br />
Beispiel: Ein 17-jähriger Mann mit multiplen Behinderungen wohnt bei seinen Eltern. Nach seiner angestrebten<br />
Wohn- und Lebensform befragt erklärt er – unter zu Hilfenahme seines Communicators – dass er<br />
in einem Heim leben möchte. Viele seiner Kumpels wohnten dort, zu Hause sei es ihm einfach zu langweilig.<br />
Außerdem gingen ihm seine Eltern auf die Nerven.<br />
Die angestrebte Wohnform: „Leben mit Gleichaltrigen im Heim“ in diesem Beispiel ist das Grundsatzziel.<br />
Denkbare Rahmenziele könnten sein, das Einverständnis der Eltern einzuholen, einen geeigneten Heimplatz<br />
zu finden und die Finanzierung zu klären. Ergebnisziele bspw. für die nächsten drei Monate könnten<br />
sein: mit den Eltern ein Gespräch führen, mindestens drei Heime besichtigen, das Antragsverfahren zur<br />
Kostenübernahme klären.<br />
Oftmals fällt es schwer, zwischen Zielen und Maßnahmen zu unterscheiden. So könnte bezogen auf<br />
das kleine Beispiel argumentiert werden, dass die Ergebnisziele sämtlich auch Maßnahmen sind. Dies<br />
ist aber erst in dem Augenblick der Fall, wenn die angestrebte Maßnahme tatsächlich realisiert wird.<br />
Vorher ist es ein Ziel, weil etwas angestrebt wird.<br />
Es ist auch zu beachten, dass das Ergebnisziel: „mit den Eltern sprechen“ im untrennbaren Zusammenhang<br />
mit dem Rahmenziel: „Einverständnis der Eltern einholen“, dieses wiederum im untrennbaren<br />
Zusammenhang mit dem Grundsatzziel (angestrebte Wohn- und Lebensform) „Leben mit Gleichaltrigen<br />
im Heim“ steht.<br />
Außerdem sagt das Ergebnisziel: „mit den Eltern sprechen“ noch nichts darüber aus, wer an diesem<br />
Gespräch beteiligt sein soll, wo es stattfinden soll, wann es günstig ist, ein solches Gespräch mit diesem<br />
Ziel zu führen, wie der junge Mann sich auf das Gespräch vorbereiten kann, welche seiner Fähigkeiten<br />
er nutzbringend einbringen kann, in welchen Bereichen er Hilfestellung bspw. durch Hilfsmittel<br />
braucht etc. Die Beantwortung dieser Fragen ist Sache der eigentlichen Maßnahmenplanung. Die Maßnahmeplanung<br />
befasst sich mit der Frage, was getan werden kann, um die Ergebnisziele zu erreichen.<br />
3.3. Individuelle Hilfeplanung als Prozess<br />
Die Findung und Entwicklung von Grundsatzzielen, Meilensteinen, Ergebniszielen und eine Maßnahmenplanung<br />
allein machen noch keine Planung aus. Vielmehr können Meilensteine, Ergebnisziele und<br />
Maßnahmenplanung gar nicht entwickelt werden, solange die IST - Situation ungeklärt ist. Daher ist<br />
die Beschreibung der aktuellen Situation und eine fachlich möglichst gut begründete IST – Analyse<br />
eine entscheidende Voraussetzung für eine fundierte Hilfeplanung.<br />
Die IST – Situation gibt Auskunft über die „Lücke“, die zwischen den Grundsatzzielen und der aktuellen<br />
Lebenssituation klafft. Da das Ziel erreicht werden will, gilt es, die „Lücke“ zu schließen. Hierzu sollte<br />
12<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
geklärt werden, welches die dringlichsten Probleme sind, die die „Lücke“ ausmachen und an der Zielerreichung<br />
hindern.<br />
Meilensteine zielen auf die Beseitigung der dringlichsten Probleme ab. Deshalb heißen sie „Meilensteine“:<br />
ist diese Station erst einmal geschafft, dieser Schritt erst einmal getan, ist es bis zum Grundsatzziel<br />
nicht mehr gar so weit.<br />
Welche Fähigkeiten bringe ich ein, welche Ressourcen kann ich in meinem Lebensumfeld aktivieren,<br />
um die Meilensteine zu erreichen? Aber auch: welcher Art und wie ausgeprägt sind meine Funktionsstörungen<br />
und Partizipationseinschränkungen? Aus der Beantwortung dieser Fragen leiten sich die<br />
Ergebnisziele ab: was kann im Zeitraum X unter Beachtung von Fähigkeiten und aktivierbaren Ressourcen<br />
sowie der Berücksichtigung von Funktionsstörungen und Partizipationseinschränkungen realistischerweise<br />
erreicht werden, um die Meilensteine zu erreichen, die auf dem Weg zum Grundsatzziel<br />
liegen?<br />
Abbildung 3: Individuelle Hilfeplanung als Prozess<br />
Abbildung 3 verdeutlicht die beschriebenen Zusammenhänge. Ausgangspunkt der Individuellen Hilfeplanung<br />
sind die grundlegenden Orientierungen der behinderten Menschen im Hinblick auf die Art und<br />
Weise, wie sie ihr Leben leben möchten. Die Beschreibung der derzeitigen Situation ermöglicht es, die<br />
„Lücke“, den Unterschied zwischen dem Hier und Jetzt und der angestrebten Wohn- und Lebensform<br />
kenntlich zu machen. Vorrangige Probleme, die sich im Hinblick auf die Grundsatzziele ergeben, werden<br />
identifiziert. Es ist nun möglich, Meilensteine auf dem Weg zu den Grundsatzzielen zu erkennen.<br />
Eine eingehende Betrachtung von Fähigkeiten und aktivierbaren Ressourcen, aber auch von Fähig-<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
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keitsstörungen und Einschränkungen bei der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft<br />
schließt sich an und bildet gleichzeitig die Grundlage für die Definition von Ergebniszielen: was kann im<br />
festgelegten Zeitraum X realistischerweise erreicht werden?<br />
Sind die Ergebnisziele definiert, beginnt die Planung der zur Zielerreichung geeigneten Maßnahmen<br />
und deren Umsetzung (Wer macht was?) . Mit diesem Arbeitsschritt ist die eigentliche Hilfeplanung<br />
beendet. Es folgt die Umsetzung der Maßnahmen, die Analyse ihrer Auswirkungen und der Abgleich<br />
mit den Grundsatzzielen. Hier beginnt der Prozess von Neuem.<br />
Planung ist ein dynamisches Geschehen. Neue Entwicklungen, neue Informationen, unvorhergesehene<br />
Ereignisse geben Anlass, eine vorliegende Planung erneut zu überprüfen und ggfls. zu verändern. Dies<br />
unterstreicht einen weiteren Sinn von Planung: Abweichungen werden als solche erkennbar und bilden<br />
damit die Grundlage für ein tieferes Verständnis der Situation und der zu bewältigenden Aufgaben.<br />
14<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
4. Grundhaltung und Vorgehensweise<br />
Fachliches Handeln ist methodisches Handeln, methodisches Handeln ist geplantes Handeln. Es verwundert<br />
daher keinesfalls, dass „Hilfeplanung“ in den Einrichtungen der Behindertenhilfe integrierter<br />
Bestandteil der Arbeit ist.<br />
Die bisherige Hilfe- oder Förderplanung im Behindertenbereich setzte häufig bei den Defiziten und<br />
unterstellten Schutzbedürfnissen einer Person mit Behinderung an. Es wurde im professionellen Kreis<br />
ein Plan erstellt, der helfen sollte, die Defizite zu verringern und negativ beurteilte Verhaltensweisen<br />
abzubauen.<br />
Gleichzeitig wurde häufig angenommen, dass z.B. das Merkmal „Geistige Behinderung 7 “ automatisch<br />
etwas darüber aussagt, wie die so Bezeichneten wohnen wollen oder müssen, ihre Freizeit verbringen<br />
oder welche berufliche Beschäftigung für sie in Frage kommt. Dies bedeutete dann letztendlich auch<br />
ein ausschließlich an der Behinderungsart orientiertes Hilfesystem mit pauschalierten Angeboten.<br />
Behindertenselbsthilfe- und Fachverbände sorgten in den letzten Jahren für eine neue Sicht in Punkto<br />
Selbstbestimmung behinderter Menschen, indem sie bspw. Assistenz-Konzepte für Menschen mit einer<br />
geistigen und/oder körperlichen Behinderung oder etwa die Anerkennung einer eigenen Sprache, wie<br />
die Gehörlosenverbände die Anerkennung der Gebärdensprache, forderten.<br />
Allgemeiner Grundtenor ist mittlerweile die Anerkennung des behinderten Menschen als Experte in der<br />
eigenen Sache, d.h. in seinem eigenen Leben. Dieses Verständnis spiegelt sich auch im hier vorliegenden<br />
Hilfeplanverfahren wider: die Grundsatzziele eines Menschen mit einer Behinderung, die Ausgangs-<br />
und Bezugspunkt des ganzen Verfahrens sind, können nicht von einem Dritten, sondern lediglich<br />
von ihm selbst definiert werden. Die individuelle Hilfeplanung geht stets von der behinderten Person<br />
aus und wird, wo immer möglich, mit ihr gemeinsam entwickelt.<br />
Damit rückt die Beziehung und die Kommunikation mit dem behinderten Menschen in den Mittelpunkt<br />
der fachlichen Betrachtung.<br />
4.1. „Verhandeln statt Behandeln“ oder von der<br />
Betreuung zur Begleitung<br />
Wer kann die grundlegenden Ziele eines Menschen kennen? Wer weiß, wie ein Mensch leben möchte?<br />
Dies kann nur der Mensch für sich selbst – auch wenn es in der einen oder anderen Lebenssituation<br />
hilfreich ist, einen fachlichen Rat zu erhalten oder wenn zum Leben dieses Menschen eine Behinderung<br />
gehört. Das gemeinsame Gespräch über die Ziele des Anderen in dessen Leben und der Beitrag, den<br />
professionelle Helfer zur Lebensbewältigung des behinderten Menschen leisten können, steht im Mittelpunkt<br />
der Individuellen Hilfeplanung. Im Hilfeplanverfahren begegnen sich der behinderte Mensch<br />
mit seinen Zielen, Wünschen, Ansprüchen und Träumen und der Helfer mit seiner professionellen Ori-<br />
7<br />
Dies kann verwundern, wenn man sich vor Augen führt, dass „eine allgemeingültige Definition, die überprüfbar wäre“ bisher<br />
nicht vorliegt. „Es handelt sich vielmehr um eine sehr heterogene Gruppe von Menschen mit unterschiedlicher kognitiver, motorischer<br />
und sozial-emotionaler Kompetenz,“ so Metzler, Wacker: Behinderung, in Otto, Thiersch (Hrsg): Handbuch Sozialarbeit,<br />
Sozialpädagogik, Neuwied 2001<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002) 15
entierung als gleichberechtigte Partner. Die Planung soll im Dialog geschehen. Das bedeutet, dass<br />
jeder seine Position und Einstellung verdeutlicht und offen ist, die Position des anderen zu hören und<br />
als gleichwertig anzuerkennen. Daraus folgt, dass die Ziele der Hilfen, die Situationsbeschreibung, die<br />
vorrangigen Probleme und notwendigen Maßnahmen zwischen Helfer und Klienten verhandelt werden.<br />
Verhandeln bedeutet nicht Beliebigkeit und auch nicht die Bevormundung. Verhandeln bedeutet ein „in<br />
Beziehung treten“ zum Anderen, was durchaus auch einmal konflikthaft sein kann.<br />
„Der beste Helfer kann letzten Endes nicht wissen, was für den anderen gut ist. Was nicht heißt, das der<br />
Klient dies immer weiß. Daraus folgt, dass die Ziele der Hilfen, die Situationsbeschreibung, die Probleme,<br />
denkbare Maßnahmen etc. zwischen Helfer und Klienten verhandelt werden. Verhandeln bedeutet, die eigene<br />
fachliche Position in das Gespräch einzubringen und dafür einzutreten. Verhandeln bedeutet auch,<br />
die Position des anderen gleichwertig gelten zu lassen“ 8 .<br />
Für die Beteiligten hat dies Folgen: den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Einrichtungen und<br />
Diensten wächst stärker als bisher die Aufgabe zu, den Prozess der Entwicklung erforderlicher Hilfen<br />
und deren Umsetzung zu begleiten. Sie sind nicht länger alleine und hauptverantwortlich dafür da,<br />
Lösungen zu finden. „Verhandeln statt Behandeln“ bedeutet nämlich für den Klienten auf der anderen<br />
Seite die Übernahme von Selbstverantwortung und die Herausforderung zu weiterer Selbstständigkeit.<br />
Dies gilt grundsätzlich. Einzige Ausnahme sind akut gefahrvolle Situationen, in denen der Mensch Risiken<br />
eingeht, die als Gefahr für das eigene Leben und die Gesundheit oder das der Mitmenschen angesehen<br />
werden muss. Dies sind keine Verhandlungssituationen, sondern Momente, in denen fachlich<br />
begründet gehandelt werden muss. Vielleicht ist es möglich, vorher Verträge zu schließen, wie zu verfahren<br />
ist, wenn solche Situationen auftauchen.<br />
Bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen oder seelischen Behinderungen kann es erforderlich<br />
sein, sie auch gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Abteilung unterzubringen, um sie oder ihre<br />
Umwelt vor den Auswirkungen ihrer Erkrankung zu schützen. Für solche Situationen werden zunehmend<br />
„Behandlungsvereinbarungen“ zwischen dem betroffenen psychisch kranken Menschen und der aufnehmenden<br />
Klinik getroffen, in der Hinweise zum Umgang mit dem Erkrankten in der Akutsituation ebenso<br />
niedergelegt sind wie die Dosierung wirksamer Medikamente.<br />
4.1.1. ... mit minderjährigen Kindern<br />
Bei der Hilfeplanung mit minderjährigen Kindern sind die Eltern als die Personensorgeberechtigten<br />
(§ 1626 BGB) die natürlichen Ansprechpartner der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen<br />
und Diensten. Die Kinder werden allerdings in die Individuelle Hilfeplanung mit einbezogen, damit<br />
die „wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem<br />
Handeln“ (§ 1626 BGB, Abs. 2) berücksichtigt werden kann.<br />
Grundsatzziele haben hier andere Inhalte. Die Einschulung in eine Regelschule oder die Orientierung<br />
an einer Schule mit einem Förderschwerpunkt könnte als Grundsatzziel formuliert<br />
werden. Die zentrale Stellung der Eltern und damit eine hohe Wertigkeit von Elternarbeit<br />
versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst.<br />
8 aus dem Handbuch zur Hilfeplanung des Ev. Diakoniewerkes ZOAR, Rockenhausen<br />
16<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
4.1.2. ... mit schwerst- und mehrfachbehinderten<br />
Menschen<br />
Eine besondere Anforderung an die skizzierte Grundhaltung stellen sicherlich die Menschen, die sich<br />
ohne gesprochene Sprache mitteilen müssen oder unter der Bezeichnung mehrfachbehinderte oder<br />
schwerstbehinderte Menschen genannt werden. Sie treten über Gestik, Mimik, Lautieren, Stummheit<br />
oder uns sonderbar erscheinende Verhaltensweisen mit ihrer Umwelt in Kontakt und bleiben dabei oft<br />
unverständlich. Wie hier eine „Verhandlung“ des Hilfeplans in Gang setzen?<br />
Um die Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen zu achten, ist es hier unerlässlich, neben der praktischen<br />
Rolle des Helfers auch die des „persönlichen Assistenten“ 9 anzunehmen: Fällt die Sprache aus,<br />
geht es darum genau zu beobachten, um auch nonverbal geäußerte Bedürfnisse wahrzunehmen und<br />
vorsichtig zu interpretieren oder aber auch neue Kommunikationsmittel wie z.B. Sprachcomputer zu<br />
erschließen. Unter dem Begriff „Unterstützte Kommunikation“ scheinen sich hier neue Möglichkeiten zu<br />
eröffnen. Nach Ursi Kristen 10 ist es das Ziel der unterstützten Kommunikation, Maßnahmen zu entwickeln,<br />
die für Menschen mit Beeinträchtigung in der Kommunikation eine bessere Verständigung und<br />
Mitbestimmung bedeuten 11 .<br />
Beispiel 12 : Frau M., 64 Jahre, lebt seit Jahren in einem Heim der Behindertenhilfe, in das sie im Alter von<br />
40 Jahren nach dem Tode ihrer Mutter aufgenommen wurde. Der im Zusammenhang mit der damaligen<br />
Aufnahme ermittelte Intelligenzquotient liegt bei 50. Frau M. leidet seit 2 Jahren unter den Folgen eines<br />
schweren Schlaganfalls mit halbseitiger Lähmung und einem Verlust ihrer Sprechfähigkeit. Es ist unklar,<br />
was sie versteht. Frau M. ist pflegebedürftig und auf Hilfestellung auch beim Essen angewiesen. Sie wird<br />
gefüttert. Das Team nimmt eine fortschreitende Demenz wahr. Frau M. zeigt seit etwa einem halben Jahr<br />
bei der Essensaufnahme immer mal wieder aggressives Verhalten. Dann schlägt sie nach den<br />
Mitarbeiterinnen des Teams und wirft mit Gegenständen. Dies ist der Anlass, eine individuelle<br />
Hilfeplanung zu erstellen. In der teaminternen Reflexion der zuvor durchgeführten<br />
Verhaltensbeobachtung wird die Interpretation geäußert, dass Frau M. alleine Essen möchte, ohne<br />
gefüttert zu werden. Daher rühre die Aggression. Diese Interpretation bildet die Grundlage der<br />
Hilfeplanung. Als ein Grundsatzziel wird formuliert: selbstständig essen. Hieraus werden nach Betrachtung<br />
der Situation und der vorrangigen Probleme Rahmenziele abgeleitet, aus diesen nach Einschätzung<br />
vorhandener Fähigkeiten (Wichtig: Die Feinmotorik in der linken Hand ist erhalten) die Ergebnisziele für<br />
das nächste halbe Jahr formuliert. Nach Ablauf dieses Zeitraums isst Frau M. selbstständig, ihr Allgemeinzustand<br />
hat sich verbessert. Sie nimmt stärkeren Anteil an ihrer Umwelt und dem Gruppengeschehen.<br />
Das Team berichtet, dass Frau M. motiviert mitgearbeitet hat.<br />
4.2. Ressourcenorientierung und Lebenswelt<br />
So unverzichtbar der Dialog auch ist: die Verhandlung über Ziele und Problembeschreibungen allein<br />
reicht nicht aus (vgl. Kapitel 3.3 Seite 12), um zu einer Individuellen Hilfeplanung zu kommen. Es ist<br />
9 Bradl, Christian: Vom Heim zur Assistenz, in: Bradl, Steinhardt (Hrsg.) Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung, Bonn<br />
1996, Seite 178 ff<br />
10 Kirsten, Ursi: Praxis Unterstützte Kommunikation, Verl. Selbstbestimmtes Leben: Düsseldorf 1999³<br />
11 siehe auch: http://www.lehrgang-unterstuetzte-kommunikation.de; http://www.paritaet.org/bvkm/isaac/<br />
12 aus einer Praxisbegleitung zum Individuellen Hilfeplanverfahren, persönliche Daten geändert (Frau M. heißt nicht Frau M.)<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
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ebenso wichtig, die Fähigkeiten des behinderten Menschen wahrzunehmen und seine Ressourcen zu<br />
erkennen.<br />
Fähigkeiten sind das, was ein Mensch kann.<br />
Ressourcen sind all das, was ein Mensch zur Erreichung seiner Ziele, zur Befriedigung<br />
seiner Bedürfnisse und zur Bewältigung von Problemlagen einbringen und für<br />
sich nutzbar machen kann.<br />
Interessen sind das, was ein Mensch besonders gerne tut oder womit er sich gerne<br />
beschäftigt.<br />
Menschen mit einer Behinderung verfügen wie andere Menschen auch über vielfältige Fähigkeiten,<br />
Ressourcen und Interessen, deren Existenz ihnen bisher häufig nicht zu Bewusstsein kommen konnte,<br />
sei es, weil nie danach gefragt wurde, sei es, weil Fähigkeiten nicht abgerufen, benötigt und angewendet<br />
wurden und so verkümmerten. Es ist daher eine fachliche Aufgabe eigener Art, persönliche Interessen,<br />
Fähigkeiten und Ressourcen bei behinderten Menschen aufzuspüren und diese zu deren Lebensbewältigung<br />
und Selbstfindung nutzbar zu machen. Dies beginnt damit, die subjektive Befindlichkeit<br />
und Wirklichkeitskonstruktion, die Interessenlage und Lebensgeschichte des Gegenübers wahrzunehmen.<br />
Auch in der familiären und weiteren Umgebung liegen mitunter noch ungenutzte Ressourcen<br />
brach.<br />
Damit ist das soziale Umfeld im Blick. Fähigkeiten und Ressourcen eines Menschen sind in hohem<br />
Maße abhängig vom Grad seiner Einbindung und Beteiligung am normalen gesellschaftlichen Leben.<br />
Mit „normalem gesellschaftlichen Leben“ ist das in der Behindertenhilfe weithin akzeptierte Normalisierungsprinzip<br />
angesprochen. Ein weitestgehend gesellschaftlich normales Leben soll auch für Menschen<br />
mit Behinderungen möglich sein. Es gilt, die Lebenswelt der Betroffenen und die darin verborgenen<br />
Möglichkeiten in die fachlichen Überlegungen und die alltägliche Praxis mit einzubeziehen.<br />
Dies ist die fachliche Funktion und gleichzeitig die besondere Aufgabe der Individuellen Hilfeplanung:<br />
möglichst gemeinsam mit dem behinderten Menschen<br />
♦<br />
♦<br />
♦<br />
♦<br />
♦<br />
Ziele zu vereinbaren,<br />
die aktuelle Situation und Problemlage zu beschreiben,<br />
Fähigkeiten und Ressourcen sowie Störungen und Beeinträchtigungen zu ermitteln,<br />
für einen bestimmten Zeitraum einen überschaubaren Maßnahmekatalog festzulegen und diesen<br />
schließlich<br />
gemeinsam umzusetzen.<br />
18<br />
ERLÄUTERUNGEN ZUR INDIVIDUELLES HILFEPLANVERFAHREN RHEINLAND-PFALZ (IHP)<br />
(Dezember 2002)
5. Anhang<br />
5.1. Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1: Umsetzung des § 93 BSHG in Rheinland-Pfalz ...............................................................7<br />
Abbildung 2: Zielebenen................................................................................................................11<br />
Abbildung 3: Individuelle Hilfeplanung als Prozess ..........................................................................13<br />
5.2. Tabellenverzeichnis<br />
Fehler! Es konnten keine Einträge für ein Abbildungsverzeichnis gefunden werden.<br />
5.3. Register<br />
Aktionsplan.....................................................................................................................................4<br />
Bedarf ................................................................................................................................ 3, 4, 8, 9<br />
Deklaration von Madrid ...................................................................................................................3<br />
Ergebnisziele ............................................................................................................12, 13, 14, 19<br />
Grundsatzziele..........................................................................................................12, 14, 16, 18<br />
Hilfeplanung ........................................................................... 3, 4, 5, 8, 9, 10, 13, 14, 16, 17, 18, 19<br />
Kooperation....................................................................................................................................4<br />
Maßnahmenpauschale.....................................................................................................................5<br />
Meilensteine ...................................................................................................................12, 13, 14<br />
Normalisierungsprinzip .............................................................................................................. 4, 19<br />
Planung........................................................................................................................................10<br />
Rahmenziele ..............................................................................................................................12<br />
Ressourcen.............................................................................................................. 4, 13, 14, 19, 20<br />
Selbstbestimmung...........................................................................................................................3<br />
Selbstverständnis behinderter Menschen ..........................................................................................3<br />
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Teilhabe................................................................................................................................... 3, 14<br />
Verhandeln............................................................................................................................. 16, 17<br />
Ziele ..................................................................................................................4, 10, 11, 16, 17, 19<br />
20<br />
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transfer – Unternehmen für soziale Innovation –<br />
Thomas Schmitt-Schäfer<br />
Grabenstraße 18, 54516 Wittlich<br />
Fon 06571-96343, Fax 06571-96345<br />
mail@transfer-net.de, www.transfer-net.de<br />
<strong>ISG</strong> – Otto Blume-Institut- Sozialforschung und Gesellschaftspolitik<br />
Dr. Heike Engel<br />
Barbarossaplatz 2, 50674 Köln<br />
Fon 0221-235473, Fax 0221-215267<br />
engel@isg-institut.de ,<br />
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