12.03.2014 Aufrufe

Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft

Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft

Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

1


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

INHALT<br />

REPORT<br />

JAHN-REPORT<br />

RT<br />

JA<br />

JA<br />

J<br />

HN-RE<br />

<strong>Jahn</strong>-Brief <strong>Nr</strong>. 17 3<br />

Einladung zur Mitgliederversammlung am 16. 8. <strong>2013</strong> 4<br />

Schwerpunktthema: Das Jahr 1913 5<br />

Josef Ulfkotte 1813 – 1913: Die Völkerschlacht und das<br />

Völkerschlachtdenkmal 5<br />

Gerd Steins Denktage und Nationalfeste nach der Völkerschlacht 14<br />

Ingo Peschel Leipzig 1913: Ein Deutsches Turnfest vor 100 Jahren 29<br />

Ilse-Marie Weiß War das eigentlich schon immer so? 39<br />

Josef Ulfkotte Vor 100 Jahren erschien die erste Gesamtausgabe 47<br />

der Briefe <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />

Hannah Weibye Unterschätzt und zu wenig bekannt:<br />

<strong>Jahn</strong>s „Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes“ 50<br />

Klaus Arnold Brasilien setzt auf Deutschland 55<br />

Annette Hofmann Das Turnen in Argentinien lebt! 58<br />

R<br />

KURZBERICHTE<br />

Florian Mayer Neuigkeiten über die online-gestützte <strong>Jahn</strong>-Bibliografie 63<br />

Hansgeorg Kling Die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ in Wien 65<br />

BUCHBESPRECHUNGEN 67<br />

NOTIZEN 72<br />

DAS SIND UNSERE AUTOREN 75<br />

Herausgeber:<br />

Satz & Druck:<br />

2<br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

Schlossstraße 11 · 06632 Freyburg a. d. Unstrut · Tel.: 03 44 64 / 2 74 26 · Fax 03 44 64 / 6 65 60<br />

Internet: www.jahn-gesellschaft.de · E-<strong>Mai</strong>l: info@jahn-museum.de<br />

DRUCKHAUS ZEITZ<br />

An der Forststraße · 06712 Zeitz · Tel.: 0 34 41 / 61 62-0 · Fax 0 34 41 / 61 62 23<br />

Internet: www.druckhaus-zeitz.de · E-<strong>Mai</strong>l: info@druckhaus-zeitz.de<br />

Titelfoto: 1913 ist das Schwerpunktthema dieses <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>s<br />

Fotos Rückseite: Die <strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle (oben) und das <strong>Jahn</strong>-Museum (unten) in Freyburg


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

JAHN-BRIEF<br />

<strong>Nr</strong>. 17 / <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

FREYBURG/UNSTRUT<br />

Liebe Mitglieder und Freunde<br />

der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>!<br />

Das Jahr <strong>2013</strong> und das bevorstehende Internationale Deutsche Turnfest sind in mehrfacher<br />

Hinsicht Anlass, zurückzublicken, aber auch den Blick in die Zukunft zu richten. Zum<br />

einen fand im Oktober 1813 die „Völkerschlacht“ bei Leipzig statt, die den von <strong>Jahn</strong> und seinen<br />

patriotischen Freunden heiß ersehnten Sieg über Napoleon brachte. Im Rahmen der von<br />

<strong>Jahn</strong> und seinen Turnern nach Kriegsende betriebenen Kultur national-deutscher „Denktage“<br />

hatte auch der 18. Oktober als Tag der „Völkerschlacht“ einen festen Platz.<br />

Einhundert Jahre später wurde aus dem gleichen Anlass das „Völkerschlachtdenkmal“<br />

eingeweiht. Und: In Leipzig fand das größte Deutsche Turnfest vor dem Ersten Weltkrieg<br />

statt. Dies und noch vieles mehr ist Schwerpunktthema des vorliegenden Heftes.<br />

Das große Turnfest in der Metropolregion Rhein-Neckar wird nicht nur wieder die ganze<br />

Vielfalt des Turnens zum Ausdruck bringen, wie sie seit der „Erfindung“ des Turnens durch<br />

<strong>Jahn</strong> besteht, sondern es wird auch die heutigen Ausprägungen dieses Turnens zeigen: nämlich<br />

als etwas in die Zukunft Gerichtetes, das sich vor allem als segensreich für unsere Freizeit<br />

und Gesundheit darstellt.<br />

Daraus kann sich ergeben, dass auch die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> ihre Ziele überprüft. Im November<br />

soll es zum ersten Male seit 2005 wieder eine Zukunftswerkstatt in Freyburg geben.<br />

Auch der Präsident des Deutschen Turner-Bundes, Rainer Brechtken, wird uns zur Eröffnung<br />

unserer Mitgliederversammlung im August in Freyburg Richtungweisendes zu sagen haben.<br />

Allen Leserinnen und Lesern des <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>s wünschen wir eine aktive und freudvolle<br />

Sommerzeit mit vielen turnerischen Begegnungen.<br />

Mit herzlichen Turngrüßen<br />

Für das Präsidium: Ihr und Euer Hansgeorg Kling,<br />

Präsident der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

3


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

EINLADUNG<br />

Das Präsidium der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> e. V.<br />

lädt hiermit alle Mitglieder und Freunde zur<br />

Mitgliederversammlung<br />

am Freitag, dem 16. August <strong>2013</strong>, 17.30 Uhr<br />

in die <strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle in Freyburg an der Unstrut ein.<br />

Ansprache zur Eröffnung:<br />

Rainer Brechtken (Stuttgart), Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB)<br />

Tagesordnung:<br />

1. Eröffnung und Begrüßung<br />

2. Genehmigung der Tagesordnung<br />

3. Genehmigung des Protokolls der letzten Mitgliederversammlung<br />

4. Geschäftsbericht des Präsidiums (eingeschlossen die Jahresrechnung 2012)<br />

5. Bericht der Kassenprüfer<br />

6. Aussprache<br />

7. Entlastung des Präsidiums<br />

8. Neuwahlen (wegen eines Formalfehlers in 2012 nachzuholen)<br />

9. Genehmigung des Haushaltsplans für 2014<br />

10. Ehrungen<br />

11. Anfragen und Mitteilungen<br />

12. Schlusswort<br />

Die Frist zur Einreichung von Anträgen zur Mitgliederversammlung beträgt vier Wochen<br />

vor der Versammlung. Die Anträge sind beim Präsidium der <strong>Gesellschaft</strong> einzureichen.<br />

Die Mitgliederversammlung ist eingebettet in eine Reihe von Veranstaltungen:<br />

15.00 Uhr <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Museum: <strong>Jahn</strong>-Ehrung<br />

15.30 Uhr Eröffnung der Sonderausstellung im <strong>Jahn</strong>-Museum:<br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> im Wandel seiner Porträts<br />

16.30 Uhr <strong>Jahn</strong>-Denkmal an der Erinnerungsturnhalle: Feierliche Kranzniederlegung<br />

17.30 Uhr <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle:<br />

Mitgliederversammlung der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

20.00 Uhr Wein- und Sektkeller im Fahrradhotel: Geselliges Beisammensein<br />

Am 17. und 18. August findet in Freyburg das 91. <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Turnfest statt.<br />

4


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

DAS JAHR 1913<br />

1813 – 1913: Die Völkerschlacht<br />

und das Völkerschlachtdenkmal<br />

Josef Ulfkotte<br />

Am 18. Oktober 1813 schrieb der preußische<br />

Militärreformer und populäre General<br />

August Wilhelm Anton Neidhardt von<br />

Gneisenau seiner Frau: „Ich schreibe Dir am<br />

Morgen einer Schlacht, wie sie in der Weltgeschichte<br />

kaum gefochten ist. Wir haben den<br />

französischen Kaiser ganz umstellt. Diese<br />

Schlacht wird über das Schicksal von Europa<br />

entscheiden“, um ihr am darauf folgenden<br />

Holzschnitt Völkerschlachtdenkmal<br />

Tag triumphierend mitzuteilen: „Die große<br />

Schlacht ist gewonnen, der Sieg ist entscheidend.“ 1 Tatsächlich hatte der Kaiser der Franzosen in<br />

der so genannten Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 eine für die politische<br />

Zukunft Europas folgenschwere Niederlage erlitten.<br />

Die entscheidende Schlacht der antinapoleonischen Kriege, in der nicht Freiwilligenverbände<br />

oder Bürgermilizen aufeinander trafen, sondern reguläre Truppen der Koalition Österreich,<br />

Preußen, Russland und Schweden, kostete etwa 91.000 von rund 600.000 Soldaten das Leben.<br />

Die Alliierten folgten dem Restheer Napoleons und drangen in heftigen Kämpfen schließlich bis<br />

Paris vor, das am 30. März 1814 kapitulierte. Der Abdankung Napoleons am 5. April folgte seine<br />

Zwangsverweisung auf die Mittelmeerinsel Elba. Seiner Gefangenschaft konnte sich Napoleon<br />

durch eine kurzzeitige Rückkehr nach Frankreich entziehen. Allerdings endete seine „Herrschaft<br />

der Hundert Tage“ mit der Niederlage in der Schlacht bei Waterloo und führte zu seiner Verbannung<br />

auf die britische Atlantikinsel St. Helena, wo Napoleon am 5. <strong>Mai</strong> 1821 verstarb.<br />

1 Zit. nach Uwe Puschner: 18. Oktober 1813: „Möchten die Deutschen nur alle und immer dieses<br />

Tages gedenken!“ – die Leipziger Völkerschlacht. In: Etienne Francois/Uwe Puschner (Hrsg.):<br />

Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München<br />

2010, S. 145 – 162, hier S. 145.<br />

5


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

<strong>Jahn</strong> – der enttäuschte Freiheitskämpfer<br />

Nur allzu gern hätte <strong>Jahn</strong> als Offizier im Lützowschen Freikorps mit den ihm unterstellten<br />

Kriegsfreiwilligen an der Seite der Verbündeten gegen die Truppen Napoleons<br />

gekämpft, doch sahen die militärischen Pläne keine Beteiligung der Lützower an<br />

der Völkerschlacht vor. So musste sich <strong>Jahn</strong> – zutiefst enttäuscht über den militärischen<br />

Einsatz „seines“ Freiwilligenverbandes – mit der Zuschauerrolle begnügen. Er war zwischenzeitlich<br />

erkrankt und hielt sich in den Tagen der Völkerschlacht in Berlin auf. Am<br />

entscheidenden dritten Tag der Schlacht, also am 18. Oktober 1813, griff er zur Feder,<br />

um sich im Auftrag der militärischen Leitung des Freikorps, der Majore von Lützow und<br />

v. Petersdorf, bei Bernadotte, dem Befehlshaber der Nordarmee, dem auch die Lützower<br />

unterstanden, über „die schlimme Lage unseres Korps“ zu beschweren.<br />

<strong>Jahn</strong> bekundet in seinem Schreiben zunächst seine persönliche Verbundenheit mit<br />

dem Freikorps, an dessen Entstehung er maßgeblich mitgewirkt habe, um dann deutlich<br />

zu machen, dass ihm General von Scharnhorst im <strong>Mai</strong> „den Oberbefehl über die in Sachsen<br />

verbliebenen Ersatztruppenteile“ des Korps erteilt habe. Hier sei es ihm mit großer<br />

Unterstützung der Öffentlichkeit gelungen, in kürzester Zeit ein aus fünf Kompanien bestehendes<br />

Bataillon mit einer Gesamtstärke von neunhundert Mann zusammenzustellen,<br />

auszurüsten und mit französischen Gewehren zu bewaffnen, um dann nach Mecklenburg<br />

zu marschieren. Seit einiger Zeit gehe aber das Gerücht um, „daß dieses Korps seinen<br />

wahren Geist verloren habe, und daß es das vorgegebene Ziel weder erreichen könne noch<br />

erreichen wolle.“ Die Öffentlichkeit lehne deshalb jede weitere Unterstützung seines Bataillons<br />

ab. Die Eltern und Freunde der Soldaten schickten ihm „Briefe voll bitterer Klagen<br />

über den mißbräuchlichen Einsatz“ des Freiwilligenverbandes. Man habe die Kriegsfreiwilligen<br />

mit Kosaken zusammengelegt, „und in der Tat leben wir unter dieser Art von<br />

Menschen in Verachtung vor uns selbst und vor dem Vaterland“. Vielmehr benutze man<br />

die Freiwilligen überall dort, „wo jede Hilfstruppe genauso gut oder noch besser wäre“.<br />

<strong>Jahn</strong> resümiert: „Unser Korps ist zerrissen und geteilt, wir dürfen weder zusammen siegen<br />

noch zusammen sterben. Den wenigen Ruhm müssen wir mit den anderen Truppen<br />

teilen, den Nutzen aus unseren [eigenen] Anstrengungen aber [ganz] ihnen überlassen.<br />

Uns bleiben nur Arbeit, Not, Leiden und der völlige Untergang, ohne Ruhm und ohne<br />

unserem Vaterland von Nutzen gewesen zu sein.“ 2 Gänzlich enttäuscht verließ <strong>Jahn</strong> am<br />

22. November 1813 das Frei-Korps Lützow, das im darauf folgenden Jahr aufgelöst bzw.<br />

in die reguläre preußische Armee eingegliedert wurde.<br />

2 <strong>Jahn</strong>s Beschwerdebrief ist gedruckt in: Hans-Joachim Bartmuß/Eberhard Kunze/Josef Ulfkotte<br />

(Hrsg).: „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> und sein patriotisches Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 – 1812,<br />

Köln-Weimar-Wien 2008, S. 242-244.<br />

6


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Völkerschlacht-Gedenkfeiern<br />

Ein Ereignis wie die Völkerschlacht wirkt verständlicher Weise nach: So schlug <strong>Jahn</strong>s<br />

Gesinnungsfreund Ernst Moritz Arndt vor, den Jahrestag der Völkerschlacht zu einem<br />

„Nationalfest der Teutschen“ zu erheben. In seiner im September 1814 in einer Auflage<br />

von 7.500 Exemplaren erschienenen Schrift „Ein Wort über die Feier der Leipziger<br />

Schlacht“ propagierte er diese Idee breitenwirksam, um eine national-deutsche Festtradition<br />

zu begründen, die die Rolle des Volkes während der antinapoleonischen Kriege in<br />

den Vordergrund stellte; denn in seinen Augen hatte das „teutsche Volk“ den Sieg über<br />

Napoleon gemeinsam mit den Fürsten errungen.<br />

Anknüpfend an die von <strong>Jahn</strong> im „Deutschen Volkstum“ (1810) entwickelten Gestaltungsvorschläge<br />

zur Feier eines Nationalfestes sollte der Gedenktag an die Völkerschlacht<br />

u. a. folgende Elemente enthalten: Am Vorabend sollten auf „Anhöhen, Hügeln und Bergen“<br />

Feuer angezündet werden „gleich den Oster- und Johannisfeuern“. Am Festtag selbst<br />

sollten Tore, Türme und öffentliche Gebäude geschmückt und beflaggt werden. Darüber<br />

hinaus sollten sich alle Festteilnehmer „zum Anhören der Predigt“ versammeln, denn die<br />

Nationalfeste sollten auch dazu beitragen, „Staat und Kirche zum Besten des Volks in gemeinschaftlicher<br />

Wechselwürkung zu setzen“. Wettspiele der männlichen Jugend sollten<br />

das Nationalfest ebenso umrahmen wie Waffenübungen der Landwehr, Tanz und Schauspiel.<br />

Während der dreitägigen Feierlichkeiten könne in den Kreisstädten die Wahl für ein<br />

ständisch zusammengesetztes Nationalparlament durchgeführt werden. 3<br />

Die von <strong>Jahn</strong> übernommenen Festelemente ergänzte Arndt um weitere. So sollte die<br />

feierliche Feststimmung durch einen um den Kopf gewundenen Eichenlaubschmuck erhöht<br />

werden. Die national orientierte Presse griff den Gedanken zur Feier eines deutschen<br />

Nationalfestes am 18. und 19. Oktober 1814 sogleich auf, so dass die Idee in kürzester<br />

Zeit in nahezu allen Teilen Deutschlands begeisterte Anhänger fand. In der 1815 erschienenen<br />

Dokumentation „Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel“ wurden<br />

auf 1.146 Seiten 780 Völkerschlacht-Feiern beschrieben, deren Gesamtzahl vermutlich<br />

noch viel größer war, weil viele Kleinstädte und Dörfer, in denen ebenfalls gefeiert wurde,<br />

in diesem Bericht keine Erwähnung gefunden haben. 4<br />

Die offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Völkerschlacht in der preußischen<br />

Metropole ließen erkennen, dass „Hof, Regierung und Militärführung zwar daran<br />

3 Alle Kurz-Zitate nach Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland<br />

(1808-1847), München 1984, S. 113.<br />

4 Vgl. Karen Hagemann: „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht<br />

zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, S. 485.<br />

7


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

interessiert waren, die Bedeutung dieser Schlacht besonders hervorzuheben, in der Form<br />

aber nicht über den Rahmen der üblichen Dank- und Siegesfeiern hinausgehen wollten.<br />

In Konkurrenz dazu standen in Berlin vor allem die von den Turnern veranstalteten Feiern,<br />

die breite Bevölkerungskreise anzogen. Selbst hier waren […] der Landespatriotismus<br />

und die Regentenverehrung insbesondere in den Liedern, Gedichten und ‚Lebehochs’<br />

unübersehbar“. 5<br />

Die Gedenkfeier der Turner in der Hasenheide hatte am Abend des 18. Oktober begonnen.<br />

Der Turnplatz und die umliegenden Häuser waren festlich beleuchtet, auf dem<br />

65 Fuß hohen Klettermast brannte ein weithin sichtbares Signalfeuer. Am Erdboden<br />

entzündeten die Turner „Freudenfeuer“ aus Eichenstämmen, sangen patriotische Lieder,<br />

brachten „Lebehochs“ auf den König und die tapferen Kämpfer der Völkerschlacht aus<br />

und liefen um die Wette hinauf auf die Rollberge. Am Nachmittag des 19. Oktober veranstalteten<br />

die Turner ein öffentliches Schauturnen zum „Gedächtnis der Rettungsschlacht<br />

von Leipzig“, das neben Fürsten und Fürstinnen des Königlichen Hauses mehr als 10.000<br />

Menschen aus Berlin und den umliegenden Städten besucht haben sollen. 6 Auch eine<br />

zweite Turngesellschaft, die seit Juli 1814 im mecklenburgischen Friedland bestand und<br />

mit <strong>Jahn</strong> und den Berliner Turnern einen regen Austausch unterhielt, gedachte im Oktober<br />

1814 der Völkerschlacht. 7<br />

Die Begeisterung für die Organisation dieser nationalen Gedenkfeiern ließ in den<br />

nächsten Jahren nach. Unter dem Vorzeichen der seit 1815 einsetzenden Restauration<br />

sahen sich die Regierungen der Staaten des Deutschen Bundes jetzt veranlasst, dem Festgeschehen<br />

einen landespatriotisch-militärischen Charakter zu verleihen – wenn sie das<br />

Fest überhaupt gestatteten. In Deutschland wären in den Jahren 1816 und 1817 wohl<br />

kaum noch Völkerschlacht-Gedenkfeiern inszeniert worden, wenn die inzwischen in vielen<br />

Städten und Gemeinden existierenden Turngesellschaften die Organisation dieses Nationalfestes<br />

nicht zu ihrer ureigenen, von ihrem Berliner Mentor <strong>Jahn</strong> propagierten Sache<br />

gemacht hätten. „Durch die jährliche Wiederholung der Feste und der sie ausfüllenden<br />

Gestaltungselemente konnte in Deutschland zum ersten Male so etwas wie ein nationales<br />

Ritual entstehen. Den organisierten Turnern kommt primär das Verdienst zu, dieses zwischen<br />

1814 und 1819 ausgebildet zu haben.“ 8<br />

5 Ebda., S. 489.<br />

6 Ebda., S. 488; s. auch Düding (wie Anm. 3), S. 115.<br />

7 Vgl. Friedländer Turnalbum. Jahrbuch des Turnplatzes zu Friedland angefangen im Jahre 1814,<br />

übertragen, bearbeitet und kommentiert von Wolfgang Barthel, Dietrich Grünwald und Eberhard<br />

Jeran, Hamburg 2000, S. 107.<br />

8 Düding (wie Anm. 3), S. 118.<br />

8


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Zur Schaffung einer nationalen Bewusstseinsbildung beschränkte sich <strong>Jahn</strong> nach dem<br />

antinapoleonischen Sieg keineswegs auf die alljährliche Feier des 18. Oktober. Vielmehr<br />

feierte er mit seinen Turnern seit 1815/16 auch am 31. März (zum Gedenken an den<br />

Einzug der Verbündeten in Paris am 31. 3. 1814) und am 18. Juni (zur Erinnerung an die<br />

Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815) nationale Gedenktage, die er in seiner 1816 veröffentlichten<br />

„Deutschen Turnkunst“ mit dem 18. Oktober zu „Denktagen der Erlösung,<br />

Auferstehung und Rettung des Deutschen Volks“ erklärte. 9<br />

Ganz im Sinne der von seinem Gesinnungsfreund Ernst Moritz Arndt bereits 1814<br />

formulierten Position begriff <strong>Jahn</strong> die antinapoleonischen Kriege als Freiheitskriege und<br />

nicht als Befreiungskriege. Während die patriotisch orientierten Zeitgenossen mit dem<br />

seit dem 18. Jahrhundert geläufigen Wort Freiheitskrieg die Vorstellung verbanden, die<br />

Völkerschlacht habe auch die Freiheit der Nation bzw. die der beteiligten „Völker“ und<br />

sogar des Individuums bewirken wollen, meinte der in der Presse erst nach 1816 aufgekommene<br />

Begriff Befreiungskrieg lediglich die Befreiung von der Herrschaft Napoleons<br />

und damit die äußere Freiheit. Unter den Bedingungen der Restauration stilisierte <strong>Jahn</strong><br />

die „Leipziger Schlacht“ in seinen 1828 erschienenen „Neuen Runen-Blättern“ zu einem<br />

Meilenstein national-deutscher Geschichte: „Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande<br />

unser Vaterland wieder und im Auslande unsere Volksehre. Getrost und guten Mutes<br />

können wir vor jedes Volk hintreten und mit innigem Volksgefühl ausrufen: Wir sind<br />

Deutsche! Unser Name ist wieder ein Ehrenname, und die Leipziger Schlacht hat unsere<br />

2000jährige Geschichte vom Untergange gerettet.“ 10<br />

Mit dieser und anderen nahezu gleichlautenden Äußerungen hat <strong>Jahn</strong> wie viele seiner<br />

national-deutsch gesinnten Zeitgenossen und Nachgeborenen dazu beigetragen, dass<br />

die Völkerschlacht „zum wirkmächtigen Nationalmythos des 19. Jahrhunderts geformt<br />

wurde“. 11 Das von <strong>Jahn</strong> so verehrte preußische Königshaus der Hohenzollern gedachte<br />

freilich nicht des Freiheits-, sondern des Befreiungskrieges. Die in den Geschichtsbüchern<br />

des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ständig wiederkehrende Formel „Der König<br />

rief, und alle, alle kamen“ diente allein der Verherrlichung der Hohenzollerdynastie und<br />

„verklärte die Grenze zwischen Monarch und Bürger“. 12<br />

9<br />

Zit. nach Carl Euler (Hrsg.): <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Werke, Bd. 2,1, Hof 1885, S. 112.<br />

10 Ebda., S. 463-464. Siehe auch den Beitrag von Gerd Steins in diesem <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>!<br />

11 Puschner (wie Anm. 1), S. 145.<br />

12 Kirstin Anne Schäfer: Die Völkerschlacht. In: Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von Etienne<br />

Francois und Hagen Schulze, Bd. II, München 2001, S. 187 – 201, hier S. 193.<br />

9


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Das Völkerschlachtdenkmal – die „Irminsul des deutschen Volkes“<br />

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nahm der 2. September, der Tag<br />

des Sieges der preußisch-deutschen Truppen über die Heere Napoleons III. bei Sedan am<br />

2. September 1870, zunehmend den Charakter eines Nationalfeiertages an. Der verblassenden<br />

Erinnerung an die Völkerschlacht suchte der 1894 auf die private Initiative des<br />

Architekten Clemens Thieme gegründete „Deutsche Patriotenbund zur Errichtung eines<br />

Völkerschlacht-Nationaldenkmals“ entgegenzuwirken. Diese Idee konnte in den nächsten<br />

15 Jahren mit finanzieller Unterstützung vaterländischer Vereine wie der Gesang-, Schützen-<br />

und Turnvereine, mit groß angelegten Lotterieaktionen und anderen Zuwendungen<br />

etwa von Städten und Gemeinden verwirklicht werden. Der erste Spatenstich erfolgte<br />

am 18. Oktober 1898, so dass die Einweihung des 91 m hohen Völkerschlachtdenkmals<br />

zur Jahrhundertfeier am 18. Oktober 1913 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II, der<br />

Bundesfürsten und mehrerer zehntausend Zuschauer vollzogen werden konnte. Der deutsche<br />

Kaiser, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Regierungs-Jubiläum feierte, fand an dem<br />

kolossalen Denkmal allerdings keinen Gefallen, weigerte sich gar, eine Rede zu halten und<br />

verließ die Denkmal-Einweihung bereits eine Stunde früher als geplant.<br />

Nach den Vorstellungen der Initiatoren sollte dieses Denkmal ein Denkmal des Freiheitskrieges<br />

sein, ein Denkmal vom und für das Volk. Als Vorsitzender des „Deutschen<br />

Patriotenbundes“ und Hauptredner der Einweihungsfeier ließ Clemens Thieme daran<br />

keinen Zweifel, wenn er sagte: „So hat das deutsche Volk sein Denkmal für die Befreiung<br />

aus großer Not sich selbst zur Ehre errichtet, […] Was einst Ernst Moritz Arndt sagte,<br />

muß Wahrheit für alle Zukunft bleiben: Das Völkerschlachtdenkmal muß die Irminsul<br />

des deutschen Volkes sein, wohin es am 18. Oktober jedes Jahres seine Schritte und seine<br />

Gedanken lenkt […].“ 13 Gleichsam als preußisch-dynastischen Gegenentwurf zum Völkerschlachtdenkmal<br />

hatte der Kaiser den Bau der Siegesallee in Berlin in Auftrag gegeben,<br />

die zum eigentlichen Sinnbild der Ära Wilhelms II. wurde.<br />

Nationale Begeisterung: „Eilbotenläufe“ der Deutschen Turnerschaft (DT) zur<br />

Denkmalseinweihung<br />

Mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals erreichte die Woge nationaler Begeisterung,<br />

die das Jahr 1913 durchzog, ihren Höhepunkt. Daran hatten die so genannten<br />

Eilbotenläufe der 1913 rund 1.315.000 Mitglieder zählenden Deutschen Turnerschaft<br />

(DT) einen großen Anteil. An diesen Stafettenläufen beteiligten sich schließlich über<br />

40.000 Turner. In neun Hauptläufen und weiteren Nebenläufen liefen die Teilnehmer<br />

sternförmig aus allen Teilen Deutschlands nach Leipzig. Damit alle Gruppen möglichst<br />

gleichzeitig in Leipzig eintrafen, mussten die Strecken genau berechnet werden.<br />

13 Zit nach Puschner (wie Anm. 1), S. 156; Irminsul – Heiligtum<br />

10


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Landkarte mit Plan der Eilbotenläufe<br />

Einband Buch mit Urkunden zu Läufen<br />

Urkunde Nebenlauf Stuttgart<br />

11


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Die Bilanz der Verantwortlichen liest sich so: „Von allen Städten und Orten, da in<br />

diesem urgewaltigen Kampf unsers Volkes auf Leben und Tod gekämpft und Blut vergossen<br />

ward, von allen Flüssen und Bergen, wo große Deutsche wohnten und wirkten, eilten<br />

vom 16. Oktober an Turner, in endlosen Ketten aufgestellt, und im Abstand von 100 bis<br />

300 m, Tag und Nacht über Höhen und durch Täler, über die deutschen Mittelgebirge<br />

und die Tiefebenen des Nordens und reichen sich von Hand zu Hand einen Köcher mit<br />

einem Gruß von all den Stätten, deren Namen in der deutschen Geschichte unvergänglich<br />

bleiben werden.<br />

Von der Katzbach und von der Ruhmeshalle bei Kelheim, von Gravelotte und Waterloo,<br />

von den Buchenwäldern der Insel Rügen und von den Höhen bei Apenrade, von<br />

Straßburg und vom Hermanns-Denkmal, vom Niederwald und von der Heimat Zeppelins,<br />

vom Hohenzollernberg und der Körner-Eiche bei Wöbbelin, allüberallher haben<br />

die Turner Grüße gebracht, um am Fuße des Völkerschlachtdenkmals ihren Fürsten und<br />

ihrem Volke zu bezeugen, daß sie noch immer mit derselben Treue und Liebe für ihr<br />

Vaterland erglühen, mit der einst <strong>Jahn</strong> und seine Jünger frohgemut als Lützower in den<br />

Befreiungskampf zogen. Und nicht allein das ganze Deutschland sollte es sein, auch unsre<br />

Turnbrüder jenseits des Ozeans, die deutschen Turner in Nord- und Südamerika, trugen<br />

eilenden Fußes ihre Botschaft zum Kapitol in Washington nach New York und von Santa<br />

Cruz und Porto Allegre, von Santa Maria da Bocca de Monte an die Gestade des Meeres,<br />

um dann ihren Gruß deutschen Schiffen zu übergeben, die in Bremen die Botschaft aus<br />

der Ferne durch deutsche Turner in das Herz Deutschlands tragen ließen.“ 14<br />

Vorabend des Ersten Weltkrieges<br />

Die Eilbotenläufe der Deutschen Turnerschaft anlässlich der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals<br />

waren allerdings nicht die einzigen nationalbewegten Massenveranstaltungen,<br />

die die deutschen Turner im Vorjahr des Ersten Weltkrieges inszenierten. Vom<br />

13. bis 16. <strong>Mai</strong> veranstaltete der „Verband der Turnerschaften auf Deutschen Hochschulen“<br />

ein Turnfest in Gotha. Der Festredner gab sicher die Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung<br />

wieder, wenn er sich am Vorabend eines Weltkrieges wähnte: „Die Geschichte<br />

bewegt sich in Kreisen; sie scheint das große Spiel vor 100 Jahren wiederholen zu wollen.<br />

Wir haben in den letzten Jahren mehr als einmal das Gefühl gehabt, als ständen wir am<br />

Vorabend eines Weltkrieges, wie vor 100 Jahren, eines Krieges, in dem wir noch einmal<br />

um unsere Existenz werden ringen müssen.“ 15<br />

14 Deutsche Turn-Zeitung 58 (1913) 44, S. 849.<br />

15 Zit. nach: Wolfram Siemann: Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913.<br />

In: Dieter Düding, Peter Friedemann, Paul Münch (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische<br />

Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 298-320,<br />

hier S. 307.<br />

12


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Nur wenig später, am 8. Juni 1913, erfolgte in Anwesenheit des Kaisers und mehr<br />

als 50.000 Turnern „Die Weihe des deutschen Stadions“ in Berlin. Das 12. Deutsche<br />

Turnfest, das vom 12. bis 16. Juli 1913 wie bereits 50 Jahre zuvor zum Gedenken an<br />

die Völkerschlacht in Leipzig stattfand, war das größte Nationalfest der Turner bis zum<br />

Ersten Weltkrieg. Von den 65.000 Festteilnehmern nahmen 17.000 an den Freiübungen<br />

teil. Etwa 200.000 Zuschauer besuchten diese Großveranstaltung, die vom Geist des<br />

„Deutschlandliedes“ geprägt war. Die <strong>Jahn</strong>-Verehrung der Turner erreichte einen vorläufigen<br />

Höhepunkt: Erinnert wurde an den „Turnvater“, der vor mehr als 100 Jahren<br />

die Wehrhaftmachung der deutschen Jugend propagiert und sich als Kriegsfreiwilliger<br />

dem Freikorps Lützow angeschlossen hatte. Die Deutsche Turnerschaft bemühte sich verstärkt<br />

um den Erwerb von <strong>Jahn</strong>s ehemaligem Wohnhaus in Freyburg an der Unstrut, und<br />

nicht zufällig erschien 1913 die im Auftrag der DT von Wolfgang Meyer herausgegebene<br />

Sammlung der Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s.<br />

Nicht nur im Rückgriff auf das Jahr 1813 war der Krieg das zentrale Thema beinahe<br />

jeder Jubiläumsfeier des Jahres 1913, vielmehr wurde der Krieg geradezu beschworen als<br />

die größte Herausforderung der eigenen Zeit. „Der Mythos der Befreiungskriege vermittelte<br />

ein nicht mehr zeitgemäßes, verklärendes Kriegsbild und stimmte ein auf eine<br />

bevorstehende große vaterländische ‚Völkerschlacht’, die bisweilen auch schon ‚Weltkrieg’<br />

genannt wurde.“ 16<br />

Etwa eine Woche vor der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals fand auf dem<br />

hohen „Meißner“ im Kaufunger Wald in Nordhessen ein Treffen lebensreformerischer<br />

Gruppen statt. In seinem Roman „1913“ bezeichnet Florian Illies diese Zusammenkunft<br />

als das „deutsche Woodstock der letzten Generation“, die noch im 19. Jahrhundert das<br />

Licht der Welt erblickte. Die Zusammenkunft der „Wandervögel“ und „freideutschen“<br />

Jugendbünde bewertet er als Protest „gegen die pompöse Deutschtümelei“ bei der Einweihung<br />

des Völkerschlachtdenkmals. 17<br />

<strong>2013</strong> stellt sich die Stadt Leipzig einer großen Jubiläumsherausforderung: „200 Jahre<br />

Völkerschlacht und 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal“. Eine Gedenkwoche im Geiste der<br />

Völkerverständigung ist der Höhepunkt des umfangreichen Veranstaltungsprogramms,<br />

zu dem Bürger, Wissenschaftler, geistliche und politische Würdenträger aus ganz Europa<br />

erwartet werden. 18<br />

16 Siemann (wie Anm. 15), S. 316.<br />

17 Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt 2012, S. 239.<br />

18 Vgl. www.voelkerschlacht-jubilaeum.de.<br />

13


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

„Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande<br />

unsere Volksehre.“<br />

Denktage und Nationalfeste nach der<br />

Völkerschlacht<br />

Gerd Steins<br />

Jean-Jacques Rousseau empfiehlt erstmals 1758 den Genfer Bürgern zur Lobpreisung<br />

ihres glücklichen Zustandes patriotische Feste zu veranstalten, und er rät 1772 den Polen,<br />

in jedem Jahrzehnt ein vaterländisches Fest abzuhalten, welches die historischen Verdienste<br />

und Ereignisse ihrer Nation darstellt. Mit Bezug auf die antiken Olympischen Spiele<br />

schlägt er vor, öffentliche Spiele und Wettstreite, Feiern und Zeremonien zu entwickeln,<br />

um im Volk Vaterlandsliebe zu erwecken, und der französische Architekt Étienne-Louis<br />

Boullée entwirft kurz vor der Französischen Revolution noch für das Ancien Régime für<br />

300.000 Zuschauer eine riesige Fest-Arena, die aber nie gebaut wird.<br />

Hauptsächlich <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> und Ernst Moritz Arndt publizieren Anfang des<br />

19. Jahrhunderts die Idee, große nationale Volksfeste einschließlich turnerischer Wettkämpfe<br />

zu etablieren, die in der Provinz anfangen und in einem hauptstädtischen Fest<br />

münden sollen. Einige heute weniger bekannte Redner legitimieren nationale deutsche<br />

Volksfeste mit dem Bezug auf die antiken Olympischen Spiele. So hält z. B. der Rektor<br />

des Lyzeums in Prenzlau, Karl <strong>Friedrich</strong> August Grashof (1770 – 1841), in der Prenzlauer<br />

Gelehrten <strong>Gesellschaft</strong> am 3. <strong>Mai</strong> 1813 die Rede Deutschlands Wiedergeburt und Einheit –<br />

Ein Blick in die Zukunft, in der er dem Trend der Antike-Rezeption folgend ausführt: „Was<br />

einst die Olympischen Spiele für Griechenland waren, das müssen deutsche Feste für Deutschland<br />

sein.“ und: „Jährlich einmal versammle sich ein Teil deutscher Jünglinge und deutscher<br />

Männer, zu kämpfen um den Preis, der die Kraft des Armes, der die Kraft des Geistes kröne.<br />

Der Versammlungsort sei im Herzen des Landes, entweder da, wo der Reichsrat das verschiedene<br />

Interesse zu einem verknüpft, oder da, wo in entscheidender Schlacht auf deutschem Boden<br />

deutsche Freiheit zu uns wiederkehre.“ 1<br />

Nachdem der Berliner Turnbetrieb 1813 durch die Teilnahme vieler Turner am Unabhängigkeitskampf<br />

gegen die französische Herrschaft und auch unter Zerstörungen gelitten<br />

hatte, werden der Turnplatz ab 1814 zielstrebig ausgebaut und ein regelmäßiger<br />

Turnbetrieb mittwochs und samstags (schulfreie Nachmittage) organisiert. Dazu gehören<br />

auch öffentliche Turnprüfungen, sogenannte große Turntage, an denen die Turner ihre<br />

Turnfertigkeiten vorführen. Ein erster großer Turntag (Abturnen) in der Hasenheide be-<br />

14


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

schließt am Mittwoch, dem 27. Oktober 1813, das Turnen unter freiem Himmel. Im<br />

folgenden Jahr wird mit einem großen Turntag (Anturnen) am Mittwoch, dem 15. Juni<br />

1814, das Freiluftturnen wieder begonnen.<br />

Da <strong>Jahn</strong> sich von April 1813 bis Anfang August 1814 überwiegend außerhalb Berlins<br />

aufhält, liegt die Leitung des Berliner Turnplatzes in den Händen von Ernst Bernhard<br />

Eiselen und Johann Jakob Wilhelm Bornemann. Bornemann veröffentlicht Anfang August<br />

1814 seine zweite Schrift 2 über das <strong>Jahn</strong>sche Turnen, in der er aus erster Hand über<br />

Entwurf zu einem teutschen National-Denkmal des entscheidenden Sieges bei Leipzig.<br />

Entwurf u. Zeichnung: <strong>Friedrich</strong> Weinbrenner, Kupferstich, Oktober 1814.<br />

Innerhalb des mit einem Basrelief geschmückten Carrées (Seitenlänge 200 Fuß, Höhe 50 Fuß) erhebt<br />

sich ein 100 Fuß hoher Tempel auf einer Grundfläche von 100 x 100 Fuß. Dieses Monument des<br />

Ruhms und des Sieges wird von einem Triumphwagen gekrönt, worin die Liebe, die Weisheit und die<br />

Stärke sitzen. Eine Viktoria hält den Siegerkranz über sie (1 Fuß = 0,31385 m).<br />

Weinbrenner schlägt vor, hier jährlich ein großes National- und Gedächtnisfest mit Gottesdiensten,<br />

zweckmäßigen Waffenspielen, Tänzen und Mahlzeiten am 16., 18., 19. Oktober abzuhalten.<br />

15


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Turntage berichtet: „An dem sogenannten großen Turntage, wo am 15ten Juni d. J. [=1814],<br />

einer öffentlichen Prüfung nicht unähnlich, konnte leicht ihre Zahl [die der Zuschauer] gegen<br />

Zweitausend seyn. Übertraf die körperliche Kraft, Ausdauer, Gewandtheit und Fertigkeit<br />

allgemein die Erwartung: so erfreute fast noch mehr die Stille, die Fröhlichkeit, Folgsamkeit<br />

und Sittlichkeit der Zöglinge, deren von sechs bis sechzehn Jahren – denn die Siebzehnjährigen<br />

tragen das Schwerdt – doch gegen dreihundert versammelt seyn mochten. Männer, auf deren<br />

Urteil die Anstalt stolz seyn darf, sprachen laut hierüber mit Wohlgefallen ihre Zufriedenheit<br />

aus.“ 3 –“Als große Turntage ... wo ohne Ausnahme jeder Teilnehmer zugegen seyn muß, und<br />

keiner anders als im Turn-Anzuge erscheinen darf, denn es sind die Ehrentage zur Ablegung<br />

öffentlichen Zeugnisses, könnten folgende denkwürdigen Tage allgemein festgesetzt werden.<br />

1. der 31ste März: das Ziel der großen<br />

Anstrengung vorzüglich Preußischer Waffen,<br />

mit welchem Tage, zum beginnenden<br />

Frühling zugleich überhaupt die Turnübungen<br />

eines jeden Sommers zu eröffnen<br />

seyn würden. 2. Der 3te August: denn<br />

auch die Jugend muß nach ihrer Weise<br />

dies Fest der Freude, Dankbarkeit, Liebe<br />

und Ehrfurcht begehen. 3. Der 18te October:<br />

wo Deutschlands Schmach gerächt<br />

und zerbrochen ward der Knechtschaft<br />

Kette; zugleich als herbstlicher Schlußtag<br />

der Übungen. Was an diesen denkwürdigen<br />

Tagen aus vollem Herzen durch den<br />

Mund des Lehrers in die jugendlichen<br />

Gemüther zu legen sey, bleibe der besonnenen<br />

Wahl des Lehrers überlassen. Wohl<br />

anstehen wird es nicht minder, an diesen<br />

Tagen in einem frohen Liede die Wichtigkeit<br />

des Tages zu singen, zur Begeisterung<br />

für König und Vaterland. Es kömmt<br />

hier nicht an auf voll- und vielstimmigen<br />

Kunstgesang; durch Innigkeit und Herzlichkeit,<br />

erhebt auch das Einfache sich<br />

16<br />

Johann August Wilhelm Besser<br />

* 1780 in Quedlinburg<br />

† 1841 in Quedlinburg.<br />

Titelblatt seiner Schrift Über Volksspiele,<br />

Quedlinburg: 1816.<br />

zum Erhabenen.“ 4 Die Gestaltung der<br />

großen Turntage entspricht in der grundsätzlichen<br />

Ausrichtung dem Volksfest,<br />

wie es <strong>Jahn</strong> im Volksthum vorsieht, die<br />

denkwürdigen Tage sind der politischen<br />

Entwicklung seit 1813 geschuldet.


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Es ist Ernst Moritz Arndt, der in einer Flugschrift von April 1814 die Gründung einer<br />

Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> und den 20. Februar 1810 (Andreas Hofers Todestag) und möglicherweise<br />

als erster den 18. Oktober 1813 (Völkerschlacht 5 ) als Anknüpfungstage 6 für deutsche<br />

Nationalfeste vorschlägt. 7 Arndt nimmt damit die von <strong>Jahn</strong> im Volksthum geforderten<br />

schicklichen Tage auf, passt sie an die politische Lage an, ohne aber sich auf <strong>Jahn</strong> zu berufen.<br />

Parallel hierzu hält <strong>Friedrich</strong> Kohlrausch (1780 – 1860) Anfang des Jahres 1814 in Barmen<br />

sechs Reden unter dem Titel Deutschlands Zukunft, die im April/<strong>Mai</strong> 1814 gedruckt<br />

vorliegen. In diesen Reden schlägt Kohlrausch neben den übrigen Schulen gymnastische 8<br />

Schulen vor und die Einführung regelmäßiger Nationalfeste nach antikem Vorbild unter<br />

Einbindung von militärischen, gymnastischen, literarischen und musischen Wettstreiten<br />

bzw. Aufführungen. Diese Nationalfeste sollen alle drei Jahre in Form sogenannter Regionallager<br />

durchgeführt werden: ein preußisches in Magdeburg, ein bayrisches in Nürnberg<br />

und ein österreichisches in Prag: „oder vielmehr die Gegenden dieser Orte; denn diese Feste<br />

sollen ächt kriegerischer Art seyn, und Mühe mit dem Genusse, männliche Kraftanstrengung<br />

mit der Freude des großen Zusammenlebens vereinigen; und daher ist das eigentliche Feldlager,<br />

das Leben und Hausen im Freien, unerläßliche Bedingung.“ 9<br />

Diese drei regionalen Nationalfeste sollen in einem Vereinigungspunkt des ganzen<br />

deutschredenden Volkes ihren Höhepunkt finden. Daher schlägt Kohlrausch vor, nach drei<br />

mahl dreien der regionalen Feste, also immer im zwölften Jahr, ein einziges, zentrales Nationalfest<br />

zu begehen. Als Ort dieses Festes kommt für ihn nur Leipzig infrage: „Und welcher<br />

Ort und welche Gegend bietet sich uns dazu passender dar, welche hat mehr Ansprüche auf so<br />

hohe Auszeichnung, als die, wo die Deutsche Freiheit in blutiger Völkerschlacht wiedergewonnen<br />

ward, die von Leipzig.“ 10<br />

In einer Besprechung bei der Dank- und Siegesfeier am 1. 5. 1814 in Rödelheim 11<br />

zwecks Etablierung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> beschließen die Teilnehmer (Karl Hoffmann,<br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>, Wilhelm u. <strong>Ludwig</strong> Snell, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> Weidig, Karl<br />

u. Theodor Welcker), den ersten Jahrestag der Schlacht bei Leipzig allerorten zu feiern.<br />

Besonders Arndt trägt mit seiner publizistischen Tätigkeit 12 dazu bei, dass an vielen Orten<br />

in Deutschland, ohne dass es einer zentralen Organisation bedarf, der 18. Oktober 1814<br />

festlich begangen wird. 13 <strong>Jahn</strong> informiert Eiselen über den neuen Denktag am 30. Juni<br />

1814: „An den Denktagen der Leipziger Rettungsschlacht meine ich, müssen wir dann große<br />

Wettspiele der Turnkunst feiern. Vielleicht auch schon einmal früher, wenn das Siegesfest noch<br />

eher fällt.“ 14<br />

Im Rahmen der allgemeinen Erinnerungsfeiern am 18. Oktober 1814 veranstalten die<br />

Turngesellschaften in der Berliner Hasenheide und in Friedland eigene nationale Gedenkfeiern<br />

im Sinne des <strong>Jahn</strong>schen Volksfestes 15 . Ab diesem Tag, der als Geburtsstunde turne-<br />

17


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

rischer Nationalfeste begriffen werden sollte, veranstalten die Turngesellschaften ihre großen<br />

Turntage, also die Turnfeste <strong>Jahn</strong>scher Prägung, nicht mehr an den schulfreien Nachmittagen<br />

(mittwochs und samstags), sondern nur noch an den in der Turnkunst festgelegten<br />

Denktagen 16 : „In jedem Kirchspiel des platten Landes müßte wenigstens ein vollständiger<br />

Turnplatz sein, wo sich dann aus den größern und kleinern Ortschaften die turnfähige Jugend<br />

zusammenfinde, und in jugendlichem Wettturnen versuche. Wenigstens an den Denktagen der<br />

Erlösung, Auferstehung und Rettung des Deutschen Volkes sollte dazu Rath werden. Der 31te<br />

März, 18te Junius und 18te October sind recht eigentlich zu großen Turntagen gewonnen. Im<br />

Laufe der Zeit können gar leicht aus diesen kleinen Anfängen größere Feste werden. Wann dann<br />

die gesammte Jugend erst eingeturnt ist, so wandern die Turnfertigsten aus dem kleinern Ort in<br />

den größern, von dort am folgenden großen Turntage die Preiserringer zur Gaustadt, und so an<br />

jedem kommenden Feste immer weiter zur Mark- und Landesstadt, bis sich endlich die besten<br />

Turner des ganzen Volks am großen Hauptfeste in der Hauptstadt treffen.“ 17<br />

Bereits im Volksthum ist dieses Qualifikationsprinzip bzw. Ausleseinstrument, das konstituierend<br />

für den heutigen nationalen und internationalen Sportbetrieb ist, skizziert: „Jedes<br />

Kirchspiel schickt die Besten von den Obsiegern in Wettspielen und Waffenübungen beim<br />

nächsten Fest in die Kreisstadt: [Zensurstrich] Jeder Kreis wieder die Besten in der Folge in die<br />

Markstadt; die Mark in die Landesstadt. Und so finde sich endlich am Fest des Verdienstes dorthin,<br />

wo der König Hof hält, die Auslese der Jugend und des männlichen Alters zusammen.“ 18<br />

Entsprechend dem Jahreszeitenwechsel schmücken die Turner sich und ihre Geräte mit<br />

grünen Zweigen: „Am 31. März stecken wir Tannenzweige auf unsere Gerüste und Mützen,<br />

am 18. Junius Birkenreis und am 18. Oktober Eichenlaub. So hat denn jeder Tag sein besonder<br />

Festzeichen.“ 19<br />

Seit 1815 nimmt die Zahl der allgemeinen Erinnerungsfeiern des 18. Oktober stark ab,<br />

und von 1816 bis 1819 sind es offensichtlich nur noch die Turngesellschaften, die diese<br />

Gedenkfeier in der Form des Nationalfestes mit Wettturnen organisieren. 20 Dieser rapide<br />

Rückgang der Völkerschlachtfeiern ist möglicherweise der Anlass für den Quedlinburger<br />

Prediger Johann August Wilhelm Besser, im Frühjahr 1816 eine Reformschrift 21 zur Feier<br />

des 18. Oktober zu publizieren.<br />

Unabhängig von <strong>Jahn</strong> und der Turnbewegung erscheint seine Schrift noch vor der<br />

Herausgabe der Deutschen Turnkunst von <strong>Jahn</strong>/Eiselen, denn im Bücherverzeichnis der<br />

Turnkunst ist Bessers Schrift im Abschnitt Spiele auf S. 257 aufgeführt, und da sie nicht<br />

besonders gekennzeichnet ist, haben <strong>Jahn</strong> und seine Mitstreiter dieses Werk entweder zur<br />

Kenntnis genommen oder aber in Besitz gehabt.<br />

Mit ausdrücklichem Bezug auf die großen Volksspiele der Griechen empfiehlt Besser,<br />

Volksspiele zu veranstalten, die die Liebe zum Vaterlande stärken sollen, und schlägt ein<br />

mehrstufiges Festsystem analog der <strong>Jahn</strong>schen Idee aus dem Volksthum vor, das dem Turn-<br />

18


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

tagssystem in der später veröffentlichten <strong>Jahn</strong>schen Turnkunst entspricht: „Diese Provinzial-<br />

Spiele wären indeß nur Vorübungen zu den allgemeinen Deutschen Volksspielen, zu welchen<br />

sich wenigstens die Bewohner des größten Theiles von Deutschland an einem festgesetzten Tage<br />

vereinigten. Welcher Tag könnte hiezu wol passender syn, als der 18te October! – Ein schönes<br />

Thal, wie das Selkethal im Niederharz, oder wie die Aue zwischen Halle und Leipzig, oder die<br />

große Schlachtebene bei Merseburg, wäre der Sammelplatz der Zuschauer und Preisbewerber.“ 22<br />

Wie viele andere vor ihm auch stellt Besser die Überwindung der Standesunterschiede<br />

und das Ziel der Wehrhaftmachung besonders heraus: „Volksfeste befördern auch die Annäherung<br />

der höhern und mindern Stände, und verdienen schon deshalb die Aufmerksamkeit jeder<br />

humanen Regierung. Zu gleicher Zeit üben sie, wie das Wettrennen und Zielschießen, Kraft<br />

und Gewandtheit des Körpers, und sind treffliche Vorübungen zum Kriegsdienst.“ 23 In ähnlicher<br />

Art und Weise, wie <strong>Jahn</strong> eine Wechselwirkung von Staat und Kirche fordert, sieht<br />

auch Besser die Notwendigkeit, Volksspiele mit religiösen Akten zu verbinden: „– sollte es<br />

denn nöthig seyn, um die Kraft des Deutschen Volks zu stählen und einen allgemeinen Volksgeist<br />

zu erwecken, daß man zu solchen Hülfsmitteln, als Turnübungen und Volksspiele sind, seine<br />

Zuflucht nähme? Finden wir nicht vielmehr in dem überall rege gewordenen religiösen Sinne<br />

die sicherste Schutzwehr gegen Alles, was des Vaterlandes Ruhe und Sicherheit stören könnte?<br />

... Überdem, wie herrlich läßt sich nicht bei jenen Volksspielen Religion mit Kunst vereinigen,<br />

indem man z.B. ... am Morgen des 18ten Octobers dieses Fest als ein religiöses Dank- und<br />

Freudenfest einweihete.“ 24<br />

Etwas resignierend schließt Besser seine Reformvorschläge mit der alten Klage über die<br />

vermeintliche Unvereinbarkeit der Bildung von Körper und Geist: „Die bei weitem größten<br />

Schwierigkeiten, die der Ausführung der dargestellten Idee sich in den Weg stellen werden, liegen<br />

wohl darin, daß man noch immer die Bildung des Bürgers von der sogenannten Gelehrten-<br />

Bildung trennt, und daß viele, sehr viele sonst verdienstvolle und in Kunst und Wissenschaft<br />

wohl erfahrene Männer es nicht vermögen, in den Geist unserer Zeit einzudringen, und was sie<br />

bei Erklärung der Werke der Griechen und Römer als schön und herrlich preisen, nun auch auf<br />

das Leben anzuwenden.“ 25<br />

Mit dem An- und Abturnen am 31. März und 18. Oktober 1817 haben die großen<br />

Turntage der Berliner Hasenheide-Turner offensichtlich den höchsten Entwicklungsgrad<br />

erreicht. Anhand zweier Berichte aus der Vossischen Zeitung, die möglicherweise von <strong>Jahn</strong><br />

verfasst worden sind, ergibt sich folgender Festablauf: Nach dem Eintreffen der Turner<br />

wird die Tages- bzw. Turnordnung bekanntgegeben; <strong>Jahn</strong> spricht vor angetretener Turngesellschaft<br />

über die Bedeutung des Festes und über aktuelle Probleme, die die Turngesellschaft<br />

betreffen; das Weihelied Stimmt an mit hellem Klang (Montag, 31. März) bzw. das<br />

Winne- und Wonnelied Hör’ liebe deutsche Jugend (Sonntag, 18. Oktober) wird gemeinsam<br />

gesungen; danach finden turnerische Vorführungen und Wettstreite statt. 26<br />

19


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Der große Turntag am 31. März wird mit dem gemeinsamen Gesang Heil Dir im Siegerkranz<br />

und einem dreifachen Lebehoch auf den König feierlich beendet. Beim großen<br />

Turntag am 18. Oktober stellen sich die Turner im Viererzug auf der Rennbahn auf und<br />

marschieren mit Gesang hinter Fackelträgern zum Höhenfeuer auf die Rollberge. Nach<br />

dem Danklied Auf! Danket Gott und betet an und dem Lebehoch auf den König folgen<br />

Gesang und Ehrenhochs auf die Sieger der Schlacht bei Leipzig, das Vaterland und die<br />

Turnkunst. Eine Rede zur Feier des Leipziger Denktages und ein ernstes Lied beenden um<br />

21 Uhr das Fest. 27 Das Wartburgfest von 1817 (bei dem die sogenannten Burschenturner<br />

ein Schauturnen vorführen) und die bis Oktober 1819 (in Berlin nur bis 18. Oktober<br />

1818) organisierten großen Turntage erfahren im Festablauf keinerlei wesentliche Änderungen<br />

mehr.<br />

Die Turnbewegung stellt zwar die Nützlichkeit einer körperlichen Erziehung unter<br />

dem Gesichtspunkt der künftigen Vaterlandsverteidigung unter Beweis, die private Organisationsform<br />

außerhalb des staatlichen Schulsystems erscheint aber dem preußischen<br />

Staat als potentielle Gefährdung seines Machtmonopols.<br />

Entwurf zu einer Kampfbahn für deutsche Kampfspiele am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig,<br />

die ab 1920 erstmals dauerhaft in Leipzig stattfinden sollten. Die Kampfbahn sollte 280 x 80 m<br />

bedecken. Zu beiden Seiten der Kampfbahn sind große halbkreisförmige Anlagen geplant, die<br />

zur einer Freilichtbühne für künstlerische Aufführungen aller Art und zu einer „Erfrischungsstätte“<br />

dienen können.<br />

Diese Anlage wurde nie gebaut, weil die ersten Deutschen Kampfspiele 1922 im 1913 eröffneten<br />

„Deutschen Stadion“ im Berliner Grunewald stattfanden. Entwurf von B. Schmitz, 1912.<br />

20


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Eine am 16. März 1819 veröffentlichte Verfügung 28 setzt das Turnen in der Hasenheide<br />

so lange aus, bis eine neue Anordnung hierfür erlassen wird. Wenige Tage<br />

danach ersticht der Burschenturner Sand den russischen Gesandten und Schriftsteller<br />

Kotzebue in Mannheim. Die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen münden schließlich in<br />

das Verbot der Turnbewegung in Preußen. Damit endet abrupt die praktische Umsetzungsphase<br />

eines Nationalerziehungsplanes, in dem körperliche Bildung und Turnfeste<br />

im Sinne der <strong>Jahn</strong>schen Wettturn-Nationalfeste als Volkserziehungsmittel zur Entwicklung<br />

und Pflege einer patriotischen Gesinnung erprobt wurden.<br />

<strong>Jahn</strong> erinnert zwar noch einmal ohnmächtig aus seiner Verbannung an die besondere<br />

Rolle des Kriegsortes der Leipziger Völkerschlacht in seinen Runenblättern von<br />

1828: „Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande<br />

unsere Volksehre.“ 29 Er kann aber trotz seiner Appelle das Gedenken an 1813 bei<br />

den wenigen verbliebenen Turngemeinden nicht restaurieren. Erst das 1863 gefeierte<br />

Fünfzig-Jahr-Jubiläum der Leipziger Völkerschlacht ist für den Ausschuss der Deutschen<br />

Turnerschaft eine willkommene Gelegenheit (unter dem Motto Eine hohe nationale<br />

Feier soll begangen werden), die bewegungskulturelle Bedeutung der Turnbewegung<br />

mit einem grandiosen Turnfest zu feiern. Erstmalig wird in Deutschland ein riesiger,<br />

umzäunter Festplatz mit Großraumhalle (Grundfläche 183 x 34 m, max. Giebelhöhe<br />

19 m) für etwa 20.000 teilnehmende Turner aus Holz errichtet und nach Ende des<br />

Turnfestes wieder demontiert. Dieser Festplatz mit Festhalle stellt den Beginn des Baus<br />

großräumiger Sportanlagen dar, deren Größe durch heutige Stadien nur selten übertroffen<br />

wird.<br />

Danach werden 1881 der Allerdeutschentag von Gustav Weck (Breslau), 1888 die<br />

Nationalen Wettspiele von Carl Meyer (Hannover) und 1894 ein Deutsches Olympia von<br />

G. H. Weber (München) vorgeschlagen. Alle Vorschläge beinhalten den Bau einer stationären<br />

Feststätte für nationale Turn- und Kulturfeste zu schaffen, ohne aber konkrete<br />

Baupläne vorzulegen oder einen bestimmten Ort zu benennen, alle Vorschläge landen<br />

im Papierkorb der Geschichte.<br />

Erst als nach 1894 die Deutsche Turnerschaft infolge ihrer vaterländischen Ideologisierung<br />

Pläne für ein deutsch-nationales Olympia bzw. ein deutsches Nationalfest mit<br />

Sportwettbewerben und Kunstdarbietung in Konkurrenz zu den Olympischen Spielen<br />

des Pierre de Coubertins vorlegt, wird auch eine konkrete Festplatzplanung diskutiert.<br />

Die Initialzündung derartiger Nationalfestplanung bildet das Preisausschreiben Wie<br />

sind die öffentlichen Feste des deutschen Volkes zeitgemäß zu reformieren und zu wahren<br />

Volksfesten zu gestalten? vom Oktober 1894, das vom Deutschen Zentral-Ausschuss für<br />

Volks- und Jugendspiele ausgelobt wird. E. Witte (Braunschweig) gewinnt den 1. Preis<br />

in diesem Preisausschreiben und wettert in seinem Aufsatz: Ein internationales Olym-<br />

21


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

pia ist somit ein Unding. Aber wenn es uns gelänge, ein nationales Olympia, ein deutsches<br />

Olympia zu feiern, so würden wir den Sinn der alten Kämpfe im Alpheios-Thale am ersten<br />

treffen.<br />

Dieser Gedanke wird im Oktober 1895 von F. A. Schmidt (Bonn), der ebenfalls<br />

internationale Spiele ablehnt, konkretisiert. Er schlägt seinerseits ein Deutsches Olympia<br />

immer am selben Ort vor. Ferner fordert er, hierfür eine zentrale Kampfstätte zu<br />

erbauen. Wenig später bekräftigt im April 1896 H. Raydt (Hannover) die regelmäßige<br />

Veranstaltung von Nationaltagen für deutsche Kampfspiele (Deutschnationales Olympia),<br />

an denen neben aller Sportdisziplinen auch die Künste beteiligt werden sollen.<br />

Mit diesen Vorschlägen wird das vom Karlsruher Architekten F. Weinbrenner 1814 angeregte<br />

große National- und Gedächtnisfest in Leipzig wieder auf die Tagesordnung<br />

gesetzt. Schließlich treibt ab 1897 ein Ausschuss für deutsche Nationalfeste (ADNF) die<br />

Vorbereitung eines Nationalfestes vor, das nach seiner Meinung nur auf dem Schlachtfeld<br />

bei Leipzig stattfinden kann. Drei Orte, nämlich Goslar, der Kyffhäuser und der<br />

Niederwald bei Rüdesheim werden aber als Feststätte vorgeschlagen und entsprechende<br />

Entwürfe publiziert.<br />

Obwohl im Frühjahr 1898 der Niederwald als Feststätte ausgewählt wird, scheitert<br />

das Vorhaben am Widerstand der Deutschen Turnerschaft, weil sie dieses allgemeine<br />

Nationalfest als Konkurrenz zu ihren Turnfesten ansieht. Damit sind alle Pläne für die<br />

Errichtung eines zentralen Festplatzes bzw. eines Zentral-Stadions im Deutschen Reich<br />

wiederum gescheitert und Leipzig ist als Festort erst einmal aus dem Spiel.<br />

Nachdem die Deutsche Turnerschaft aber anlässlich der 100-Jahr-Feier der Völkerschlacht<br />

bei Leipzig für 1913 das 12. Deutsche Turnfest in die Messestadt vergeben<br />

hat, entwirft Bruno Schmitz, der Architekt des Völkerschlachtdenkmals, eine Kampfstätte<br />

am Denkmal, die für die geplanten Ersten Deutschen Kampfspiele in 1920<br />

genutzt werden sollen. Finanzschwierigkeiten und der folgende Weltkrieg zerstörten<br />

diese Pläne. Nach dem Ersten Weltkrieg werden im Berliner Quasi-Olympiastadion<br />

(Berlin-Grunewald) 1922 die Deutschen Kampfspiele als Ersatz für die Olympischen<br />

Spiele gefeiert. Der Traum eines alle Künste umfassenden Nationalfestes, in dem Turnen,<br />

Spiel und Sport eine wichtige Rolle spielen, ist damit endgültig ausgeträumt.<br />

INFO<br />

Konto der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

Sparkasse Burgenlandkreis, BLZ 800 530 00 • Kto.-<strong>Nr</strong>. 3 040 004 386<br />

22


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Dieser Beitrag ist ein veränderter Auszug aus der vergriffenen Publikation „Die Erfindung<br />

der Turnfeste. Sporthistorische Blätter 11. Berlin: 2002“. Die Kapitelüberschrift ist ein Zitat<br />

aus <strong>Jahn</strong>s Neue Runenblätter, siehe Anm. 29.<br />

1 König 1973, S. 79.<br />

2 Als erste Schrift veröffentlicht Bornemann 1812 ohne Impressum: Der Turnplatz in der<br />

Hasenheide.<br />

3 Bornemann 1814, S. 105. Das Vorwort ist auf Juni 1814 datiert, die Widmung an den<br />

Königlich Preußischen Minister des Innern Herrn von Schuckmann stammt vom 30. Juli<br />

1814.<br />

4 Bornemann 1814, S. 118-119. Die Ehren(Denk-)tage sind: 31. März 1814: Einzug der<br />

Verbündeten in Paris; 3. August 1770: Geburtstag des Königs <strong>Friedrich</strong> Wilhelm III.;<br />

18. Oktober 1813: Völkerschlacht bei Leipzig.<br />

5 Den Begriff prägt Karl Freiherr von Müffling (Oberstleutnant im Generalstab Blüchers)<br />

im neunten Armeebericht vom 19. Oktober 1813: „So hat die viertägige Völkerschlacht<br />

vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.“ Müffling meint damit aber die Heervölker<br />

absolutistischer Herrscher und nicht die Völker Europas, die sich von Napoleons<br />

Herrschaft befreien wollen. Siehe hierzu Schäfer, Kirstin Anne: Die Völkerschlacht. In:<br />

François 2001, S. 187-201.<br />

6 Arndt 1814, Franzosen, S. 35.<br />

7 Düding 1984, S. 113-114.<br />

8 Kohlrausch 1814, S. 92.<br />

9 Kohlrausch 1814, S. 117.<br />

10 Kohlrausch 1814, S. 124.<br />

11 Braun 1983, S. 28. Diese Siegesfeier wird aus Anlaß des Einzuges (31. März 1814) der<br />

Verbündeten in Paris veranstaltet.<br />

Entgegen der Darstellung bei Braun nimmt Arndt nicht an dieser Besprechung teil. Die<br />

von Arndt zu diesem Fest verfaßte Ansprache nebst Danklied und Siegeshymne (Jauchzet!<br />

Das Land ist frei, / Abgethan Tyrannei / Despotenhudelei / Und wälscher Trug) sind in<br />

Loevenich 1913, S. 154-162 dokumentiert.<br />

12 Im Juni 1814 wiederholt und erweitert Arndt seine Vorschläge im Entwurf einer deutschen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> mit dem Anhang Über ein Denkmal bei Leipzig und im September 1814<br />

erscheint bei Eichenberg in Frankfurt/<strong>Mai</strong>n erstmals Arndts Ein Wort über die Feier der<br />

Leipziger Schlacht, in der der Anhang Über ein Denkmal bei Leipzig wiederum abgedruckt<br />

wird, 1815 erscheint eine zweite Auflage dieser Flugschrift mit einem Liederanhang.<br />

13 Siehe hierzu: Düding, Dieter: Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen<br />

Nationalfeste im 19. Jahrhundert. In: Düding 1988, S. 67-88.<br />

14 <strong>Jahn</strong> (Frankfurt/<strong>Mai</strong>n) an Eiselen (Berlin) am 30. Juni 1814. In: Meyer 1930, S. 77.<br />

23


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

15 <strong>Jahn</strong> übernimmt die Grundgedanken aus dem Volksthum und führt im Vorbericht seiner<br />

Turnkunst von 1816 aus: „Fast alle Volksfeste sind durch Vernachlässigung der Turnkunst<br />

eingegangen oder verkommen. Ein jedes Volksfest, was Bestand haben soll, muß seine Zeit<br />

halten, und seinen Ort haben. Geschichtliche Denkwürdigkeit wird im lebendigen Anschauen<br />

männlicher Kraft erneuert, und die Ehrentat der Altvordern verjüngt sich im Wettturnen.<br />

Ein wirres Volksgewoge macht so wenig ein Volksfest, als die bloße Menge einen Jahrmarkt.<br />

Es muß etwas hinzu kommen, was dem Treiben einen Halt giebt. ... Nicht Quaas [Schmaus,<br />

Festgelage, Pfingstbier] und Fraß – Leben und Weben müssen bei jedem Volksfeste vorwalten.“<br />

<strong>Jahn</strong> 1816, S. XVIII-XIX. Die Denktage erinnern an: 31. März 1814: Einzug der<br />

Verbündeten in Paris; 18. Juni 1815: Schlacht bei Belle Alliance (Schönbundfeier); 18.<br />

Oktober 1813: Völkerschlacht bei Leipzig. <strong>Jahn</strong> nimmt nach seiner aktiven Turnerzeit<br />

mehrfach hierzu Stellung: „Die Jahre 1813, 1814 und 1815 haben uns Deutschen drei<br />

Ehrentage gegeben, deren Gedächtnis bis zur spätesten Enkelzeit nicht verschallen darf. – Der<br />

31ste Lenzmonds, der 18te Brachmonds, der 18te Weinmonds sind die hochheiligen Tage, die<br />

zu ewigen Zeiten unter unsern volklichen Hochfesten obenan stehen und allfeierlich begangen<br />

werden müssen. <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828. In: Euler 1885, S. 460. Und: „Die Leipziger<br />

Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande unsere Volksehre.<br />

... Diese Jahresfeier ist Aller Deutschen Tag.“ <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828. S. 106.<br />

16 Es sind nur die Turnfeste aufgelistet, zu denen bisher ein Bericht bzw. Archivnachweis<br />

eingesehen werden konnte. Für weitere ca. 10-15 Turnfeste liegen Hinweise auf Berichte<br />

in der zeitgenössischen Presse vor, die aber noch nicht beschafft werden konnten.<br />

17 <strong>Jahn</strong> 1816, S. 212.<br />

18 <strong>Jahn</strong> 1810, S. 356.<br />

19 <strong>Jahn</strong> (Berlin) an Curtius (Lübeck) am 4. September 1818. In: Langenfeld S. 73.<br />

20 Siehe hierzu: Düding 1984, S. 116.<br />

21 Besser, [Johann August] Wilhelm: Über Volksspiele und deren Einfluß auf Erweckung und<br />

Erhaltung deutscher Kraft und deutschen Sinnes. Ein Vorschlag zur volksthümlichen Gedächtnisfeier<br />

des 18ten Octobers. Quedlinburg: <strong>Friedrich</strong> Joseph Ernst, [1816] 44 S.<br />

22 Besser 1816, S. 14-15.<br />

23 Besser 1816, S. 13.<br />

24 Besser 1816, S. 41-42.<br />

25 Besser 1816, S. 42. Die Turnkunst von <strong>Jahn</strong>/Eiselen hält optimistisch dagegen: „Die Turnkunst<br />

soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen,<br />

der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überfeinerung in der<br />

wiedergewonnenen Mannlichkeit das nothwendige Gegengewicht geben, und im jugendlichen<br />

Zusammenleben den ganzen Menschen umfassen und ergreifen.“ <strong>Jahn</strong> 1816, S. 209.<br />

26 <strong>Jahn</strong> gibt zum 18. Oktober 1817 eine Liedersammlung mit 20 Liedern (Dank- und Denklieder)<br />

heraus, in der Kirchengesänge, Sprechlieder, Winne- und Wonnelieder nebst Notenbeilage<br />

veröffentlicht sind. Diese Liedersammlung ist in Eulers <strong>Jahn</strong>s Werke nicht enthalten.<br />

24


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

1. Stimmt an mit hellem, hohem Klang ... 1772, Text nach Matthias Claudius (*15. August<br />

1740 in Reinfeld, † 21. Januar 1815 in Hamburg): „Die Barden sollen Lied‘ und Wein, doch<br />

öfter Tugend preisen und sollen biedre Männer sein in Taten und in Weisen.“ [4. Strophe]<br />

2. Hör, liebe Deutsche Jugend ... 1814, Text von <strong>Friedrich</strong> Gottlob Wetzel (*14. September<br />

1779 in Bautzen, † 27. Juli 1819 in Bamberg): „Bei Leipzig in der Völkerschlacht, da ward<br />

dem Feind Garaus gemacht, wir schlugen ihn zu Boden! Und Fürst und Volk fiel auf die Knie:<br />

,Gott hat’s gethan!‘ so riefen sie, Und schöpften wieder Odem.“ [4. Strophe, <strong>Jahn</strong> 1817, Lied<br />

12, S. 24-25]<br />

3. Heil Dir im Siegerkranz ... 1793, Heinrich Harries (* 9. September 1762 in Flensburg, †<br />

28. September 1802 in Brügge) veröffentlicht am 27. Januar 1790 in den Flensburger Nachrichten<br />

ein achtstrophiges Lied für den dänischen Unterthan, an seines Königs Geburtstag zu<br />

singen in der Melodie des englischen Volksliedes God save great George the King.<br />

Dieses Lied wird von Balthasar Gerhard Schumacher (1755 – 1801) verändert, auf fünf<br />

Strophen verkürzt und am 17. Dezember 1793 in der Spenerschen Zeitung als Berliner Volksgesang<br />

abgedruckt. 1814 läßt der preußische Geheimrat Louis Schneider 123 000 Exemplare<br />

des Liedes mit Melodie verbreiten, Heil dir im Siegerkranz wird de facto zur preußischen<br />

Hymne erhoben. „Nicht Roß’ und Reisige [= Krieger, Reiter] sichern die steile Höh’, wo<br />

Fürsten stehn. Liebe des Vaterlands, Liebe des freien Manns, gründen des Herrschers Thron,<br />

wie Fels im Meer.“ [2. Strophe]<br />

4. Auf! Danket Gott und betet an ... 1813, Text von Ernst Moritz Arndt: „Da ließ der Herr<br />

vom Himmelssaal die Donnerstrahlen schallen, sie schlug nicht unser Arm noch Stahl, sie sind<br />

durch Gott gefallen; der Held der Helden hats gethan, im Stand zerschmettert liegt ihr Wahn,<br />

ihr Trotz ist stummes Schweigen.“ [3. Strophe, <strong>Jahn</strong> 1817, Lied 1, S. 3-4]<br />

27 Anfang der Turnübungen 1817 und Turntag zur Feier des 18. Oktober 1817 In: Euler 1887,<br />

S. 876-878.<br />

28 „Höheren Befehlen zufolge wird eine Anordnung in Beziehung auf das Turnwesen eintreten,<br />

wodurch solches in den gehörigen Zusammenhang und Verhältniß mit dem ganzen Erziehungswesen<br />

gesetzt und demselben untergeordnet wird.“ In: Berlinische Nachrichten von<br />

Staats- und gelehrten Sachen <strong>Nr</strong>. 32, Dienstag, 16. März 1819, Titelseite.<br />

29 <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828, [Die Leipziger Schlacht] S. 106.<br />

Literatur<br />

– Arndt, E[rnst] M[oritz]: Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht. Frankfurt am <strong>Mai</strong>n: P.W.<br />

Eichenberg, 1814, 22 S.<br />

– Arndt, E[rnst] M[oritz]: Noch ein Wort über die Franzosen und über uns. [Leipzig: Rein] 1814, 48 S.<br />

– Besser, [Johann August] Wilhelm: Über Volksspiele und deren Einfluß auf Erweckung und Erhaltung<br />

deutscher Kraft und deutschen Sinnes. Ein Vorschlag zur volksthümlichen Gedächtnisfeier des<br />

18ten Octobers. Quedlinburg: <strong>Friedrich</strong> Joseph Ernst, [1816], 44 S.<br />

25


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

– Bornemann, [Johann Jakob Wilhelm]: Lehrbuch der von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> unter dem Namen<br />

der Turnkunst wiedererweckten Gymnastik. Berlin: W. Dieterici, 1814, 123 S.<br />

– Braun, Harald: Das politische und turnerische Wirken von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> Weidig. Schriften der<br />

Deutschen Sporthochschule Köln 11. St. Augustin: Hans Richarz, 19832, 388 S.<br />

– Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Studien<br />

zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Bd. 13. München: R. Oldenbourg Verlag,<br />

1984, 357 S.<br />

– François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München: Beck, 2001,<br />

739 S.<br />

– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>: Deutsches Volksthum. Lübeck: Niemann & Co., 1810, 460 S.<br />

– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> / Eiselen, Ernst: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze.<br />

Berlin: 1816, 288 S.<br />

– [<strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>]: Dank- und Denklieder zur Jahresfeier der Leipziger Schlacht. [Berlin:]<br />

1817, 40 S.<br />

– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>: Neue Runenblätter. Vier Rollen. Naumburg: Wildsche Buchhandlung,<br />

1828, 134 S.<br />

– König, Helmut: Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807<br />

und 1815, Teil 2. Monumenta Paedagogica Bd. XIII. Berlin: Volk und Wissen, 1973, 466 S.<br />

– Kohlrausch, Fr[iedrich]: Deutschlands Zukunft. In sechs Reden. Elberfeld: Heinrich Büschler,<br />

1814, 200 S.<br />

– Langenfeld, Hans / Ulfkotte, Josef (Hrsg.): Unbekannte Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> und<br />

Hugo Rothstein. WTB-Schriftenreihe Bd. 6. Oberwerries: 1990, 296 S.<br />

– Loevenich, Joseph (Hrsg.): An Ernst Moritz Arndt. Eine Huldigung Deutscher Dichter und Denker<br />

zur Jahrhundertfeier 1813 – 1913. Leipzig-Raschwitz: Bruno Volger, 1913, 172 S.<br />

– Meyer, Wolfgang (Hrsg.): Die Briefe F. L. <strong>Jahn</strong>s. Quellenbücher der Leibesübungen Bd. 5. Dresden:<br />

Wilhelm Limpert, [1930] 503 S.<br />

Kein Freyburger Sportdialog<br />

DANKE<br />

Der im letzten <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong> (Dez.<br />

2012, S. 11) für Anfang Oktober angekündigte<br />

Freyburger Sportdialog kann<br />

leider nicht stattfinden: Die in Aussicht<br />

gestellte Unterstützung konnte nicht gewährt<br />

werden. Wir werden die Veranstaltung<br />

(oder eine ähnlich geartete) nachzuholen<br />

versuchen.<br />

Wir danken<br />

dem Burgenlandkreis<br />

für<br />

die finanzielle<br />

Unterstützung bei<br />

der Erstellung dieses <strong>Jahn</strong>-<br />

<strong>Report</strong>s.<br />

26


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Zur Festkarte auf<br />

dem Titelbild<br />

Über Turnfeste und deren Festkarten hat<br />

Emil Kaiser eine Betrachtung in der Deutschen<br />

Turnzeitung 1913 veröffentlicht. Die die Festkarte<br />

Leipzig 1913 betreffende Passage ist ein<br />

bemerkenwertes zeitgenössisches Dokument und ist bisher unbemerkt geblieben.<br />

(Kaiser, E[mil]: Die Deutschen Turnfeste und ihre Festkarten. In: Deutsche Turnzeitung<br />

58 (1913), H. 43 vom 23. Oktober 1913, S. 823-824.)<br />

„Wie in dem 12. Deutschen Turnfest zu Leipzig ein ganz bestimmter Stil in der Kleidung<br />

der Turnerscharen, in der Organisation des ganzen Festes, in der Anlage des Festplatzes,<br />

in der Aufeinanderfolge der Massen-, Kreis- und Einzeldarbietungen zu erkennen<br />

war, so bildet auch die Festkarte, vom Leipziger Künstler [Bruno] Hèroux geschaffen, in<br />

Form und Inhalt, in der Raumgliederung und Farbengebung einen gewissen Abschluß<br />

all der jahrzehntelangen Versuche und Bemühungen, eine voll befriedigende Festkarte zu<br />

schaffen; eine solche Festkarte muß den Charakter des Volkstümlichen haben, sie muß klar<br />

zum Ausdruck bringen, daß es sich um eine Veranstaltung der Deutschen Turnerschaft<br />

handelt, die in ihrer Entwicklung parallel geht zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts;<br />

dazu ist eine Kennzeichnung des Landschaftsbildes des Festortes erwünscht, sei es<br />

auch nur durch das Wahrzeichen dieses Festortes. Meisterhaft sind all diese Forderungen<br />

auf der Leipziger Karte erfüllt. Auf engem Raume vereinigt sie die Erinnerung an 1813<br />

und 1863, von der großen Zeit vor hundert Jahren erzählt die volkstümliche Gestalt des<br />

Lützower Jägers, und von der politisch bewegten Zeit am Vorabend der großen Einigung<br />

Deutschlands berichtet der Turner im Gewand von 1863 mit der roten Schärpe, beide<br />

blicken begeistert auf zu dem markigen Vertreter der heutigen Deutschen Turnerschaft,<br />

in ihm die Erfüllung ihrer Träume erblickend. Welche eine Menge von Feinheiten liegt in<br />

den Köpfen und besonders in dem sprechenden Blick und der Haltung dieser Gestalten,<br />

nicht zuletzt auch der Turnerin in der kleidsamen Leipziger Tracht: nicht affektiert schaut<br />

sie drein, sondern im vollen Bewußtsein, daß sie dazu gehört zum deutschen Turnwesen<br />

und daß sie die Bestrebungen unsrer Deutschen Turnerschaft nach ihrer ästhetischen wie<br />

gesundheitlichen Bedeutung voll zu würdigen weiß! So umgeben diese drei Gestalten,<br />

unser Turnerleben zugleich auf die herrlichste Weise poetisch verklärend, die Hauptfigur,<br />

die nicht mehr wie früher nur als kostümierte Figur auftritt, sondern als leibhaftiger<br />

Typus eines Siegers vom Deutschen Turnfest: in der Fülle jugendlicher Kraft und Schöne,<br />

alle Muskeln gestrafft und gestählt: hier ist, wie Lamprecht sagt, das neue Ideal des<br />

Menschenkörpers, nach dem die Kunst jahrzehntelang gesucht: das deutsche Turnen hat<br />

diese Leistung zuwege gebracht! Den Hintergrund des Ganzen aber bildet eine wahre<br />

Symphonie des Lichtes in dem Gewoge der Wolken, die das Leipziger Völkerschlacht-<br />

27


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

denkmal umgeben. Wahrlich, schöner und treffender konnten die Turnerideale des<br />

19. Jahrhunderts nicht zur Darstellung gelangen: <strong>Jahn</strong>s Ideal vom starken Mann mit der<br />

Waffe in der Hand – unser Theodor Körner als Lützower Jäger –; dann das jungdeutsche<br />

Ideal Heubners, der seine Turner zum Kampf für Freiheit, Recht und Einheit begeistert –<br />

der Turner von 1863 – und endlich das neuzeitliche Ideal, das bereits Martens aufgestellt<br />

hat: ‚Wir üben den Körper, wir bilden den Geist‘, oder wie es J.C. Lion umschrieb in<br />

Kantischer und Schillerscher Höhe des Standpunktes: ‚Die Turnkunst ist die Poesie des<br />

Leibes; denn wie der Geist sich in höchster Lust auf den Wellen der Dichtkunst wiegt,<br />

so fühlt sich auch der Körper nie besser und wonnereicher, als wenn sich des Leibes<br />

Gewandtheit und Schönheit im freiesten Spiel der Glieder<br />

ungehemmt entfaltet.‘<br />

Lions Zitat stammt aus dem Aufsatz ‚Berechtigung der<br />

deutschen Turnkunst. In: Der Turner 4 (1849) S.129-137‘<br />

und ist von Kaiser ungenau wiedergegeben, die korrigierte<br />

Stellen sind kursiviert:<br />

„Ich könnte ebensogut oder noch mit mehr Recht sagen, die<br />

Turnkunst ist die Poesie des Leibes; denn gleichwie der Geist<br />

sich in höchster Lust auf den Wellen der Dichtkunst wiegt,<br />

so fühlt man sich auch körperlich nie besser und wonnereicher,<br />

als wenn sich des Leibes Gewandtheit und Schönheit<br />

im freiesten Spiel der Glieder ungehemmt entfaltet.“<br />

Weiterführende Literatur zu diesem Thema findet man in:<br />

– Pfister, Gertrud: Militarismus in der kollektiven Symbolik der deutschen Turnerschaft<br />

am Beispiel des Leipziger Turnfestes 1913. In: Becker, Hartmut (Red.): Sport im Spannungsfeld<br />

von Krieg und Frieden. Fachtagung der DVS-Sektion Sportgeschichte vom<br />

4. – 6. April 1984 in Berlin. dvs-Protokolle 15. Clausthal-Zellerfeld: DVS, 1985, S.<br />

64-79.<br />

– Pfister, Gertrud: Turnen als Erinnerungsort – Mythen, Rituale und kollektive Symbole<br />

auf Deutschen Turnfesten vor dem Ersten Weltkrieg. In: Krüger, Arnd / Rühl, Joachim<br />

K. (Hrsg.): Aus lokaler Sportgeschichte lernen. Jahrestagung der DVS-Sektion Sportgeschichte<br />

vom 12. – 14. <strong>Mai</strong> 1999 in Hoya. Schriften der Deutschen Vereinigung für<br />

Sportwissenschaft Bd.119. Hamburg: Czwalina, 2001, S. 69-87.<br />

– Gerd Steins: Turn-Zeichen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Sporthistorische<br />

Blätter 17. Berlin: Forum für Sportgeschichte, 2012, 48 S., zahlr. Abb.<br />

28


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Leipzig 1913 –<br />

Ein Deutsches Turnfest vor 100 Jahren<br />

Ingo Peschel<br />

Im Jahr 1913 konnte ein<br />

Deutsches Turnfest eigentlich<br />

nur in Leipzig stattfinden.<br />

Die Völkerschlacht, die<br />

zur Befreiung von Napoleons<br />

Herrschaft geführt hatte,<br />

jährte sich zum hundertsten<br />

Mal. Es waren die heroischen<br />

Tage der Freiheits- und Einheitsbewegung,<br />

an die schon<br />

1863 beim 3. Deutschen Turnfest in Leipzig erinnert worden war. Die Deutsche Turnerschaft<br />

(DT) fragte also wegen eines Festes an, und die Stadt sagte sofort zu. Auf einer<br />

Sitzung 1910 in Straßburg erhielt sie einstimmig den Zuschlag und engagierte sich dann<br />

in herausragender Weise, nicht nur finanziell, sondern auch in jeder anderen Beziehung.<br />

Der Ort und die Zeit<br />

Leipzig hatte damals 610.000 Einwohner und war die drittgrößte Stadt des Deutschen<br />

Reiches vor München, Dresden, Köln und Breslau, das Zentrum des Buchhandels<br />

und der Pelzwaren und ein Ort großer Messen. Sein Rang zeigte sich an dem Neuen<br />

Rathaus oder dem Reichsgericht, besonders aber an dem grandiosen Hauptbahnhof, von<br />

dem 1913 die westliche Hälfte fertig war und schon benutzt wurde. Das riesige Völkerschlachtdenkmal<br />

kam jetzt als neue Attraktion hinzu.<br />

Die Stadt war aber auch, wie Sachsen überhaupt, eine Hochburg des Turnens. Die<br />

DT hatte hier nicht weniger als <strong>36</strong> Vereine mit rund 15.000 Mitgliedern. Das war die<br />

weitaus höchste Zahl von allen Großstädten. Ihr Vorsitzender Ferdinand Goetz, der ihre<br />

Geschicke seit über 50 Jahren lenkte, wohnte hier. Auch die Deutsche Turn-Zeitung mit<br />

ihrer unerhört umfangreichen Berichterstattung erschien hier. Man kann sagen, Leipzig<br />

war die deutsche Turnerstadt schlechthin.<br />

Im Rückblick liegt auf dem Jahr 1913 ein besonderer Glanz, Florian Illies sprach kürzlich<br />

vom „Sommer des Jahrhunderts“. Im Juli allerdings, als das Turnfest stattfand, wurde<br />

in Frankreich die Wehrpflicht auf drei Jahre verlängert, in Deutschland die Heeresstärke<br />

29


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

erhöht und auf dem Balkan brach wieder ein Krieg aus. Die Meldungen von dort standen<br />

jeden Tag auf der ersten Seite der Zeitungen. Aber die Kieler Woche ging planmäßig zu<br />

Ende, und danach begab sich der Kaiser auf seine alljährliche Nordlandreise (und besuchte<br />

somit auch dieses Deutsche Turnfest nicht, obwohl er natürlich eingeladen war). Graf<br />

Zeppelin wurde 75 Jahre alt, und in Leipzig gab es seit Ende Juni einen Luftschiffhafen,<br />

von dem aus das Luftschiff Sachsen regelmäßig Fernfahrten mit 15 bis 20 Passagieren<br />

unternahm. In der Leipziger Allgemeinen Zeitung stehen diese merkwürdigerweise unter<br />

„Sport.“<br />

Sport (als Spezialisierung auf eine Disziplin) war ein Dauerthema für die DT. Es hatten<br />

sich Verbände für Spiele, Schwimmen oder Leichtathletik gebildet und den entsprechenden<br />

Abteilungen der Turnvereine war schließlich gestattet worden, dort Mitglied zu<br />

sein. In Leipzig wurden sogar erstmals „Sonderwettbewerbe“ in einzelnen volkstümlichen<br />

Disziplinen (400 m, Weitsprung, Hochsprung, Speerwurf und Kugelstoßen) ausgetragen.<br />

Es war auch geregelt, dass bei Festen der DT geschwommen wurde (es gab einen Zehnkampf<br />

mit Schnell- und Schönschwimmen sowie Wasserspringen), doch dann kamen „die<br />

Schwimmvereinler, die bei Turnfesten gewinnen und den turnerischen Schwimmdilettanten<br />

die Beteiligung verleiden“. 1 Aber es gab noch andere Probleme. So wurde im März<br />

Luftbild des Festplatzes vom Zeppelin aus (Jahrbuch der Turnkunst 1914)<br />

30


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

festgelegt: „Turnern, die als Mitglieder eines<br />

Sportvereins an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen,<br />

ist die Annahme von Wertpreisen nicht<br />

untersagt. Von einem Turnverein Wertpreise anzunehmen,<br />

ist verboten, wie diesen überhaupt<br />

nicht erlaubt ist, Wetturnen mit Wertpreisen<br />

zu veranstalten.“ 2 Mit dem (damals noch sehr<br />

kleinen) Deutschen Fußball-Bund brach ein<br />

Konflikt auf und auch die Olympischen Spiele<br />

1916 standen im Raum. Da sie in Berlin stattfinden<br />

sollten, konnte die DT trotz ihrer Vorbehalte<br />

nicht abseits stehen und nahm auch an der<br />

Einweihung des dafür vorgesehenen Deutschen<br />

Stadions am 8. Juni teil. Dass aber die Eisenbahn<br />

bei dieser Sportveranstaltung den Teilnehmern<br />

Sonderpreise gewährte, dies jedoch beim Leipziger<br />

Turnfest ablehnte, hinterließ einen tiefen<br />

Stachel. Die Empörung zog sich noch lange<br />

durch die Berichte in der Turnpresse, und auch<br />

der Einsatz von 71 Sonderzügen konnte daran<br />

nichts ändern.<br />

Das offizielle Festplakat (Sportmuseum Leipzig)<br />

Zwei andere Stichworte der Zeit hießen Jugendpflege und Jungdeutschlandbund.<br />

Erstere erhielt jetzt überall große Aufmerksamkeit bis hin zur Rubrik in Zeitungen, in<br />

Preußen auch staatliche Unterstützung. Letzterer strebte einen Zusammenschluss aller vaterländischen<br />

Verbände zur Hebung der Wehrkraft an. In beiden Fällen konnte die DT<br />

sagen, dass sie solche Ziele schon immer verfolgt hatte, sah sich aber jetzt einer Konkurrenz<br />

ausgesetzt. Trotz der Riesenzahl von 1,3 Millionen Mitgliedern musste sie sehen, dass sie<br />

ihren „Platz an der Sonne“ behauptete.<br />

Das größte Turnfest vor dem Ersten Weltkrieg<br />

Leipzig bot eine Gelegenheit für die DT, sich in ihrer ganzen Stärke zu zeigen. Schon in<br />

der Einladung hieß es: „Kommt zu einem Feste, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.“<br />

Und in der Tat übertraf dieses 12. Deutsche Turnfest alle vorhergehenden. Ein Schweizer<br />

Beobachter nannte drei Charakteristika: Die Großartigkeit und Vorzüglichkeit aller<br />

Einrichtungen, die Großzügigkeit in den Vorführungen und die Disziplin aller am Fest<br />

beteiligten Personen. 3<br />

Das Festgelände im Norden der Stadt war mit 700 x 700 m doppelt so groß wie fünf<br />

Jahre zuvor in Frankfurt am <strong>Mai</strong>n und enthielt eine entscheidende Neuerung: ein riesiges<br />

31


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Stadion von 200 x 300 m Innenfläche mit hohen Tribünen an allen Seiten. Vorbild für<br />

diese „größte Kampfbahn der Welt“ 4 war eine ähnliche (und ähnlich große) Anlage beim<br />

Sokol-Fest 1912 in Prag gewesen. 5 Zugunsten der Tribünen hatte man auf die bis dahin<br />

übliche Festhalle verzichtet. Sie boten Platz und gute Sicht für 70.000 Personen, und vor<br />

ihnen war noch Raum für eine große Zahl weiterer Zuschauer. Eine der Tribünen war<br />

für die Turner reserviert und enthielt Garderoben, für die Ehrengäste gab es eine überdachte<br />

Loge und für die Musik eine Muschel, die den Schall bündelte. Der Hauptteil des<br />

Innenraums diente den Massenvorführungen, ein Viertel war aber auch mit Turngeräten<br />

belegt. Die Aufforderung „Ferngläser mitbringen!“ zeigt allerdings die Problematik eines so<br />

großen Platzes. Neben dem Stadion gab es Turnzelte, weitere Turnplätze, gastronomische<br />

Einrichtungen und ein Postamt auf dem Gelände.<br />

Auch die Zahl der Teilnehmer mit Festkarte lag mit 62.000 erheblich höher als in<br />

Frankfurt, obwohl ursprüngliche Erwartungen nicht ganz erfüllt wurden. Dabei ist zu<br />

beachten, dass es sich fast ausschließlich um Erwachsene handelte. Fast ein Drittel von<br />

ihnen kam aus Sachsen. Während die meisten im Festzug mitgingen, nahm am Turnen nur<br />

etwa ein Viertel teil. Rund 20.000 Teilnehmer übernachteten in Massenquartieren. Für die<br />

Kampfrichter stellte die Stadt Gästehäuser kostenlos zur Verfügung und sorgte auch für<br />

den Transport zum Festplatz. Die Festkarte kostete 6 M(ark), das Massenquartier 3 M, der<br />

Sonderzug von Königsberg 14,50 M, von Nürnberg 5,70 M, der teuerste Tribünenplatz<br />

10 M, eine Tageseintrittskarte 1,10 M und das Porto für eine Postkarte 5 Pfg.<br />

Der Schwerpunkt des Festes lag (wie teilweise heute wieder) gleich am Anfang. Nach<br />

Anreise und Eröffung am Samstag begann am Sonntag um 6 Uhr früh (!) der Sechskampf.<br />

Später gingen zwei große Festzüge durch die Stadt zum Festplatz und anschließend fand<br />

der Festnachmittag mit den Großvorführungen statt. An diesem Tag waren mindestens<br />

125.000 Besucher auf dem Festgelände, es wurden aber auch 200.000 geschätzt, die Straßenbahn<br />

beförderte 420.000 Fahrgäste mehr als sonst und die Post versah 170.000 Postkarten<br />

und Briefe maschinell mit dem amtlichen Sonderstempel (wozu 11 Stunden nötig<br />

waren 6 ). An den nächsten Tagen gab es weitere Wettkämpfe, das Turnen der Kreise (entsprechend<br />

den heutigen Landesturnverbänden) und der Musterriegen, einen Nachmittag<br />

der Schulen, ein Militärturnen von Soldaten und schließlich am Mittwoch die Siegerehrung<br />

und einen Abschluss mit Feuerwerk. Danach gingen noch etwa 8.000 Teilnehmer auf<br />

Turnfahrt, davon allein 2.700 in die Sächsische Schweiz, einige auch „auf Wandervogelart“.<br />

Die Festatmosphäre<br />

Deutsche Turnfeste hatten immer etwas von nationalen Festen. Dies wurde in Leipzig<br />

besonders deutlich. „Vaterländische Begeisterung soll über ihm schweben...Verbrüderung<br />

aller deutsch Fühlenden soll ihm die Weihe geben!“, hatte Goetz in seinem Grußwort<br />

geschrieben, und bei der Eröffnung sagte der Vorsitzende des Hauptfestausschusses, Dr.<br />

32


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Rothe: „Wenn nun von morgen ab Tausende... hier zeigen werden, was deutsches Turnen<br />

dem Körper an Kraft und Schönheit zu geben vermag, so wollen wir nicht vergessen, dass<br />

es das Vaterland ist, dem diese Arbeit gilt ... “ 7 Die gesamte Veranstaltung war „von patriotischem<br />

Geist durchweht und getragen.“ 3<br />

Trotz bester Voraussetzungen war es nicht ohne weiteres klar, wie stark die Stadt an<br />

dem Fest Anteil nehmen würde. „Wir leben nicht mehr in den kleinbürgerlichen Zeiten<br />

von ehedem, denn die einstige Stadt von nur 100.000 Bürgern ist zur Riesenstadt von nahezu<br />

einer ¾ Million Einwohnern angewachsen. Was einst die ganze Bevölkerung ergriff<br />

und gar nicht unbeachtet bleiben konnte, das versinkt jetzt rasch und leicht im Gewoge<br />

der modernen Weltstadt.“ 8 Aber dann sah es so aus: „Die Straßen und Plätze der Stadt<br />

sind mit Tausenden von Fahnen und Bannern geschmückt, und Girlanden ziehen von<br />

Mast zu Mast, vielfach auch über die Straßen hinweg von Haus zu Haus. In den Straßen,<br />

durch die die beiden Festzüge ihren Weg nehmen, sind auch die Häuser fast ausnahmslos<br />

mit Girlanden und Wappen mit turnerischen Inschriften geschmückt. Überall sieht man<br />

die Büste des Turnvaters <strong>Jahn</strong>“. 9 Rund um den Brühl, wo sich der Pelzwarenhandel befand,<br />

waren die Häuser sogar mit Pelzen dekoriert. Und die „Hypnose der Masse“ zog alle<br />

in ihren Bann. Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ein Außenstehender<br />

zum Festzug: „Es war nicht die einzelne Gruppe, die interessierte, sondern der Zug in seiner<br />

Gesamtheit, voran die braunen Deutschsüdwestafrikaner, dann die von der Westküste<br />

Nordamerikas, die aus Kiautschou usw. Dann Tausende von Deutsch-Österreichern und<br />

endlich in endloser Folge die Reichsdeutschen aus allen Himmelsrichtungen.“ 10 Der Turnkreis<br />

Deutsch-Österreich, 1904 aus der DT ausgetreten, war in einer versöhnenden Geste<br />

offiziell eingeladen worden und erhielt überall sehr starken Beifall. Es regnete Blumen und<br />

es wurden Erfrischungen gereicht. Und während des Einzuges auf den Festplatz überflog<br />

auch die Sachsen den weiten Platz. „Tausendstimmig hallte das Heilrufen hinauf zu dem<br />

stolzen Segler. Es war ein herrlicher Moment.“ 11<br />

Der eigentliche Höhepunkt war dann aber der Festnachmittag, und hier wiederum<br />

die allgemeinen Freiübungen. Schon der Aufmarsch der 17.000 Turner in Weiß hinterließ<br />

einen tiefen Eindruck, und die Vorführung selbst führte zu fast poetischen Schilderungen:<br />

„Jetzt setzt die Musik ein und ein Bild bewegt sich vor unseren Augen, wie es keiner<br />

vergisst, der es mit angeschaut hat. Wie ein Kornfeld, das im Winde wogt, so erscheinen<br />

die Tausende, wenn sie die Arme heben. Die Musik erreicht mit ihrem Ton die rechten<br />

Kolonnen etwas später. So laufen die Hebungen und Senkungen wie die Wellen eines<br />

Meeres...“ 12 Selbst der Berichterstatter des Berliner Tageblattes, der durch eine Reihe<br />

herablassend-ironischer Bemerkungen einige Turbulenzen auslöste, konnte sich der Magie<br />

nicht ganz entziehen. 13 Nach der letzten Übung gab es dann noch eine Steigerung:<br />

Die Musik setzte wieder ein und das ganze weite Feld sang das Deutschlandlied, bevor<br />

das Programm seinen Fortgang nahm. Interessant ist, dass auch diese Vorführung durch<br />

33


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Aufstellung zu den Festfreiübungen (Sportmuseum Leipzig)<br />

Postkarte Festfreiübungen (Stephan Rowold)<br />

34


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Ewald Keßler, Leipzig, der Turnfestsieger<br />

(Stephan Rowold)<br />

Reckübung Karl Ohms, TK Hannover<br />

(Jahrbuch der Turnkunst 1914)<br />

Rund um den Leipziger Zeitmessapparat (Stephan Rowold)<br />

35


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Kampfrichter bewertet wurde: „Die Auswahl der Übungen war glücklich, der Vormarsch<br />

mit den Fahnen und die einheitliche Tracht boten ein glänzendes Bild.“ Noten: Aufmarsch<br />

9 – 10, Ordnung 10, Ausführung 9, Abmarsch 9. Die Experten verglichen auch<br />

mit den bekannt exakten Vorführungen der tschechischen Sokol-Turner und fanden Leipzig<br />

mindestens ebenbürtig (französische Gäste waren allerdings anderer Meinung). 14 Die<br />

einheitliche weiße Kleidung war übrigens nicht ohne weiteres durchzusetzen gewesen, da<br />

früher graue Hosen benutzt wurden. Genau 50 Jahre später, 1963 in Essen, fanden solche<br />

allgemeinen Freiübungen in einem Großstadion das letzte Mal bei einem Deutschen<br />

Turnfest statt.<br />

Das turnerische Programm<br />

Die Struktur des Turnprogramms war anders als heute. Der Schwerpunkt lag auf dem<br />

Massenturnen der Kreise mit Hunderten bis Tausenden von Teilnehmern und den Vorführungen<br />

von rund 1.300 Musterriegen, die alle bewertet wurden. Die Wertungen mit<br />

Teilnehmerzahl, Übungsform und Leiter lassen sich heute noch nachlesen. Daneben gab<br />

es im Wesentlichen nur zwei große Einzelwettkämpfe: einen Sechskampf und einen Zwölfkampf.<br />

Leichter und für eine größere Zahl von Teilnehmern gedacht war der Sechskampf<br />

mit „volkstümlichen“ (leichtathletischen) Übungen, zu denen in Leipzig auch Hangeln<br />

am Tau gehörte. Während die elektrische Zeitmessung hier perfekt arbeitete (der Apparat<br />

war aus Leipzig) und es nur Debatten über die Ausführung gab, war das beim 150 m-<br />

Lauf nicht der Fall. Dadurch zog sich der Wettkampf, an dem 3.750 Turner teil-nahmen,<br />

bis in die Nacht hin. Die Krone des Wettturnens dagegen war der gemischte Zwölfkampf<br />

mit 1.100 Teilnehmern. Wer hier gewann, war der Turnfestsieger. Ein genauerer<br />

Blick auf diesen Wettkampf zeigt, wie hoch damals die Anforderungen waren.<br />

Er bestand aus 8 Geräteübungen (5 Pflicht, 3 Kür) an Reck, Barren, Seitpferd und<br />

Sprungpferd. Dazu kamen eine Pflichtfreiübung mit Stab-, sowie Weitsprung, 100 m-<br />

Lauf und Schleuderballwurf, wobei letzterer für viele eine große Klippe darstellte. Die<br />

volkstümlichen Übungen wurden erst Mitte <strong>Mai</strong> bekanntgegeben, die Geräteübungen<br />

noch zwei Wochen später. Und die Pflichtübungen hatten es in sich. Die Übung am Reck<br />

begann mit Kammgriff-Schwungstemme zum Handstand, halber Drehung, Riesenfelge<br />

und Drehschwungstemme, am Barren war eine Stützkehre enthalten. Man konnte auch<br />

nicht einfach melden, sondern musste ein Probeturnen bestehen, das drei Wochen vor<br />

dem Fest in allen Kreisen stattfand. In einem Beitrag zur „Vorbereitung des Wetturners“<br />

ist zu lesen: „Ich sehe in der Erinnerung, mit welcher Entrüstung bei Probeturnen einzelne<br />

Turner das Urteil aufnahmen, ... wie sie hoch und teuer versicherten, sie würden sich<br />

binnen kurzem alles ihnen Fehlende aneignen ... Auf alle solche Reden kann und darf<br />

der Leiter eines Probeturnens nichts geben.“ 15 Es war also ein schwerer Wettkampf. Nur<br />

271 Turner schafften die Sieggrenze von 100 Punkten (bei 150 möglichen). Auf Rang 17<br />

übrigens ein heute noch bekannter Name: Karl Loges. Die Kürübungen der Besten wur-<br />

<strong>36</strong>


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

den später auf vielen Fotos im Jahrbuch der Turnkunst abgedruckt. Von den ersten Sechs<br />

kamen drei aus München, zwei aus Leipzig und einer aus Breslau. Der Sieger Ewald<br />

Keßler, 28 Jahre, war aus Leipzig, was natürlich sehr gut passte. Von ihm wurde sogar eine<br />

Postkarte hergestellt. Weniger glücklich dürfte die DT über das große Geldgeschenk gewesen<br />

sein, das ihm die Stadt überreichte. Die hohen Schwierigkeiten aber führten schon<br />

damals zu der Frage, wie es weitergehen soll, die Zahl der Zwölfkämpfer ging nämlich zurück.<br />

Man kann die Meinung lesen, das Gerätturnen könnte „schließlich zu einem Sport<br />

weniger hochbeanlagter Turner herabgedrückt“ werden. 16<br />

Weitere Wettkämpfe im Schwimmen, Fechten und Ringen, Staffeln, Tauziehen und<br />

eine Reihe von Spielen hatten nur einen geringen Umfang. Bei Schlagball, Faustball und<br />

Fußball (!) hatte das damit zu tun, dass es erstmals Deutsche Meisterschaften mit Vorauswahl<br />

in den Kreisen waren. Auch die neuen Sonderwettkämpfe gingen in der Menge der<br />

anderen Ereignisse unter.<br />

Zwischen gestern und heute<br />

Der vielleicht größte Unterschied zu heute liegt in den Teilnehmern. Leipzig war in<br />

der Hauptsache ein Männerfest. Nach einem Beschluss der DT (von 1903) durften keine<br />

Frauen von außerhalb der Feststadt am Deutschen Turnfest teilnehmen. Man fand es<br />

irgendwie nicht schicklich, dass eine große Anzahl von Frauen eventuell allein zu solch<br />

einer Veranstaltung reiste. Die Meinungen dazu waren aber durchaus geteilt. Edmund<br />

Neuendorff etwa, später an führender Stelle in der DT, hielt die Regel für richtig, obwohl<br />

er andererseits die geringen Fortschritte beim Frauenturnen (es gab nur etwa 60.000 Turnerinnen<br />

in der DT) scharf kritisierte. 17 Der zuständige Festobmann in Leipzig, Schützer,<br />

dagegen meinte „Große außerdeutsche Turnfeste haben die besten Erfahrungen damit<br />

gemacht. Aus welchen Gründen will die DT zurückstehen?“ 18 Die Festpostkarte mit<br />

der Turnerin ist aber trotzdem nicht irreführend. Leipzig war auch eine Hochburg des<br />

Frauenturnens, und in der abgebildeten Kleidung traten 1.200 dortige Turnerinnen beim<br />

Festnachmittag und später noch ein zweites Mal auf. Dazu kamen weitere Vorführungen,<br />

die teilweise euphorisch aufgenommen wurden, und die Leipziger Schulen steuerten ein<br />

riesiges Turnen von 6.000 Mädchen bei. Die Festzeitung widmete dem Frauenturnen eine<br />

ganze Nummer mit einer großen Anzahl von Fotos. Es war klar, dass sich die Turnfest-<br />

Regelung in absehbarer Zeit ändern würde.<br />

In anderer Hinsicht war Leipzig ein sehr modernes Turnfest. Das betraf nicht nur<br />

die Bauten oder die elektrische Zeitmessung. Es wurde eine aufwendige Pressearbeit<br />

betrieben, für die der Schriftleiter der Deutschen Turn-Zeitung, Fritz Groh, verantwortlich<br />

zeichnete. Beim Fest waren 1.000 Pressevertreter zugelassen, und die Beziehungen<br />

„zur gesamten Tagespresse im ganzen Reiche waren außerordentlich freundliche.“ 19 Das<br />

schloss eine spätere Fehde mit einigen katholischen Zeitungen (über moralische Fragen)<br />

37


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

und mit dem Berliner Tageblatt nicht aus, doch auch dessen Berichterstattung war insgesamt<br />

durchaus wohlwollend. Im heutigen Stil wurden in hoher Auflage Werbemarken<br />

gedruckt, das Fotografieren auf dem Festplatz vertraglich geregelt (auch im Hinblick auf<br />

das spätere Erinnerungsalbum) und an eine Firma Nietzsche die „kinomatographischen<br />

Rechte“ vergeben. So gibt es Filmaufnahmen von dem Fest, und es ist sehr eindrucksvoll,<br />

vor der Kulisse der Tribünen Vorführungen in Bewegung zu sehen. Groh bemühte sich<br />

auch, die Festzeitung als ein Medium für Kunst zu verwenden. Zwar war das meiste<br />

konventionell, doch fallen Bilder des Jugendstilkünstlers Fidus und aus der bekannten<br />

Münchner Zeitschrift Jugend auf, deren Bildredakteur ein Turner war.<br />

Ausblick<br />

Die gewaltigen Ausmaße des Festes weckten auch gewisse Zweifel. Schon bei der Festgymnastik<br />

fragten sich manche, ob man solch eine Vorführung je wieder sehen würde.<br />

Mehr noch, es wurde die Meinung geäußert, solch ein Fest ließe sich nicht wiederholen<br />

oder steigern. „Die ungeheuren Vorbereitungen ... können in der Folge von keiner Feststadt<br />

mehr geleistet werden“, und auch die Übersicht ginge für die Preisrichter wie für die<br />

Zuschauer verloren. 20 Teilweise klang dies auch im Bericht des Hauptfestausschusses an,<br />

nach dem die zu leistenden Arbeiten „schwierig, zeitraubend und für eine ehrenamtliche<br />

Tätigkeit eigentlich zu umfangreich“ gewesen seien. Deswegen wurde der Vorschlag gemacht,<br />

die Turnfeste in Zukunft von einem hauptamtlichen Mitarbeiter vorbereiten zu<br />

lassen, der ansonsten als Sekretär der DT tätig sein könne (einen solchen hatte die DT<br />

damals noch nicht). 21 Das wies schon in die Zukunft, denn selbstverständlich gab es ein<br />

nächstes Deutsches Turnfest und es hatte sogar noch wesentlich mehr Teilnehmer. Aber es<br />

fand nach dem Ersten Weltkrieg in einer neuen Zeit statt. So war Leipzig der Höhepunkt<br />

und Abschluss einer ganzen Epoche.<br />

Ich danke Gerd Steins (Forum für Sportgeschichte Berlin), Gerlinde Rohr (Sportmuseum Leipzig),<br />

Stephan Rowold (Dresden), Wilhelm Pappert (DTB-Archiv Frankfurt a. M.) und Hete Forstmann<br />

(Berlin) für Unterstützung und Beratung.<br />

Die Zitate stammen aus der Deutschen Turn-Zeitung von 1913 (D), der Festzeitung für das<br />

12. Deutsche Turnfest (F), dem Jahrbuch der Turnkunst von 1914 (J), der Leipziger Allgemeinen<br />

Zeitung (L) und dem Berliner Tageblatt (B). Angegeben sind die Seite bzw. der Erscheinungstag.<br />

1<br />

D354, 2 D314, 3 J126, 4 D483, 5 D(1912)725, 6 B(17.7.13), 7 F228, 8 D672, 9 B(13.7.13),<br />

10 D725, 11 D706, 12 D673, 13 B(15.7.13), 14 J82,126, 15 D241, 16 J96, 16 J128, 18 F300,<br />

19 F302, 20 L(15.7.13), 21 F254<br />

38


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

War das eigentlich schon immer so?<br />

Auch für die Entwicklung des Frauenturnens war 1913 wichtig<br />

Ilse-Marie Weiß<br />

Im Jahr 2011 erinnerte der Deutsche<br />

Turner-Bund mit seinen Untergliederungen<br />

an <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong><br />

und 200 Jahre Turnen in Deutschland.<br />

Welche Hürden das Turnen der Frauen<br />

in dieser Zeit überwinden musste,<br />

das sei hier einmal vor Augen gerückt.<br />

Angefangen hatte dies für mich 2002<br />

beim Deutschen Turnfest in Leipzig.<br />

Bei einem Bummel durch die Altstadt<br />

kam ich zufällig am Schaufenster eines<br />

kleinen Antiquariats vorbei. Der Besitzer<br />

hatte eine ganze Reihe von alten<br />

Turn- und Sportbüchern ausgestellt.<br />

Mittendrin stand ein kleines, in Leinen<br />

gebundenes Buch: „DIE TURNE-<br />

RIN“. Ich war fasziniert von dem Einband.<br />

Aber 24 Euro? Zwei Tage später<br />

war ich wieder da und kaufte es. Das<br />

Buch stammte aus dem Jahr 1910, die<br />

erste Auflage war 1901 erschienen. Es<br />

war ein Buch vom Turnen der Mädchen<br />

und Frauen mit 196 gezeichneten Abbildungen, geschrieben von dem Oberturnlehrer<br />

in Leipzig <strong>Ludwig</strong> Schützer. Der gesamte Turnstoff für die Turnerin vor hundert<br />

Jahren war hier zusammen gestellt.<br />

Im Jahr 2010 hatte der Deutschen Turner-Bund fast 5 Millionen Mitglieder. Davon<br />

waren rund 70 % weiblichen Geschlechts. War das eigentlich schon immer so? Das Turnen<br />

war in seiner frühen Ausprägung im Ausgang des 18. Jahrhunderts nur für Knaben,<br />

die sogenannten Zöglinge, in den Erziehungsanstalten und in den Seminaren gedacht.<br />

In der von Christian Gotthilf Salzmann 1784 gegründeten Anstalt in Schnepfenthal bei<br />

Waltershausen in Thüringen wurde von dem Lehrer Johann Christoph <strong>Friedrich</strong> Guts-<br />

Muths die Leibesausbildung der Zöglinge durch Gymnastik und vielfältige Leibesübun-<br />

39


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

gen mit größter Sorgfalt betrieben. 1793 erschien das erste Lehrbuch „Gymnastik für<br />

die Jugend“ von GuthsMuths, in dem er den gesamten Übungsstoff der damaligen Zeit<br />

ausführlich zusammengestellt hatte. (Die Anstalt existiert heute noch als eine Internatsschule<br />

für begabte Schüler und Schülerinnen. Außerdem wird in der Schule ein sehenswertes<br />

Museum zu den Anfängen von Gymnastik und Turnen gepflegt, auch der damalige<br />

Turnplatz am Waldrand mit seinen hölzernen Geräten ist noch zu sehen.) Auch außerhalb<br />

Deutschlands gab es ähnliche Bestrebungen. In der Schweiz war es Pestalozzi, der sich um<br />

die Ertüchtigung der Schüler intensiv kümmerte.<br />

Das Verdienst von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> war es, die Leibesertüchtigung aus den<br />

Schulen heraus in die Öffentlichkeit zu bringen und sie für Jugendliche und junge Männer<br />

zu etablieren. Unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft erschien es<br />

besonders wichtig, durch allgemeine körperliche Ertüchtigung die Stimmung und auch<br />

die Wehrhaftigkeit der jungen Männer positiv zu beeinflussen und die Volksgesundheit<br />

zu stärken. Dass er 1811 in Berlin in der Hasenheide den ersten öffentlichen Turnplatz<br />

errichtete, das eben feierten wir 2011. <strong>Jahn</strong> nannte die Leibesertüchtigung in ihrer deutschen<br />

Ausprägung „Turnkunst“. Es ist allgemein bekannt, dass das Turnen von Beginn<br />

an vielseitig war. Aber es war reine Männersache. Frauen wurden erst gegen Ende des<br />

19. Jahrhunderts in einigen Vereinen geduldet. Es wurde heftig gestritten, ob und in<br />

welcher Weise Frauen turnen dürften. Nachdem Adolf Spieß maßgeblich an der Einführung<br />

und Weiterentwicklung des Knaben- und Mädchenturnens an allgemeinen Schulen<br />

gearbeitet hatte, gab es immerhin schon für Mädchen geeigneten Übungsstoff. Doch nach<br />

der Schulzeit hatten die Mädchen keine Möglichkeit mehr zum Turnen. Die einen, die<br />

sich ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, hatten dazu kaum Zeit, und für die anderen,<br />

die zu Damen heran gebildet wurden, waren körperliche Arbeit, schnelle Bewegung<br />

oder gar Turnen unschicklich, angemessen dagegen Handarbeiten, Klavierspielen und<br />

Spazierengehen. Dazu wurde alles … eingeschränkt durch das unsinnigste aller weiblichen<br />

Kleidungsstücke, das lebenszerstörende Korsett. Denn ohne dieses verderbenbringende Marterinstrument<br />

kann ein Mädchen heutzutage keinesfalls den Anspruch erheben, als Dame angesehen<br />

zu werden. … So schrieb <strong>Ludwig</strong> Schützer in seinem Buch „Die Turnerin“. Schon<br />

im Jahr 1895 hatte er in der Deutschen Turnzeitung einen Artikel zum Frauenturnen<br />

veröffentlicht.<br />

Schützer war auf der einen Seite ein glühender Befürworter des Frauenturnens, andererseits<br />

aber noch gefangen im damaligen Zeitgeist. Er war ein fortschrittlicher Vorausdenker,<br />

wenn er schreibt: Wir halten die Einführung des Frauenturnens für eine der<br />

segenreichsten Bestrebungen der Gegenwart und sind überzeugt, daß das Turnen der Frauen<br />

einer großen Zukunft entgegen geht und daß es auch würdig ist, eine solche zu haben, denn<br />

unstreitig ist es das beste aller Mittel, ein gesundes und kräftiges Geschlecht zu erhalten …<br />

Bewegung ist Leben, ist Gesundheit, ist Kraft, und Kraft braucht ein Mädchen nicht zum we-<br />

40


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

nigsten, denn wer kennt ihn nicht, den schweren Beruf einer Frau? … In der <strong>Gesellschaft</strong> galt<br />

es allerdings die Vorurteile abzubauen: „Frauenturnen schickt sich nicht“ und „Turnen<br />

fördert die Emanzipationssucht der Frauen“. Gleichzeitig beschwor Schützer die Frauen,<br />

für sich das Positive am Turnen zu erkennen und Frauenturnstunden zu besuchen. Die<br />

Männerturnvereine wurden von ihm aufgefordert, den Frauen das Turnen in geschlossenen<br />

Räumen zu ermöglichen. Er prophezeite: Wer weiß überhaupt, was die Zukunft bringt?<br />

Ich sehe es kommen, daß sich überall<br />

dort, wo die Frauen seitens der<br />

Männerturnvereine nicht das nötige<br />

Entgegenkommen finden, selbständige<br />

Frauenturnvereine gründen<br />

werden.<br />

Dieses Szenario klingt wie eine<br />

Drohung, dann doch schon besser<br />

eine von Männern kontrollierte<br />

Abteilung im Männerturnverein.<br />

L. Schützer: An die Aufnahme der<br />

Damen (in die Frauenabteilung)<br />

sollten sich außer der Bestimmung<br />

über das Turnkleid besondere Bedingungen<br />

nicht knüpfen. Jede anständige<br />

Dame ist willkommen. …<br />

Eine Abstimmung braucht nicht zu<br />

erfolgen. Wer soll auch abstimmen?<br />

Wenn der Vorstand des Vereins, beziehungsweise<br />

der Leiter des Frauenturnens<br />

die Dame kennt und sie ist<br />

brav, so wird sie sowieso aufgenommen;<br />

wenn er sie kennt und sie ist<br />

nicht brav, so kommt sie vermutlich<br />

gar nicht. Ist sie aber unbekannt, so<br />

wird sie aufgenommen, auch wenn<br />

sie nicht brav ist, denn wer sollte<br />

und könnte sie zurückweisen?<br />

Und zum Alter der Turnerinnen: Das Alter unserer Turnerinnen schwankt zwischen 15<br />

und 40 Jahren, genau kann ich es nicht angeben, denn unsere Damen werden nicht nach dem<br />

Alter gefragt. Das aber weiß ich, daß Frauen bis zu 50 Jahren friedlich und vergnügt mit den<br />

anderen zusammen turnen.<br />

41


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Auch über die Stellung der Frauen im Verein hat er klare Vorstellungen: Umsichtige<br />

Vereinsleiter werden annehmbaren Wünschen der Turnerinnen gern gerecht werden; ihnen<br />

wirkliche Mitgliedsrechte, Sitz und Stimme, wie man zu sagen pflegt, einzuräumen, daran<br />

wird wohl kein Verein denken, denn bekanntlich ist es schwer, die Damen „unter einen Hut<br />

zu bringen“. Aber die Interessen der Turnerinnen müssen in den Vorstandssitzungen des Vereins<br />

vertreten werden, und zwar von Männern, die mit ganzer Seele für die Weiterentwicklung des<br />

Damenturnens eintreten.<br />

Ganz wichtig war den Männern im Vorstand die Entscheidung über Schnitt, Stoff und<br />

Farbe der geeigneten einheitlichen Turnkleider: Ein zweckmäßiges Turnkleid ist also deshalb<br />

unbedingt nötig, weil es die Gesundheit fördert, weil es billiger ist, und weil es die nötige Bewegungsfreiheit<br />

gestattet. Dazu gehört natürlich, daß die Damen ohne Korsett turnen. … Wenn<br />

man die Damen doch erst einmal davon überzeugen könnte, wie unschön, wie häßlich sie das<br />

Korsett macht. Oder meinen sie, es sei schön, wenn man fortwährend die Formen des Stahlpanzers<br />

vor sich sieht, die auch das Kleid nicht verbergen können? Nein das ist nicht schön, das<br />

ist abstoßend. Wie lange wird es noch dauern, ehe diese Erkenntnis sich Bahn bricht? … Das<br />

Kleid muß so eingerichtet sein, daß es nicht auf der Straße angezogen werden kann. Dies wird<br />

erreicht, wenn es nicht der zeitweiligen Mode entsprechend gearbeitet ist, wenn es die nötige<br />

Kürze hat, und wenn es außerdem noch etwas auffällig besetzt wird.<br />

Als praktisch erwies sich ein dunkelblaues, kürzeres Turnkleid mit<br />

gleichfarbenem Unterrock und gleichfarbiger oder weißer Bluse mit<br />

Matrosenkragen. Schwarze Schuhe und schwarze, lange Strümpfe<br />

komplettierten das Gesamtbild. Es gab auch Turnkleider in Hängerform<br />

mit Gürtel, dazu gehörten unbedingt über den Knien<br />

geschlossene weite Beinkleider in gleicher Farbe.<br />

In Vereinen, in denen schon Frauenabteilungen bestanden,<br />

durften die Turnerinnen nur bei zugezogenen Vorhängen<br />

in Turnhallen oder kleinen Sälen üben und ihr Können nur bei<br />

Veranstaltungen im eigenen Verein zeigen.<br />

Beim 8. Deutschen Turnfest 1894 in Breslau gab es eine<br />

Neuerung. Zum ersten Mal wurde den Turnerinnen des Alten<br />

Turnvereins Breslau von 1858 gestattet, bei einem Deutschen<br />

Turnfest aufzutreten. 50 Frauen hatten den Mut, Hantel- und<br />

Geräteübungen zu zeigen. Die Reaktionen der Turnbrüder<br />

waren unterschiedlich, allerdings überwog die<br />

kritische, ablehnende Haltung. 1898 durften<br />

beim 9. Deutschen Turnfest in Hamburg die<br />

42


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Turnerinnen zwar auch nur im Schauturnen auftreten, doch zum<br />

ersten Mal war es Frauengruppen, die nicht aus der Turnfeststadt<br />

kamen, erlaubt mitzumachen. 1.000 Teilnehmerinnen hinterließen<br />

einen starken Eindruck. Jedoch kam es bei diesem Schauturnen<br />

zu einem Eklat. Die Breslauer Damenriege turnte am Barren<br />

Schrauben und Spreizen. Entsetzt schrieb darüber eine sonst<br />

fortschrittlich eingestellte Martha Thurm: Entartetes weibliches<br />

Männerturnen … geradezu unschicklich wurde es durch das bei den<br />

Übungen vorkommende Auf- und Überschlagen, Einklemmen und<br />

pralle Anliegen der Kleider … dafür eignen sich nur Beinkleider,<br />

aber das ist ausgeschlossen! – und sie ergänzte ihre vernichtende<br />

Kritik: Weiß-rot gestreifter, etwas kürzerer Flanellrock, gleichfarbige<br />

Bluse und Beinkleider, schwarze Strümpfe und Schuhe – der hässliche<br />

Eindruck der Übungen wurde dadurch noch verstärkt.<br />

August Hermann entsetzte sich 1899 in der Deutschen Turnzeitung: Da muß man mit<br />

Entsetzen und Schmerz turnende Frauenabteilungen sehen, welche im Gerätturnen die weibliche<br />

Scham, die Sittsamkeit und den Anstand in unverantwortlicher Weise verletzen … weg mit<br />

allen Übungen welche Mädchen erheblich über ihre eigene Körpergröße vom Boden entfernen,<br />

und weg mit allen Übungen, bei denen eine Kleidung notwendig wird, die sich der Turntracht<br />

des männlichen Geschlechts ähnlich gestalten muß. Die Ethik verlangt, daß keine Turnübung<br />

gewählt wird, welche die weibliche Schicklichkeit und den Sinn für Wohlanständigkeit verletzt.<br />

Beim 10. Deutschen Turnfest 1903 in Nürnberg wurden die auswärtigen Turnerinnen<br />

von der Mitwirkung ausgeschlossen, nur Nürnberger Turnerinnen durften auftreten. Nach<br />

der Meinung des Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft Dr. Ferdinand Goetz sollte<br />

man nicht ... Frauen in die Öffentlichkeit zerren und sie auf Turnfesten herumreisen lassen. ...<br />

Zu diesem Thema gibt es in Schützers „Die Turnerin“ einen bemerkenswerten Abschnitt:<br />

In richtiger Erwägung der vielen Schwierigkeiten, die eine allgemeine Beteiligung der Turnerinnen<br />

an den deutschen Turnfesten mit sich bringen würde, hat man es abgelehnt auswärtige<br />

Turnerinnen zum Turnen zuzulassen. Und das mit Recht, möge es immer so bleiben, denn die<br />

deutschen Turnfeste sind schon so übermäßig groß geworden, daß sie eine Erweiterung nicht<br />

vertragen. Man sollte sie im Gegenteil durch Beschränkung der Vorführungen verkleinern. …<br />

Daß die Turnerinnen auch das Bedürfnis haben sich zu turnerischer Tätigkeit in größeren Verbänden<br />

zusammen zu finden ist wohl verständlich. Und warum sollte dies nicht möglich sein?<br />

Vielleicht macht man einmal den Versuch in einzelnen Gauen ein Frauengauturnfest abzuhalten.<br />

Ich würde mit Freuden bereit sein mit zu helfen, wenn es gewünscht wird.<br />

1908 wurde beim 11. Deutschen Turnfest in Frankfurt den Frauen des Gaus Turnerschaft<br />

Frankfurt nur am letzten Tag des Turnfestes Zeit für ihre Stabübungen gewährt,<br />

43


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

während sich die Turnfestteilnehmer schon zum Höhepunkt des Festes, der Siegerehrung,<br />

versammelten.<br />

Den Durchbruch für das Frauenturnen gab es 1913 beim 12. Deutschen Turnfest in<br />

Leipzig. Gegen viele Widerstände im Vorfeld bekamen die Frauen in Leipzig einen Platz<br />

am Hauptfesttag, dem Sonntag, eingeräumt. Sie durften ihre Freiübungen direkt im Anschluss<br />

an den Höhepunkt der Veranstaltung, die Massenfreiübungen von 17.000 Turnern,<br />

zeigen. Im Vergleich zu den 62.572 Turnern, die in Leipzig teilnahmen, wirkte die<br />

Zahl von 1.200 Turnerinnen sehr bescheiden. Doch vor hundert Jahren war damit ein<br />

bedeutsamer Anfang gemacht.<br />

War es den Frauen bis dahin nur gestattet im Rock mit gleichfarbiger Hose darunter<br />

zu turnen, zeigten sie sich in Leipzig in weiten Pumphosen. Zum Turnfest wurden auch<br />

eine Briefmarke und Postkarten herausgegeben, die Frauen in dieser Turnkleidung zeigten.<br />

Damit wurde das Turnen der Frauen so stark in die Öffentlichkeit gerückt wie nie zuvor.<br />

Nach wie vor aber entbrannten bei den wenigen öffentlichen Auftritten der Turnerinnen<br />

die Auseinandersetzungen über die richtige Art des Frauenturnens. Es bildeten sich<br />

zwei Hauptmeinungen heraus: Die einen waren Verfechter des „kernigen“, des bewährten<br />

Männerturnens, für Frauen etwas modifiziert mit den Ziel der Ertüchtigung der Frauen<br />

durch Steigerung von Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer und Mut. Dazu gehörte auch,<br />

dass die Turnerinnen an Reck und Barren turnen sollten.<br />

Die andere Richtung bevorzugte das weiche, gefühlsbetonte Frauenturnen mit Anmut<br />

und Grazie, zu dem die spezielle Tanzform des Reigens<br />

zählte. Hermann Paul beschrieb 1911 in der<br />

Deutschen Turnzeitung diese Richtung als Turnsystem,<br />

in welchem die spezifischen weiblichen Charaktereigenschaften<br />

der deutschen Frau, Hingebung,<br />

Treue, Aufopferung, Bescheidenheit, Fleiß, Gründlichkeit<br />

unter höchstmöglichen Schönheitsformen zum<br />

Ausdruck kommen.<br />

Vor hundert Jahren wurde also der Grundstein<br />

gelegt für die Aufspaltung in Frauen(gerät)turnen<br />

und Frauengymnastik, heute zwei fast völlig getrennte<br />

Turnbereiche.<br />

Die Bestrebungen der Frauen nach Mitspracherecht<br />

und vollen Mitgliedsrechten in Turnvereinen<br />

und Verbänden scheiterten in der Zeit vor dem Ersten<br />

Weltkrieg am Widerstand der Männer. Nach<br />

44


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

dem Ersten Weltkrieg wurde alles anders. Viele Turner<br />

hatten nicht überlebt. Die Frauen entwickelten in den<br />

schwierigen Zeiten ein ganz neues Selbstwertgefühl. Beim<br />

ersten Turnfest nach dem Krieg 1923 in München gab es<br />

eigene Wettkämpfe für Frauen. 1927 wurde in der Deutschen<br />

Turnerschaft ein Frauenbeirat eingesetzt, dem ausschließlich<br />

Frauen angehörten, und 1929 wurde mit Els<br />

Schröder erstmals eine Frau zum Turnwart für die Frauen<br />

gewählt.<br />

In den vielen kleinen Vereinen, die sich Anfang<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland<br />

gegründet hatten, begannen Frauen in den 20er-<br />

Jahren zu turnen. Doch hier waren die Verhältnisse<br />

anders als in den großen Traditionsvereinen mit<br />

eigenen Hallen. Geturnt wurde in Sälen von Gaststätten,<br />

auf Wiesen, die zum Sportplatz umfunktioniert<br />

waren oder auch in ländlichen Höfen.<br />

Zu Beginn des Dritten Reiches gab es zuerst einen<br />

Aufschwung in den Vereinen, auch die Zahl der turnenden<br />

Frauen nahm deutlich zu. Doch in dem Maß, in dem<br />

die Politik in die Vereinsführungen eingriff und die Teilnahme<br />

an Hitlerjugend, Jungmädel, BdM, Arbeitsdienst<br />

und Militär immer größere Bedeutung gewann, verloren<br />

die Vereine ihre Mitglieder und stellten vielfach den Betrieb<br />

noch vor Kriegsbeginn ein. Nach dem Krieg galt es<br />

den Wiederaufbau zu meistern. Hierbei hatten die Frauen<br />

großen Anteil. Mit Beginn des Wirtschaftswunders lebten<br />

auch die Turnvereine wieder auf. Dort, wo es Übungsleiter<br />

und -leiterinnen gab, setzte ein wahrer Boom ein.<br />

Seit der Wiedergründung des DTB in 1950 gibt es<br />

eine jährliche Statistik, die ein stetiges Wachstum der Mitgliederzahlen<br />

zeigt. Anfangs waren die Frauen noch in der<br />

Minderheit, doch sie holten von Jahr zu Jahr auf. 1968<br />

überholten sie die Männer. Eine Ursache war die Einführung<br />

reiner Gymnastikübungsstunden für Frauen. Auch<br />

verheiratete Frauen strömten nun vermehrt in die Turnhallen,<br />

was früher nicht allgemein üblich gewesen war.<br />

45


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Natürlich gab es auch keine strengen Kleidervorschriften mehr. Waren die Turnanzüge<br />

anfangs noch bieder, so wurde es in den 80er Jahren mit neuen Materialien möglich, eng<br />

anliegende, bunte Turnbekleidung zu tragen.<br />

Um den vielen neuen Frauengymnastikgruppen Übungsstoff und Anreiz zu bieten,<br />

wurde 1973 vom DTB das Deutsche Gymnastikabzeichen geschaffen. Es galt auch als<br />

Alternative zum Deutschen Sportabzeichen, weil viele Frauen das Sporttreiben in der Öffentlichkeit<br />

scheuten. Bis 1993 war das Deutsche Gymnastikabzeichen ein Erfolgsmodell.<br />

Doch mit dem Erstarken von Wettkampfgymnastik sowie Gymnastik und Tanz wurden<br />

die Anforderungen für das Deutsche Gymnastikabzeichen viel schwerer und es verlor an<br />

Akzeptanz. Die Gymnastik mit Handgeräten hat in vielen allgemeinen<br />

Frauenübungsstunden ausgedient, gefragt ist jetzt<br />

eine Gesundheits- und Fitnessgymnastik mit immer mehr<br />

Spezialprogrammen und zum Teil mit neuartigen, teuren<br />

Spezialgeräten.<br />

Insgesamt haben die Frauen in „ihrer Turngeschichte“<br />

gezeigt, dass sie fähig waren, sich weiter zu entwickeln.<br />

Zwar hat der Wandel der Zeiten für sie gearbeitet, darüber<br />

hinaus haben sie aber erkannt, wie wichtig für sie die aktive<br />

Teilnahme an gesundheitsorientierten Bewegungsangeboten<br />

ist. Und was ist mit den Männern? Vergleichsweise wenige finden<br />

den Zugang zu eigenen Turn- oder Fitness-Übungsstunden. Gravierend ist, dass von<br />

den meisten Schülern, Jugendlichen und Männern heute in Deutschland Gymnastik als<br />

„unmännlich“ abgetan wird. Es scheint, als habe die zweihundertjährige Geschichte seit<br />

<strong>Jahn</strong> ein Männerbild geprägt, das zumindest unterschwellig noch immer präsent ist und<br />

verhindert, dass eine zeitgemäße Neuorientierung stattfinden kann.<br />

Literatur:<br />

– <strong>Ludwig</strong> Schützer, Die Turnerin, 2. Auflage, 1910, Verlag Rudolf Lion, Hof<br />

– Meyers Großes Konversationslexikon, Band 19, 1908<br />

– Dr. Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin, 1911, Süddeutsches Verlagsinstitut<br />

Julius Müller<br />

– Herbert Neumann, Deutsche Turnfeste, 2. Auflage, 1987, Limpert Verlag, Wiesbaden<br />

– Gertrud Pfister, Frauen bei Turnfesten, Zum Wandel der Geschlechterordnung in der Turnbewegung,<br />

http://www.jahn-gesellschaft.de/texte/bibliothek/verfasserk/frauenbeiturnfesten.html<br />

– Ilse-Marie Weiß, Deutsches Gymnastikabzeichen, 2005, Hrg. Hessischer Turnverband<br />

– Festschrift: 100 Jahre TSV 05 Allendorf/Lahn, 2005<br />

46


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Vor 100 Jahren erschien die erste<br />

Gesamtausgabe der Briefe<br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />

Josef Ulfkotte<br />

Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges feierte die Deutsche Turnerschaft (DT) in<br />

Leipzig das bis dahin größte deutsche Turnfest. Im Leipziger Verlag von Paul Eberhardt erschien<br />

1913 auch die erste und bis heute umfassendste Gesamtausgabe der Briefe <strong>Friedrich</strong><br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, „gesammelt und im Auftrage des Ausschusses der Deutschen Turnerschaft<br />

herausgegeben von Dr. Wolfgang Meyer in Hamburg“. Das „Handbuch des gesamten<br />

Turnwesens und der verwandten Leibesübungen“ von Rudolf Gasch (Wien und Leipzig<br />

1928, Bd. 1, S. 530-31) stellt uns Dr. Wolfgang Meyer als Oberschulrat in Hamburg vor,<br />

der 1867 in der Freien und Hansestadt Hamburg geboren wurde, in Tübingen und Leipzig<br />

alte Sprachen studierte und nach den erforderlichen Examina in den Schuldienst eintrat.<br />

Meyer war Vorturner in der Hamburger Turnerschaft von 1816 und seit 1918 Kreisvertreter<br />

des IV. Turnkreises „Norden“. Als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg brachte er es bis<br />

zum Bataillonskommandeur.<br />

Dem Vorwort zur ersten Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe ist zu entnehmen, dass Meyer<br />

„bis auf Kleinigkeiten“ alle Schreiben veröffentlicht hat, die er mit großem Sammeleifer<br />

im Laufe „vieler Jahre“ zusammengetragen hatte. Ihm lagen jedoch nur wenige Briefe im<br />

Original vor, vielmehr griff er auf Abschriften des <strong>Jahn</strong>forschers Carl Euler zurück und auf<br />

solche Stücke, die bereits zuvor in Fachzeitschriften wie der „Deutschen Turn-Zeitung“<br />

veröffentlicht worden waren. Die größte Sammlung von Abschriften, die Carl Euler hinterlassen<br />

hat, bewahrte nach Meyer seinerzeit das <strong>Jahn</strong>-Museum in Freyburg a. d.Unstrut<br />

auf. Meyer wollte Kenntnis davon erhalten haben, dass Eulers Nachlass nach Amerika<br />

verkauft wurde, „vielleicht unter der Bedingung, daß von allen Briefen Abschriften in<br />

Deutschland blieben.“<br />

Carl Euler, Unterrichtsdirigent der Königlichen Turnlehrerbildungsanstalt in Berlin,<br />

veröffentlichte 1881 eine quellengesättigte und bis heute grundlegende <strong>Jahn</strong>biografie und<br />

gab nur wenige Jahre später „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Werke“ neu heraus (Verlag von Rud.<br />

Lion, Hof 1884, 1885, 1887). Ob der Begründer der <strong>Jahn</strong>-Forschung wirklich noch die<br />

Absicht hatte, <strong>Jahn</strong>s Briefe herauszugeben – das nahm Meyer jedenfalls an – ist nicht belegt.<br />

Offenkundig hat Euler aber den Grundstein für eine Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe<br />

gelegt, die Meyer nach dem Tod Eulers am 15. September 1901 ernsthaft in Angriff nahm.<br />

47


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Die wichtigere Aufgabe sah Meyer allerdings zunächst darin, „<strong>Jahn</strong>s Entwicklungsgang<br />

in leicht verständlicher Weise auf dem Hintergrund einer Reihe von Zeitbildern<br />

darzustellen“. So veröffentlichte er 1904, im Alter von 37 Jahren, die Schrift<br />

„<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>. Ein Lebensbild aus großer Zeit“, die als Band 13 in der<br />

von Hans Vollmer begründeten und herausgegebenen Reihe „Sammlung belehrender<br />

Unterhaltungsschriften für die Deutsche Jugend“ erschien. Diese <strong>Jahn</strong> geradezu verklärende<br />

Schrift, die sein Leben bis 1815 behandelt, erschien 1913 in einer zweiten<br />

Auflage. Meyer verband mit der Neuauflage das Ziel, „Verständnis für jene herrliche<br />

Zeit zu erwecken, insbesondere die sittlichen und geistigen Kräfte aufzuzeigen, aus<br />

denen die große Befreiungstat geboren war“. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges<br />

stilisierte die nationaldeutsch ausgerichtete Deutsche Turnerschaft (DT) „ihren“ Nationalheros<br />

<strong>Jahn</strong> zu einem Symbol von nationaler Stärke, Macht und Überlegenheit.<br />

Da der Ausschuss der Deutschen Turnerschaft die Herausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe in<br />

Auftrag gegeben hatte, stand für Meyer von Anfang an fest, dass das Ergebnis seiner<br />

Arbeit sich in erster Linie an die Turner und ihr Umfeld richtete, die sich zukünftig<br />

um so intensiver mit dem Leben, den Wünschen und Hoffnungen ihres Idols<br />

beschäftigen konnten. Er verzichtete deshalb bei der Wiedergabe der Briefe auf die<br />

originale Schreibweise und glich die Orthographie der Vorlagen der damals eingeführten<br />

neuen Rechtschreibung an. Den zahlreichen Personennamen, insbesondere<br />

der Turner, biographische Erläuterungen beizufügen, hielt er für unnötig. Um dem<br />

Leser die Orientierung zu erleichtern, gliederte er <strong>Jahn</strong>s Leben in 13 Abschnitte und<br />

ordnete diesen Lebensabschnitten die entsprechenden Briefe <strong>Jahn</strong>s in chronologischer<br />

Reihenfolge zu. Jedem dieser 13 Abschnitte stellte er eine „allgemein unterrichtende<br />

Einleitung“ voran, die das Verständnis der Briefe erleichtern und zugleich die Anzahl<br />

der Anmerkungen einschränken sollte. In der allgemeinen Einleitung charakterisiert<br />

Meyer den Briefschreiber <strong>Jahn</strong>, seinen Stil und die Besonderheiten seiner Sprache.<br />

Ein Verzeichnis der Personen beschließt die erste Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>briefe, die<br />

letztlich 583 Druckseiten einnimmt. Dass sich Meyer dieser Herausforderung gestellt<br />

und beharrlich an der Verwirklichung des Vorhabens gearbeitet hat, ist ohne Zweifel<br />

ein großes Verdienst.<br />

Mit <strong>Jahn</strong>s Briefen hat sich Meyer auch in späteren Jahren noch beschäftigt. Im<br />

Dresdener Limpert-Verlag gab er 1930 als Band 5 der Reihe „Quellenbücher der<br />

Leibesübungen“ „Die Briefe F. L. <strong>Jahn</strong>s“ heraus. Diese Sammlung enthält einige<br />

<strong>Jahn</strong>briefe, die inzwischen bekannt geworden und in Fachzeitschriften veröffentlicht<br />

worden waren, allerdings fehlen auch 166 Briefe, die in der ersten Ausgabe von 1913<br />

noch enthalten waren. Von einer neuen Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe kann also bei<br />

der Limpert-Ausgabe keine Rede sein, eher von einer Studienausgabe, die den Studierenden<br />

der Leibesübungen einen raschen Zugang zu <strong>Jahn</strong> eröffnen sollte.<br />

48


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Weitere <strong>Jahn</strong>-Briefe publizierte Meyer im 19<strong>36</strong> erschienenen 1. Teil seiner „Geschichte<br />

des Turnwesens im Gau Nordmark der deutschen Turnerschaft“ und 1939 in der Zeitschrift<br />

„Volk und Leibesübung“. Seitdem sind weitere <strong>Jahn</strong>-Briefe bekannt geworden, so<br />

dass Walter Haase im Rahmen seiner 1979 bei Prof. Dr. Hans Langenfeld an der Universität<br />

Münster abgeschlossenen Examensarbeit „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Briefe als sporthistorische<br />

Quelle“ auf insgesamt 583 <strong>Jahn</strong>briefe zurückgreifen konnte.<br />

Wenn Meyer feststellte, dass der „einzige jahrelang treu geführte Briefwechsel“ <strong>Jahn</strong>s<br />

der mit dem Geheimen Sekretär im preußischen Innenministerium Alexander August<br />

Mützell sei, so irrte er, denn er kannte offenkundig den Briefwechsel der Eheleute <strong>Jahn</strong><br />

mit dem Berliner Turnlehrer Wilhelm Lübeck nicht, der 1835 begann und nach <strong>Jahn</strong>s<br />

Tod im Jahre 1852 von seiner Witwe Emilie bis 1876 weitergeführt wurde. Die Briefe an<br />

Lübeck, die bis Ende 1843 geschrieben wurden, hat <strong>Friedrich</strong> Quehl der Öffentlichkeit in<br />

seiner 1918 erschienenen Edition „Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>“ zugänglich gemacht.<br />

Sämtliche Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> und Emilie <strong>Jahn</strong> an Lübeck, die in der Zentralund<br />

Landesbibliothek Berlin aufbewahrt werden, enthält die 2010 vom Verfasser besorgte<br />

Sammlung „Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> und Emilie <strong>Jahn</strong> an Wilhelm Lübeck. 1835 –<br />

1876.“ Die Herausgabe dieser Briefe war zugleich ein Zwischenschritt zur Neuausgabe der<br />

Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, die seit einigen Jahren vorbereitet wird.<br />

Neuausgabe der Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />

Immer wieder tauchen Schriftstücke auf,<br />

die der <strong>Jahn</strong>-Forschung bisher unbekannt waren.<br />

Es wäre schön, wenn das Beispiel Manfred<br />

Nippes (<strong>Jahn</strong>-Brief an Häßler) Schule machen<br />

würde: Es ist davon auszugehen, dass noch weitere<br />

Briefe des „Turnvaters“ in Vereinsarchiven<br />

aufbewahrt werden oder in Privatbesitz sind,<br />

die in der geplanten Neuausgabe der <strong>Jahn</strong>briefe<br />

berücksichtigt werden sollten. Für diesen<br />

Zweck reicht eine Kopie aus, über die sich die<br />

<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> (Bearbeiter: Dr. Josef Ulfkotte,<br />

J. Ulfkotte@t-online.de) sehr freuen<br />

würde.<br />

49


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Unterschätzt und zu wenig bekannt:<br />

<strong>Jahn</strong>s „Bereicherung des Hochdeutschen<br />

Sprachschatzes“ (1806)<br />

Hanna Weibye<br />

Im Sommer 1806 erschien zu Leipzig eine sprachwissenschaftliche Schrift: Bereicherung<br />

des Hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft. In einer<br />

Rezension äußerte sich Christoph Meiners, Professor an der Universität Göttingen,<br />

recht positiv dazu: Seit langer Zeit habe ihn der erste Versuch eines jungen Gelehrten<br />

nicht so angenehm überrascht als der gegenwärtige. Er fügte am Ende hinzu, daß, „wenn<br />

es in seiner Macht wäre, er dem hoffnungsvollen jungen Mann mit dem größten Vergnügen<br />

eine Lage schaffen würde, wo derselbe seinem Lieblingsstudio nachhängen, und das<br />

wieder herstellen oder ergänzen könnte, was unsere berühmtesten Sprachforscher verdreht,<br />

oder unvollendet gelassen haben.“<br />

Autor dieser rund hundert Seiten umfassenden Schrift war kein anderer als J. F. L. Ch.<br />

<strong>Jahn</strong>, damals nicht ganz 28 Jahre alt. Er hoffte, sich mit diesem Versuch eine akademische<br />

Laufbahn zu schaffen. Leider wurde seine Bereicherung von den Zeitumständen überrollt,<br />

denn im Oktober desselben Jahres erlitt die Preußische Armee bei Jena und Auerstedt<br />

die bekannt katastrophale Niederlage, und weder <strong>Jahn</strong> noch seine Schrift waren danach<br />

imstande, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt zu wecken. <strong>Jahn</strong>s frühe Schrift<br />

über die deutsche Sprache geriet in Vergessenheit, ist noch heute wenig erwähnt und<br />

wurde nie gründlich erforscht, mit der Folge, dass die geläufige Vorstellung von <strong>Jahn</strong>s<br />

sprachwissenschaftlicher Tätigkeit sich auf die Erfindung des Turnwortschatzes und seine<br />

antifranzösischen Bemühungen um die Sprachreinigung beschränkt. Eine Untersuchung<br />

seiner Bereicherung aber, wie auch der Umstände ihrer Entstehung, eröffnet eine wertvolle<br />

Perspektive auf die Ideenwelt und die wissenschaftlichen Ambitionen des jungen <strong>Jahn</strong>:<br />

lange bevor er daran dachte, der „Turnvater“ oder der Nationalpolitiker zu werden.<br />

Kurz zur Vorgeschichte: <strong>Jahn</strong> hat 1796 bis 1800 in Halle studiert, 1800 bis 1802<br />

in Jena und Frankfurt/Oder verbracht, dann war er 1802 bis 1803 in Greifswald<br />

immatrikuliert. Von Greifswald relegiert gab er zeitweilig das Studium auf, um zwei Jahre<br />

lang als Hauslehrer in Mecklenburg zu leben, wo er unter anderem seine spätere Frau<br />

kennenlernte. Während dieser Hauslehrertätigkeit fing er an, Bereicherung des Hochdeutschen<br />

Sprachschatzes zu schreiben, und im Oktober 1805 begab er sich nach Göttingen,<br />

damals vielleicht die angesehenste Universität in Deutschland, um dort die große Bibliothek<br />

50


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

bei Anfertigung der Schrift zu benutzen. Es schien, als ob sich <strong>Jahn</strong> nach langjährigem<br />

Schwanken endlich für eine Karriere entschieden hatte, und zwar als Akademiker.<br />

Es überrascht uns nicht, dass<br />

Bereicherung des Hochdeutschen<br />

Sprachschatzes sich auch bewusst<br />

und recht treffend mit moderner<br />

Sprachtheorie befasst. <strong>Jahn</strong><br />

mischte sich in eine laufende<br />

Debatte um das Wesen der Allgemeinsprache<br />

ein, und zwar<br />

mit der Absicht, den deutschen<br />

Wortschatz zu erweitern und bewusster<br />

zu machen. Sein Werk ist<br />

als lexikografischer Beitrag angelegt<br />

und zielt auf den berühmten<br />

Wörterbuchverfasser Johann<br />

Christoph Adelung, der das<br />

umfangreiche Lexikon Versuch<br />

eines vollständigen grammatischkritischen<br />

Wörterbuchs der hochdeutschen<br />

Mundart herausbrachte<br />

(1774 – 1786 in sechs Bänden,<br />

zweite Ausgabe 1793 – 1801).<br />

Er nimmt außerdem Bezug auf<br />

Johann August Eberhards Versuch<br />

einer allgemeinen deutschen<br />

Synomynik der sinnverwandten<br />

Wörter der hochdeutschen Mundart<br />

(1802, sechs Bände).<br />

Das <strong>Jahn</strong>sche Werk ist lexikografisch gestaltet: Den Kern bilden 58 Gruppen von<br />

Synonymen (‚Neue Sammlung von Sinnverwandtschaften‘), die vergleichend definiert<br />

und über bis zu vier Seiten hinweg erläutert werden. Zuvor führt <strong>Jahn</strong> in der Einleitung<br />

auf immerhin zehn Seiten 104 bei Eberhard fehlende Sinnverwandtschaften auf, und er<br />

listet 141 einzelne Wörter auf, die aus seiner Sicht fehlen und die er den Eberhardschen<br />

Sinnverwandtschaften zuordnet.<br />

Das Werk fängt mit einer langen Einführung an, die <strong>Jahn</strong>s Stellungnahme zu Adelung<br />

und zu allgemeinen Fragen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft erhellt. Zunächst er-<br />

51


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

klärt er seine Vorstellung von der deutschen Sprache im Bezug zu Adelung. Wie viele<br />

seiner Zeitgenossen lobt er das Adelungsche Wörterbuch, lehnt aber Adelungs Version<br />

von der Entstehung des Hochdeutschen entschieden ab. Die hochdeutsche Sprache, die<br />

Adelung in seinem Wörterbuch gesammelt und beschrieben hat, war <strong>Jahn</strong> zufolge die<br />

Sprache der gebildeten und angesehenen Oberklassen (kurz: die Hofsprache) in Meißen,<br />

Obersachsen. Diese Variante sei das reinste und schönste Hochdeutsch gewesen und habe<br />

allen als Beispiel und Modell des erhabenen Sprachgebrauchs dienen sollen. Im Gegensatz<br />

zu Adelung versteht <strong>Jahn</strong> unter Hochsprache nicht einen einzelnen, durch günstige<br />

geschichtliche Umstände zur vorrangigen Stellung gekommenen Dialekt, sondern eine<br />

über-dialektale Standardsprache, eine Allgemeinsprache. Um diese Auffassung zu begründen,<br />

präsentiert er seine eigene Geschichte der Entstehung des Hochdeutschen, die mit<br />

der politischen Einheit des mittelalterlichen Deutschen Reiches begonnen habe.<br />

<strong>Jahn</strong> zufolge entstand eine Art überregionale Gesamtsprache bereits unter den Eliten<br />

des Reichs, die stets zwischen Turnieren, Hoftagen und dem kaiserlichen Hof reisen<br />

mussten. Luthers Bibelübersetzung habe dann aus dieser Sprache ein Ganzes von großer<br />

Schönheit und Würde geschaffen, das dem gemeinen Volk auch dadurch näher kam,<br />

dass es als Kirchensprache verwendet wurde. Dieses lutherische Fundament hätten spätere<br />

Sprachreformer zum Hochdeutschen weiter ausgebaut.<br />

<strong>Jahn</strong> unterscheidet sich von Adelung also nicht nur in seinem historischen Verständnis<br />

der hochdeutschen Sprachentstehung, sondern auch in seiner Konzeption der Natur und<br />

Form einer Standardsprache im Allgemeinen. Das Adelungsche Wörterbuch beschreibt<br />

und kodifiziert in erster Linie einen literarischen Standard, eine Schriftsprache, die nur<br />

von Eliten als Medium mündlicher Kommunikation benutzt worden sei. <strong>Jahn</strong>, im Gegensatz<br />

dazu, versteht unter Hochdeutsch ein Medium der allgemeinen Kommunikation,<br />

sowohl mündlicher als auch schriftlicher, und zwar von jedem Mensch zu jedem Zweck<br />

benutzbar: „Die Muttersprache ist ein Gemeingut aller und jeder Glieder des Volks.“<br />

Dieser Auffassung, die wegweisend ist für das wachsende Interesse an einer Nationalsprache<br />

im frühen neunzehnten Jahrhundert, hat <strong>Jahn</strong> in Gestalt seiner Synonymik<br />

konkrete Form gegeben: Er beabsichtigte einen praktischen Beitrag zur Entwicklung<br />

dieser überregionalen, allgemein nützlichen Standardsprache. Diese Absicht ist in der<br />

Wahl seiner Sinnverwandtschaften erkennbar. Gewicht fällt überwiegend auf Begriffe,<br />

die mit der Landschaft und dem alltäglichen Leben zu tun haben: Es gibt Sinnverwandtschaften<br />

für Ackerbau, Kleidung, häusliche Gegenstände und Alltagsverrichtungen. Eine<br />

ideelle Absicht verfolgt er mit der Bevorzugung des ländlichen Wortschatzes: Indem er<br />

dem Hochdeutschen als alltäglicher Sprache eine größere Funktionsvielfalt geben wollte,<br />

musste er den Sprachschatz um Wörter aus dem nicht-elitären, nicht-städtischen Leben<br />

ergänzen.<br />

52


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Beispiele:<br />

Abdachung – Abhang – Lehne – Leite – Gesenke – Böschung<br />

Aussteuer – Ausstattung – Mitgift – Brautschatz – Heiratsgut<br />

belagern – berennen – sperren – einschließen<br />

Betrüger – Gauner – Schwindler – Hochstapler<br />

bisweilen – dann und wann – ab und an – mitunter – zuweilen<br />

einräumen – zugeben – zugestehen – eingestehen<br />

Knotenstock – Knüttel – Ziegenhainer – Prügel – Knüppel<br />

läuten – beiern – bimmeln<br />

Meerenge – Straße – Sund (mit „M“ endet seine Zusammenstellung)<br />

Es gibt verschiedene Quellen, aus denen die Zusätze herkommen, insbesondere Dialektwörter,<br />

Fremdwörter, Archaismen, auch Neuschöpfungen. Laut <strong>Jahn</strong> können die Dialekte<br />

herrliche Schätze für das Hochdeutsche beisteuern: „Kürze und Wohllaut würden<br />

viel gewinnen, wären die Eigenthümlichkeiten gewisser Gegenden allgemein bekannt,<br />

und hätte nicht ein unerträglicher Landschaftsstolz herrliche Schätze verwünscht“. <strong>Jahn</strong><br />

idealisiert die Dialekte nicht nach der Art des Volkspoesie-Trends um das Jahr 1800: Sein<br />

Werk befasst sich bewusst und gezielt mit der überregionalen Standardsprache. Er fordert<br />

auf zu der Bereitschaft, regionale Varianten in Betracht zu ziehen, wenn es um die Füllung<br />

der Leerstellen geht, die er sieht.<br />

Eine alternative Methode zur Lückenfüllung, das Ausleihen von fremden Wörtern,<br />

lehnt er (wie man erwarten konnte) ab, wenngleich hier kein Fremdenhass zu Tage tritt,<br />

wie das im Deutschen Volkstum der Fall ist. In Bereicherung gibt <strong>Jahn</strong> zu, dass er manchmal<br />

das Prinzip Deutlichkeit über das Prinzip Reinheit habe siegen lassen, und einige nichtdeutsche<br />

Wörter werden in den Sinnverwandtschaften ohne Kommentar aufgeführt.<br />

Aber wieso schrieb <strong>Jahn</strong> eine Synonymik und kein bloßes Wörterbuch? Eine Synonymik<br />

konzentriert sich, ihrer Natur gemäß, auf die Vielfalt: In dem Aufblättern der Bedeutungsvielfalt<br />

sieht sie nicht Verwirrung, sondern Reichtum. Indem sie die verschiedenen<br />

Bedeutungen der Wörter im Vergleich zueinander definiert, macht sie den Reichtum der<br />

Sprache überdeutlich.<br />

<strong>Jahn</strong> nimmt, wie wir gesehen haben, in seine Synonymik Begriffe aus einem breiten<br />

Spektrum gesellschaftlicher und kultureller Bereiche hinein und versteht sich als ‚Sammler<br />

dieser Nachlese‘: eine Metapher für seine Verfahrensweise, die die Wörter, so anspruchslos<br />

sie auch scheinen, als wertvolle Brosamen versteht. Er ist der Auffassung, eine Sprache<br />

sei reich, wenn sie verschiedene Bedeutungen zur Verfügung hat und wenn diese Be-<br />

53


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

deutungen nicht auf „erhabene“ Begriffe begrenzt werden. Nach seiner Vorstellung vom<br />

Hochdeutschen sind auch soziale und regionale Varianten zu berücksichtigen. „Was die<br />

allgemeine Umgangs-, Schrift- und Büchersprache (oder kürzer ausgedrückt das Hochdeutsche)<br />

schon unterscheidet, oder billiger Weise unterscheiden sollte; was im gemeinen<br />

Leben und Wandel vorkommt, das nur ist Gegenstand dieser Schrift“.<br />

Die Hauptfunktion der Sprache ist auch für <strong>Jahn</strong> die der Kommunikation. In seinem<br />

Deutschem Volkstum wird sie stärker in den Dienst der zeitgenössischen Bedürfnisse nach<br />

nationaler Kommunikation gestellt: Die Standardisierung einer Sprache ist wichtig, weil<br />

sie es allen Gliedern eines Volkes ermöglicht, miteinander zu sprechen, und weil sie dadurch<br />

die nationale Einheit (und damit die politische Kraft des Staates) stärkt. Mit seiner<br />

frühen Schrift Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes steuerte er kein vorrangig<br />

politisches Ziel an, wollte noch nicht agitieren oder polemisieren, sondern verfolgte wissenschaftliche<br />

und kulturelle Ziele.<br />

Wenn der Krieg von 1806 seine Pläne nicht gestört hätte, hätte er sich wohl im Oktober<br />

1806 wieder nach Göttingen begeben, um sich dort zum zweiten Mal zu immatrikulieren.<br />

Er hätte vielleicht endlich seinen Universitätsabschluss bekommen und sich<br />

eine akademische Laufbahn als Professor der deutschen Sprache und Geschichte schaffen<br />

können. Wir können das nicht abschätzen. Aber es lohnt sich, bei diesem frühen Werk zu<br />

verweilen. Es zeigt uns, dass er nicht von Beginn an dazu bestimmt war, der „Turnvater“<br />

oder der Verfechter der nationalen Einheit zu werden. 1806 war seine wirkungsmächtigste<br />

Zeit noch nicht gekommen.<br />

Literatur<br />

– Walter Dengler: Johann Christoph Adelungs Sprachkonzeption (Frankfurt a. M., 2003)<br />

– Carl Euler: <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>: Sein Leben und Wirken (Stuttgart, 1881)<br />

– Hans-Martin Gauger: Die Anfänge der Synonymik: Girard (1718) und Roubaud (1785): Ein<br />

Beitrag zur Geschichte der lexikalischen Semantik mit einer Auswahl aus den Synonymiken beider<br />

Autoren (Tübingen, 1973)<br />

– Helmut Henne: „Das Problem des Meissnischen Deutsch oder ‚Was ist Hochdeutsch‘ im<br />

18. Jahrhundert“, Zeitschrift für Mundartforschung 35, 2 (1968), 109-129<br />

– Günther <strong>Jahn</strong>: ‚Die Studentenzeit des Unitisten F. L. <strong>Jahn</strong> und ihre Bedeutung für die Vor- und<br />

Frühgeschichte der Burschenschaft 1796 – 1819‘ in: Christian Hünemörder und Günter Cerwinka<br />

(eds.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19.<br />

und 20. Jahrhundert (16 vols., Heidelberg, 1995), 15, 1-129<br />

– Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (3 vols.,<br />

Berlin/New York, 1994 – 2000)<br />

54


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Brasilien setzt auf Deutschland<br />

Klaus Arnold<br />

In London zu den Olympischen Spielen errang Arthur Nabarrete Zanetti aus Brasilien<br />

mit 15,900 die Goldmedaille an den Ringen deutlich vor dem Chinesen Chen Yibing<br />

mit 15,800. Auch bei früheren Pokalwettkämpfen, internationalen Turnieren, Weltmeisterschaften<br />

und Olympischen Spielen waren Turner aus Brasilien bereits erfolgreich und<br />

standen auf dem Treppchen oder erreichten Platzierungen. Alle diese Erfolge hier aufzuzählen<br />

würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, denn die Liste ist lang.<br />

Wie wird es dann 2016 aussehen, wenn die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro<br />

ausgetragen werden? Denn:„Olympische Spiele stellen heute das bedeutendste internationale<br />

Sportfest der Welt dar“ . Auch wenn dieses sportliche Großereignis nur an Städte<br />

und nicht an Länder vergeben wird, investieren diese viel in den Spitzensport und vordere<br />

Plätze in der Länderwertung bleiben nicht aus. Erfahrungswerte zeigen, dass in diesen<br />

Ländern ein enormer Leistungsaufschwung realisiert wird, der bisher nicht möglich war.<br />

Analysen und Ergebnisse vergangener Olympischer Spielen belegen, dass die ausrichtenden<br />

Länder in der Ergebnisliste vordere Plätze belegen oder aber wenigstens in der Rangfolge<br />

weiter vorn liegen als je zuvor. Man sollte dabei berücksichtigen: „Olympiateilnehmer<br />

sind objektiv auch Vertreter ihres Landes“<br />

Der Titel des Beitrages verrät, dass Deutschland für das Turnen in Brasilien einen<br />

nicht zu unterschätzenden Stellenwert hat. Der Beitrag von Evelise Amgarten Quitzau<br />

„Die Turnerschaft von 1890 in Sao Paulo (Brasilien) – <strong>Jahn</strong>report Dezember 2011 belegt,<br />

wie schon damals der Einfluss aus Deutschland für das Turnen dort war. Diese guten<br />

Beziehungen können wir bis in die heutige Zeit verfolgen. Im Internet war zu erfahren,<br />

dass im April des vergangenen Jahres in Rio de Janeiro ein Turnzentrum eröffnet wurde,<br />

welches von der Firma Spieth aus Deutschland nach modernsten Anforderungen für das<br />

Gerätturnens eingerichtet wurde.<br />

Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch, dass 1973 eine Weltauswahl<br />

der Turner 3 Wochen zu Schauturnen in Brasilien unterwegs war. Für dieses Jahr ist wieder<br />

eine Deutschlandtour in Brasilien geplant.<br />

Zu verweisen ist außerdem auf Turnbücher aus Deutschland, die in den 80er Jahren<br />

dort herausgegeben wurden (siehe Abbildung 1 und 2). Grundlage für diese beiden Veröffentlichungen<br />

waren Bücher aus Deutschland.<br />

55


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Der Sportverlag Berlin gab in den 70er Jahren<br />

eine Reihe Schülerbücher für verschiedene<br />

Sportarten heraus, die für den Anfängerbereich<br />

konzipiert waren. Sie erschienen für die Sportarten<br />

Volleyball, Fußball, Eislauf, Schlittensport,<br />

Judo, Radsport, Ringen, Gymnastik, Basketball,<br />

Skilauf, Sportschwimmen und Wasserspringen.<br />

Eines war gar der Trainingslehre gewidmet. In<br />

dieser Reihe erschienen auch 2 Bücher für das<br />

Gerätturnen. (siehe Abbildung 3 und 4)<br />

Abbildung 1 zeigt das Buch für Jungen –<br />

1983 herausgegeben.<br />

In der Abbildung 2 ist das für Mädchen zu<br />

sehen – 1984 herausgegeben.<br />

Heute sind diese Bücher freilich vergriffen.<br />

Auch antiquarisch ist es nicht leicht diese zu<br />

bekommen. Kostete ein Buch damals 5 Mark<br />

so müssen heute mehr als 8 € aufgebracht werden.<br />

Ergänzend muss noch ausgeführt werden,<br />

dass die Abbildungen in diesem Beitrag von den<br />

jeweils 2. Auflage stammen. Die ersten Auflagen<br />

– Mädchen 1976 und Jungen 1978 – waren<br />

noch mit realen Bildern auf dem Umschlag erschienen.<br />

Erst in der 2. – Mädchen und Jungen<br />

1981 – wurde auf diese stilisierten Abbildungen<br />

zugegriffen. Alle diese Editionen wurden in einer<br />

Auflagenhöhe von je 10.000 Exemplaren auf<br />

den Markt gebracht.<br />

Die brasilianischen Ausgaben wählen andere<br />

Titelbilder wie die Abbildungen zeigen. Inhaltlich<br />

wurde im turntechnischen Teil alles original<br />

übernommen. Die in den deutschen Ausgaben<br />

damals notwendigerweise enthaltenen gesellschaftlichen<br />

Einordnungen und Ausführungen<br />

blieben weg.<br />

Leider war es lange Zeit nicht gelungen die<br />

brasilianischen Veröffentlichungen zu erhalten.<br />

Die im Lizenzvertrag vereinbarte Lieferung<br />

von Belegexemplaren wurde nicht eingehalten.<br />

Selbst Bemühungen über Studierende der<br />

TU München, die Kontakt zu Studierenden in<br />

56


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Brasilien haben, gelang es nicht diese Bücher zu<br />

bekommen. Auch beim Aufenthalt des Autors<br />

in Brasilien im Jahre 2011 gelang es nicht über<br />

eine Germanistiklehrerin aus Sao Paulo und<br />

die Reiseleiterin in Rio de Janeiro – eine Deutsche<br />

– die Bücher zu erwerben. Offenbar sind<br />

diese dort ebenfalls vergriffen. Dank der oben<br />

erwähnten Autorin im <strong>Jahn</strong>report Frau Quitzau<br />

war es schließlich 2012 gelungen die in den Abbildungen<br />

gezeigten Bücher zu bekommen.<br />

In das gezeichnete Bild von den Beziehungen<br />

beider Länder passt auch die Meldung:<br />

<strong>2013</strong> wird als Deutsches Jahr deklariert.<br />

Schülersport „Gerätturnen für Jungen“ ist in<br />

der Abbildung 3 zu sehen.<br />

Die Abbildung 4 ist das Umschlagbild für<br />

Mädchen.<br />

Quellen und Literatur:<br />

– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Ginasica em<br />

Aparelhos Para Meninos. 1983<br />

– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Ginasica em<br />

Aparelhos Para Meninas. 1984<br />

– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Schülersport Gerätturnen<br />

für Jungen. Berlin 1981<br />

– Eberhard Zinke/Klaus Arnold: Schülersport Gerätturnen<br />

für Mädchen. Berlin 1981<br />

– Quitzau, Evelise Amgarten: Die Turnerschaft von<br />

1890 in Sao Paolo (Brasilien). In: <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong> 33.<br />

Ausgabe, Dezember 2011<br />

– gymmedia – Internetportal Artistic Gymnastics<br />

– Internet: Horst Röder: Olympische Spiele in London<br />

1908 – 1948 – 2012<br />

– Heinz Florian Oertel / Kristin Otto: Unser Olympiabuch<br />

London 2012, Das Neue Leben S. 230<br />

57


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Das Turnen in Argentinien lebt!<br />

Annette R. Hofmann<br />

Dass es in der Vergangenheit in einigen Ländern Südamerikas ein aktives deutsches<br />

Turnwesen gegeben hat, ist bekannt. Deutsche Auswanderer des 19. und 20. Jahrhunderts<br />

haben sich vor allem in Chile, Brasilien und Argentinien niedergelassen und dort in ihren<br />

„deutschen Kolonien“, in denen das Deutschtum mit seinen Traditionen und seiner Kultur<br />

gepflegt wurde, auch eine Turnbewegung aufgebaut. 1<br />

In Brasilien gehen einige der größten Sportclubs des Landes auf die Turner zurück,<br />

aber diese können heute nicht mehr als Turnvereine in unserem Sinne angesehen werden.<br />

Weder wird die Tradition des Turnens verfolgt, noch sind es Deutschstämmige, die diese<br />

Vereine leiten. Dies ist in Argentinien ganz anders. Bis heute gibt es dort ein florierendes<br />

Turnwesen, allerdings wurde dies bisher noch nicht historisch aufgearbeitet. Insbesondere<br />

in der Hauptstadt Buenos Aires existieren verschiedene aktive Turnvereine. Eine kleine<br />

Delegation argentinischer Turner besucht auch regelmäßig die Internationalen Deutschen<br />

Turnfeste, so ist auch in diesem Jahr wieder eine Gruppe zu erwarten.<br />

Ein beruflich bedingter Besuch deutscher Schulen in Buenos Aires im Frühsommer<br />

2012 hat mir nebenbei auch einen kleinen Einblick in die Turnvereine vor Ort verschafft.<br />

Dies war für mich nicht nur aus Sicht des DTB faszinierend, sondern auch aufgrund meiner<br />

wissenschaftlichen Tätigkeit. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit der amerikanischen<br />

Turnbewegung, so konnte ich in Argentinien immer wieder Vergleiche zu den USA ziehen.<br />

Im Folgenden möchte ich ein paar Eindrücke und Informationen weitergeben. Es handelt<br />

sich hierbei nicht um eine wissenschaftliche Aufarbeitung des argentinischen Turnwesens,<br />

eher um eine Anregung, dass sich jemand für diese – sicherlich interessante und<br />

faszinierende – Aufgabe findet.<br />

Deutsche Einwanderung und Vereine<br />

Laut Wikipedia Angaben stammen 90 Prozent der Argentinier von europäischen Vorfahren<br />

ab. Obwohl hiervon nur 3 – 4 Prozent deutschstämmig sind, ist festzustellen, dass<br />

1 Die Turnbewegung in einigen südamerikanischen Ländern ist in Teilen historisch aufgearbeitet.<br />

So hat sich zum Beispiel Lothar Wieser in seiner Dissertation intensiv mit der Geschichte der<br />

Turnvereine in Brasilien beschäftigt, ebenso setzen sich die beiden Brasilianer Leomar Tesche und<br />

Evelise Quitzau damit auseinander. <strong>Mai</strong>k Temme hat sich in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten<br />

Doktorarbeit dem Turnen in Chile gewidmet<br />

58


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

die deutsche Kultur mit einem eigenen Schul- und Vereinswesen in der Region um Buenos<br />

Aires nicht nur sichtbar, sondern auch aktiv ist. Das 2007 im Auftrag der deutschargentinischen<br />

Industrie- und Handelskammer herausgebrachte Buch Argentinische<br />

Vereinigungen deutschsprachigen Ursprungs macht auf über 700 Seiten – allerdings ist das<br />

Buch zweisprachig – Angaben zu den deutschen Schulen, Vereinen, religiösen Gemeinschaften,<br />

einigen Unternehmen und deutschsprachigen Medien. Aus dieser Auflistung<br />

ist zu entnehmen, dass es einen Dachverband aller deutschen Vereine, den „Verband der<br />

Deutsch Argentinischen Vereinigungen“ gibt und auch einen „Deutsch-Argentinischen<br />

Turn- und Sportverband“, dieser wurde kürzlich in Deutsch-Argentinischer Kultur- und<br />

Sportverband) umbenannt. Aufgefallen ist mir, dass die deutsche Sprache unter den<br />

Deutsch-Argentienern noch eine große Rolle spielt. Diese wurde zum Teil über Generationen<br />

hinweg an die Nachkommen weitergegeben.<br />

Auf die Schulen bezogen kann man sagen, dass allein in Buenos Aires ca. zehn mit<br />

Schwerpunkt auf die deutsche Sprache und Kultur existieren; über die „offizielle“ deutsche<br />

Schule hinaus, die in vielen Ländern in enger Zusammenarbeit mit den Deutschen<br />

Botschaften geführt werden. Dabei sind es sind nicht nur die Kinder deutschstämmiger<br />

Argentinier, die diese besuchen. 2<br />

Deutsche Turnvereine in Buenos Aires<br />

Der erste Eindruck, den die besuchten Turnvereine vermittelten, war, dass im Gegensatz<br />

zu den noch um die 50 existierenden Turnvereinen in den USA, deren Mitglieder zum Teil<br />

überaltert sind und sportliche Angebote oft fehlen (Hofmann, 1999), die Situation in Argentinien<br />

viel rosiger zu sein scheint. Dies kann zumindest über die in Buenos Aires bestehenden<br />

Turnvereine gesagt werden. Dies zeigt sich nicht nur am Alter der Vereinsmitglieder<br />

und der Vielzahl an sportlichen Angeboten, sondern auch darin, dass im Unterschied zu<br />

den USA, die Vereine keine Klein- und Kleinstvereine mit weniger als 100 Mitgliedern<br />

sind. Im Gegenteil, einige der Vereine weisen über 1.000 Mitglieder auf und sind als Großvereine<br />

anzusehen.<br />

Die Anzahl der deutschen Turnvereine in Argentinien kann ich nicht nennen. Die oben<br />

erwähnte Überblicksveröffentlichung führt zwölf Turn- und Sportvereine auf, darunter<br />

aber auch einen Reitverein, je einen österreichischen und einen schweizerischen Sportclub<br />

und Wassersportverein.<br />

2<br />

Der Kontakt zu diesen Schulen wird zum Teil auch mit deutschen Hochschulen über Praktika<br />

gepflegt. So ist zum Beispiel die Pädagogische Hochschule <strong>Ludwig</strong>sburg in Baden-Württemberg<br />

anzuführen, die jedes Jahr Lehramtsstudierende für ein mehrwöchiges Praktikum nach Buenos<br />

Aires schickt. Hier soll auch Prof. Hermann Gall, ehemaliger Präsident des Akademischen Turnbunde<br />

(1985 – 97), erwähnt werden. Auf ihn geht diese Zusammenarbeit zurück.<br />

59


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Einige, der in Buenos Aires angesiedelten Vereine, sollen hier anhand der Angaben und<br />

persönlichen Gespräche knapp vorgestellt werden, allerdings sind die Angaben uneinheitlich.<br />

Neuer Deutscher Turnverein<br />

(*1911, ursprünglich 1855 Deutsche Turnverein Buenos Aires).<br />

– Mitglieder: ca. 2.000<br />

– eigenes Schwimmbad<br />

– Sportangebot: Handball, Hockey, Volleyball, Prellball, Tennis, Leichtathletik, Schwimmen,<br />

Turnen, Gymnastik und Wassergymnastik<br />

– Ein Gelände von 16 Hektar<br />

Deutscher Turnverein Villa Ballester (*1924)<br />

– Mitglieder: ca. 3.000<br />

– 87.000m² Grundfläche, unterhält die zweitgrößte Sporthalle Argentiniens<br />

– Sportangebote: Geräteturnen, Gymnastik, Leichtathletik, Schwimmen, Handball,<br />

Faustball, Fußball, andere Ballspiele, Fitnesscenter, 12 Tennisplätze, Abnahme deutsches<br />

Sportabzeichen<br />

Deutscher Turnverein Lomas des Zamora (*1944)<br />

jetzt: Deutscher Turnverein Almirante Brown 3<br />

– Ca. 1.500 Mitglieder<br />

– Zwei Schwimmbecken, Sportplatz, 2 Sporthallen, 9 Tennisplätze, 3 Hockeyplätze<br />

Leichtathletikplatz, Faustball- und Fußballplätze<br />

– Gelände von 18 Hektar<br />

Deutscher Turn- und Sportverein Quilmes<br />

(*1923, ursprünglich Turnverein der Deutschen Schule in Quilmes)<br />

– Mitglieder: Ca. 1.200<br />

– Sportplatz („<strong>Jahn</strong>heide“), Sporthalle, Tennisplätze, Sportheim, Kegelbahnen, Hockeyfeld,<br />

Mehrzweck-Sporthalle, Schwimmbecken<br />

– Sportangebote: Handball, Hockey, Leichtathletik, Kegeln<br />

Schwäbischer Sport- und Turnverein Piñeyro (*1931)<br />

– Gründung durch Donauschwaben, Kegeln und gesellige Angebote stehen im Vordergrund<br />

3<br />

Dieser Verein wurde als Deutscher Turnverein Lomas de Zamora gegründet, musste sich aber<br />

durch Druck der Behörden umbenennen.<br />

60


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Die Turnvereine sind als Mehrspartenvereine zu bezeichnen mit einem breiten<br />

Spektrum an Sportangeboten. Aus turnerischer Sicht ist vor allem auch das Angebot an<br />

Turnspielen wie Faustball und Prellball erwähnenswert.<br />

Die mit Vertretern aus den Turnvereinen geführten Gespräche machten deutlich, dass<br />

sehr viele von ihnen eng mit den deutschen Schulen in Buenos Aires zusammenarbeiten.<br />

Häufig werden die Vereinssportanlagen für den Sportunterricht der Schulen oder größere<br />

Sportveranstaltungen genutzt.<br />

Eine große Veranstaltung an der die Vereine und deutsche Schulen zusammenarbeiten<br />

ist die Durchführung des jährlich im Oktober ausgetragenen „Fest der Jugend“. 4 Es<br />

handelt sich um einen Sporttag mit um die 5.000 Teilnehmern an dem eine Art Bundesjugendspiele,<br />

Sportaufführungen und Spiele durchgeführt werden. Die Ausführung dieses<br />

Sporttages wird stark mit Carl Diem in Verbindung gebracht. Den Namen des deutschen<br />

Sportfunktionärs findet man häufig auf Urkunden in den Vereinsgebäuden. Während in<br />

Deutschland nur noch wenige wissen, wer Carl Diem war, so scheint der deutsche Sportfunktionär<br />

in den argentinischen Turnerkreisen noch ein Begriff zu sein. Die aktuell in<br />

Deutschland geführte Diskussion um seine Persönlichkeit ist nicht bis nach Argentinien<br />

durchgedrungen.<br />

Beim Betreten der Sportanlagen und Gebäude der Vereine stößt man auf viele traditionelle<br />

Turnersymbole. Dass man an den Turnhallen die 4f findet, versteht sich von selbst,<br />

darüber hinaus sind aber auch zahlreiche deutsche Sprüche an den Wänden, auf deutsch<br />

verfasste Urkunden, etc. interessant, und dass zum Beispiel der Turnverein noch an den<br />

rot-weißen Farben der deutschen Kaiserzeit festhält.<br />

Die Turnvereine in Buenos Aires zeichnen sich durchweg durch eine unerwartet hohe<br />

Mitgliederzahl aus. Diese sind von ihrer ethnischen Zusammensetzung bunt gemischt und<br />

nicht nur deutschstämmig. Die Vereine weisen durchweg eigene Sportgebäude und zum<br />

4 In der Zeitschrift Globus, die sich deutschen Kulturbeziehungen im Ausland annimmt, wurde ein<br />

Beitrag über „Das Fest der Jugend“ abgedruckt. (4/2012).<br />

61


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Teil auch Schwimmbäder mit beeindruckenden Außenanlagen<br />

auf, die nicht selten auch Tennisplätze, Freibad und<br />

Fußballfelder umfassen. Allerdings sieht man deutlich, dass<br />

sämtliche Vereine und Sportstätten schon einmal bessere Zeiten<br />

gesehen und ihre Blüte hinter sich gelassen haben. Trotz<br />

der hohen Mitgliederzahlen fehlen die Finanzen zur Aufrechterhaltung<br />

und Sanierung. Viele Sportstätten sind marode, das Material<br />

sehr häufig alt. Als deutsche Besucherin wundert man sich,<br />

dass diese Geräte überhaupt noch genutzt werden. Leider fehlt es an<br />

Geld, und Versuche über das Ausland an gebrauchte Sportgeräte zu<br />

kommen sind bisher nicht gelungen, da die derzeitige argentinische Regierung<br />

die Einfuhr internationaler Güter – egal ob neu oder gebraucht<br />

– sehr stark reguliert und einschränkt.<br />

Es ist schade zu zusehen, wie hier ein Stück deutsche Kultur, das sich über ein Jahrhundert<br />

erhalten hat, weniger aufgrund mangelnden Interesses, sondern aufgrund mangelnder<br />

Finanzkraft nach und nach verschwindet. Wäre es nicht auch ein Anreiz für die <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

hier eine Kooperation aufzubauen, um vielleicht ein Stück<br />

Turngeschichte im Ausland aufrecht zu erhalten? In Argentinien wäre dies noch möglich,<br />

anders als in den USA, wo man fast jährlich zuschauen kann, wie die Gesamtmitgliederzahl<br />

der rund 50 noch bestehenden Turnvereine nach und nach zusammenschrumpft.<br />

Schon jetzt umfassen sie nur noch ca. 12.000 Turner und Turnerinnen.<br />

Ausgewählte Literaturempfehlungen zur Vertiefung<br />

– Falkenberg, L. (2012). Miteinander statt gegeneinander. Globus 4, 20-21.<br />

– Hofmann, Annette (2001). Aufstieg und Niedergang des Deutschen Turnens in den USA. Schorndorf:<br />

Hofmann.<br />

– Hofmann, Annette & Krüger, Michael (Hrsg.) (2004). Südwestdeutsche Turner in der Emigration.<br />

Schorndorf: Hofmann.<br />

– Lege, Klaus-Wilhelm (Editor) (2007). Argentinische Vereinigungen deutschsprachigen Ursprungs:<br />

Ein Beitrag zur sozialen Verantwortung. Buenos Aires: Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer.<br />

Eigenverlag.<br />

– Temme, <strong>Mai</strong>k (2000). Die deutsche Turnbewegung in Chile 1852 – 1945. Würzgburg.<br />

– Tesche, Leomar (2002). O Turnen, a Educação e a Educação Física nas Escolas Teuto-Brasileiras, no<br />

Rio Grande do Sul: 1852 – 1940. Ijuí: Eotore Unijuí.<br />

– Tesche. Leomar (Hrsg.) (2011). Turnen. Transformações de uma cultura corporal europeaia na<br />

américa. Ijuí: Editora Uniju.<br />

– Wieser, Lothar(1990). Deutsches Turnen in Brasilien. Deutsche Auswanderung und die Entwicklung<br />

des deutsch-brasilianischen Turnwesens bis zum Jahre 1917. Göttingen: Arena Publications Limited.<br />

62


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Kurzberichte<br />

Neuigkeiten über die online-gestützte <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />

Um den Service für wissenschaftliches Arbeiten zum Forschungsgegenstand <strong>Friedrich</strong><br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> zu „modernisieren“, stand noch 2012 die Vision einer online-gestützten, internationalen<br />

<strong>Jahn</strong>-Bibliographie. Aus dieser Vision ist eine konkrete Projektbeschreibung<br />

hervorgegangen, über die dieser Bericht weiter informieren möchte (siehe dazu auch den<br />

Bericht im letzten <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>, S. 40/41).<br />

Die bibliographische Zielsetzung des Projekts stellt die erste Herausforderung dar. Anhand<br />

einer Musterstudie, die eine Verarbeitung der Schriften des 19. Jahrhunderts von und<br />

über <strong>Jahn</strong> vorsieht, soll eine Strukturierung zunächst erprobt und dann verbindlich festgelegt<br />

werden. Die Bibliographie, die mit der Literaturverwaltungssoftware CITAVI angelegt<br />

wird, erhält eine Gliederung, um dem Nutzer eine erste Orientierung zu ermöglichen. Die<br />

Gliederung wächst mit der Anlegung der Literaturangaben in der Musterstudie. Jeder Titel<br />

erhält zunächst eine verbindliche Zuordnung zu den vier Kategorien Primär-/Sekundärliteratur,<br />

Gattung, Thema und politische Epochen der deutschen Geschichte.<br />

Allein diesen ersten Schritt konnten die bisherigen <strong>Jahn</strong>-Bibliographien aus dem<br />

Bibliotheksregal nicht leisten. Des Weiteren bestimmt der Titel quasi seine präzisere Einordnung<br />

in eine oder mehrere Subkategorien. Beispielsweise kann die Kategorie „Thema“<br />

die Subkategorien „Politisches“ und „Biographisches“, aber auch „<strong>Jahn</strong>-Denkmäler“ und<br />

„<strong>Jahn</strong>-Museum“ haben. Dies ist allerdings nur die Strukturierung, die seitens der Arbeitsgruppe<br />

<strong>Jahn</strong>-Bibliographie vorgesehen ist. Ergänzt wird dies zusätzlich durch die Vorgaben<br />

der Eingabemaske von CITAVI, die die Angabe von beispielsweise Erscheinungsort und<br />

–jahr, Verlag und Seitenzahl verlangt. Der Nutzer kann so nach ganz bestimmten Kriterien<br />

suchen, solche auch zügig kombinieren und somit seine Quellen- und Literaturrecherchen<br />

individualisieren.<br />

Bei bibliographisch erfassten Quellen und Belegen stellt sich grundsätzlich die Frage<br />

nach der Unterscheidung von wissenschaftlich relevanten und nicht wissenschaftlichen bzw.<br />

nicht wissenschaftlich relevanten Quellen und Texten. Am Beispiel der <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />

kann dies exemplarisch gezeigt und mit dem Ziel geprüft werden, allgemeinere Kriterien<br />

zur Lösung dieses Problems zu definieren. Zum Abschluss der Musterstudie soll eine Gliederung<br />

vorliegen, an der sich die Anlegung der übrigen Jahrgänge orientiert.<br />

Eine weitere Herausforderung der Projektbearbeitung ist die Materialerhebung. Dazu<br />

sind zwei Schritte zu nennen. Zum einen wird bei der Auswertung von Fachliteratur,<br />

63


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Bibliographien, diverser Verzeichnissen und Katalogen „klassisch“ vorgegangen, zum anderen<br />

werden online-Datenbanken genutzt. Dabei wird insbesondere auch die internationale<br />

<strong>Jahn</strong>-Literatur erfasst, indem moderne, internationale Bibliothekssysteme und Datenbanken<br />

genutzt werden. Dies ist bisher in keiner <strong>Jahn</strong>-Bibliographie geschehen und stellt in der<br />

Sportwissenschaft generell ein Desiderat dar. Hier ist insbesondere auf die Turner-Archive<br />

in den USA zu verweisen: Ruth Lilly Special Collection & Archives der Indiana University<br />

Purdue in Indianapolis, Max Kade Center for German-American Studies der Kansas University<br />

(Unterlagen des traditionsreichen New Yorker Turnvereins und anderer deutscher<br />

Turnvereine in den USA).<br />

Ziel des <strong>Jahn</strong>-Bibliographie-Projekts ist es auch, diese Bestände mit zu berücksichtigen<br />

und somit eine international vernetzte <strong>Jahn</strong>- und in einem möglichen weiteren Schritt Turner-Bibliographie<br />

zu erstellen. Außerdem ist auf die <strong>Jahn</strong>-Forschung in Japan hinzuweisen.<br />

Eine dritte Herausforderung ist die technische Umsetzung des Projekts. Diese erfolgt in<br />

Absprache mit den Kooperationspartnern, dem „Bundesinstitut für Sportwissenschaft“ und<br />

der „Deutschen Sporthochschule“. CITAVI ist mit SpoLit kompatibel und die Bibliographie<br />

kann als externes Projekt mit dieser Datenbank verknüpft werden. Es erfolgt zusätzlich<br />

eine Verschlagwortung der im Projekt angelegten Angaben, um zielgenaues Suchen zu<br />

ermöglichen. Außerdem soll die Bibliographie auf dem Hochschul-Server der Deutschen<br />

Sporthochschule implementiert und bereitgestellt werden. Eine mit technischen Mitteln<br />

umgesetzte online-Bibliographie macht es möglich, diese stetig weiterzuentwickeln, deshalb<br />

soll das zunächst abgeschlossene Projekt nach inhaltlichen und methodischen Fragestellungen<br />

ausgewertet werden, um diese Erkenntnisse in die weitere Ausgestaltung einfließen zu<br />

lassen.<br />

Um den Begriff der „Vision“ erneut aufzugreifen: Es geht bei dieser modernen <strong>Jahn</strong>-<br />

Bibliographie nicht zuletzt auch um die Formulierung möglicher Anschlussprojekte. Die<br />

Vision besteht darin, eine Onlineplattform mit „e-living-references“ zu schaffen, wie es in<br />

der Fachsprache heißt. Die bibliographisch erfassten Titel sowie wissenschaftliche Kommentare<br />

und Beiträge können ständig eingearbeitet und aktualisiert werden. Sie werden von<br />

einem zu schaffenden Expertenbeirat („peer-review“) überprüft und unterstützt. Es sollen<br />

sich <strong>Jahn</strong>-Interessierte aus aller Welt angesprochen fühlen, durch Hinweise auf noch nicht<br />

erfasste Titel und Beiträge zum „Turnvater“ an der Weiterentwicklung der <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />

mitzuwirken und somit den Service für die <strong>Jahn</strong>-Forschung noch weiter zu verbessern.<br />

Die neue <strong>Jahn</strong>-Bibliographie von Florian Mayer entsteht derzeit am Institut für Sportwissenschaft<br />

der Universität Münster, Arbeitsbereich Sportpädagogik/Sportgeschichte, Leitung: Prof.<br />

Dr. Michael Krüger, Mitarbeit: Dr. Josef Ulfkotte.<br />

Florian Mayer<br />

64


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ in Wien<br />

Brückenschlag DTB – ÖTB gefestigt<br />

Eine Veranstaltung mit bemerkenswerter Außenwirkung fand Ende März im Haus des<br />

Wiener Akademischen Turnvereins (Mitglied der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>) statt. Hier wurde, erstmals<br />

in Österreich, die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ gezeigt, und nach der Eröffnung<br />

gab es ein kurzes Symposium zu turngeschichtlichen Fragen.<br />

Dieses Projekt stieß auf erstaunliche Resonanz. Rund 40 Interessierte erschienen. Referent<br />

war unter anderen der neu gewählte Bundesobmann des Österreichischen Turnerbundes<br />

(ÖTB), Karl Kolar (Linz). Seitens des Deutschen Turner-Bundes (DTB) war Gerd<br />

Steins, der Turnhistoriker aus Berlin, der die Ausstellung fürs Deutsche Turnfest 2009 in<br />

Frankfurt „gemacht“ hatte, nach Wien gekommen. Er führte in die Ausstellung ein, die<br />

zum zehnten Male gezeigt wurde. Hansgeorg Kling (Kassel), Präsident der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>,<br />

referierte über <strong>Jahn</strong>s Bemühungen um die deutsche Sprache.<br />

In der Diskussion wurde ein weiter Bogen geschlagen: von <strong>Jahn</strong>, seinen Bemühungen<br />

um die deutsche Sprache und seiner Erfindung der vier „F“ als Turn-Zeichen bis zu heutigen<br />

Fragen der Verwendung von Zeichen, Logos, Piktogrammen, Formeln, Symbolen, Marken<br />

und Ritualen. Karl Kolar steuerte seine Betrachtungen über das ÖTB-Markenzeichen bei,<br />

ging auch auf die Diskussion um ein moderneres Zeichen im ÖTB-Landesverband Oberösterreich<br />

ein und setzte dies in Beziehung zu den Erkennungsmerkmalen des ÖTB und seiner<br />

Vereine (Brauchtum, Tracht, Volkstanzen, Sonnwendfeier, Wimpelwettstreit, Turn 10).<br />

Insgesamt wurde es auch in der Diskussion der drei Referate als reizvoll eingestuft, sich<br />

mit diesem Thema zu beschäftigen: Der Einsatz von Sprache und Zeichen sei im Zusam-<br />

Auf dem „Podium“ (von links): Hansgeorg Kling, Karl Kolar, Erich Danneberg, Gerd Steins<br />

65


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

menhang zu sehen, wenn es darum geht, zu informieren, zu kommunizieren, andere zu<br />

überzeugen oder zu beeinflussen; insgesamt: wirksam tätig zu sein: Umberto Eco, der auch<br />

als Romanautor bekannt ist, macht deutlich, dass Sprache und Zeichen sehr gezielt eingesetzt<br />

werden, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, er sieht den Menschen als „symbolisches<br />

Wesen“ (Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte,<br />

Suhrkamp 1977).<br />

Mit der DTB-Ausstellung und dem Rundgespräch wurde zugleich der Brückenschlag<br />

zwischen dem DTB und dem ÖTB gefestigt: Bei der Formulierung der künftigen Aufgaben<br />

der Turnverbände (Blickrichtung auf die Dienstleisterfunktion, die sie für ihre Vereine<br />

haben) werden sie wohl in Zukunft enger zusammenarbeiten und sich vor allem bei<br />

Führungskräfte-Seminaren austauschen.<br />

Hansgeorg Kling<br />

ZITAT<br />

„Die Veranstaltung des Wiener Akademischen Turnvereins war gut besucht, hätte<br />

aber vom Gehalt her gesehen einen noch viel größeren Zuspruch verdient. … Aus<br />

den Vorträgen und der Ausstellung habe ich mitgenommen, dass die Wahrung<br />

der Identität und das schnörkellose Beibehalten einer Marke wesentlich für das<br />

Selbstverständnis und die Orientierung eines Verbandes sind. Eine Anpassung und<br />

Überarbeitung … muss gezielt und professionell erfolgen. Dabei gilt es den Geist<br />

zu wahren und den Auftritt zu stärken.“<br />

(Karl Kolar)<br />

Recht umtriebig ist Gerd Steins (Berlin) in diesen<br />

Monaten. Der Turnhistoriker sorgte sich zunächst<br />

um die Drucklegung des Katalogs der DTB-Ausstellung<br />

„Turn-Zeichen“, die er anlässlich des letzten<br />

Deutschen Turnfestes in Frankfurt zusammengestellt<br />

hatte (der Katalog ist jetzt zu beziehen für fünf Euro),<br />

sprach Ende März zu deren Eröffnung in Wien, wird<br />

Mitte Juni in Lanz bei Lenzen das dortige 15. <strong>Jahn</strong>-<br />

Kolloquium leiten und bereitet in diesen Wochen die<br />

Sonderausstellung „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> im Wandel<br />

seiner Porträts“ vor, die Mitte August im <strong>Jahn</strong>-<br />

Museum in Freyburg eröffnet wird.<br />

66


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

ANKÜNDIGUNG<br />

XV. Lanzer <strong>Jahn</strong>-Kolloquium<br />

im Rahmen des Prignitz-Sommer <strong>2013</strong><br />

Von der Turnfahrt zum Wandertag<br />

Samstag, 15. Juni <strong>2013</strong>, 16.30 Uhr:<br />

Landgasthof Paesler<br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Straße 13<br />

19309 Lanz bei Lenzen/Elbe<br />

Tel./Fax: 038780-7302<br />

Leitung des Kolloquiums: Gerd Steins, Berlin<br />

Tel.: 030-3 05 83 00 / 2 29 44 15 • Fax 030-3 05 83 40 • <strong>Mai</strong>l: gestefos@t-online.de<br />

Die Teilnahme am Kolloquium ist gebührenfrei. Das Kolloquium wird ermöglicht durch<br />

die Kunst- und Kulturfesttage „Prignitz-Sommer | Landkreis Prignitz“.<br />

Buchbesprechungen<br />

Der Katalog zur DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ (siehe S. 68!)<br />

Für die Ausstellung „Turn-Zeichen“, die Gerd Steins (Berlin) zum Deutschen Turnfest<br />

2009 in Frankfurt erstellte und die in der Paulskirche zum ersten Mal gezeigt wurde, liegt<br />

jetzt auch der Ausstellungskatalog vor. Er umfasst auf 52 Seiten nicht nur die Ausstellungstafeln<br />

mit ausführlichen Erläuterungen, sondern auch zusätzliche Informationen wie einen<br />

Überblick über die Entwicklung der vier „F“ von Gerd Steins und einen dreiseitigen Beitrag<br />

über das Banner der Deutschen Turnerschaft von Ingo Peschel; dazu ein umfassendes Literaturverzeichnis.<br />

Der Katalog, herausgegeben vom Forum für Sportgeschichte (Berlin) und von der <strong>Jahn</strong>-<br />

<strong>Gesellschaft</strong>, zugleich Band 17 der Sporthistorischen Blätter, wird gegen eine Schutzgebühr<br />

von fünf Euro abgegeben und kann bei der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> (Freyburg) bestellt werden.<br />

Hansgeorg Kling<br />

67


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

68


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

„Wir lernten einsehen, daß unser Glück nicht im Vielbesizzen besteht,<br />

sondern in der Genügsamkeit, im weisen Gebrauch des Erworbenen,<br />

und im frohen Streben nach erreichbaren Geistern“<br />

Ein Eintrag F. L. <strong>Jahn</strong>s in das Stammbuch des (späteren) Superintendenten Karl <strong>Friedrich</strong><br />

Ferdinand Tiebel.<br />

Im Jahre 1994 veröffentlichte Günther <strong>Jahn</strong> das Stammbuch <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s. 1<br />

Das „Album Amicorum“ enthält 60 Blätter aus Halle, Jena, Greifswald und Göttingen<br />

mit Eintragungen aus <strong>Jahn</strong>s Studentenzeit von 1798 bis 1806. Nach dem eher unrühmlichen<br />

Ende seiner Schullaufbahn am Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin hatte<br />

<strong>Jahn</strong> auf Wunsch seines Vaters 1796 an der Universität Halle als „Examinandus“ das<br />

Studium der Theologie aufgenommen. Zwei Jahre später trat er in Halle dem geheimen<br />

Studentenorden der Unitisten bei, für dessen Belange er sich fortan engagierte.<br />

Unter den Studenten war es damals Brauch, sich das Andenken an die Studienfreunde<br />

für die Zukunft durch eine Eintragung in das Stammbuch („Buch der Freundschaft“) zu<br />

bewahren. Diese Eintragung bestand in der Regel aus einem handschriftlichen Gruß, angereichert<br />

mit einem nach Möglichkeit selbst verfassten Gedicht oder einem anderen literarischen<br />

Text. Häufig wird ein Lebensmotto eingetragen. Studenten, die wie <strong>Jahn</strong> einem<br />

geheimen Orden angehörten, erfanden eine Vielzahl von verklausulierten Symbolen und<br />

Zeichen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu „ihrem“ Orden bestätigten. Nicht fehlen<br />

durften der Eintrag des Namens und des Datums. Genannt wird zumeist auch die Fakultät,<br />

an der der Einträger studiert sowie der Ort seiner Herkunft. Darüber hinaus enthalten<br />

viele Stammbücher kolorierte Federzeichnungen mit Ansichten der jeweiligen Universität<br />

bzw. einer oder gar mehreren Szenen aus dem Studentenleben. Solche Zeichnungen sind<br />

allerdings in <strong>Jahn</strong>s Stammbuch nicht zu finden, wohl aber im Stammbuch von Karl <strong>Friedrich</strong><br />

Ferdinand Tiebel (1778 – 1835), das vom Münchener Buch- und Kunstauktionshaus<br />

ZISSKA & SCHAUER kürzlich für 5.500 Euro an das Wiener Antiquariat Inlibris veräußert<br />

wurde. Mit ein Grund dafür, dass der Verkaufspreis 2.500 Euro über dem Schätzpreis<br />

von 3000 Euro lag, könnte der Hinweis gewesen sein, dass der „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> darin<br />

einen sechsseitigen Eintrag hinterlassen habe, der zugleich Einblicke in die bislang wenig<br />

bekannte frühe Studienzeit <strong>Jahn</strong>s gewähre.<br />

Tiebels Stammbuch enthält etwa 200 Eintragungen aus Halle, Lenzen (Prignitz),<br />

Magdeburg, Kloster Berge bei Magdeburg, Hillersleben u. a. aus den Jahren 1795 bis ca.<br />

1<br />

Günther <strong>Jahn</strong>: Die Stammbuchblätter <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s (1778 – 1852). Eintragungen aus der<br />

Studienzeit 1798 – 1806. In: Einst und Jetzt, Bd. 39 (1994), S. 87-141.<br />

69


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

1800, ist damit also deutlich umfangreicher als das Stammbuch <strong>Jahn</strong>s. Im Stammbuch<br />

<strong>Jahn</strong>s taucht Tiebel übrigens nicht auf. <strong>Jahn</strong>s Vater Alexander war Pfarrer in Lanz in der<br />

Westprignitz, dem Geburtsort <strong>Jahn</strong>s. Der Vater von Tiebel, Christian <strong>Friedrich</strong> (1738 –<br />

1809), war etwa zur gleichen Zeit Prediger im Nachbarort Lenzen. Die Familien <strong>Jahn</strong><br />

und Tiebel verband offenbar eine lebenslange Freundschaft, die Söhne sind miteinander<br />

aufgewachsen und verbrachten zumindest einen Teil ihrer Studienzeit miteinander. Die<br />

Verbindung zwischen <strong>Jahn</strong> und Karl <strong>Friedrich</strong> Ferdinand Tiebel brach auch nach dem<br />

endgültigen Scheitern von <strong>Jahn</strong>s überlanger Hochschulzeit nicht ab, mehrfach wird Tiebels<br />

Name in Briefen an <strong>Jahn</strong> zwischen 1807 und 1810 genannt. 2 Offenbar waren die<br />

beiden Familien sogar recht nah miteinander verwandt, denn <strong>Jahn</strong> schrieb am 30. August<br />

1816 in einem Brief an den Konsistorialrat v. Türk: „Superintendent Tiebel von Nauen<br />

ist ein naher Anverwandter von mir, und was mehr gilt als Blutsverwandtschaft, mein<br />

Jugendfreund von hohen Schulen her.“ 3<br />

Über den Eintrag <strong>Jahn</strong>s in das Stammbuch Tiebel ist dem Verkaufskatalog des Münchener<br />

Buch- und Auktionshauses zu entnehmen, dass er gemeinsam mit den Einträgen<br />

anderer Hallenser Studenten eine besondere Stammbuch-Abteilung bildet. <strong>Jahn</strong>s Eintrag<br />

vom 24. August 1798 („Halle d. 24ten des August 1798“), eingeleitet mit einem Zitat<br />

des Schriftstellers und Theologen von Kosegarten, betont die enge Freundschaft mit Tiebel<br />

und bietet dann eine „Erinnerung an unser akademisches Leben“, die im Juni 1797<br />

einsetzt. Darin berichtet <strong>Jahn</strong> über gemeinsame Wanderungen um den Giebichenstein<br />

bei Halle, erwähnt auch eine „Kaninchenhöhle“, die heute als „<strong>Jahn</strong>höhle“ bekannt ist.<br />

Auf zweieinhalb Stammbuchseiten fasst <strong>Jahn</strong> dann gemeinsame Reiseerlebnisse zusammen,<br />

eine „kleine Fahrt zum Petersberg“, eine Reise nach Thüringen vom 20. bis 27.<br />

August 1797, einen Besuch in Eisleben mit Besichtigung des Lutherhauses sowie eine<br />

Harzwanderung. In seinem Bericht über die Thüringenreise erwähnt er auch Goethe in<br />

Anspielung auf dessen in diesem Jahr erfolgte Anstellung als Bibliothekar an der Bibliothek<br />

der Herzogin Anna Amalia („Goethe spielt Großhaus Weimar“). <strong>Jahn</strong> schließt seinen<br />

Freundschaftseintrag mit den Zeilen: „In Wahrheit lieber Tiebel, wir können sagen, wir<br />

LEBTEN in Halle. Ohne Reideburg, den Tempel der Roheit, und hunnische Sauffeste<br />

lebten wir glücklich, ohne verderbliche Verbindungen hatten wir Freunde. – Wir lernten<br />

einsehen, daß unser Glück nicht im Vielbesizzen besteht, sondern in der Genügsamkeit,<br />

im weisen Gebrauch des Erworbenen, und im frohen Streben nach erreichbaren Geistern.<br />

Ewig Dein Freund <strong>Jahn</strong>.“<br />

2 Vgl. Hans-Joachim Bartmuß/Eberhard Kunze/Josef Ulfkotte (Hrsg.): „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> und sein patriotisches<br />

Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 – 1812, Böhlau Verlag Köln-Weimar-Wien 2008, S.<br />

32, <strong>36</strong>, 57, 59, 62, 81f., 84, 86, 90.<br />

3 Zit. nach Wolfgang Meyer: Die Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, Leipzig 1913, S. 86.<br />

70


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>Jahn</strong>s Vater Alexander <strong>Friedrich</strong>, seine Mutter Dorothea Sophie (geb. Schultze) und<br />

eine Cousine Tiebels mit Namen E. <strong>Jahn</strong> haben sich ebenfalls in Tiebels Stammbuch<br />

eingetragen und zwar alle unter „Lanz, den 26. April 1798“, also etwa vier Monate früher<br />

als <strong>Jahn</strong>.<br />

Mehr ist über <strong>Jahn</strong>s Eintrag nicht zu erfahren, viel mehr auch nicht über das Stammbuch<br />

Tiebel insgesamt – von der Beschreibung des Erhaltungszustandes etc. abgesehen.<br />

Studentische Stammbücher sind beliebte Sammlerobjekte, und bekanntlich sind Sammler<br />

durchaus bereit, für ein besonderes Exemplar einen astronomisch anmutenden Preis zu<br />

zahlen. Das scheint im Fall von Tiebels Stammbuch so zu sein, jedenfalls hat das Wiener<br />

Antiquariat Inlibris dessen Wiederverkaufswert auf 18.000 Euro festgesetzt (s. www.inlibris.at;<br />

Stand: 5. 8. 2012).<br />

Josef Ulfkotte<br />

Neues <strong>Jahn</strong>-Denkmal in Neusiedl / Zaya<br />

Ganz selten noch entstanden in den letzten Jahrzehnten<br />

<strong>Jahn</strong>-Denkmäler. Eines der letzten und sicherlich<br />

das neuste ist das in Neusiedl an der Zaya<br />

(Niederösterreich). Der dortige ÖTB-Turnverein<br />

hat es Ende 2009 anlässlich seiner Julfeier enthüllt.<br />

Es ist 1 x 1 m groß und in Sicherheits-Verbundglas<br />

ausgeführt.<br />

Hans-Joachim Bartmuß und Josef Ulfkotte<br />

Nach dem Turnverbot: „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> zwischen 1819 und 1852<br />

Nach den zehn „Berliner Jahren“ (1809–1819), seiner wir-<br />

kungsmächtigsten Zeit, geriet <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> aus dem<br />

Blickfeld der Öffentlichkeit. Die eindrucksvolle neue Arbeit von<br />

Bartmuß und Ulfkotte gibt streckenweise völlig neue Einblicke<br />

in die zweite Lebenshälfte <strong>Jahn</strong>s.<br />

Hans-Joachim Bartmuß und Josef Ulfkotte: Nach dem Turnverbot:<br />

„Turnvater“ <strong>Jahn</strong> zwischen 1819 und 1852. Böhlau Verlag<br />

(Wien-Köln-Weimar) 2011, 283 Seiten, 39,90 Euro. ISBN 978-<br />

3-412-20734-2.<br />

71


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

NOTIZEN<br />

Zwei Präsidien verabredeten eine enge Zusammenarbeit:<br />

Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft von Sportmuseen,<br />

Sportarchiven und Sportsammlungen e. V. (DAGS) wird im<br />

Herbst 2014 ihre Jahrestagung in Freyburg/Unstrut durchführen.<br />

Als Ausrichter und Gastgeber fungiert die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Das vereinbarten die beiden Präsidenten, der Historiker<br />

Stefan Grus M.A. (seit 1998 Leiter von Archiv und<br />

Bibliothek des Deutschen Schützenbundes, Wiesbaden, seit<br />

2004 Leiter des Deutschen Schützenmuseums auf Schloss<br />

Callenberg, Coburg) und Hansgeorg Kling, der Präsident<br />

der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Die <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> trauert um Klaus<br />

Köste, den so erfolgreichen Turner und Olympiasieger von<br />

1972, der seit 1994 unser treues Mitglied war. Er starb am<br />

14. Dezember 2012, kurz vor seinem 70. Geburtstag, an<br />

Herzversagen. Seine erfrischende Art, mit der er zum jährlich<br />

stattfindenden <strong>Jahn</strong>-Turnfest in Freyburg den „Turnvater“<br />

zum Leben erweckte, wird fehlen. Bei der Trauerfeier in Leipzig<br />

versammelten sich mehrere hundert Freunde zu seinem<br />

Gedenken.<br />

Das tut er sich immer einmal wieder an: Im April<br />

startete Rainer Brechtken, Jahrgang 1945, seit 2000<br />

Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB), zu<br />

einem Halbmarathon in Portugal (der Start ein Geschenk<br />

zu seiner Verabschiedung aus dem Präsidium<br />

des Schwäbischen Turnerbundes). Den schaffte er in<br />

knapp zweieinhalb Stunden und wäre viel schneller gewesen,<br />

wenn er nicht schon nach 4 km in einen Sturz<br />

verwickelt worden wäre (Folge: aufgeschlagene Knie).<br />

Am 16. August dieses Jahres wird er in Freyburg zu Beginn<br />

der Mitgliederversammlung der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

zu uns sprechen.<br />

72


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Ein unverwüstlicher und treuer Turnbruder ist unser Mitglied<br />

Wilhelm Pappert (Flörsheim) auch in seinem 74. Lebensjahr.<br />

Ende April leistete er wie fast jede Woche seinen ehrenamtlichen<br />

Dienst beim DTB an der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise 8,<br />

jetzt zum 930. Male seit 1995: als derjenige, der die Bibliothek<br />

des DTB pflegt und der turngeschichtliche Fragen aus dem fünf-<br />

Millionen-Mitglieder-Verband beantwortet.<br />

Auf offene Ohren stieß das Anliegen der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>,<br />

mit dem Landessportbund Sachsen-Anhalt enger zusammenzuarbeiten.<br />

Bei einem Gespräch mit dessen Vorstandsvorsitzendem<br />

Dr. Lutz Bengsch in Halle vereinbarten beide Seiten eine Folge<br />

von sportgeschichtlichen Beiträgen im Magazin „Sport in Sachsen-Anhalt“<br />

sowie die Behandlung von überfachlichen Fragen bei<br />

der Tagung der Präsidenten der 14 Kreis- und Stadtsportbünde<br />

Anfang September in Osterburg.<br />

Bianka Hüller (Halle), Jahrgang 1955, Diplomlehrerein für<br />

Russisch und Englisch, Gründungsmitglied des Landesturnverbands<br />

Sachsen-Anhalt (1990), ist seit demselben Jahr die hauptamtliche<br />

Geschäftsführerin ihres von Gudrun Steinbach (Leipzig)<br />

geleiteten Landesturnverbandes. Seit 1992 ist sie die Hauptverantwortliche<br />

für die Vorbereitung und Durchführung des jährlichen<br />

<strong>Jahn</strong>-Turnfestes in Freyburg/Unstrut. Die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />

bedankt sich bei ihr für die stets gute Zusammenarbeit.<br />

Prof. Dr. Hans-Joachim Bartmuß, von<br />

1994 bis 2004 Vorsitzender des <strong>Jahn</strong>-Fördervereins<br />

(des Vorgängers der jetzigen <strong>Jahn</strong>-<br />

<strong>Gesellschaft</strong>), seit 2004 Ehrenpräsident der<br />

<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>, hält am 27. September<br />

<strong>2013</strong>, 17 Uhr, im Leipziger Theater der jungen<br />

Welt den Vortrag „Turnvater <strong>Jahn</strong> und<br />

die Befreiungskriege“. Das Foto zeigt ihn<br />

mit Dr. Josef Ulfkotte (rechts).<br />

73


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

74


<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />

REPORT<br />

Das sind unsere Autoren<br />

Dr. Klaus Arnold, Jahrgang 19<strong>36</strong>, Diplom-<br />

Sportlehrer und Skilehrer, von 1961 bis 1993 Lehrkraft<br />

an der DHfK in Leipzig für Gerätturnen, Didaktik<br />

des Schulsports und beim Internationalen<br />

Trainerlehrgang, zahlreiche Buchveröffentlichungen<br />

zum Gerätturnen.<br />

Email: pwk.arnold@gmx.net<br />

Prof. Dr. Annette Hofmann, Jahrgang wird<br />

nicht verraten, Professorin für Sportwissenschaft<br />

der PH <strong>Ludwig</strong>sburg, Präsidentin der Internationalen<br />

<strong>Gesellschaft</strong> für die Geschichte der Leibeserziehung<br />

und des Sports (ISHPES), Vize-Präsidentin<br />

des DTB. Email: nettehof@ph-ludwigsburg.de<br />

Hansgeorg Kling, Jahrgang 19<strong>36</strong>, Studiendirektor<br />

a. D., Präsident der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<br />

<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>, Ehrenmitglied des Hessischen<br />

Turnverbandes, 1978 – 82 und 1986 – 90 Mitglied<br />

des DTB-Präsidiums als Bundeskultur- und Bundespressewart.<br />

Email: hansgeorg.kling@arcor.de<br />

Florian Mayer, Jahrgang 1987, Student der<br />

Fächer Geschichte und Sport für das Lehramt an<br />

Gymnasien, Westfälische Wilhelms-Universität<br />

Münster, studentische Hilfskraft am Institut für<br />

Sportwissenschaft, Arbeitsbereich Sportpädagogik/<br />

Sportgeschichte.<br />

Email: florian.mayer@uni-muenster.de<br />

Prof. Dr. Ingo Peschel, Jahrgang 1942, Professor<br />

em. für Theoretische Physik in Berlin, lange<br />

Zeit engagiert in der Deutschen Turnerjugend,<br />

Mitglied des Präsidiums der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<br />

<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Email: peschel@physik.fu-berlin.de<br />

Gerd Steins, Jahrgang 1949, Berufsschullehrer<br />

a. D., zahlreiche Veröffentlichungen über <strong>Jahn</strong> und<br />

die Hasenheide, zahlreiche Ausstellungen zu Turnen<br />

und Sport, seit langem engagiert im Forum für<br />

Sportgeschichte in Berlin.<br />

Email: gestefos@t-online.de<br />

Dr. Josef Ulfkotte, Jahrgang 1952, Vizepräsident<br />

des Präsidiums der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<br />

<strong>Gesellschaft</strong>, Studiendirektor am Gymnasium<br />

Petrinum in Dorsten. Forschungsschwerpunkte:<br />

F. L. <strong>Jahn</strong>, Geschichte des Turnens, zahlreiche Veröffentlichungen.<br />

Email: j.ulfkotte@t-online.de<br />

Ilse-Marie Weiß, Jahrgang 1944, Diplom-<br />

Mathematikerin, von 1988 bis 2007 Mitarbeit bei<br />

Großgruppenvorführungen für Hessische Landesturnfeste,<br />

Deutsche Turnfeste und Gymnaestraden,<br />

seit 1989 Prüferin für das Deutsche Gymnastikabzeichen,<br />

1991 – <strong>2013</strong> Beauftragte für das Deutsche<br />

Gymnastikabzeichen im Hessischen Turnverband.<br />

Email: ilse-marie.weiss@gmx.de<br />

Hannah Weibye, Jahrgang 1985, gebürtige<br />

Schottin, studierte Germanistik und Romanistik<br />

in Cambridge, schrieb dort ihre Magisterarbeit<br />

über die national-politische Philosophie Johann<br />

Gottlieb Fichtes und promoviert zur Zeit unter<br />

der Betreuung Christopher Clarks (sein großes<br />

Preußen-Buch erschien 2006) über das Leben<br />

<strong>Jahn</strong>s.<br />

Email: hweibye@gmail.com<br />

Redaktion:<br />

Mitarbeit:<br />

Fotos:<br />

Hansgeorg Kling<br />

Josef Ulfkotte<br />

Foto-Becker (Rückseite unten),<br />

DTB (72 Brechtken),<br />

S. Grus (72), Gymmedia (72<br />

Köste), V. Hennig (3), Hüller<br />

(73), A. Kastner (71), R. Kautz<br />

(65, 66), J. Leirich (73 Bartmuß,<br />

Rückseite oben), LSB<br />

(73 Bengsch), Pappert (73)<br />

Abbildungen: <strong>Jahn</strong>-Museum (S. 5-11, 50),<br />

Weiß (S. 39-46), Arnold<br />

(56-57), Hofmann (61-62),<br />

Steins (Titel, 15, 16, 20, 29,<br />

68)<br />

75


JAHN<br />

REPORT<br />

<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

76

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!