Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft
Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft
Jahn-Report, Nr. 36 - Mai 2013 - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
1
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
INHALT<br />
REPORT<br />
JAHN-REPORT<br />
RT<br />
JA<br />
JA<br />
J<br />
HN-RE<br />
<strong>Jahn</strong>-Brief <strong>Nr</strong>. 17 3<br />
Einladung zur Mitgliederversammlung am 16. 8. <strong>2013</strong> 4<br />
Schwerpunktthema: Das Jahr 1913 5<br />
Josef Ulfkotte 1813 – 1913: Die Völkerschlacht und das<br />
Völkerschlachtdenkmal 5<br />
Gerd Steins Denktage und Nationalfeste nach der Völkerschlacht 14<br />
Ingo Peschel Leipzig 1913: Ein Deutsches Turnfest vor 100 Jahren 29<br />
Ilse-Marie Weiß War das eigentlich schon immer so? 39<br />
Josef Ulfkotte Vor 100 Jahren erschien die erste Gesamtausgabe 47<br />
der Briefe <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />
Hannah Weibye Unterschätzt und zu wenig bekannt:<br />
<strong>Jahn</strong>s „Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes“ 50<br />
Klaus Arnold Brasilien setzt auf Deutschland 55<br />
Annette Hofmann Das Turnen in Argentinien lebt! 58<br />
R<br />
KURZBERICHTE<br />
Florian Mayer Neuigkeiten über die online-gestützte <strong>Jahn</strong>-Bibliografie 63<br />
Hansgeorg Kling Die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ in Wien 65<br />
BUCHBESPRECHUNGEN 67<br />
NOTIZEN 72<br />
DAS SIND UNSERE AUTOREN 75<br />
Herausgeber:<br />
Satz & Druck:<br />
2<br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
Schlossstraße 11 · 06632 Freyburg a. d. Unstrut · Tel.: 03 44 64 / 2 74 26 · Fax 03 44 64 / 6 65 60<br />
Internet: www.jahn-gesellschaft.de · E-<strong>Mai</strong>l: info@jahn-museum.de<br />
DRUCKHAUS ZEITZ<br />
An der Forststraße · 06712 Zeitz · Tel.: 0 34 41 / 61 62-0 · Fax 0 34 41 / 61 62 23<br />
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Titelfoto: 1913 ist das Schwerpunktthema dieses <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>s<br />
Fotos Rückseite: Die <strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle (oben) und das <strong>Jahn</strong>-Museum (unten) in Freyburg
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
JAHN-BRIEF<br />
<strong>Nr</strong>. 17 / <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
FREYBURG/UNSTRUT<br />
Liebe Mitglieder und Freunde<br />
der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>!<br />
Das Jahr <strong>2013</strong> und das bevorstehende Internationale Deutsche Turnfest sind in mehrfacher<br />
Hinsicht Anlass, zurückzublicken, aber auch den Blick in die Zukunft zu richten. Zum<br />
einen fand im Oktober 1813 die „Völkerschlacht“ bei Leipzig statt, die den von <strong>Jahn</strong> und seinen<br />
patriotischen Freunden heiß ersehnten Sieg über Napoleon brachte. Im Rahmen der von<br />
<strong>Jahn</strong> und seinen Turnern nach Kriegsende betriebenen Kultur national-deutscher „Denktage“<br />
hatte auch der 18. Oktober als Tag der „Völkerschlacht“ einen festen Platz.<br />
Einhundert Jahre später wurde aus dem gleichen Anlass das „Völkerschlachtdenkmal“<br />
eingeweiht. Und: In Leipzig fand das größte Deutsche Turnfest vor dem Ersten Weltkrieg<br />
statt. Dies und noch vieles mehr ist Schwerpunktthema des vorliegenden Heftes.<br />
Das große Turnfest in der Metropolregion Rhein-Neckar wird nicht nur wieder die ganze<br />
Vielfalt des Turnens zum Ausdruck bringen, wie sie seit der „Erfindung“ des Turnens durch<br />
<strong>Jahn</strong> besteht, sondern es wird auch die heutigen Ausprägungen dieses Turnens zeigen: nämlich<br />
als etwas in die Zukunft Gerichtetes, das sich vor allem als segensreich für unsere Freizeit<br />
und Gesundheit darstellt.<br />
Daraus kann sich ergeben, dass auch die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> ihre Ziele überprüft. Im November<br />
soll es zum ersten Male seit 2005 wieder eine Zukunftswerkstatt in Freyburg geben.<br />
Auch der Präsident des Deutschen Turner-Bundes, Rainer Brechtken, wird uns zur Eröffnung<br />
unserer Mitgliederversammlung im August in Freyburg Richtungweisendes zu sagen haben.<br />
Allen Leserinnen und Lesern des <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>s wünschen wir eine aktive und freudvolle<br />
Sommerzeit mit vielen turnerischen Begegnungen.<br />
Mit herzlichen Turngrüßen<br />
Für das Präsidium: Ihr und Euer Hansgeorg Kling,<br />
Präsident der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
3
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
EINLADUNG<br />
Das Präsidium der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> e. V.<br />
lädt hiermit alle Mitglieder und Freunde zur<br />
Mitgliederversammlung<br />
am Freitag, dem 16. August <strong>2013</strong>, 17.30 Uhr<br />
in die <strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle in Freyburg an der Unstrut ein.<br />
Ansprache zur Eröffnung:<br />
Rainer Brechtken (Stuttgart), Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB)<br />
Tagesordnung:<br />
1. Eröffnung und Begrüßung<br />
2. Genehmigung der Tagesordnung<br />
3. Genehmigung des Protokolls der letzten Mitgliederversammlung<br />
4. Geschäftsbericht des Präsidiums (eingeschlossen die Jahresrechnung 2012)<br />
5. Bericht der Kassenprüfer<br />
6. Aussprache<br />
7. Entlastung des Präsidiums<br />
8. Neuwahlen (wegen eines Formalfehlers in 2012 nachzuholen)<br />
9. Genehmigung des Haushaltsplans für 2014<br />
10. Ehrungen<br />
11. Anfragen und Mitteilungen<br />
12. Schlusswort<br />
Die Frist zur Einreichung von Anträgen zur Mitgliederversammlung beträgt vier Wochen<br />
vor der Versammlung. Die Anträge sind beim Präsidium der <strong>Gesellschaft</strong> einzureichen.<br />
Die Mitgliederversammlung ist eingebettet in eine Reihe von Veranstaltungen:<br />
15.00 Uhr <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Museum: <strong>Jahn</strong>-Ehrung<br />
15.30 Uhr Eröffnung der Sonderausstellung im <strong>Jahn</strong>-Museum:<br />
<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> im Wandel seiner Porträts<br />
16.30 Uhr <strong>Jahn</strong>-Denkmal an der Erinnerungsturnhalle: Feierliche Kranzniederlegung<br />
17.30 Uhr <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Ehrenhalle:<br />
Mitgliederversammlung der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
20.00 Uhr Wein- und Sektkeller im Fahrradhotel: Geselliges Beisammensein<br />
Am 17. und 18. August findet in Freyburg das 91. <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Turnfest statt.<br />
4
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
DAS JAHR 1913<br />
1813 – 1913: Die Völkerschlacht<br />
und das Völkerschlachtdenkmal<br />
Josef Ulfkotte<br />
Am 18. Oktober 1813 schrieb der preußische<br />
Militärreformer und populäre General<br />
August Wilhelm Anton Neidhardt von<br />
Gneisenau seiner Frau: „Ich schreibe Dir am<br />
Morgen einer Schlacht, wie sie in der Weltgeschichte<br />
kaum gefochten ist. Wir haben den<br />
französischen Kaiser ganz umstellt. Diese<br />
Schlacht wird über das Schicksal von Europa<br />
entscheiden“, um ihr am darauf folgenden<br />
Holzschnitt Völkerschlachtdenkmal<br />
Tag triumphierend mitzuteilen: „Die große<br />
Schlacht ist gewonnen, der Sieg ist entscheidend.“ 1 Tatsächlich hatte der Kaiser der Franzosen in<br />
der so genannten Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 eine für die politische<br />
Zukunft Europas folgenschwere Niederlage erlitten.<br />
Die entscheidende Schlacht der antinapoleonischen Kriege, in der nicht Freiwilligenverbände<br />
oder Bürgermilizen aufeinander trafen, sondern reguläre Truppen der Koalition Österreich,<br />
Preußen, Russland und Schweden, kostete etwa 91.000 von rund 600.000 Soldaten das Leben.<br />
Die Alliierten folgten dem Restheer Napoleons und drangen in heftigen Kämpfen schließlich bis<br />
Paris vor, das am 30. März 1814 kapitulierte. Der Abdankung Napoleons am 5. April folgte seine<br />
Zwangsverweisung auf die Mittelmeerinsel Elba. Seiner Gefangenschaft konnte sich Napoleon<br />
durch eine kurzzeitige Rückkehr nach Frankreich entziehen. Allerdings endete seine „Herrschaft<br />
der Hundert Tage“ mit der Niederlage in der Schlacht bei Waterloo und führte zu seiner Verbannung<br />
auf die britische Atlantikinsel St. Helena, wo Napoleon am 5. <strong>Mai</strong> 1821 verstarb.<br />
1 Zit. nach Uwe Puschner: 18. Oktober 1813: „Möchten die Deutschen nur alle und immer dieses<br />
Tages gedenken!“ – die Leipziger Völkerschlacht. In: Etienne Francois/Uwe Puschner (Hrsg.):<br />
Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München<br />
2010, S. 145 – 162, hier S. 145.<br />
5
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
<strong>Jahn</strong> – der enttäuschte Freiheitskämpfer<br />
Nur allzu gern hätte <strong>Jahn</strong> als Offizier im Lützowschen Freikorps mit den ihm unterstellten<br />
Kriegsfreiwilligen an der Seite der Verbündeten gegen die Truppen Napoleons<br />
gekämpft, doch sahen die militärischen Pläne keine Beteiligung der Lützower an<br />
der Völkerschlacht vor. So musste sich <strong>Jahn</strong> – zutiefst enttäuscht über den militärischen<br />
Einsatz „seines“ Freiwilligenverbandes – mit der Zuschauerrolle begnügen. Er war zwischenzeitlich<br />
erkrankt und hielt sich in den Tagen der Völkerschlacht in Berlin auf. Am<br />
entscheidenden dritten Tag der Schlacht, also am 18. Oktober 1813, griff er zur Feder,<br />
um sich im Auftrag der militärischen Leitung des Freikorps, der Majore von Lützow und<br />
v. Petersdorf, bei Bernadotte, dem Befehlshaber der Nordarmee, dem auch die Lützower<br />
unterstanden, über „die schlimme Lage unseres Korps“ zu beschweren.<br />
<strong>Jahn</strong> bekundet in seinem Schreiben zunächst seine persönliche Verbundenheit mit<br />
dem Freikorps, an dessen Entstehung er maßgeblich mitgewirkt habe, um dann deutlich<br />
zu machen, dass ihm General von Scharnhorst im <strong>Mai</strong> „den Oberbefehl über die in Sachsen<br />
verbliebenen Ersatztruppenteile“ des Korps erteilt habe. Hier sei es ihm mit großer<br />
Unterstützung der Öffentlichkeit gelungen, in kürzester Zeit ein aus fünf Kompanien bestehendes<br />
Bataillon mit einer Gesamtstärke von neunhundert Mann zusammenzustellen,<br />
auszurüsten und mit französischen Gewehren zu bewaffnen, um dann nach Mecklenburg<br />
zu marschieren. Seit einiger Zeit gehe aber das Gerücht um, „daß dieses Korps seinen<br />
wahren Geist verloren habe, und daß es das vorgegebene Ziel weder erreichen könne noch<br />
erreichen wolle.“ Die Öffentlichkeit lehne deshalb jede weitere Unterstützung seines Bataillons<br />
ab. Die Eltern und Freunde der Soldaten schickten ihm „Briefe voll bitterer Klagen<br />
über den mißbräuchlichen Einsatz“ des Freiwilligenverbandes. Man habe die Kriegsfreiwilligen<br />
mit Kosaken zusammengelegt, „und in der Tat leben wir unter dieser Art von<br />
Menschen in Verachtung vor uns selbst und vor dem Vaterland“. Vielmehr benutze man<br />
die Freiwilligen überall dort, „wo jede Hilfstruppe genauso gut oder noch besser wäre“.<br />
<strong>Jahn</strong> resümiert: „Unser Korps ist zerrissen und geteilt, wir dürfen weder zusammen siegen<br />
noch zusammen sterben. Den wenigen Ruhm müssen wir mit den anderen Truppen<br />
teilen, den Nutzen aus unseren [eigenen] Anstrengungen aber [ganz] ihnen überlassen.<br />
Uns bleiben nur Arbeit, Not, Leiden und der völlige Untergang, ohne Ruhm und ohne<br />
unserem Vaterland von Nutzen gewesen zu sein.“ 2 Gänzlich enttäuscht verließ <strong>Jahn</strong> am<br />
22. November 1813 das Frei-Korps Lützow, das im darauf folgenden Jahr aufgelöst bzw.<br />
in die reguläre preußische Armee eingegliedert wurde.<br />
2 <strong>Jahn</strong>s Beschwerdebrief ist gedruckt in: Hans-Joachim Bartmuß/Eberhard Kunze/Josef Ulfkotte<br />
(Hrsg).: „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> und sein patriotisches Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 – 1812,<br />
Köln-Weimar-Wien 2008, S. 242-244.<br />
6
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Völkerschlacht-Gedenkfeiern<br />
Ein Ereignis wie die Völkerschlacht wirkt verständlicher Weise nach: So schlug <strong>Jahn</strong>s<br />
Gesinnungsfreund Ernst Moritz Arndt vor, den Jahrestag der Völkerschlacht zu einem<br />
„Nationalfest der Teutschen“ zu erheben. In seiner im September 1814 in einer Auflage<br />
von 7.500 Exemplaren erschienenen Schrift „Ein Wort über die Feier der Leipziger<br />
Schlacht“ propagierte er diese Idee breitenwirksam, um eine national-deutsche Festtradition<br />
zu begründen, die die Rolle des Volkes während der antinapoleonischen Kriege in<br />
den Vordergrund stellte; denn in seinen Augen hatte das „teutsche Volk“ den Sieg über<br />
Napoleon gemeinsam mit den Fürsten errungen.<br />
Anknüpfend an die von <strong>Jahn</strong> im „Deutschen Volkstum“ (1810) entwickelten Gestaltungsvorschläge<br />
zur Feier eines Nationalfestes sollte der Gedenktag an die Völkerschlacht<br />
u. a. folgende Elemente enthalten: Am Vorabend sollten auf „Anhöhen, Hügeln und Bergen“<br />
Feuer angezündet werden „gleich den Oster- und Johannisfeuern“. Am Festtag selbst<br />
sollten Tore, Türme und öffentliche Gebäude geschmückt und beflaggt werden. Darüber<br />
hinaus sollten sich alle Festteilnehmer „zum Anhören der Predigt“ versammeln, denn die<br />
Nationalfeste sollten auch dazu beitragen, „Staat und Kirche zum Besten des Volks in gemeinschaftlicher<br />
Wechselwürkung zu setzen“. Wettspiele der männlichen Jugend sollten<br />
das Nationalfest ebenso umrahmen wie Waffenübungen der Landwehr, Tanz und Schauspiel.<br />
Während der dreitägigen Feierlichkeiten könne in den Kreisstädten die Wahl für ein<br />
ständisch zusammengesetztes Nationalparlament durchgeführt werden. 3<br />
Die von <strong>Jahn</strong> übernommenen Festelemente ergänzte Arndt um weitere. So sollte die<br />
feierliche Feststimmung durch einen um den Kopf gewundenen Eichenlaubschmuck erhöht<br />
werden. Die national orientierte Presse griff den Gedanken zur Feier eines deutschen<br />
Nationalfestes am 18. und 19. Oktober 1814 sogleich auf, so dass die Idee in kürzester<br />
Zeit in nahezu allen Teilen Deutschlands begeisterte Anhänger fand. In der 1815 erschienenen<br />
Dokumentation „Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel“ wurden<br />
auf 1.146 Seiten 780 Völkerschlacht-Feiern beschrieben, deren Gesamtzahl vermutlich<br />
noch viel größer war, weil viele Kleinstädte und Dörfer, in denen ebenfalls gefeiert wurde,<br />
in diesem Bericht keine Erwähnung gefunden haben. 4<br />
Die offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Völkerschlacht in der preußischen<br />
Metropole ließen erkennen, dass „Hof, Regierung und Militärführung zwar daran<br />
3 Alle Kurz-Zitate nach Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland<br />
(1808-1847), München 1984, S. 113.<br />
4 Vgl. Karen Hagemann: „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht<br />
zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, S. 485.<br />
7
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
interessiert waren, die Bedeutung dieser Schlacht besonders hervorzuheben, in der Form<br />
aber nicht über den Rahmen der üblichen Dank- und Siegesfeiern hinausgehen wollten.<br />
In Konkurrenz dazu standen in Berlin vor allem die von den Turnern veranstalteten Feiern,<br />
die breite Bevölkerungskreise anzogen. Selbst hier waren […] der Landespatriotismus<br />
und die Regentenverehrung insbesondere in den Liedern, Gedichten und ‚Lebehochs’<br />
unübersehbar“. 5<br />
Die Gedenkfeier der Turner in der Hasenheide hatte am Abend des 18. Oktober begonnen.<br />
Der Turnplatz und die umliegenden Häuser waren festlich beleuchtet, auf dem<br />
65 Fuß hohen Klettermast brannte ein weithin sichtbares Signalfeuer. Am Erdboden<br />
entzündeten die Turner „Freudenfeuer“ aus Eichenstämmen, sangen patriotische Lieder,<br />
brachten „Lebehochs“ auf den König und die tapferen Kämpfer der Völkerschlacht aus<br />
und liefen um die Wette hinauf auf die Rollberge. Am Nachmittag des 19. Oktober veranstalteten<br />
die Turner ein öffentliches Schauturnen zum „Gedächtnis der Rettungsschlacht<br />
von Leipzig“, das neben Fürsten und Fürstinnen des Königlichen Hauses mehr als 10.000<br />
Menschen aus Berlin und den umliegenden Städten besucht haben sollen. 6 Auch eine<br />
zweite Turngesellschaft, die seit Juli 1814 im mecklenburgischen Friedland bestand und<br />
mit <strong>Jahn</strong> und den Berliner Turnern einen regen Austausch unterhielt, gedachte im Oktober<br />
1814 der Völkerschlacht. 7<br />
Die Begeisterung für die Organisation dieser nationalen Gedenkfeiern ließ in den<br />
nächsten Jahren nach. Unter dem Vorzeichen der seit 1815 einsetzenden Restauration<br />
sahen sich die Regierungen der Staaten des Deutschen Bundes jetzt veranlasst, dem Festgeschehen<br />
einen landespatriotisch-militärischen Charakter zu verleihen – wenn sie das<br />
Fest überhaupt gestatteten. In Deutschland wären in den Jahren 1816 und 1817 wohl<br />
kaum noch Völkerschlacht-Gedenkfeiern inszeniert worden, wenn die inzwischen in vielen<br />
Städten und Gemeinden existierenden Turngesellschaften die Organisation dieses Nationalfestes<br />
nicht zu ihrer ureigenen, von ihrem Berliner Mentor <strong>Jahn</strong> propagierten Sache<br />
gemacht hätten. „Durch die jährliche Wiederholung der Feste und der sie ausfüllenden<br />
Gestaltungselemente konnte in Deutschland zum ersten Male so etwas wie ein nationales<br />
Ritual entstehen. Den organisierten Turnern kommt primär das Verdienst zu, dieses zwischen<br />
1814 und 1819 ausgebildet zu haben.“ 8<br />
5 Ebda., S. 489.<br />
6 Ebda., S. 488; s. auch Düding (wie Anm. 3), S. 115.<br />
7 Vgl. Friedländer Turnalbum. Jahrbuch des Turnplatzes zu Friedland angefangen im Jahre 1814,<br />
übertragen, bearbeitet und kommentiert von Wolfgang Barthel, Dietrich Grünwald und Eberhard<br />
Jeran, Hamburg 2000, S. 107.<br />
8 Düding (wie Anm. 3), S. 118.<br />
8
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Zur Schaffung einer nationalen Bewusstseinsbildung beschränkte sich <strong>Jahn</strong> nach dem<br />
antinapoleonischen Sieg keineswegs auf die alljährliche Feier des 18. Oktober. Vielmehr<br />
feierte er mit seinen Turnern seit 1815/16 auch am 31. März (zum Gedenken an den<br />
Einzug der Verbündeten in Paris am 31. 3. 1814) und am 18. Juni (zur Erinnerung an die<br />
Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815) nationale Gedenktage, die er in seiner 1816 veröffentlichten<br />
„Deutschen Turnkunst“ mit dem 18. Oktober zu „Denktagen der Erlösung,<br />
Auferstehung und Rettung des Deutschen Volks“ erklärte. 9<br />
Ganz im Sinne der von seinem Gesinnungsfreund Ernst Moritz Arndt bereits 1814<br />
formulierten Position begriff <strong>Jahn</strong> die antinapoleonischen Kriege als Freiheitskriege und<br />
nicht als Befreiungskriege. Während die patriotisch orientierten Zeitgenossen mit dem<br />
seit dem 18. Jahrhundert geläufigen Wort Freiheitskrieg die Vorstellung verbanden, die<br />
Völkerschlacht habe auch die Freiheit der Nation bzw. die der beteiligten „Völker“ und<br />
sogar des Individuums bewirken wollen, meinte der in der Presse erst nach 1816 aufgekommene<br />
Begriff Befreiungskrieg lediglich die Befreiung von der Herrschaft Napoleons<br />
und damit die äußere Freiheit. Unter den Bedingungen der Restauration stilisierte <strong>Jahn</strong><br />
die „Leipziger Schlacht“ in seinen 1828 erschienenen „Neuen Runen-Blättern“ zu einem<br />
Meilenstein national-deutscher Geschichte: „Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande<br />
unser Vaterland wieder und im Auslande unsere Volksehre. Getrost und guten Mutes<br />
können wir vor jedes Volk hintreten und mit innigem Volksgefühl ausrufen: Wir sind<br />
Deutsche! Unser Name ist wieder ein Ehrenname, und die Leipziger Schlacht hat unsere<br />
2000jährige Geschichte vom Untergange gerettet.“ 10<br />
Mit dieser und anderen nahezu gleichlautenden Äußerungen hat <strong>Jahn</strong> wie viele seiner<br />
national-deutsch gesinnten Zeitgenossen und Nachgeborenen dazu beigetragen, dass<br />
die Völkerschlacht „zum wirkmächtigen Nationalmythos des 19. Jahrhunderts geformt<br />
wurde“. 11 Das von <strong>Jahn</strong> so verehrte preußische Königshaus der Hohenzollern gedachte<br />
freilich nicht des Freiheits-, sondern des Befreiungskrieges. Die in den Geschichtsbüchern<br />
des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ständig wiederkehrende Formel „Der König<br />
rief, und alle, alle kamen“ diente allein der Verherrlichung der Hohenzollerdynastie und<br />
„verklärte die Grenze zwischen Monarch und Bürger“. 12<br />
9<br />
Zit. nach Carl Euler (Hrsg.): <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Werke, Bd. 2,1, Hof 1885, S. 112.<br />
10 Ebda., S. 463-464. Siehe auch den Beitrag von Gerd Steins in diesem <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>!<br />
11 Puschner (wie Anm. 1), S. 145.<br />
12 Kirstin Anne Schäfer: Die Völkerschlacht. In: Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von Etienne<br />
Francois und Hagen Schulze, Bd. II, München 2001, S. 187 – 201, hier S. 193.<br />
9
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Das Völkerschlachtdenkmal – die „Irminsul des deutschen Volkes“<br />
Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nahm der 2. September, der Tag<br />
des Sieges der preußisch-deutschen Truppen über die Heere Napoleons III. bei Sedan am<br />
2. September 1870, zunehmend den Charakter eines Nationalfeiertages an. Der verblassenden<br />
Erinnerung an die Völkerschlacht suchte der 1894 auf die private Initiative des<br />
Architekten Clemens Thieme gegründete „Deutsche Patriotenbund zur Errichtung eines<br />
Völkerschlacht-Nationaldenkmals“ entgegenzuwirken. Diese Idee konnte in den nächsten<br />
15 Jahren mit finanzieller Unterstützung vaterländischer Vereine wie der Gesang-, Schützen-<br />
und Turnvereine, mit groß angelegten Lotterieaktionen und anderen Zuwendungen<br />
etwa von Städten und Gemeinden verwirklicht werden. Der erste Spatenstich erfolgte<br />
am 18. Oktober 1898, so dass die Einweihung des 91 m hohen Völkerschlachtdenkmals<br />
zur Jahrhundertfeier am 18. Oktober 1913 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II, der<br />
Bundesfürsten und mehrerer zehntausend Zuschauer vollzogen werden konnte. Der deutsche<br />
Kaiser, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Regierungs-Jubiläum feierte, fand an dem<br />
kolossalen Denkmal allerdings keinen Gefallen, weigerte sich gar, eine Rede zu halten und<br />
verließ die Denkmal-Einweihung bereits eine Stunde früher als geplant.<br />
Nach den Vorstellungen der Initiatoren sollte dieses Denkmal ein Denkmal des Freiheitskrieges<br />
sein, ein Denkmal vom und für das Volk. Als Vorsitzender des „Deutschen<br />
Patriotenbundes“ und Hauptredner der Einweihungsfeier ließ Clemens Thieme daran<br />
keinen Zweifel, wenn er sagte: „So hat das deutsche Volk sein Denkmal für die Befreiung<br />
aus großer Not sich selbst zur Ehre errichtet, […] Was einst Ernst Moritz Arndt sagte,<br />
muß Wahrheit für alle Zukunft bleiben: Das Völkerschlachtdenkmal muß die Irminsul<br />
des deutschen Volkes sein, wohin es am 18. Oktober jedes Jahres seine Schritte und seine<br />
Gedanken lenkt […].“ 13 Gleichsam als preußisch-dynastischen Gegenentwurf zum Völkerschlachtdenkmal<br />
hatte der Kaiser den Bau der Siegesallee in Berlin in Auftrag gegeben,<br />
die zum eigentlichen Sinnbild der Ära Wilhelms II. wurde.<br />
Nationale Begeisterung: „Eilbotenläufe“ der Deutschen Turnerschaft (DT) zur<br />
Denkmalseinweihung<br />
Mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals erreichte die Woge nationaler Begeisterung,<br />
die das Jahr 1913 durchzog, ihren Höhepunkt. Daran hatten die so genannten<br />
Eilbotenläufe der 1913 rund 1.315.000 Mitglieder zählenden Deutschen Turnerschaft<br />
(DT) einen großen Anteil. An diesen Stafettenläufen beteiligten sich schließlich über<br />
40.000 Turner. In neun Hauptläufen und weiteren Nebenläufen liefen die Teilnehmer<br />
sternförmig aus allen Teilen Deutschlands nach Leipzig. Damit alle Gruppen möglichst<br />
gleichzeitig in Leipzig eintrafen, mussten die Strecken genau berechnet werden.<br />
13 Zit nach Puschner (wie Anm. 1), S. 156; Irminsul – Heiligtum<br />
10
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Landkarte mit Plan der Eilbotenläufe<br />
Einband Buch mit Urkunden zu Läufen<br />
Urkunde Nebenlauf Stuttgart<br />
11
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Die Bilanz der Verantwortlichen liest sich so: „Von allen Städten und Orten, da in<br />
diesem urgewaltigen Kampf unsers Volkes auf Leben und Tod gekämpft und Blut vergossen<br />
ward, von allen Flüssen und Bergen, wo große Deutsche wohnten und wirkten, eilten<br />
vom 16. Oktober an Turner, in endlosen Ketten aufgestellt, und im Abstand von 100 bis<br />
300 m, Tag und Nacht über Höhen und durch Täler, über die deutschen Mittelgebirge<br />
und die Tiefebenen des Nordens und reichen sich von Hand zu Hand einen Köcher mit<br />
einem Gruß von all den Stätten, deren Namen in der deutschen Geschichte unvergänglich<br />
bleiben werden.<br />
Von der Katzbach und von der Ruhmeshalle bei Kelheim, von Gravelotte und Waterloo,<br />
von den Buchenwäldern der Insel Rügen und von den Höhen bei Apenrade, von<br />
Straßburg und vom Hermanns-Denkmal, vom Niederwald und von der Heimat Zeppelins,<br />
vom Hohenzollernberg und der Körner-Eiche bei Wöbbelin, allüberallher haben<br />
die Turner Grüße gebracht, um am Fuße des Völkerschlachtdenkmals ihren Fürsten und<br />
ihrem Volke zu bezeugen, daß sie noch immer mit derselben Treue und Liebe für ihr<br />
Vaterland erglühen, mit der einst <strong>Jahn</strong> und seine Jünger frohgemut als Lützower in den<br />
Befreiungskampf zogen. Und nicht allein das ganze Deutschland sollte es sein, auch unsre<br />
Turnbrüder jenseits des Ozeans, die deutschen Turner in Nord- und Südamerika, trugen<br />
eilenden Fußes ihre Botschaft zum Kapitol in Washington nach New York und von Santa<br />
Cruz und Porto Allegre, von Santa Maria da Bocca de Monte an die Gestade des Meeres,<br />
um dann ihren Gruß deutschen Schiffen zu übergeben, die in Bremen die Botschaft aus<br />
der Ferne durch deutsche Turner in das Herz Deutschlands tragen ließen.“ 14<br />
Vorabend des Ersten Weltkrieges<br />
Die Eilbotenläufe der Deutschen Turnerschaft anlässlich der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals<br />
waren allerdings nicht die einzigen nationalbewegten Massenveranstaltungen,<br />
die die deutschen Turner im Vorjahr des Ersten Weltkrieges inszenierten. Vom<br />
13. bis 16. <strong>Mai</strong> veranstaltete der „Verband der Turnerschaften auf Deutschen Hochschulen“<br />
ein Turnfest in Gotha. Der Festredner gab sicher die Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung<br />
wieder, wenn er sich am Vorabend eines Weltkrieges wähnte: „Die Geschichte<br />
bewegt sich in Kreisen; sie scheint das große Spiel vor 100 Jahren wiederholen zu wollen.<br />
Wir haben in den letzten Jahren mehr als einmal das Gefühl gehabt, als ständen wir am<br />
Vorabend eines Weltkrieges, wie vor 100 Jahren, eines Krieges, in dem wir noch einmal<br />
um unsere Existenz werden ringen müssen.“ 15<br />
14 Deutsche Turn-Zeitung 58 (1913) 44, S. 849.<br />
15 Zit. nach: Wolfram Siemann: Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913.<br />
In: Dieter Düding, Peter Friedemann, Paul Münch (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische<br />
Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 298-320,<br />
hier S. 307.<br />
12
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Nur wenig später, am 8. Juni 1913, erfolgte in Anwesenheit des Kaisers und mehr<br />
als 50.000 Turnern „Die Weihe des deutschen Stadions“ in Berlin. Das 12. Deutsche<br />
Turnfest, das vom 12. bis 16. Juli 1913 wie bereits 50 Jahre zuvor zum Gedenken an<br />
die Völkerschlacht in Leipzig stattfand, war das größte Nationalfest der Turner bis zum<br />
Ersten Weltkrieg. Von den 65.000 Festteilnehmern nahmen 17.000 an den Freiübungen<br />
teil. Etwa 200.000 Zuschauer besuchten diese Großveranstaltung, die vom Geist des<br />
„Deutschlandliedes“ geprägt war. Die <strong>Jahn</strong>-Verehrung der Turner erreichte einen vorläufigen<br />
Höhepunkt: Erinnert wurde an den „Turnvater“, der vor mehr als 100 Jahren<br />
die Wehrhaftmachung der deutschen Jugend propagiert und sich als Kriegsfreiwilliger<br />
dem Freikorps Lützow angeschlossen hatte. Die Deutsche Turnerschaft bemühte sich verstärkt<br />
um den Erwerb von <strong>Jahn</strong>s ehemaligem Wohnhaus in Freyburg an der Unstrut, und<br />
nicht zufällig erschien 1913 die im Auftrag der DT von Wolfgang Meyer herausgegebene<br />
Sammlung der Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s.<br />
Nicht nur im Rückgriff auf das Jahr 1813 war der Krieg das zentrale Thema beinahe<br />
jeder Jubiläumsfeier des Jahres 1913, vielmehr wurde der Krieg geradezu beschworen als<br />
die größte Herausforderung der eigenen Zeit. „Der Mythos der Befreiungskriege vermittelte<br />
ein nicht mehr zeitgemäßes, verklärendes Kriegsbild und stimmte ein auf eine<br />
bevorstehende große vaterländische ‚Völkerschlacht’, die bisweilen auch schon ‚Weltkrieg’<br />
genannt wurde.“ 16<br />
Etwa eine Woche vor der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals fand auf dem<br />
hohen „Meißner“ im Kaufunger Wald in Nordhessen ein Treffen lebensreformerischer<br />
Gruppen statt. In seinem Roman „1913“ bezeichnet Florian Illies diese Zusammenkunft<br />
als das „deutsche Woodstock der letzten Generation“, die noch im 19. Jahrhundert das<br />
Licht der Welt erblickte. Die Zusammenkunft der „Wandervögel“ und „freideutschen“<br />
Jugendbünde bewertet er als Protest „gegen die pompöse Deutschtümelei“ bei der Einweihung<br />
des Völkerschlachtdenkmals. 17<br />
<strong>2013</strong> stellt sich die Stadt Leipzig einer großen Jubiläumsherausforderung: „200 Jahre<br />
Völkerschlacht und 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal“. Eine Gedenkwoche im Geiste der<br />
Völkerverständigung ist der Höhepunkt des umfangreichen Veranstaltungsprogramms,<br />
zu dem Bürger, Wissenschaftler, geistliche und politische Würdenträger aus ganz Europa<br />
erwartet werden. 18<br />
16 Siemann (wie Anm. 15), S. 316.<br />
17 Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt 2012, S. 239.<br />
18 Vgl. www.voelkerschlacht-jubilaeum.de.<br />
13
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
„Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande<br />
unsere Volksehre.“<br />
Denktage und Nationalfeste nach der<br />
Völkerschlacht<br />
Gerd Steins<br />
Jean-Jacques Rousseau empfiehlt erstmals 1758 den Genfer Bürgern zur Lobpreisung<br />
ihres glücklichen Zustandes patriotische Feste zu veranstalten, und er rät 1772 den Polen,<br />
in jedem Jahrzehnt ein vaterländisches Fest abzuhalten, welches die historischen Verdienste<br />
und Ereignisse ihrer Nation darstellt. Mit Bezug auf die antiken Olympischen Spiele<br />
schlägt er vor, öffentliche Spiele und Wettstreite, Feiern und Zeremonien zu entwickeln,<br />
um im Volk Vaterlandsliebe zu erwecken, und der französische Architekt Étienne-Louis<br />
Boullée entwirft kurz vor der Französischen Revolution noch für das Ancien Régime für<br />
300.000 Zuschauer eine riesige Fest-Arena, die aber nie gebaut wird.<br />
Hauptsächlich <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> und Ernst Moritz Arndt publizieren Anfang des<br />
19. Jahrhunderts die Idee, große nationale Volksfeste einschließlich turnerischer Wettkämpfe<br />
zu etablieren, die in der Provinz anfangen und in einem hauptstädtischen Fest<br />
münden sollen. Einige heute weniger bekannte Redner legitimieren nationale deutsche<br />
Volksfeste mit dem Bezug auf die antiken Olympischen Spiele. So hält z. B. der Rektor<br />
des Lyzeums in Prenzlau, Karl <strong>Friedrich</strong> August Grashof (1770 – 1841), in der Prenzlauer<br />
Gelehrten <strong>Gesellschaft</strong> am 3. <strong>Mai</strong> 1813 die Rede Deutschlands Wiedergeburt und Einheit –<br />
Ein Blick in die Zukunft, in der er dem Trend der Antike-Rezeption folgend ausführt: „Was<br />
einst die Olympischen Spiele für Griechenland waren, das müssen deutsche Feste für Deutschland<br />
sein.“ und: „Jährlich einmal versammle sich ein Teil deutscher Jünglinge und deutscher<br />
Männer, zu kämpfen um den Preis, der die Kraft des Armes, der die Kraft des Geistes kröne.<br />
Der Versammlungsort sei im Herzen des Landes, entweder da, wo der Reichsrat das verschiedene<br />
Interesse zu einem verknüpft, oder da, wo in entscheidender Schlacht auf deutschem Boden<br />
deutsche Freiheit zu uns wiederkehre.“ 1<br />
Nachdem der Berliner Turnbetrieb 1813 durch die Teilnahme vieler Turner am Unabhängigkeitskampf<br />
gegen die französische Herrschaft und auch unter Zerstörungen gelitten<br />
hatte, werden der Turnplatz ab 1814 zielstrebig ausgebaut und ein regelmäßiger<br />
Turnbetrieb mittwochs und samstags (schulfreie Nachmittage) organisiert. Dazu gehören<br />
auch öffentliche Turnprüfungen, sogenannte große Turntage, an denen die Turner ihre<br />
Turnfertigkeiten vorführen. Ein erster großer Turntag (Abturnen) in der Hasenheide be-<br />
14
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
schließt am Mittwoch, dem 27. Oktober 1813, das Turnen unter freiem Himmel. Im<br />
folgenden Jahr wird mit einem großen Turntag (Anturnen) am Mittwoch, dem 15. Juni<br />
1814, das Freiluftturnen wieder begonnen.<br />
Da <strong>Jahn</strong> sich von April 1813 bis Anfang August 1814 überwiegend außerhalb Berlins<br />
aufhält, liegt die Leitung des Berliner Turnplatzes in den Händen von Ernst Bernhard<br />
Eiselen und Johann Jakob Wilhelm Bornemann. Bornemann veröffentlicht Anfang August<br />
1814 seine zweite Schrift 2 über das <strong>Jahn</strong>sche Turnen, in der er aus erster Hand über<br />
Entwurf zu einem teutschen National-Denkmal des entscheidenden Sieges bei Leipzig.<br />
Entwurf u. Zeichnung: <strong>Friedrich</strong> Weinbrenner, Kupferstich, Oktober 1814.<br />
Innerhalb des mit einem Basrelief geschmückten Carrées (Seitenlänge 200 Fuß, Höhe 50 Fuß) erhebt<br />
sich ein 100 Fuß hoher Tempel auf einer Grundfläche von 100 x 100 Fuß. Dieses Monument des<br />
Ruhms und des Sieges wird von einem Triumphwagen gekrönt, worin die Liebe, die Weisheit und die<br />
Stärke sitzen. Eine Viktoria hält den Siegerkranz über sie (1 Fuß = 0,31385 m).<br />
Weinbrenner schlägt vor, hier jährlich ein großes National- und Gedächtnisfest mit Gottesdiensten,<br />
zweckmäßigen Waffenspielen, Tänzen und Mahlzeiten am 16., 18., 19. Oktober abzuhalten.<br />
15
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Turntage berichtet: „An dem sogenannten großen Turntage, wo am 15ten Juni d. J. [=1814],<br />
einer öffentlichen Prüfung nicht unähnlich, konnte leicht ihre Zahl [die der Zuschauer] gegen<br />
Zweitausend seyn. Übertraf die körperliche Kraft, Ausdauer, Gewandtheit und Fertigkeit<br />
allgemein die Erwartung: so erfreute fast noch mehr die Stille, die Fröhlichkeit, Folgsamkeit<br />
und Sittlichkeit der Zöglinge, deren von sechs bis sechzehn Jahren – denn die Siebzehnjährigen<br />
tragen das Schwerdt – doch gegen dreihundert versammelt seyn mochten. Männer, auf deren<br />
Urteil die Anstalt stolz seyn darf, sprachen laut hierüber mit Wohlgefallen ihre Zufriedenheit<br />
aus.“ 3 –“Als große Turntage ... wo ohne Ausnahme jeder Teilnehmer zugegen seyn muß, und<br />
keiner anders als im Turn-Anzuge erscheinen darf, denn es sind die Ehrentage zur Ablegung<br />
öffentlichen Zeugnisses, könnten folgende denkwürdigen Tage allgemein festgesetzt werden.<br />
1. der 31ste März: das Ziel der großen<br />
Anstrengung vorzüglich Preußischer Waffen,<br />
mit welchem Tage, zum beginnenden<br />
Frühling zugleich überhaupt die Turnübungen<br />
eines jeden Sommers zu eröffnen<br />
seyn würden. 2. Der 3te August: denn<br />
auch die Jugend muß nach ihrer Weise<br />
dies Fest der Freude, Dankbarkeit, Liebe<br />
und Ehrfurcht begehen. 3. Der 18te October:<br />
wo Deutschlands Schmach gerächt<br />
und zerbrochen ward der Knechtschaft<br />
Kette; zugleich als herbstlicher Schlußtag<br />
der Übungen. Was an diesen denkwürdigen<br />
Tagen aus vollem Herzen durch den<br />
Mund des Lehrers in die jugendlichen<br />
Gemüther zu legen sey, bleibe der besonnenen<br />
Wahl des Lehrers überlassen. Wohl<br />
anstehen wird es nicht minder, an diesen<br />
Tagen in einem frohen Liede die Wichtigkeit<br />
des Tages zu singen, zur Begeisterung<br />
für König und Vaterland. Es kömmt<br />
hier nicht an auf voll- und vielstimmigen<br />
Kunstgesang; durch Innigkeit und Herzlichkeit,<br />
erhebt auch das Einfache sich<br />
16<br />
Johann August Wilhelm Besser<br />
* 1780 in Quedlinburg<br />
† 1841 in Quedlinburg.<br />
Titelblatt seiner Schrift Über Volksspiele,<br />
Quedlinburg: 1816.<br />
zum Erhabenen.“ 4 Die Gestaltung der<br />
großen Turntage entspricht in der grundsätzlichen<br />
Ausrichtung dem Volksfest,<br />
wie es <strong>Jahn</strong> im Volksthum vorsieht, die<br />
denkwürdigen Tage sind der politischen<br />
Entwicklung seit 1813 geschuldet.
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Es ist Ernst Moritz Arndt, der in einer Flugschrift von April 1814 die Gründung einer<br />
Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> und den 20. Februar 1810 (Andreas Hofers Todestag) und möglicherweise<br />
als erster den 18. Oktober 1813 (Völkerschlacht 5 ) als Anknüpfungstage 6 für deutsche<br />
Nationalfeste vorschlägt. 7 Arndt nimmt damit die von <strong>Jahn</strong> im Volksthum geforderten<br />
schicklichen Tage auf, passt sie an die politische Lage an, ohne aber sich auf <strong>Jahn</strong> zu berufen.<br />
Parallel hierzu hält <strong>Friedrich</strong> Kohlrausch (1780 – 1860) Anfang des Jahres 1814 in Barmen<br />
sechs Reden unter dem Titel Deutschlands Zukunft, die im April/<strong>Mai</strong> 1814 gedruckt<br />
vorliegen. In diesen Reden schlägt Kohlrausch neben den übrigen Schulen gymnastische 8<br />
Schulen vor und die Einführung regelmäßiger Nationalfeste nach antikem Vorbild unter<br />
Einbindung von militärischen, gymnastischen, literarischen und musischen Wettstreiten<br />
bzw. Aufführungen. Diese Nationalfeste sollen alle drei Jahre in Form sogenannter Regionallager<br />
durchgeführt werden: ein preußisches in Magdeburg, ein bayrisches in Nürnberg<br />
und ein österreichisches in Prag: „oder vielmehr die Gegenden dieser Orte; denn diese Feste<br />
sollen ächt kriegerischer Art seyn, und Mühe mit dem Genusse, männliche Kraftanstrengung<br />
mit der Freude des großen Zusammenlebens vereinigen; und daher ist das eigentliche Feldlager,<br />
das Leben und Hausen im Freien, unerläßliche Bedingung.“ 9<br />
Diese drei regionalen Nationalfeste sollen in einem Vereinigungspunkt des ganzen<br />
deutschredenden Volkes ihren Höhepunkt finden. Daher schlägt Kohlrausch vor, nach drei<br />
mahl dreien der regionalen Feste, also immer im zwölften Jahr, ein einziges, zentrales Nationalfest<br />
zu begehen. Als Ort dieses Festes kommt für ihn nur Leipzig infrage: „Und welcher<br />
Ort und welche Gegend bietet sich uns dazu passender dar, welche hat mehr Ansprüche auf so<br />
hohe Auszeichnung, als die, wo die Deutsche Freiheit in blutiger Völkerschlacht wiedergewonnen<br />
ward, die von Leipzig.“ 10<br />
In einer Besprechung bei der Dank- und Siegesfeier am 1. 5. 1814 in Rödelheim 11<br />
zwecks Etablierung der Deutschen <strong>Gesellschaft</strong> beschließen die Teilnehmer (Karl Hoffmann,<br />
<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>, Wilhelm u. <strong>Ludwig</strong> Snell, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> Weidig, Karl<br />
u. Theodor Welcker), den ersten Jahrestag der Schlacht bei Leipzig allerorten zu feiern.<br />
Besonders Arndt trägt mit seiner publizistischen Tätigkeit 12 dazu bei, dass an vielen Orten<br />
in Deutschland, ohne dass es einer zentralen Organisation bedarf, der 18. Oktober 1814<br />
festlich begangen wird. 13 <strong>Jahn</strong> informiert Eiselen über den neuen Denktag am 30. Juni<br />
1814: „An den Denktagen der Leipziger Rettungsschlacht meine ich, müssen wir dann große<br />
Wettspiele der Turnkunst feiern. Vielleicht auch schon einmal früher, wenn das Siegesfest noch<br />
eher fällt.“ 14<br />
Im Rahmen der allgemeinen Erinnerungsfeiern am 18. Oktober 1814 veranstalten die<br />
Turngesellschaften in der Berliner Hasenheide und in Friedland eigene nationale Gedenkfeiern<br />
im Sinne des <strong>Jahn</strong>schen Volksfestes 15 . Ab diesem Tag, der als Geburtsstunde turne-<br />
17
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
rischer Nationalfeste begriffen werden sollte, veranstalten die Turngesellschaften ihre großen<br />
Turntage, also die Turnfeste <strong>Jahn</strong>scher Prägung, nicht mehr an den schulfreien Nachmittagen<br />
(mittwochs und samstags), sondern nur noch an den in der Turnkunst festgelegten<br />
Denktagen 16 : „In jedem Kirchspiel des platten Landes müßte wenigstens ein vollständiger<br />
Turnplatz sein, wo sich dann aus den größern und kleinern Ortschaften die turnfähige Jugend<br />
zusammenfinde, und in jugendlichem Wettturnen versuche. Wenigstens an den Denktagen der<br />
Erlösung, Auferstehung und Rettung des Deutschen Volkes sollte dazu Rath werden. Der 31te<br />
März, 18te Junius und 18te October sind recht eigentlich zu großen Turntagen gewonnen. Im<br />
Laufe der Zeit können gar leicht aus diesen kleinen Anfängen größere Feste werden. Wann dann<br />
die gesammte Jugend erst eingeturnt ist, so wandern die Turnfertigsten aus dem kleinern Ort in<br />
den größern, von dort am folgenden großen Turntage die Preiserringer zur Gaustadt, und so an<br />
jedem kommenden Feste immer weiter zur Mark- und Landesstadt, bis sich endlich die besten<br />
Turner des ganzen Volks am großen Hauptfeste in der Hauptstadt treffen.“ 17<br />
Bereits im Volksthum ist dieses Qualifikationsprinzip bzw. Ausleseinstrument, das konstituierend<br />
für den heutigen nationalen und internationalen Sportbetrieb ist, skizziert: „Jedes<br />
Kirchspiel schickt die Besten von den Obsiegern in Wettspielen und Waffenübungen beim<br />
nächsten Fest in die Kreisstadt: [Zensurstrich] Jeder Kreis wieder die Besten in der Folge in die<br />
Markstadt; die Mark in die Landesstadt. Und so finde sich endlich am Fest des Verdienstes dorthin,<br />
wo der König Hof hält, die Auslese der Jugend und des männlichen Alters zusammen.“ 18<br />
Entsprechend dem Jahreszeitenwechsel schmücken die Turner sich und ihre Geräte mit<br />
grünen Zweigen: „Am 31. März stecken wir Tannenzweige auf unsere Gerüste und Mützen,<br />
am 18. Junius Birkenreis und am 18. Oktober Eichenlaub. So hat denn jeder Tag sein besonder<br />
Festzeichen.“ 19<br />
Seit 1815 nimmt die Zahl der allgemeinen Erinnerungsfeiern des 18. Oktober stark ab,<br />
und von 1816 bis 1819 sind es offensichtlich nur noch die Turngesellschaften, die diese<br />
Gedenkfeier in der Form des Nationalfestes mit Wettturnen organisieren. 20 Dieser rapide<br />
Rückgang der Völkerschlachtfeiern ist möglicherweise der Anlass für den Quedlinburger<br />
Prediger Johann August Wilhelm Besser, im Frühjahr 1816 eine Reformschrift 21 zur Feier<br />
des 18. Oktober zu publizieren.<br />
Unabhängig von <strong>Jahn</strong> und der Turnbewegung erscheint seine Schrift noch vor der<br />
Herausgabe der Deutschen Turnkunst von <strong>Jahn</strong>/Eiselen, denn im Bücherverzeichnis der<br />
Turnkunst ist Bessers Schrift im Abschnitt Spiele auf S. 257 aufgeführt, und da sie nicht<br />
besonders gekennzeichnet ist, haben <strong>Jahn</strong> und seine Mitstreiter dieses Werk entweder zur<br />
Kenntnis genommen oder aber in Besitz gehabt.<br />
Mit ausdrücklichem Bezug auf die großen Volksspiele der Griechen empfiehlt Besser,<br />
Volksspiele zu veranstalten, die die Liebe zum Vaterlande stärken sollen, und schlägt ein<br />
mehrstufiges Festsystem analog der <strong>Jahn</strong>schen Idee aus dem Volksthum vor, das dem Turn-<br />
18
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
tagssystem in der später veröffentlichten <strong>Jahn</strong>schen Turnkunst entspricht: „Diese Provinzial-<br />
Spiele wären indeß nur Vorübungen zu den allgemeinen Deutschen Volksspielen, zu welchen<br />
sich wenigstens die Bewohner des größten Theiles von Deutschland an einem festgesetzten Tage<br />
vereinigten. Welcher Tag könnte hiezu wol passender syn, als der 18te October! – Ein schönes<br />
Thal, wie das Selkethal im Niederharz, oder wie die Aue zwischen Halle und Leipzig, oder die<br />
große Schlachtebene bei Merseburg, wäre der Sammelplatz der Zuschauer und Preisbewerber.“ 22<br />
Wie viele andere vor ihm auch stellt Besser die Überwindung der Standesunterschiede<br />
und das Ziel der Wehrhaftmachung besonders heraus: „Volksfeste befördern auch die Annäherung<br />
der höhern und mindern Stände, und verdienen schon deshalb die Aufmerksamkeit jeder<br />
humanen Regierung. Zu gleicher Zeit üben sie, wie das Wettrennen und Zielschießen, Kraft<br />
und Gewandtheit des Körpers, und sind treffliche Vorübungen zum Kriegsdienst.“ 23 In ähnlicher<br />
Art und Weise, wie <strong>Jahn</strong> eine Wechselwirkung von Staat und Kirche fordert, sieht<br />
auch Besser die Notwendigkeit, Volksspiele mit religiösen Akten zu verbinden: „– sollte es<br />
denn nöthig seyn, um die Kraft des Deutschen Volks zu stählen und einen allgemeinen Volksgeist<br />
zu erwecken, daß man zu solchen Hülfsmitteln, als Turnübungen und Volksspiele sind, seine<br />
Zuflucht nähme? Finden wir nicht vielmehr in dem überall rege gewordenen religiösen Sinne<br />
die sicherste Schutzwehr gegen Alles, was des Vaterlandes Ruhe und Sicherheit stören könnte?<br />
... Überdem, wie herrlich läßt sich nicht bei jenen Volksspielen Religion mit Kunst vereinigen,<br />
indem man z.B. ... am Morgen des 18ten Octobers dieses Fest als ein religiöses Dank- und<br />
Freudenfest einweihete.“ 24<br />
Etwas resignierend schließt Besser seine Reformvorschläge mit der alten Klage über die<br />
vermeintliche Unvereinbarkeit der Bildung von Körper und Geist: „Die bei weitem größten<br />
Schwierigkeiten, die der Ausführung der dargestellten Idee sich in den Weg stellen werden, liegen<br />
wohl darin, daß man noch immer die Bildung des Bürgers von der sogenannten Gelehrten-<br />
Bildung trennt, und daß viele, sehr viele sonst verdienstvolle und in Kunst und Wissenschaft<br />
wohl erfahrene Männer es nicht vermögen, in den Geist unserer Zeit einzudringen, und was sie<br />
bei Erklärung der Werke der Griechen und Römer als schön und herrlich preisen, nun auch auf<br />
das Leben anzuwenden.“ 25<br />
Mit dem An- und Abturnen am 31. März und 18. Oktober 1817 haben die großen<br />
Turntage der Berliner Hasenheide-Turner offensichtlich den höchsten Entwicklungsgrad<br />
erreicht. Anhand zweier Berichte aus der Vossischen Zeitung, die möglicherweise von <strong>Jahn</strong><br />
verfasst worden sind, ergibt sich folgender Festablauf: Nach dem Eintreffen der Turner<br />
wird die Tages- bzw. Turnordnung bekanntgegeben; <strong>Jahn</strong> spricht vor angetretener Turngesellschaft<br />
über die Bedeutung des Festes und über aktuelle Probleme, die die Turngesellschaft<br />
betreffen; das Weihelied Stimmt an mit hellem Klang (Montag, 31. März) bzw. das<br />
Winne- und Wonnelied Hör’ liebe deutsche Jugend (Sonntag, 18. Oktober) wird gemeinsam<br />
gesungen; danach finden turnerische Vorführungen und Wettstreite statt. 26<br />
19
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Der große Turntag am 31. März wird mit dem gemeinsamen Gesang Heil Dir im Siegerkranz<br />
und einem dreifachen Lebehoch auf den König feierlich beendet. Beim großen<br />
Turntag am 18. Oktober stellen sich die Turner im Viererzug auf der Rennbahn auf und<br />
marschieren mit Gesang hinter Fackelträgern zum Höhenfeuer auf die Rollberge. Nach<br />
dem Danklied Auf! Danket Gott und betet an und dem Lebehoch auf den König folgen<br />
Gesang und Ehrenhochs auf die Sieger der Schlacht bei Leipzig, das Vaterland und die<br />
Turnkunst. Eine Rede zur Feier des Leipziger Denktages und ein ernstes Lied beenden um<br />
21 Uhr das Fest. 27 Das Wartburgfest von 1817 (bei dem die sogenannten Burschenturner<br />
ein Schauturnen vorführen) und die bis Oktober 1819 (in Berlin nur bis 18. Oktober<br />
1818) organisierten großen Turntage erfahren im Festablauf keinerlei wesentliche Änderungen<br />
mehr.<br />
Die Turnbewegung stellt zwar die Nützlichkeit einer körperlichen Erziehung unter<br />
dem Gesichtspunkt der künftigen Vaterlandsverteidigung unter Beweis, die private Organisationsform<br />
außerhalb des staatlichen Schulsystems erscheint aber dem preußischen<br />
Staat als potentielle Gefährdung seines Machtmonopols.<br />
Entwurf zu einer Kampfbahn für deutsche Kampfspiele am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig,<br />
die ab 1920 erstmals dauerhaft in Leipzig stattfinden sollten. Die Kampfbahn sollte 280 x 80 m<br />
bedecken. Zu beiden Seiten der Kampfbahn sind große halbkreisförmige Anlagen geplant, die<br />
zur einer Freilichtbühne für künstlerische Aufführungen aller Art und zu einer „Erfrischungsstätte“<br />
dienen können.<br />
Diese Anlage wurde nie gebaut, weil die ersten Deutschen Kampfspiele 1922 im 1913 eröffneten<br />
„Deutschen Stadion“ im Berliner Grunewald stattfanden. Entwurf von B. Schmitz, 1912.<br />
20
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Eine am 16. März 1819 veröffentlichte Verfügung 28 setzt das Turnen in der Hasenheide<br />
so lange aus, bis eine neue Anordnung hierfür erlassen wird. Wenige Tage<br />
danach ersticht der Burschenturner Sand den russischen Gesandten und Schriftsteller<br />
Kotzebue in Mannheim. Die rigorosen Verfolgungsmaßnahmen münden schließlich in<br />
das Verbot der Turnbewegung in Preußen. Damit endet abrupt die praktische Umsetzungsphase<br />
eines Nationalerziehungsplanes, in dem körperliche Bildung und Turnfeste<br />
im Sinne der <strong>Jahn</strong>schen Wettturn-Nationalfeste als Volkserziehungsmittel zur Entwicklung<br />
und Pflege einer patriotischen Gesinnung erprobt wurden.<br />
<strong>Jahn</strong> erinnert zwar noch einmal ohnmächtig aus seiner Verbannung an die besondere<br />
Rolle des Kriegsortes der Leipziger Völkerschlacht in seinen Runenblättern von<br />
1828: „Die Leipziger Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande<br />
unsere Volksehre.“ 29 Er kann aber trotz seiner Appelle das Gedenken an 1813 bei<br />
den wenigen verbliebenen Turngemeinden nicht restaurieren. Erst das 1863 gefeierte<br />
Fünfzig-Jahr-Jubiläum der Leipziger Völkerschlacht ist für den Ausschuss der Deutschen<br />
Turnerschaft eine willkommene Gelegenheit (unter dem Motto Eine hohe nationale<br />
Feier soll begangen werden), die bewegungskulturelle Bedeutung der Turnbewegung<br />
mit einem grandiosen Turnfest zu feiern. Erstmalig wird in Deutschland ein riesiger,<br />
umzäunter Festplatz mit Großraumhalle (Grundfläche 183 x 34 m, max. Giebelhöhe<br />
19 m) für etwa 20.000 teilnehmende Turner aus Holz errichtet und nach Ende des<br />
Turnfestes wieder demontiert. Dieser Festplatz mit Festhalle stellt den Beginn des Baus<br />
großräumiger Sportanlagen dar, deren Größe durch heutige Stadien nur selten übertroffen<br />
wird.<br />
Danach werden 1881 der Allerdeutschentag von Gustav Weck (Breslau), 1888 die<br />
Nationalen Wettspiele von Carl Meyer (Hannover) und 1894 ein Deutsches Olympia von<br />
G. H. Weber (München) vorgeschlagen. Alle Vorschläge beinhalten den Bau einer stationären<br />
Feststätte für nationale Turn- und Kulturfeste zu schaffen, ohne aber konkrete<br />
Baupläne vorzulegen oder einen bestimmten Ort zu benennen, alle Vorschläge landen<br />
im Papierkorb der Geschichte.<br />
Erst als nach 1894 die Deutsche Turnerschaft infolge ihrer vaterländischen Ideologisierung<br />
Pläne für ein deutsch-nationales Olympia bzw. ein deutsches Nationalfest mit<br />
Sportwettbewerben und Kunstdarbietung in Konkurrenz zu den Olympischen Spielen<br />
des Pierre de Coubertins vorlegt, wird auch eine konkrete Festplatzplanung diskutiert.<br />
Die Initialzündung derartiger Nationalfestplanung bildet das Preisausschreiben Wie<br />
sind die öffentlichen Feste des deutschen Volkes zeitgemäß zu reformieren und zu wahren<br />
Volksfesten zu gestalten? vom Oktober 1894, das vom Deutschen Zentral-Ausschuss für<br />
Volks- und Jugendspiele ausgelobt wird. E. Witte (Braunschweig) gewinnt den 1. Preis<br />
in diesem Preisausschreiben und wettert in seinem Aufsatz: Ein internationales Olym-<br />
21
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
pia ist somit ein Unding. Aber wenn es uns gelänge, ein nationales Olympia, ein deutsches<br />
Olympia zu feiern, so würden wir den Sinn der alten Kämpfe im Alpheios-Thale am ersten<br />
treffen.<br />
Dieser Gedanke wird im Oktober 1895 von F. A. Schmidt (Bonn), der ebenfalls<br />
internationale Spiele ablehnt, konkretisiert. Er schlägt seinerseits ein Deutsches Olympia<br />
immer am selben Ort vor. Ferner fordert er, hierfür eine zentrale Kampfstätte zu<br />
erbauen. Wenig später bekräftigt im April 1896 H. Raydt (Hannover) die regelmäßige<br />
Veranstaltung von Nationaltagen für deutsche Kampfspiele (Deutschnationales Olympia),<br />
an denen neben aller Sportdisziplinen auch die Künste beteiligt werden sollen.<br />
Mit diesen Vorschlägen wird das vom Karlsruher Architekten F. Weinbrenner 1814 angeregte<br />
große National- und Gedächtnisfest in Leipzig wieder auf die Tagesordnung<br />
gesetzt. Schließlich treibt ab 1897 ein Ausschuss für deutsche Nationalfeste (ADNF) die<br />
Vorbereitung eines Nationalfestes vor, das nach seiner Meinung nur auf dem Schlachtfeld<br />
bei Leipzig stattfinden kann. Drei Orte, nämlich Goslar, der Kyffhäuser und der<br />
Niederwald bei Rüdesheim werden aber als Feststätte vorgeschlagen und entsprechende<br />
Entwürfe publiziert.<br />
Obwohl im Frühjahr 1898 der Niederwald als Feststätte ausgewählt wird, scheitert<br />
das Vorhaben am Widerstand der Deutschen Turnerschaft, weil sie dieses allgemeine<br />
Nationalfest als Konkurrenz zu ihren Turnfesten ansieht. Damit sind alle Pläne für die<br />
Errichtung eines zentralen Festplatzes bzw. eines Zentral-Stadions im Deutschen Reich<br />
wiederum gescheitert und Leipzig ist als Festort erst einmal aus dem Spiel.<br />
Nachdem die Deutsche Turnerschaft aber anlässlich der 100-Jahr-Feier der Völkerschlacht<br />
bei Leipzig für 1913 das 12. Deutsche Turnfest in die Messestadt vergeben<br />
hat, entwirft Bruno Schmitz, der Architekt des Völkerschlachtdenkmals, eine Kampfstätte<br />
am Denkmal, die für die geplanten Ersten Deutschen Kampfspiele in 1920<br />
genutzt werden sollen. Finanzschwierigkeiten und der folgende Weltkrieg zerstörten<br />
diese Pläne. Nach dem Ersten Weltkrieg werden im Berliner Quasi-Olympiastadion<br />
(Berlin-Grunewald) 1922 die Deutschen Kampfspiele als Ersatz für die Olympischen<br />
Spiele gefeiert. Der Traum eines alle Künste umfassenden Nationalfestes, in dem Turnen,<br />
Spiel und Sport eine wichtige Rolle spielen, ist damit endgültig ausgeträumt.<br />
INFO<br />
Konto der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
Sparkasse Burgenlandkreis, BLZ 800 530 00 • Kto.-<strong>Nr</strong>. 3 040 004 386<br />
22
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Dieser Beitrag ist ein veränderter Auszug aus der vergriffenen Publikation „Die Erfindung<br />
der Turnfeste. Sporthistorische Blätter 11. Berlin: 2002“. Die Kapitelüberschrift ist ein Zitat<br />
aus <strong>Jahn</strong>s Neue Runenblätter, siehe Anm. 29.<br />
1 König 1973, S. 79.<br />
2 Als erste Schrift veröffentlicht Bornemann 1812 ohne Impressum: Der Turnplatz in der<br />
Hasenheide.<br />
3 Bornemann 1814, S. 105. Das Vorwort ist auf Juni 1814 datiert, die Widmung an den<br />
Königlich Preußischen Minister des Innern Herrn von Schuckmann stammt vom 30. Juli<br />
1814.<br />
4 Bornemann 1814, S. 118-119. Die Ehren(Denk-)tage sind: 31. März 1814: Einzug der<br />
Verbündeten in Paris; 3. August 1770: Geburtstag des Königs <strong>Friedrich</strong> Wilhelm III.;<br />
18. Oktober 1813: Völkerschlacht bei Leipzig.<br />
5 Den Begriff prägt Karl Freiherr von Müffling (Oberstleutnant im Generalstab Blüchers)<br />
im neunten Armeebericht vom 19. Oktober 1813: „So hat die viertägige Völkerschlacht<br />
vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.“ Müffling meint damit aber die Heervölker<br />
absolutistischer Herrscher und nicht die Völker Europas, die sich von Napoleons<br />
Herrschaft befreien wollen. Siehe hierzu Schäfer, Kirstin Anne: Die Völkerschlacht. In:<br />
François 2001, S. 187-201.<br />
6 Arndt 1814, Franzosen, S. 35.<br />
7 Düding 1984, S. 113-114.<br />
8 Kohlrausch 1814, S. 92.<br />
9 Kohlrausch 1814, S. 117.<br />
10 Kohlrausch 1814, S. 124.<br />
11 Braun 1983, S. 28. Diese Siegesfeier wird aus Anlaß des Einzuges (31. März 1814) der<br />
Verbündeten in Paris veranstaltet.<br />
Entgegen der Darstellung bei Braun nimmt Arndt nicht an dieser Besprechung teil. Die<br />
von Arndt zu diesem Fest verfaßte Ansprache nebst Danklied und Siegeshymne (Jauchzet!<br />
Das Land ist frei, / Abgethan Tyrannei / Despotenhudelei / Und wälscher Trug) sind in<br />
Loevenich 1913, S. 154-162 dokumentiert.<br />
12 Im Juni 1814 wiederholt und erweitert Arndt seine Vorschläge im Entwurf einer deutschen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> mit dem Anhang Über ein Denkmal bei Leipzig und im September 1814<br />
erscheint bei Eichenberg in Frankfurt/<strong>Mai</strong>n erstmals Arndts Ein Wort über die Feier der<br />
Leipziger Schlacht, in der der Anhang Über ein Denkmal bei Leipzig wiederum abgedruckt<br />
wird, 1815 erscheint eine zweite Auflage dieser Flugschrift mit einem Liederanhang.<br />
13 Siehe hierzu: Düding, Dieter: Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen<br />
Nationalfeste im 19. Jahrhundert. In: Düding 1988, S. 67-88.<br />
14 <strong>Jahn</strong> (Frankfurt/<strong>Mai</strong>n) an Eiselen (Berlin) am 30. Juni 1814. In: Meyer 1930, S. 77.<br />
23
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
15 <strong>Jahn</strong> übernimmt die Grundgedanken aus dem Volksthum und führt im Vorbericht seiner<br />
Turnkunst von 1816 aus: „Fast alle Volksfeste sind durch Vernachlässigung der Turnkunst<br />
eingegangen oder verkommen. Ein jedes Volksfest, was Bestand haben soll, muß seine Zeit<br />
halten, und seinen Ort haben. Geschichtliche Denkwürdigkeit wird im lebendigen Anschauen<br />
männlicher Kraft erneuert, und die Ehrentat der Altvordern verjüngt sich im Wettturnen.<br />
Ein wirres Volksgewoge macht so wenig ein Volksfest, als die bloße Menge einen Jahrmarkt.<br />
Es muß etwas hinzu kommen, was dem Treiben einen Halt giebt. ... Nicht Quaas [Schmaus,<br />
Festgelage, Pfingstbier] und Fraß – Leben und Weben müssen bei jedem Volksfeste vorwalten.“<br />
<strong>Jahn</strong> 1816, S. XVIII-XIX. Die Denktage erinnern an: 31. März 1814: Einzug der<br />
Verbündeten in Paris; 18. Juni 1815: Schlacht bei Belle Alliance (Schönbundfeier); 18.<br />
Oktober 1813: Völkerschlacht bei Leipzig. <strong>Jahn</strong> nimmt nach seiner aktiven Turnerzeit<br />
mehrfach hierzu Stellung: „Die Jahre 1813, 1814 und 1815 haben uns Deutschen drei<br />
Ehrentage gegeben, deren Gedächtnis bis zur spätesten Enkelzeit nicht verschallen darf. – Der<br />
31ste Lenzmonds, der 18te Brachmonds, der 18te Weinmonds sind die hochheiligen Tage, die<br />
zu ewigen Zeiten unter unsern volklichen Hochfesten obenan stehen und allfeierlich begangen<br />
werden müssen. <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828. In: Euler 1885, S. 460. Und: „Die Leipziger<br />
Schlacht gab uns im Inlande unser Vaterland wieder und im Auslande unsere Volksehre.<br />
... Diese Jahresfeier ist Aller Deutschen Tag.“ <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828. S. 106.<br />
16 Es sind nur die Turnfeste aufgelistet, zu denen bisher ein Bericht bzw. Archivnachweis<br />
eingesehen werden konnte. Für weitere ca. 10-15 Turnfeste liegen Hinweise auf Berichte<br />
in der zeitgenössischen Presse vor, die aber noch nicht beschafft werden konnten.<br />
17 <strong>Jahn</strong> 1816, S. 212.<br />
18 <strong>Jahn</strong> 1810, S. 356.<br />
19 <strong>Jahn</strong> (Berlin) an Curtius (Lübeck) am 4. September 1818. In: Langenfeld S. 73.<br />
20 Siehe hierzu: Düding 1984, S. 116.<br />
21 Besser, [Johann August] Wilhelm: Über Volksspiele und deren Einfluß auf Erweckung und<br />
Erhaltung deutscher Kraft und deutschen Sinnes. Ein Vorschlag zur volksthümlichen Gedächtnisfeier<br />
des 18ten Octobers. Quedlinburg: <strong>Friedrich</strong> Joseph Ernst, [1816] 44 S.<br />
22 Besser 1816, S. 14-15.<br />
23 Besser 1816, S. 13.<br />
24 Besser 1816, S. 41-42.<br />
25 Besser 1816, S. 42. Die Turnkunst von <strong>Jahn</strong>/Eiselen hält optimistisch dagegen: „Die Turnkunst<br />
soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen,<br />
der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überfeinerung in der<br />
wiedergewonnenen Mannlichkeit das nothwendige Gegengewicht geben, und im jugendlichen<br />
Zusammenleben den ganzen Menschen umfassen und ergreifen.“ <strong>Jahn</strong> 1816, S. 209.<br />
26 <strong>Jahn</strong> gibt zum 18. Oktober 1817 eine Liedersammlung mit 20 Liedern (Dank- und Denklieder)<br />
heraus, in der Kirchengesänge, Sprechlieder, Winne- und Wonnelieder nebst Notenbeilage<br />
veröffentlicht sind. Diese Liedersammlung ist in Eulers <strong>Jahn</strong>s Werke nicht enthalten.<br />
24
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
1. Stimmt an mit hellem, hohem Klang ... 1772, Text nach Matthias Claudius (*15. August<br />
1740 in Reinfeld, † 21. Januar 1815 in Hamburg): „Die Barden sollen Lied‘ und Wein, doch<br />
öfter Tugend preisen und sollen biedre Männer sein in Taten und in Weisen.“ [4. Strophe]<br />
2. Hör, liebe Deutsche Jugend ... 1814, Text von <strong>Friedrich</strong> Gottlob Wetzel (*14. September<br />
1779 in Bautzen, † 27. Juli 1819 in Bamberg): „Bei Leipzig in der Völkerschlacht, da ward<br />
dem Feind Garaus gemacht, wir schlugen ihn zu Boden! Und Fürst und Volk fiel auf die Knie:<br />
,Gott hat’s gethan!‘ so riefen sie, Und schöpften wieder Odem.“ [4. Strophe, <strong>Jahn</strong> 1817, Lied<br />
12, S. 24-25]<br />
3. Heil Dir im Siegerkranz ... 1793, Heinrich Harries (* 9. September 1762 in Flensburg, †<br />
28. September 1802 in Brügge) veröffentlicht am 27. Januar 1790 in den Flensburger Nachrichten<br />
ein achtstrophiges Lied für den dänischen Unterthan, an seines Königs Geburtstag zu<br />
singen in der Melodie des englischen Volksliedes God save great George the King.<br />
Dieses Lied wird von Balthasar Gerhard Schumacher (1755 – 1801) verändert, auf fünf<br />
Strophen verkürzt und am 17. Dezember 1793 in der Spenerschen Zeitung als Berliner Volksgesang<br />
abgedruckt. 1814 läßt der preußische Geheimrat Louis Schneider 123 000 Exemplare<br />
des Liedes mit Melodie verbreiten, Heil dir im Siegerkranz wird de facto zur preußischen<br />
Hymne erhoben. „Nicht Roß’ und Reisige [= Krieger, Reiter] sichern die steile Höh’, wo<br />
Fürsten stehn. Liebe des Vaterlands, Liebe des freien Manns, gründen des Herrschers Thron,<br />
wie Fels im Meer.“ [2. Strophe]<br />
4. Auf! Danket Gott und betet an ... 1813, Text von Ernst Moritz Arndt: „Da ließ der Herr<br />
vom Himmelssaal die Donnerstrahlen schallen, sie schlug nicht unser Arm noch Stahl, sie sind<br />
durch Gott gefallen; der Held der Helden hats gethan, im Stand zerschmettert liegt ihr Wahn,<br />
ihr Trotz ist stummes Schweigen.“ [3. Strophe, <strong>Jahn</strong> 1817, Lied 1, S. 3-4]<br />
27 Anfang der Turnübungen 1817 und Turntag zur Feier des 18. Oktober 1817 In: Euler 1887,<br />
S. 876-878.<br />
28 „Höheren Befehlen zufolge wird eine Anordnung in Beziehung auf das Turnwesen eintreten,<br />
wodurch solches in den gehörigen Zusammenhang und Verhältniß mit dem ganzen Erziehungswesen<br />
gesetzt und demselben untergeordnet wird.“ In: Berlinische Nachrichten von<br />
Staats- und gelehrten Sachen <strong>Nr</strong>. 32, Dienstag, 16. März 1819, Titelseite.<br />
29 <strong>Jahn</strong>: Neue Runenblätter, 1828, [Die Leipziger Schlacht] S. 106.<br />
Literatur<br />
– Arndt, E[rnst] M[oritz]: Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht. Frankfurt am <strong>Mai</strong>n: P.W.<br />
Eichenberg, 1814, 22 S.<br />
– Arndt, E[rnst] M[oritz]: Noch ein Wort über die Franzosen und über uns. [Leipzig: Rein] 1814, 48 S.<br />
– Besser, [Johann August] Wilhelm: Über Volksspiele und deren Einfluß auf Erweckung und Erhaltung<br />
deutscher Kraft und deutschen Sinnes. Ein Vorschlag zur volksthümlichen Gedächtnisfeier des<br />
18ten Octobers. Quedlinburg: <strong>Friedrich</strong> Joseph Ernst, [1816], 44 S.<br />
25
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
– Bornemann, [Johann Jakob Wilhelm]: Lehrbuch der von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> unter dem Namen<br />
der Turnkunst wiedererweckten Gymnastik. Berlin: W. Dieterici, 1814, 123 S.<br />
– Braun, Harald: Das politische und turnerische Wirken von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> Weidig. Schriften der<br />
Deutschen Sporthochschule Köln 11. St. Augustin: Hans Richarz, 19832, 388 S.<br />
– Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808 – 1847). Studien<br />
zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Bd. 13. München: R. Oldenbourg Verlag,<br />
1984, 357 S.<br />
– François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München: Beck, 2001,<br />
739 S.<br />
– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>: Deutsches Volksthum. Lübeck: Niemann & Co., 1810, 460 S.<br />
– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> / Eiselen, Ernst: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze.<br />
Berlin: 1816, 288 S.<br />
– [<strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>]: Dank- und Denklieder zur Jahresfeier der Leipziger Schlacht. [Berlin:]<br />
1817, 40 S.<br />
– <strong>Jahn</strong>, <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong>: Neue Runenblätter. Vier Rollen. Naumburg: Wildsche Buchhandlung,<br />
1828, 134 S.<br />
– König, Helmut: Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807<br />
und 1815, Teil 2. Monumenta Paedagogica Bd. XIII. Berlin: Volk und Wissen, 1973, 466 S.<br />
– Kohlrausch, Fr[iedrich]: Deutschlands Zukunft. In sechs Reden. Elberfeld: Heinrich Büschler,<br />
1814, 200 S.<br />
– Langenfeld, Hans / Ulfkotte, Josef (Hrsg.): Unbekannte Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> und<br />
Hugo Rothstein. WTB-Schriftenreihe Bd. 6. Oberwerries: 1990, 296 S.<br />
– Loevenich, Joseph (Hrsg.): An Ernst Moritz Arndt. Eine Huldigung Deutscher Dichter und Denker<br />
zur Jahrhundertfeier 1813 – 1913. Leipzig-Raschwitz: Bruno Volger, 1913, 172 S.<br />
– Meyer, Wolfgang (Hrsg.): Die Briefe F. L. <strong>Jahn</strong>s. Quellenbücher der Leibesübungen Bd. 5. Dresden:<br />
Wilhelm Limpert, [1930] 503 S.<br />
Kein Freyburger Sportdialog<br />
DANKE<br />
Der im letzten <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong> (Dez.<br />
2012, S. 11) für Anfang Oktober angekündigte<br />
Freyburger Sportdialog kann<br />
leider nicht stattfinden: Die in Aussicht<br />
gestellte Unterstützung konnte nicht gewährt<br />
werden. Wir werden die Veranstaltung<br />
(oder eine ähnlich geartete) nachzuholen<br />
versuchen.<br />
Wir danken<br />
dem Burgenlandkreis<br />
für<br />
die finanzielle<br />
Unterstützung bei<br />
der Erstellung dieses <strong>Jahn</strong>-<br />
<strong>Report</strong>s.<br />
26
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Zur Festkarte auf<br />
dem Titelbild<br />
Über Turnfeste und deren Festkarten hat<br />
Emil Kaiser eine Betrachtung in der Deutschen<br />
Turnzeitung 1913 veröffentlicht. Die die Festkarte<br />
Leipzig 1913 betreffende Passage ist ein<br />
bemerkenwertes zeitgenössisches Dokument und ist bisher unbemerkt geblieben.<br />
(Kaiser, E[mil]: Die Deutschen Turnfeste und ihre Festkarten. In: Deutsche Turnzeitung<br />
58 (1913), H. 43 vom 23. Oktober 1913, S. 823-824.)<br />
„Wie in dem 12. Deutschen Turnfest zu Leipzig ein ganz bestimmter Stil in der Kleidung<br />
der Turnerscharen, in der Organisation des ganzen Festes, in der Anlage des Festplatzes,<br />
in der Aufeinanderfolge der Massen-, Kreis- und Einzeldarbietungen zu erkennen<br />
war, so bildet auch die Festkarte, vom Leipziger Künstler [Bruno] Hèroux geschaffen, in<br />
Form und Inhalt, in der Raumgliederung und Farbengebung einen gewissen Abschluß<br />
all der jahrzehntelangen Versuche und Bemühungen, eine voll befriedigende Festkarte zu<br />
schaffen; eine solche Festkarte muß den Charakter des Volkstümlichen haben, sie muß klar<br />
zum Ausdruck bringen, daß es sich um eine Veranstaltung der Deutschen Turnerschaft<br />
handelt, die in ihrer Entwicklung parallel geht zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts;<br />
dazu ist eine Kennzeichnung des Landschaftsbildes des Festortes erwünscht, sei es<br />
auch nur durch das Wahrzeichen dieses Festortes. Meisterhaft sind all diese Forderungen<br />
auf der Leipziger Karte erfüllt. Auf engem Raume vereinigt sie die Erinnerung an 1813<br />
und 1863, von der großen Zeit vor hundert Jahren erzählt die volkstümliche Gestalt des<br />
Lützower Jägers, und von der politisch bewegten Zeit am Vorabend der großen Einigung<br />
Deutschlands berichtet der Turner im Gewand von 1863 mit der roten Schärpe, beide<br />
blicken begeistert auf zu dem markigen Vertreter der heutigen Deutschen Turnerschaft,<br />
in ihm die Erfüllung ihrer Träume erblickend. Welche eine Menge von Feinheiten liegt in<br />
den Köpfen und besonders in dem sprechenden Blick und der Haltung dieser Gestalten,<br />
nicht zuletzt auch der Turnerin in der kleidsamen Leipziger Tracht: nicht affektiert schaut<br />
sie drein, sondern im vollen Bewußtsein, daß sie dazu gehört zum deutschen Turnwesen<br />
und daß sie die Bestrebungen unsrer Deutschen Turnerschaft nach ihrer ästhetischen wie<br />
gesundheitlichen Bedeutung voll zu würdigen weiß! So umgeben diese drei Gestalten,<br />
unser Turnerleben zugleich auf die herrlichste Weise poetisch verklärend, die Hauptfigur,<br />
die nicht mehr wie früher nur als kostümierte Figur auftritt, sondern als leibhaftiger<br />
Typus eines Siegers vom Deutschen Turnfest: in der Fülle jugendlicher Kraft und Schöne,<br />
alle Muskeln gestrafft und gestählt: hier ist, wie Lamprecht sagt, das neue Ideal des<br />
Menschenkörpers, nach dem die Kunst jahrzehntelang gesucht: das deutsche Turnen hat<br />
diese Leistung zuwege gebracht! Den Hintergrund des Ganzen aber bildet eine wahre<br />
Symphonie des Lichtes in dem Gewoge der Wolken, die das Leipziger Völkerschlacht-<br />
27
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
denkmal umgeben. Wahrlich, schöner und treffender konnten die Turnerideale des<br />
19. Jahrhunderts nicht zur Darstellung gelangen: <strong>Jahn</strong>s Ideal vom starken Mann mit der<br />
Waffe in der Hand – unser Theodor Körner als Lützower Jäger –; dann das jungdeutsche<br />
Ideal Heubners, der seine Turner zum Kampf für Freiheit, Recht und Einheit begeistert –<br />
der Turner von 1863 – und endlich das neuzeitliche Ideal, das bereits Martens aufgestellt<br />
hat: ‚Wir üben den Körper, wir bilden den Geist‘, oder wie es J.C. Lion umschrieb in<br />
Kantischer und Schillerscher Höhe des Standpunktes: ‚Die Turnkunst ist die Poesie des<br />
Leibes; denn wie der Geist sich in höchster Lust auf den Wellen der Dichtkunst wiegt,<br />
so fühlt sich auch der Körper nie besser und wonnereicher, als wenn sich des Leibes<br />
Gewandtheit und Schönheit im freiesten Spiel der Glieder<br />
ungehemmt entfaltet.‘<br />
Lions Zitat stammt aus dem Aufsatz ‚Berechtigung der<br />
deutschen Turnkunst. In: Der Turner 4 (1849) S.129-137‘<br />
und ist von Kaiser ungenau wiedergegeben, die korrigierte<br />
Stellen sind kursiviert:<br />
„Ich könnte ebensogut oder noch mit mehr Recht sagen, die<br />
Turnkunst ist die Poesie des Leibes; denn gleichwie der Geist<br />
sich in höchster Lust auf den Wellen der Dichtkunst wiegt,<br />
so fühlt man sich auch körperlich nie besser und wonnereicher,<br />
als wenn sich des Leibes Gewandtheit und Schönheit<br />
im freiesten Spiel der Glieder ungehemmt entfaltet.“<br />
Weiterführende Literatur zu diesem Thema findet man in:<br />
– Pfister, Gertrud: Militarismus in der kollektiven Symbolik der deutschen Turnerschaft<br />
am Beispiel des Leipziger Turnfestes 1913. In: Becker, Hartmut (Red.): Sport im Spannungsfeld<br />
von Krieg und Frieden. Fachtagung der DVS-Sektion Sportgeschichte vom<br />
4. – 6. April 1984 in Berlin. dvs-Protokolle 15. Clausthal-Zellerfeld: DVS, 1985, S.<br />
64-79.<br />
– Pfister, Gertrud: Turnen als Erinnerungsort – Mythen, Rituale und kollektive Symbole<br />
auf Deutschen Turnfesten vor dem Ersten Weltkrieg. In: Krüger, Arnd / Rühl, Joachim<br />
K. (Hrsg.): Aus lokaler Sportgeschichte lernen. Jahrestagung der DVS-Sektion Sportgeschichte<br />
vom 12. – 14. <strong>Mai</strong> 1999 in Hoya. Schriften der Deutschen Vereinigung für<br />
Sportwissenschaft Bd.119. Hamburg: Czwalina, 2001, S. 69-87.<br />
– Gerd Steins: Turn-Zeichen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Sporthistorische<br />
Blätter 17. Berlin: Forum für Sportgeschichte, 2012, 48 S., zahlr. Abb.<br />
28
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Leipzig 1913 –<br />
Ein Deutsches Turnfest vor 100 Jahren<br />
Ingo Peschel<br />
Im Jahr 1913 konnte ein<br />
Deutsches Turnfest eigentlich<br />
nur in Leipzig stattfinden.<br />
Die Völkerschlacht, die<br />
zur Befreiung von Napoleons<br />
Herrschaft geführt hatte,<br />
jährte sich zum hundertsten<br />
Mal. Es waren die heroischen<br />
Tage der Freiheits- und Einheitsbewegung,<br />
an die schon<br />
1863 beim 3. Deutschen Turnfest in Leipzig erinnert worden war. Die Deutsche Turnerschaft<br />
(DT) fragte also wegen eines Festes an, und die Stadt sagte sofort zu. Auf einer<br />
Sitzung 1910 in Straßburg erhielt sie einstimmig den Zuschlag und engagierte sich dann<br />
in herausragender Weise, nicht nur finanziell, sondern auch in jeder anderen Beziehung.<br />
Der Ort und die Zeit<br />
Leipzig hatte damals 610.000 Einwohner und war die drittgrößte Stadt des Deutschen<br />
Reiches vor München, Dresden, Köln und Breslau, das Zentrum des Buchhandels<br />
und der Pelzwaren und ein Ort großer Messen. Sein Rang zeigte sich an dem Neuen<br />
Rathaus oder dem Reichsgericht, besonders aber an dem grandiosen Hauptbahnhof, von<br />
dem 1913 die westliche Hälfte fertig war und schon benutzt wurde. Das riesige Völkerschlachtdenkmal<br />
kam jetzt als neue Attraktion hinzu.<br />
Die Stadt war aber auch, wie Sachsen überhaupt, eine Hochburg des Turnens. Die<br />
DT hatte hier nicht weniger als <strong>36</strong> Vereine mit rund 15.000 Mitgliedern. Das war die<br />
weitaus höchste Zahl von allen Großstädten. Ihr Vorsitzender Ferdinand Goetz, der ihre<br />
Geschicke seit über 50 Jahren lenkte, wohnte hier. Auch die Deutsche Turn-Zeitung mit<br />
ihrer unerhört umfangreichen Berichterstattung erschien hier. Man kann sagen, Leipzig<br />
war die deutsche Turnerstadt schlechthin.<br />
Im Rückblick liegt auf dem Jahr 1913 ein besonderer Glanz, Florian Illies sprach kürzlich<br />
vom „Sommer des Jahrhunderts“. Im Juli allerdings, als das Turnfest stattfand, wurde<br />
in Frankreich die Wehrpflicht auf drei Jahre verlängert, in Deutschland die Heeresstärke<br />
29
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
erhöht und auf dem Balkan brach wieder ein Krieg aus. Die Meldungen von dort standen<br />
jeden Tag auf der ersten Seite der Zeitungen. Aber die Kieler Woche ging planmäßig zu<br />
Ende, und danach begab sich der Kaiser auf seine alljährliche Nordlandreise (und besuchte<br />
somit auch dieses Deutsche Turnfest nicht, obwohl er natürlich eingeladen war). Graf<br />
Zeppelin wurde 75 Jahre alt, und in Leipzig gab es seit Ende Juni einen Luftschiffhafen,<br />
von dem aus das Luftschiff Sachsen regelmäßig Fernfahrten mit 15 bis 20 Passagieren<br />
unternahm. In der Leipziger Allgemeinen Zeitung stehen diese merkwürdigerweise unter<br />
„Sport.“<br />
Sport (als Spezialisierung auf eine Disziplin) war ein Dauerthema für die DT. Es hatten<br />
sich Verbände für Spiele, Schwimmen oder Leichtathletik gebildet und den entsprechenden<br />
Abteilungen der Turnvereine war schließlich gestattet worden, dort Mitglied zu<br />
sein. In Leipzig wurden sogar erstmals „Sonderwettbewerbe“ in einzelnen volkstümlichen<br />
Disziplinen (400 m, Weitsprung, Hochsprung, Speerwurf und Kugelstoßen) ausgetragen.<br />
Es war auch geregelt, dass bei Festen der DT geschwommen wurde (es gab einen Zehnkampf<br />
mit Schnell- und Schönschwimmen sowie Wasserspringen), doch dann kamen „die<br />
Schwimmvereinler, die bei Turnfesten gewinnen und den turnerischen Schwimmdilettanten<br />
die Beteiligung verleiden“. 1 Aber es gab noch andere Probleme. So wurde im März<br />
Luftbild des Festplatzes vom Zeppelin aus (Jahrbuch der Turnkunst 1914)<br />
30
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
festgelegt: „Turnern, die als Mitglieder eines<br />
Sportvereins an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen,<br />
ist die Annahme von Wertpreisen nicht<br />
untersagt. Von einem Turnverein Wertpreise anzunehmen,<br />
ist verboten, wie diesen überhaupt<br />
nicht erlaubt ist, Wetturnen mit Wertpreisen<br />
zu veranstalten.“ 2 Mit dem (damals noch sehr<br />
kleinen) Deutschen Fußball-Bund brach ein<br />
Konflikt auf und auch die Olympischen Spiele<br />
1916 standen im Raum. Da sie in Berlin stattfinden<br />
sollten, konnte die DT trotz ihrer Vorbehalte<br />
nicht abseits stehen und nahm auch an der<br />
Einweihung des dafür vorgesehenen Deutschen<br />
Stadions am 8. Juni teil. Dass aber die Eisenbahn<br />
bei dieser Sportveranstaltung den Teilnehmern<br />
Sonderpreise gewährte, dies jedoch beim Leipziger<br />
Turnfest ablehnte, hinterließ einen tiefen<br />
Stachel. Die Empörung zog sich noch lange<br />
durch die Berichte in der Turnpresse, und auch<br />
der Einsatz von 71 Sonderzügen konnte daran<br />
nichts ändern.<br />
Das offizielle Festplakat (Sportmuseum Leipzig)<br />
Zwei andere Stichworte der Zeit hießen Jugendpflege und Jungdeutschlandbund.<br />
Erstere erhielt jetzt überall große Aufmerksamkeit bis hin zur Rubrik in Zeitungen, in<br />
Preußen auch staatliche Unterstützung. Letzterer strebte einen Zusammenschluss aller vaterländischen<br />
Verbände zur Hebung der Wehrkraft an. In beiden Fällen konnte die DT<br />
sagen, dass sie solche Ziele schon immer verfolgt hatte, sah sich aber jetzt einer Konkurrenz<br />
ausgesetzt. Trotz der Riesenzahl von 1,3 Millionen Mitgliedern musste sie sehen, dass sie<br />
ihren „Platz an der Sonne“ behauptete.<br />
Das größte Turnfest vor dem Ersten Weltkrieg<br />
Leipzig bot eine Gelegenheit für die DT, sich in ihrer ganzen Stärke zu zeigen. Schon in<br />
der Einladung hieß es: „Kommt zu einem Feste, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.“<br />
Und in der Tat übertraf dieses 12. Deutsche Turnfest alle vorhergehenden. Ein Schweizer<br />
Beobachter nannte drei Charakteristika: Die Großartigkeit und Vorzüglichkeit aller<br />
Einrichtungen, die Großzügigkeit in den Vorführungen und die Disziplin aller am Fest<br />
beteiligten Personen. 3<br />
Das Festgelände im Norden der Stadt war mit 700 x 700 m doppelt so groß wie fünf<br />
Jahre zuvor in Frankfurt am <strong>Mai</strong>n und enthielt eine entscheidende Neuerung: ein riesiges<br />
31
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Stadion von 200 x 300 m Innenfläche mit hohen Tribünen an allen Seiten. Vorbild für<br />
diese „größte Kampfbahn der Welt“ 4 war eine ähnliche (und ähnlich große) Anlage beim<br />
Sokol-Fest 1912 in Prag gewesen. 5 Zugunsten der Tribünen hatte man auf die bis dahin<br />
übliche Festhalle verzichtet. Sie boten Platz und gute Sicht für 70.000 Personen, und vor<br />
ihnen war noch Raum für eine große Zahl weiterer Zuschauer. Eine der Tribünen war<br />
für die Turner reserviert und enthielt Garderoben, für die Ehrengäste gab es eine überdachte<br />
Loge und für die Musik eine Muschel, die den Schall bündelte. Der Hauptteil des<br />
Innenraums diente den Massenvorführungen, ein Viertel war aber auch mit Turngeräten<br />
belegt. Die Aufforderung „Ferngläser mitbringen!“ zeigt allerdings die Problematik eines so<br />
großen Platzes. Neben dem Stadion gab es Turnzelte, weitere Turnplätze, gastronomische<br />
Einrichtungen und ein Postamt auf dem Gelände.<br />
Auch die Zahl der Teilnehmer mit Festkarte lag mit 62.000 erheblich höher als in<br />
Frankfurt, obwohl ursprüngliche Erwartungen nicht ganz erfüllt wurden. Dabei ist zu<br />
beachten, dass es sich fast ausschließlich um Erwachsene handelte. Fast ein Drittel von<br />
ihnen kam aus Sachsen. Während die meisten im Festzug mitgingen, nahm am Turnen nur<br />
etwa ein Viertel teil. Rund 20.000 Teilnehmer übernachteten in Massenquartieren. Für die<br />
Kampfrichter stellte die Stadt Gästehäuser kostenlos zur Verfügung und sorgte auch für<br />
den Transport zum Festplatz. Die Festkarte kostete 6 M(ark), das Massenquartier 3 M, der<br />
Sonderzug von Königsberg 14,50 M, von Nürnberg 5,70 M, der teuerste Tribünenplatz<br />
10 M, eine Tageseintrittskarte 1,10 M und das Porto für eine Postkarte 5 Pfg.<br />
Der Schwerpunkt des Festes lag (wie teilweise heute wieder) gleich am Anfang. Nach<br />
Anreise und Eröffung am Samstag begann am Sonntag um 6 Uhr früh (!) der Sechskampf.<br />
Später gingen zwei große Festzüge durch die Stadt zum Festplatz und anschließend fand<br />
der Festnachmittag mit den Großvorführungen statt. An diesem Tag waren mindestens<br />
125.000 Besucher auf dem Festgelände, es wurden aber auch 200.000 geschätzt, die Straßenbahn<br />
beförderte 420.000 Fahrgäste mehr als sonst und die Post versah 170.000 Postkarten<br />
und Briefe maschinell mit dem amtlichen Sonderstempel (wozu 11 Stunden nötig<br />
waren 6 ). An den nächsten Tagen gab es weitere Wettkämpfe, das Turnen der Kreise (entsprechend<br />
den heutigen Landesturnverbänden) und der Musterriegen, einen Nachmittag<br />
der Schulen, ein Militärturnen von Soldaten und schließlich am Mittwoch die Siegerehrung<br />
und einen Abschluss mit Feuerwerk. Danach gingen noch etwa 8.000 Teilnehmer auf<br />
Turnfahrt, davon allein 2.700 in die Sächsische Schweiz, einige auch „auf Wandervogelart“.<br />
Die Festatmosphäre<br />
Deutsche Turnfeste hatten immer etwas von nationalen Festen. Dies wurde in Leipzig<br />
besonders deutlich. „Vaterländische Begeisterung soll über ihm schweben...Verbrüderung<br />
aller deutsch Fühlenden soll ihm die Weihe geben!“, hatte Goetz in seinem Grußwort<br />
geschrieben, und bei der Eröffnung sagte der Vorsitzende des Hauptfestausschusses, Dr.<br />
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Rothe: „Wenn nun von morgen ab Tausende... hier zeigen werden, was deutsches Turnen<br />
dem Körper an Kraft und Schönheit zu geben vermag, so wollen wir nicht vergessen, dass<br />
es das Vaterland ist, dem diese Arbeit gilt ... “ 7 Die gesamte Veranstaltung war „von patriotischem<br />
Geist durchweht und getragen.“ 3<br />
Trotz bester Voraussetzungen war es nicht ohne weiteres klar, wie stark die Stadt an<br />
dem Fest Anteil nehmen würde. „Wir leben nicht mehr in den kleinbürgerlichen Zeiten<br />
von ehedem, denn die einstige Stadt von nur 100.000 Bürgern ist zur Riesenstadt von nahezu<br />
einer ¾ Million Einwohnern angewachsen. Was einst die ganze Bevölkerung ergriff<br />
und gar nicht unbeachtet bleiben konnte, das versinkt jetzt rasch und leicht im Gewoge<br />
der modernen Weltstadt.“ 8 Aber dann sah es so aus: „Die Straßen und Plätze der Stadt<br />
sind mit Tausenden von Fahnen und Bannern geschmückt, und Girlanden ziehen von<br />
Mast zu Mast, vielfach auch über die Straßen hinweg von Haus zu Haus. In den Straßen,<br />
durch die die beiden Festzüge ihren Weg nehmen, sind auch die Häuser fast ausnahmslos<br />
mit Girlanden und Wappen mit turnerischen Inschriften geschmückt. Überall sieht man<br />
die Büste des Turnvaters <strong>Jahn</strong>“. 9 Rund um den Brühl, wo sich der Pelzwarenhandel befand,<br />
waren die Häuser sogar mit Pelzen dekoriert. Und die „Hypnose der Masse“ zog alle<br />
in ihren Bann. Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ein Außenstehender<br />
zum Festzug: „Es war nicht die einzelne Gruppe, die interessierte, sondern der Zug in seiner<br />
Gesamtheit, voran die braunen Deutschsüdwestafrikaner, dann die von der Westküste<br />
Nordamerikas, die aus Kiautschou usw. Dann Tausende von Deutsch-Österreichern und<br />
endlich in endloser Folge die Reichsdeutschen aus allen Himmelsrichtungen.“ 10 Der Turnkreis<br />
Deutsch-Österreich, 1904 aus der DT ausgetreten, war in einer versöhnenden Geste<br />
offiziell eingeladen worden und erhielt überall sehr starken Beifall. Es regnete Blumen und<br />
es wurden Erfrischungen gereicht. Und während des Einzuges auf den Festplatz überflog<br />
auch die Sachsen den weiten Platz. „Tausendstimmig hallte das Heilrufen hinauf zu dem<br />
stolzen Segler. Es war ein herrlicher Moment.“ 11<br />
Der eigentliche Höhepunkt war dann aber der Festnachmittag, und hier wiederum<br />
die allgemeinen Freiübungen. Schon der Aufmarsch der 17.000 Turner in Weiß hinterließ<br />
einen tiefen Eindruck, und die Vorführung selbst führte zu fast poetischen Schilderungen:<br />
„Jetzt setzt die Musik ein und ein Bild bewegt sich vor unseren Augen, wie es keiner<br />
vergisst, der es mit angeschaut hat. Wie ein Kornfeld, das im Winde wogt, so erscheinen<br />
die Tausende, wenn sie die Arme heben. Die Musik erreicht mit ihrem Ton die rechten<br />
Kolonnen etwas später. So laufen die Hebungen und Senkungen wie die Wellen eines<br />
Meeres...“ 12 Selbst der Berichterstatter des Berliner Tageblattes, der durch eine Reihe<br />
herablassend-ironischer Bemerkungen einige Turbulenzen auslöste, konnte sich der Magie<br />
nicht ganz entziehen. 13 Nach der letzten Übung gab es dann noch eine Steigerung:<br />
Die Musik setzte wieder ein und das ganze weite Feld sang das Deutschlandlied, bevor<br />
das Programm seinen Fortgang nahm. Interessant ist, dass auch diese Vorführung durch<br />
33
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Aufstellung zu den Festfreiübungen (Sportmuseum Leipzig)<br />
Postkarte Festfreiübungen (Stephan Rowold)<br />
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Ewald Keßler, Leipzig, der Turnfestsieger<br />
(Stephan Rowold)<br />
Reckübung Karl Ohms, TK Hannover<br />
(Jahrbuch der Turnkunst 1914)<br />
Rund um den Leipziger Zeitmessapparat (Stephan Rowold)<br />
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JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Kampfrichter bewertet wurde: „Die Auswahl der Übungen war glücklich, der Vormarsch<br />
mit den Fahnen und die einheitliche Tracht boten ein glänzendes Bild.“ Noten: Aufmarsch<br />
9 – 10, Ordnung 10, Ausführung 9, Abmarsch 9. Die Experten verglichen auch<br />
mit den bekannt exakten Vorführungen der tschechischen Sokol-Turner und fanden Leipzig<br />
mindestens ebenbürtig (französische Gäste waren allerdings anderer Meinung). 14 Die<br />
einheitliche weiße Kleidung war übrigens nicht ohne weiteres durchzusetzen gewesen, da<br />
früher graue Hosen benutzt wurden. Genau 50 Jahre später, 1963 in Essen, fanden solche<br />
allgemeinen Freiübungen in einem Großstadion das letzte Mal bei einem Deutschen<br />
Turnfest statt.<br />
Das turnerische Programm<br />
Die Struktur des Turnprogramms war anders als heute. Der Schwerpunkt lag auf dem<br />
Massenturnen der Kreise mit Hunderten bis Tausenden von Teilnehmern und den Vorführungen<br />
von rund 1.300 Musterriegen, die alle bewertet wurden. Die Wertungen mit<br />
Teilnehmerzahl, Übungsform und Leiter lassen sich heute noch nachlesen. Daneben gab<br />
es im Wesentlichen nur zwei große Einzelwettkämpfe: einen Sechskampf und einen Zwölfkampf.<br />
Leichter und für eine größere Zahl von Teilnehmern gedacht war der Sechskampf<br />
mit „volkstümlichen“ (leichtathletischen) Übungen, zu denen in Leipzig auch Hangeln<br />
am Tau gehörte. Während die elektrische Zeitmessung hier perfekt arbeitete (der Apparat<br />
war aus Leipzig) und es nur Debatten über die Ausführung gab, war das beim 150 m-<br />
Lauf nicht der Fall. Dadurch zog sich der Wettkampf, an dem 3.750 Turner teil-nahmen,<br />
bis in die Nacht hin. Die Krone des Wettturnens dagegen war der gemischte Zwölfkampf<br />
mit 1.100 Teilnehmern. Wer hier gewann, war der Turnfestsieger. Ein genauerer<br />
Blick auf diesen Wettkampf zeigt, wie hoch damals die Anforderungen waren.<br />
Er bestand aus 8 Geräteübungen (5 Pflicht, 3 Kür) an Reck, Barren, Seitpferd und<br />
Sprungpferd. Dazu kamen eine Pflichtfreiübung mit Stab-, sowie Weitsprung, 100 m-<br />
Lauf und Schleuderballwurf, wobei letzterer für viele eine große Klippe darstellte. Die<br />
volkstümlichen Übungen wurden erst Mitte <strong>Mai</strong> bekanntgegeben, die Geräteübungen<br />
noch zwei Wochen später. Und die Pflichtübungen hatten es in sich. Die Übung am Reck<br />
begann mit Kammgriff-Schwungstemme zum Handstand, halber Drehung, Riesenfelge<br />
und Drehschwungstemme, am Barren war eine Stützkehre enthalten. Man konnte auch<br />
nicht einfach melden, sondern musste ein Probeturnen bestehen, das drei Wochen vor<br />
dem Fest in allen Kreisen stattfand. In einem Beitrag zur „Vorbereitung des Wetturners“<br />
ist zu lesen: „Ich sehe in der Erinnerung, mit welcher Entrüstung bei Probeturnen einzelne<br />
Turner das Urteil aufnahmen, ... wie sie hoch und teuer versicherten, sie würden sich<br />
binnen kurzem alles ihnen Fehlende aneignen ... Auf alle solche Reden kann und darf<br />
der Leiter eines Probeturnens nichts geben.“ 15 Es war also ein schwerer Wettkampf. Nur<br />
271 Turner schafften die Sieggrenze von 100 Punkten (bei 150 möglichen). Auf Rang 17<br />
übrigens ein heute noch bekannter Name: Karl Loges. Die Kürübungen der Besten wur-<br />
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
den später auf vielen Fotos im Jahrbuch der Turnkunst abgedruckt. Von den ersten Sechs<br />
kamen drei aus München, zwei aus Leipzig und einer aus Breslau. Der Sieger Ewald<br />
Keßler, 28 Jahre, war aus Leipzig, was natürlich sehr gut passte. Von ihm wurde sogar eine<br />
Postkarte hergestellt. Weniger glücklich dürfte die DT über das große Geldgeschenk gewesen<br />
sein, das ihm die Stadt überreichte. Die hohen Schwierigkeiten aber führten schon<br />
damals zu der Frage, wie es weitergehen soll, die Zahl der Zwölfkämpfer ging nämlich zurück.<br />
Man kann die Meinung lesen, das Gerätturnen könnte „schließlich zu einem Sport<br />
weniger hochbeanlagter Turner herabgedrückt“ werden. 16<br />
Weitere Wettkämpfe im Schwimmen, Fechten und Ringen, Staffeln, Tauziehen und<br />
eine Reihe von Spielen hatten nur einen geringen Umfang. Bei Schlagball, Faustball und<br />
Fußball (!) hatte das damit zu tun, dass es erstmals Deutsche Meisterschaften mit Vorauswahl<br />
in den Kreisen waren. Auch die neuen Sonderwettkämpfe gingen in der Menge der<br />
anderen Ereignisse unter.<br />
Zwischen gestern und heute<br />
Der vielleicht größte Unterschied zu heute liegt in den Teilnehmern. Leipzig war in<br />
der Hauptsache ein Männerfest. Nach einem Beschluss der DT (von 1903) durften keine<br />
Frauen von außerhalb der Feststadt am Deutschen Turnfest teilnehmen. Man fand es<br />
irgendwie nicht schicklich, dass eine große Anzahl von Frauen eventuell allein zu solch<br />
einer Veranstaltung reiste. Die Meinungen dazu waren aber durchaus geteilt. Edmund<br />
Neuendorff etwa, später an führender Stelle in der DT, hielt die Regel für richtig, obwohl<br />
er andererseits die geringen Fortschritte beim Frauenturnen (es gab nur etwa 60.000 Turnerinnen<br />
in der DT) scharf kritisierte. 17 Der zuständige Festobmann in Leipzig, Schützer,<br />
dagegen meinte „Große außerdeutsche Turnfeste haben die besten Erfahrungen damit<br />
gemacht. Aus welchen Gründen will die DT zurückstehen?“ 18 Die Festpostkarte mit<br />
der Turnerin ist aber trotzdem nicht irreführend. Leipzig war auch eine Hochburg des<br />
Frauenturnens, und in der abgebildeten Kleidung traten 1.200 dortige Turnerinnen beim<br />
Festnachmittag und später noch ein zweites Mal auf. Dazu kamen weitere Vorführungen,<br />
die teilweise euphorisch aufgenommen wurden, und die Leipziger Schulen steuerten ein<br />
riesiges Turnen von 6.000 Mädchen bei. Die Festzeitung widmete dem Frauenturnen eine<br />
ganze Nummer mit einer großen Anzahl von Fotos. Es war klar, dass sich die Turnfest-<br />
Regelung in absehbarer Zeit ändern würde.<br />
In anderer Hinsicht war Leipzig ein sehr modernes Turnfest. Das betraf nicht nur<br />
die Bauten oder die elektrische Zeitmessung. Es wurde eine aufwendige Pressearbeit<br />
betrieben, für die der Schriftleiter der Deutschen Turn-Zeitung, Fritz Groh, verantwortlich<br />
zeichnete. Beim Fest waren 1.000 Pressevertreter zugelassen, und die Beziehungen<br />
„zur gesamten Tagespresse im ganzen Reiche waren außerordentlich freundliche.“ 19 Das<br />
schloss eine spätere Fehde mit einigen katholischen Zeitungen (über moralische Fragen)<br />
37
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
und mit dem Berliner Tageblatt nicht aus, doch auch dessen Berichterstattung war insgesamt<br />
durchaus wohlwollend. Im heutigen Stil wurden in hoher Auflage Werbemarken<br />
gedruckt, das Fotografieren auf dem Festplatz vertraglich geregelt (auch im Hinblick auf<br />
das spätere Erinnerungsalbum) und an eine Firma Nietzsche die „kinomatographischen<br />
Rechte“ vergeben. So gibt es Filmaufnahmen von dem Fest, und es ist sehr eindrucksvoll,<br />
vor der Kulisse der Tribünen Vorführungen in Bewegung zu sehen. Groh bemühte sich<br />
auch, die Festzeitung als ein Medium für Kunst zu verwenden. Zwar war das meiste<br />
konventionell, doch fallen Bilder des Jugendstilkünstlers Fidus und aus der bekannten<br />
Münchner Zeitschrift Jugend auf, deren Bildredakteur ein Turner war.<br />
Ausblick<br />
Die gewaltigen Ausmaße des Festes weckten auch gewisse Zweifel. Schon bei der Festgymnastik<br />
fragten sich manche, ob man solch eine Vorführung je wieder sehen würde.<br />
Mehr noch, es wurde die Meinung geäußert, solch ein Fest ließe sich nicht wiederholen<br />
oder steigern. „Die ungeheuren Vorbereitungen ... können in der Folge von keiner Feststadt<br />
mehr geleistet werden“, und auch die Übersicht ginge für die Preisrichter wie für die<br />
Zuschauer verloren. 20 Teilweise klang dies auch im Bericht des Hauptfestausschusses an,<br />
nach dem die zu leistenden Arbeiten „schwierig, zeitraubend und für eine ehrenamtliche<br />
Tätigkeit eigentlich zu umfangreich“ gewesen seien. Deswegen wurde der Vorschlag gemacht,<br />
die Turnfeste in Zukunft von einem hauptamtlichen Mitarbeiter vorbereiten zu<br />
lassen, der ansonsten als Sekretär der DT tätig sein könne (einen solchen hatte die DT<br />
damals noch nicht). 21 Das wies schon in die Zukunft, denn selbstverständlich gab es ein<br />
nächstes Deutsches Turnfest und es hatte sogar noch wesentlich mehr Teilnehmer. Aber es<br />
fand nach dem Ersten Weltkrieg in einer neuen Zeit statt. So war Leipzig der Höhepunkt<br />
und Abschluss einer ganzen Epoche.<br />
Ich danke Gerd Steins (Forum für Sportgeschichte Berlin), Gerlinde Rohr (Sportmuseum Leipzig),<br />
Stephan Rowold (Dresden), Wilhelm Pappert (DTB-Archiv Frankfurt a. M.) und Hete Forstmann<br />
(Berlin) für Unterstützung und Beratung.<br />
Die Zitate stammen aus der Deutschen Turn-Zeitung von 1913 (D), der Festzeitung für das<br />
12. Deutsche Turnfest (F), dem Jahrbuch der Turnkunst von 1914 (J), der Leipziger Allgemeinen<br />
Zeitung (L) und dem Berliner Tageblatt (B). Angegeben sind die Seite bzw. der Erscheinungstag.<br />
1<br />
D354, 2 D314, 3 J126, 4 D483, 5 D(1912)725, 6 B(17.7.13), 7 F228, 8 D672, 9 B(13.7.13),<br />
10 D725, 11 D706, 12 D673, 13 B(15.7.13), 14 J82,126, 15 D241, 16 J96, 16 J128, 18 F300,<br />
19 F302, 20 L(15.7.13), 21 F254<br />
38
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
War das eigentlich schon immer so?<br />
Auch für die Entwicklung des Frauenturnens war 1913 wichtig<br />
Ilse-Marie Weiß<br />
Im Jahr 2011 erinnerte der Deutsche<br />
Turner-Bund mit seinen Untergliederungen<br />
an <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong><br />
und 200 Jahre Turnen in Deutschland.<br />
Welche Hürden das Turnen der Frauen<br />
in dieser Zeit überwinden musste,<br />
das sei hier einmal vor Augen gerückt.<br />
Angefangen hatte dies für mich 2002<br />
beim Deutschen Turnfest in Leipzig.<br />
Bei einem Bummel durch die Altstadt<br />
kam ich zufällig am Schaufenster eines<br />
kleinen Antiquariats vorbei. Der Besitzer<br />
hatte eine ganze Reihe von alten<br />
Turn- und Sportbüchern ausgestellt.<br />
Mittendrin stand ein kleines, in Leinen<br />
gebundenes Buch: „DIE TURNE-<br />
RIN“. Ich war fasziniert von dem Einband.<br />
Aber 24 Euro? Zwei Tage später<br />
war ich wieder da und kaufte es. Das<br />
Buch stammte aus dem Jahr 1910, die<br />
erste Auflage war 1901 erschienen. Es<br />
war ein Buch vom Turnen der Mädchen<br />
und Frauen mit 196 gezeichneten Abbildungen, geschrieben von dem Oberturnlehrer<br />
in Leipzig <strong>Ludwig</strong> Schützer. Der gesamte Turnstoff für die Turnerin vor hundert<br />
Jahren war hier zusammen gestellt.<br />
Im Jahr 2010 hatte der Deutschen Turner-Bund fast 5 Millionen Mitglieder. Davon<br />
waren rund 70 % weiblichen Geschlechts. War das eigentlich schon immer so? Das Turnen<br />
war in seiner frühen Ausprägung im Ausgang des 18. Jahrhunderts nur für Knaben,<br />
die sogenannten Zöglinge, in den Erziehungsanstalten und in den Seminaren gedacht.<br />
In der von Christian Gotthilf Salzmann 1784 gegründeten Anstalt in Schnepfenthal bei<br />
Waltershausen in Thüringen wurde von dem Lehrer Johann Christoph <strong>Friedrich</strong> Guts-<br />
Muths die Leibesausbildung der Zöglinge durch Gymnastik und vielfältige Leibesübun-<br />
39
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
gen mit größter Sorgfalt betrieben. 1793 erschien das erste Lehrbuch „Gymnastik für<br />
die Jugend“ von GuthsMuths, in dem er den gesamten Übungsstoff der damaligen Zeit<br />
ausführlich zusammengestellt hatte. (Die Anstalt existiert heute noch als eine Internatsschule<br />
für begabte Schüler und Schülerinnen. Außerdem wird in der Schule ein sehenswertes<br />
Museum zu den Anfängen von Gymnastik und Turnen gepflegt, auch der damalige<br />
Turnplatz am Waldrand mit seinen hölzernen Geräten ist noch zu sehen.) Auch außerhalb<br />
Deutschlands gab es ähnliche Bestrebungen. In der Schweiz war es Pestalozzi, der sich um<br />
die Ertüchtigung der Schüler intensiv kümmerte.<br />
Das Verdienst von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> war es, die Leibesertüchtigung aus den<br />
Schulen heraus in die Öffentlichkeit zu bringen und sie für Jugendliche und junge Männer<br />
zu etablieren. Unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft erschien es<br />
besonders wichtig, durch allgemeine körperliche Ertüchtigung die Stimmung und auch<br />
die Wehrhaftigkeit der jungen Männer positiv zu beeinflussen und die Volksgesundheit<br />
zu stärken. Dass er 1811 in Berlin in der Hasenheide den ersten öffentlichen Turnplatz<br />
errichtete, das eben feierten wir 2011. <strong>Jahn</strong> nannte die Leibesertüchtigung in ihrer deutschen<br />
Ausprägung „Turnkunst“. Es ist allgemein bekannt, dass das Turnen von Beginn<br />
an vielseitig war. Aber es war reine Männersache. Frauen wurden erst gegen Ende des<br />
19. Jahrhunderts in einigen Vereinen geduldet. Es wurde heftig gestritten, ob und in<br />
welcher Weise Frauen turnen dürften. Nachdem Adolf Spieß maßgeblich an der Einführung<br />
und Weiterentwicklung des Knaben- und Mädchenturnens an allgemeinen Schulen<br />
gearbeitet hatte, gab es immerhin schon für Mädchen geeigneten Übungsstoff. Doch nach<br />
der Schulzeit hatten die Mädchen keine Möglichkeit mehr zum Turnen. Die einen, die<br />
sich ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, hatten dazu kaum Zeit, und für die anderen,<br />
die zu Damen heran gebildet wurden, waren körperliche Arbeit, schnelle Bewegung<br />
oder gar Turnen unschicklich, angemessen dagegen Handarbeiten, Klavierspielen und<br />
Spazierengehen. Dazu wurde alles … eingeschränkt durch das unsinnigste aller weiblichen<br />
Kleidungsstücke, das lebenszerstörende Korsett. Denn ohne dieses verderbenbringende Marterinstrument<br />
kann ein Mädchen heutzutage keinesfalls den Anspruch erheben, als Dame angesehen<br />
zu werden. … So schrieb <strong>Ludwig</strong> Schützer in seinem Buch „Die Turnerin“. Schon<br />
im Jahr 1895 hatte er in der Deutschen Turnzeitung einen Artikel zum Frauenturnen<br />
veröffentlicht.<br />
Schützer war auf der einen Seite ein glühender Befürworter des Frauenturnens, andererseits<br />
aber noch gefangen im damaligen Zeitgeist. Er war ein fortschrittlicher Vorausdenker,<br />
wenn er schreibt: Wir halten die Einführung des Frauenturnens für eine der<br />
segenreichsten Bestrebungen der Gegenwart und sind überzeugt, daß das Turnen der Frauen<br />
einer großen Zukunft entgegen geht und daß es auch würdig ist, eine solche zu haben, denn<br />
unstreitig ist es das beste aller Mittel, ein gesundes und kräftiges Geschlecht zu erhalten …<br />
Bewegung ist Leben, ist Gesundheit, ist Kraft, und Kraft braucht ein Mädchen nicht zum we-<br />
40
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
nigsten, denn wer kennt ihn nicht, den schweren Beruf einer Frau? … In der <strong>Gesellschaft</strong> galt<br />
es allerdings die Vorurteile abzubauen: „Frauenturnen schickt sich nicht“ und „Turnen<br />
fördert die Emanzipationssucht der Frauen“. Gleichzeitig beschwor Schützer die Frauen,<br />
für sich das Positive am Turnen zu erkennen und Frauenturnstunden zu besuchen. Die<br />
Männerturnvereine wurden von ihm aufgefordert, den Frauen das Turnen in geschlossenen<br />
Räumen zu ermöglichen. Er prophezeite: Wer weiß überhaupt, was die Zukunft bringt?<br />
Ich sehe es kommen, daß sich überall<br />
dort, wo die Frauen seitens der<br />
Männerturnvereine nicht das nötige<br />
Entgegenkommen finden, selbständige<br />
Frauenturnvereine gründen<br />
werden.<br />
Dieses Szenario klingt wie eine<br />
Drohung, dann doch schon besser<br />
eine von Männern kontrollierte<br />
Abteilung im Männerturnverein.<br />
L. Schützer: An die Aufnahme der<br />
Damen (in die Frauenabteilung)<br />
sollten sich außer der Bestimmung<br />
über das Turnkleid besondere Bedingungen<br />
nicht knüpfen. Jede anständige<br />
Dame ist willkommen. …<br />
Eine Abstimmung braucht nicht zu<br />
erfolgen. Wer soll auch abstimmen?<br />
Wenn der Vorstand des Vereins, beziehungsweise<br />
der Leiter des Frauenturnens<br />
die Dame kennt und sie ist<br />
brav, so wird sie sowieso aufgenommen;<br />
wenn er sie kennt und sie ist<br />
nicht brav, so kommt sie vermutlich<br />
gar nicht. Ist sie aber unbekannt, so<br />
wird sie aufgenommen, auch wenn<br />
sie nicht brav ist, denn wer sollte<br />
und könnte sie zurückweisen?<br />
Und zum Alter der Turnerinnen: Das Alter unserer Turnerinnen schwankt zwischen 15<br />
und 40 Jahren, genau kann ich es nicht angeben, denn unsere Damen werden nicht nach dem<br />
Alter gefragt. Das aber weiß ich, daß Frauen bis zu 50 Jahren friedlich und vergnügt mit den<br />
anderen zusammen turnen.<br />
41
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Auch über die Stellung der Frauen im Verein hat er klare Vorstellungen: Umsichtige<br />
Vereinsleiter werden annehmbaren Wünschen der Turnerinnen gern gerecht werden; ihnen<br />
wirkliche Mitgliedsrechte, Sitz und Stimme, wie man zu sagen pflegt, einzuräumen, daran<br />
wird wohl kein Verein denken, denn bekanntlich ist es schwer, die Damen „unter einen Hut<br />
zu bringen“. Aber die Interessen der Turnerinnen müssen in den Vorstandssitzungen des Vereins<br />
vertreten werden, und zwar von Männern, die mit ganzer Seele für die Weiterentwicklung des<br />
Damenturnens eintreten.<br />
Ganz wichtig war den Männern im Vorstand die Entscheidung über Schnitt, Stoff und<br />
Farbe der geeigneten einheitlichen Turnkleider: Ein zweckmäßiges Turnkleid ist also deshalb<br />
unbedingt nötig, weil es die Gesundheit fördert, weil es billiger ist, und weil es die nötige Bewegungsfreiheit<br />
gestattet. Dazu gehört natürlich, daß die Damen ohne Korsett turnen. … Wenn<br />
man die Damen doch erst einmal davon überzeugen könnte, wie unschön, wie häßlich sie das<br />
Korsett macht. Oder meinen sie, es sei schön, wenn man fortwährend die Formen des Stahlpanzers<br />
vor sich sieht, die auch das Kleid nicht verbergen können? Nein das ist nicht schön, das<br />
ist abstoßend. Wie lange wird es noch dauern, ehe diese Erkenntnis sich Bahn bricht? … Das<br />
Kleid muß so eingerichtet sein, daß es nicht auf der Straße angezogen werden kann. Dies wird<br />
erreicht, wenn es nicht der zeitweiligen Mode entsprechend gearbeitet ist, wenn es die nötige<br />
Kürze hat, und wenn es außerdem noch etwas auffällig besetzt wird.<br />
Als praktisch erwies sich ein dunkelblaues, kürzeres Turnkleid mit<br />
gleichfarbenem Unterrock und gleichfarbiger oder weißer Bluse mit<br />
Matrosenkragen. Schwarze Schuhe und schwarze, lange Strümpfe<br />
komplettierten das Gesamtbild. Es gab auch Turnkleider in Hängerform<br />
mit Gürtel, dazu gehörten unbedingt über den Knien<br />
geschlossene weite Beinkleider in gleicher Farbe.<br />
In Vereinen, in denen schon Frauenabteilungen bestanden,<br />
durften die Turnerinnen nur bei zugezogenen Vorhängen<br />
in Turnhallen oder kleinen Sälen üben und ihr Können nur bei<br />
Veranstaltungen im eigenen Verein zeigen.<br />
Beim 8. Deutschen Turnfest 1894 in Breslau gab es eine<br />
Neuerung. Zum ersten Mal wurde den Turnerinnen des Alten<br />
Turnvereins Breslau von 1858 gestattet, bei einem Deutschen<br />
Turnfest aufzutreten. 50 Frauen hatten den Mut, Hantel- und<br />
Geräteübungen zu zeigen. Die Reaktionen der Turnbrüder<br />
waren unterschiedlich, allerdings überwog die<br />
kritische, ablehnende Haltung. 1898 durften<br />
beim 9. Deutschen Turnfest in Hamburg die<br />
42
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Turnerinnen zwar auch nur im Schauturnen auftreten, doch zum<br />
ersten Mal war es Frauengruppen, die nicht aus der Turnfeststadt<br />
kamen, erlaubt mitzumachen. 1.000 Teilnehmerinnen hinterließen<br />
einen starken Eindruck. Jedoch kam es bei diesem Schauturnen<br />
zu einem Eklat. Die Breslauer Damenriege turnte am Barren<br />
Schrauben und Spreizen. Entsetzt schrieb darüber eine sonst<br />
fortschrittlich eingestellte Martha Thurm: Entartetes weibliches<br />
Männerturnen … geradezu unschicklich wurde es durch das bei den<br />
Übungen vorkommende Auf- und Überschlagen, Einklemmen und<br />
pralle Anliegen der Kleider … dafür eignen sich nur Beinkleider,<br />
aber das ist ausgeschlossen! – und sie ergänzte ihre vernichtende<br />
Kritik: Weiß-rot gestreifter, etwas kürzerer Flanellrock, gleichfarbige<br />
Bluse und Beinkleider, schwarze Strümpfe und Schuhe – der hässliche<br />
Eindruck der Übungen wurde dadurch noch verstärkt.<br />
August Hermann entsetzte sich 1899 in der Deutschen Turnzeitung: Da muß man mit<br />
Entsetzen und Schmerz turnende Frauenabteilungen sehen, welche im Gerätturnen die weibliche<br />
Scham, die Sittsamkeit und den Anstand in unverantwortlicher Weise verletzen … weg mit<br />
allen Übungen welche Mädchen erheblich über ihre eigene Körpergröße vom Boden entfernen,<br />
und weg mit allen Übungen, bei denen eine Kleidung notwendig wird, die sich der Turntracht<br />
des männlichen Geschlechts ähnlich gestalten muß. Die Ethik verlangt, daß keine Turnübung<br />
gewählt wird, welche die weibliche Schicklichkeit und den Sinn für Wohlanständigkeit verletzt.<br />
Beim 10. Deutschen Turnfest 1903 in Nürnberg wurden die auswärtigen Turnerinnen<br />
von der Mitwirkung ausgeschlossen, nur Nürnberger Turnerinnen durften auftreten. Nach<br />
der Meinung des Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft Dr. Ferdinand Goetz sollte<br />
man nicht ... Frauen in die Öffentlichkeit zerren und sie auf Turnfesten herumreisen lassen. ...<br />
Zu diesem Thema gibt es in Schützers „Die Turnerin“ einen bemerkenswerten Abschnitt:<br />
In richtiger Erwägung der vielen Schwierigkeiten, die eine allgemeine Beteiligung der Turnerinnen<br />
an den deutschen Turnfesten mit sich bringen würde, hat man es abgelehnt auswärtige<br />
Turnerinnen zum Turnen zuzulassen. Und das mit Recht, möge es immer so bleiben, denn die<br />
deutschen Turnfeste sind schon so übermäßig groß geworden, daß sie eine Erweiterung nicht<br />
vertragen. Man sollte sie im Gegenteil durch Beschränkung der Vorführungen verkleinern. …<br />
Daß die Turnerinnen auch das Bedürfnis haben sich zu turnerischer Tätigkeit in größeren Verbänden<br />
zusammen zu finden ist wohl verständlich. Und warum sollte dies nicht möglich sein?<br />
Vielleicht macht man einmal den Versuch in einzelnen Gauen ein Frauengauturnfest abzuhalten.<br />
Ich würde mit Freuden bereit sein mit zu helfen, wenn es gewünscht wird.<br />
1908 wurde beim 11. Deutschen Turnfest in Frankfurt den Frauen des Gaus Turnerschaft<br />
Frankfurt nur am letzten Tag des Turnfestes Zeit für ihre Stabübungen gewährt,<br />
43
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
während sich die Turnfestteilnehmer schon zum Höhepunkt des Festes, der Siegerehrung,<br />
versammelten.<br />
Den Durchbruch für das Frauenturnen gab es 1913 beim 12. Deutschen Turnfest in<br />
Leipzig. Gegen viele Widerstände im Vorfeld bekamen die Frauen in Leipzig einen Platz<br />
am Hauptfesttag, dem Sonntag, eingeräumt. Sie durften ihre Freiübungen direkt im Anschluss<br />
an den Höhepunkt der Veranstaltung, die Massenfreiübungen von 17.000 Turnern,<br />
zeigen. Im Vergleich zu den 62.572 Turnern, die in Leipzig teilnahmen, wirkte die<br />
Zahl von 1.200 Turnerinnen sehr bescheiden. Doch vor hundert Jahren war damit ein<br />
bedeutsamer Anfang gemacht.<br />
War es den Frauen bis dahin nur gestattet im Rock mit gleichfarbiger Hose darunter<br />
zu turnen, zeigten sie sich in Leipzig in weiten Pumphosen. Zum Turnfest wurden auch<br />
eine Briefmarke und Postkarten herausgegeben, die Frauen in dieser Turnkleidung zeigten.<br />
Damit wurde das Turnen der Frauen so stark in die Öffentlichkeit gerückt wie nie zuvor.<br />
Nach wie vor aber entbrannten bei den wenigen öffentlichen Auftritten der Turnerinnen<br />
die Auseinandersetzungen über die richtige Art des Frauenturnens. Es bildeten sich<br />
zwei Hauptmeinungen heraus: Die einen waren Verfechter des „kernigen“, des bewährten<br />
Männerturnens, für Frauen etwas modifiziert mit den Ziel der Ertüchtigung der Frauen<br />
durch Steigerung von Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer und Mut. Dazu gehörte auch,<br />
dass die Turnerinnen an Reck und Barren turnen sollten.<br />
Die andere Richtung bevorzugte das weiche, gefühlsbetonte Frauenturnen mit Anmut<br />
und Grazie, zu dem die spezielle Tanzform des Reigens<br />
zählte. Hermann Paul beschrieb 1911 in der<br />
Deutschen Turnzeitung diese Richtung als Turnsystem,<br />
in welchem die spezifischen weiblichen Charaktereigenschaften<br />
der deutschen Frau, Hingebung,<br />
Treue, Aufopferung, Bescheidenheit, Fleiß, Gründlichkeit<br />
unter höchstmöglichen Schönheitsformen zum<br />
Ausdruck kommen.<br />
Vor hundert Jahren wurde also der Grundstein<br />
gelegt für die Aufspaltung in Frauen(gerät)turnen<br />
und Frauengymnastik, heute zwei fast völlig getrennte<br />
Turnbereiche.<br />
Die Bestrebungen der Frauen nach Mitspracherecht<br />
und vollen Mitgliedsrechten in Turnvereinen<br />
und Verbänden scheiterten in der Zeit vor dem Ersten<br />
Weltkrieg am Widerstand der Männer. Nach<br />
44
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
dem Ersten Weltkrieg wurde alles anders. Viele Turner<br />
hatten nicht überlebt. Die Frauen entwickelten in den<br />
schwierigen Zeiten ein ganz neues Selbstwertgefühl. Beim<br />
ersten Turnfest nach dem Krieg 1923 in München gab es<br />
eigene Wettkämpfe für Frauen. 1927 wurde in der Deutschen<br />
Turnerschaft ein Frauenbeirat eingesetzt, dem ausschließlich<br />
Frauen angehörten, und 1929 wurde mit Els<br />
Schröder erstmals eine Frau zum Turnwart für die Frauen<br />
gewählt.<br />
In den vielen kleinen Vereinen, die sich Anfang<br />
des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland<br />
gegründet hatten, begannen Frauen in den 20er-<br />
Jahren zu turnen. Doch hier waren die Verhältnisse<br />
anders als in den großen Traditionsvereinen mit<br />
eigenen Hallen. Geturnt wurde in Sälen von Gaststätten,<br />
auf Wiesen, die zum Sportplatz umfunktioniert<br />
waren oder auch in ländlichen Höfen.<br />
Zu Beginn des Dritten Reiches gab es zuerst einen<br />
Aufschwung in den Vereinen, auch die Zahl der turnenden<br />
Frauen nahm deutlich zu. Doch in dem Maß, in dem<br />
die Politik in die Vereinsführungen eingriff und die Teilnahme<br />
an Hitlerjugend, Jungmädel, BdM, Arbeitsdienst<br />
und Militär immer größere Bedeutung gewann, verloren<br />
die Vereine ihre Mitglieder und stellten vielfach den Betrieb<br />
noch vor Kriegsbeginn ein. Nach dem Krieg galt es<br />
den Wiederaufbau zu meistern. Hierbei hatten die Frauen<br />
großen Anteil. Mit Beginn des Wirtschaftswunders lebten<br />
auch die Turnvereine wieder auf. Dort, wo es Übungsleiter<br />
und -leiterinnen gab, setzte ein wahrer Boom ein.<br />
Seit der Wiedergründung des DTB in 1950 gibt es<br />
eine jährliche Statistik, die ein stetiges Wachstum der Mitgliederzahlen<br />
zeigt. Anfangs waren die Frauen noch in der<br />
Minderheit, doch sie holten von Jahr zu Jahr auf. 1968<br />
überholten sie die Männer. Eine Ursache war die Einführung<br />
reiner Gymnastikübungsstunden für Frauen. Auch<br />
verheiratete Frauen strömten nun vermehrt in die Turnhallen,<br />
was früher nicht allgemein üblich gewesen war.<br />
45
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Natürlich gab es auch keine strengen Kleidervorschriften mehr. Waren die Turnanzüge<br />
anfangs noch bieder, so wurde es in den 80er Jahren mit neuen Materialien möglich, eng<br />
anliegende, bunte Turnbekleidung zu tragen.<br />
Um den vielen neuen Frauengymnastikgruppen Übungsstoff und Anreiz zu bieten,<br />
wurde 1973 vom DTB das Deutsche Gymnastikabzeichen geschaffen. Es galt auch als<br />
Alternative zum Deutschen Sportabzeichen, weil viele Frauen das Sporttreiben in der Öffentlichkeit<br />
scheuten. Bis 1993 war das Deutsche Gymnastikabzeichen ein Erfolgsmodell.<br />
Doch mit dem Erstarken von Wettkampfgymnastik sowie Gymnastik und Tanz wurden<br />
die Anforderungen für das Deutsche Gymnastikabzeichen viel schwerer und es verlor an<br />
Akzeptanz. Die Gymnastik mit Handgeräten hat in vielen allgemeinen<br />
Frauenübungsstunden ausgedient, gefragt ist jetzt<br />
eine Gesundheits- und Fitnessgymnastik mit immer mehr<br />
Spezialprogrammen und zum Teil mit neuartigen, teuren<br />
Spezialgeräten.<br />
Insgesamt haben die Frauen in „ihrer Turngeschichte“<br />
gezeigt, dass sie fähig waren, sich weiter zu entwickeln.<br />
Zwar hat der Wandel der Zeiten für sie gearbeitet, darüber<br />
hinaus haben sie aber erkannt, wie wichtig für sie die aktive<br />
Teilnahme an gesundheitsorientierten Bewegungsangeboten<br />
ist. Und was ist mit den Männern? Vergleichsweise wenige finden<br />
den Zugang zu eigenen Turn- oder Fitness-Übungsstunden. Gravierend ist, dass von<br />
den meisten Schülern, Jugendlichen und Männern heute in Deutschland Gymnastik als<br />
„unmännlich“ abgetan wird. Es scheint, als habe die zweihundertjährige Geschichte seit<br />
<strong>Jahn</strong> ein Männerbild geprägt, das zumindest unterschwellig noch immer präsent ist und<br />
verhindert, dass eine zeitgemäße Neuorientierung stattfinden kann.<br />
Literatur:<br />
– <strong>Ludwig</strong> Schützer, Die Turnerin, 2. Auflage, 1910, Verlag Rudolf Lion, Hof<br />
– Meyers Großes Konversationslexikon, Band 19, 1908<br />
– Dr. Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin, 1911, Süddeutsches Verlagsinstitut<br />
Julius Müller<br />
– Herbert Neumann, Deutsche Turnfeste, 2. Auflage, 1987, Limpert Verlag, Wiesbaden<br />
– Gertrud Pfister, Frauen bei Turnfesten, Zum Wandel der Geschlechterordnung in der Turnbewegung,<br />
http://www.jahn-gesellschaft.de/texte/bibliothek/verfasserk/frauenbeiturnfesten.html<br />
– Ilse-Marie Weiß, Deutsches Gymnastikabzeichen, 2005, Hrg. Hessischer Turnverband<br />
– Festschrift: 100 Jahre TSV 05 Allendorf/Lahn, 2005<br />
46
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Vor 100 Jahren erschien die erste<br />
Gesamtausgabe der Briefe<br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />
Josef Ulfkotte<br />
Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges feierte die Deutsche Turnerschaft (DT) in<br />
Leipzig das bis dahin größte deutsche Turnfest. Im Leipziger Verlag von Paul Eberhardt erschien<br />
1913 auch die erste und bis heute umfassendste Gesamtausgabe der Briefe <strong>Friedrich</strong><br />
<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, „gesammelt und im Auftrage des Ausschusses der Deutschen Turnerschaft<br />
herausgegeben von Dr. Wolfgang Meyer in Hamburg“. Das „Handbuch des gesamten<br />
Turnwesens und der verwandten Leibesübungen“ von Rudolf Gasch (Wien und Leipzig<br />
1928, Bd. 1, S. 530-31) stellt uns Dr. Wolfgang Meyer als Oberschulrat in Hamburg vor,<br />
der 1867 in der Freien und Hansestadt Hamburg geboren wurde, in Tübingen und Leipzig<br />
alte Sprachen studierte und nach den erforderlichen Examina in den Schuldienst eintrat.<br />
Meyer war Vorturner in der Hamburger Turnerschaft von 1816 und seit 1918 Kreisvertreter<br />
des IV. Turnkreises „Norden“. Als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg brachte er es bis<br />
zum Bataillonskommandeur.<br />
Dem Vorwort zur ersten Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe ist zu entnehmen, dass Meyer<br />
„bis auf Kleinigkeiten“ alle Schreiben veröffentlicht hat, die er mit großem Sammeleifer<br />
im Laufe „vieler Jahre“ zusammengetragen hatte. Ihm lagen jedoch nur wenige Briefe im<br />
Original vor, vielmehr griff er auf Abschriften des <strong>Jahn</strong>forschers Carl Euler zurück und auf<br />
solche Stücke, die bereits zuvor in Fachzeitschriften wie der „Deutschen Turn-Zeitung“<br />
veröffentlicht worden waren. Die größte Sammlung von Abschriften, die Carl Euler hinterlassen<br />
hat, bewahrte nach Meyer seinerzeit das <strong>Jahn</strong>-Museum in Freyburg a. d.Unstrut<br />
auf. Meyer wollte Kenntnis davon erhalten haben, dass Eulers Nachlass nach Amerika<br />
verkauft wurde, „vielleicht unter der Bedingung, daß von allen Briefen Abschriften in<br />
Deutschland blieben.“<br />
Carl Euler, Unterrichtsdirigent der Königlichen Turnlehrerbildungsanstalt in Berlin,<br />
veröffentlichte 1881 eine quellengesättigte und bis heute grundlegende <strong>Jahn</strong>biografie und<br />
gab nur wenige Jahre später „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Werke“ neu heraus (Verlag von Rud.<br />
Lion, Hof 1884, 1885, 1887). Ob der Begründer der <strong>Jahn</strong>-Forschung wirklich noch die<br />
Absicht hatte, <strong>Jahn</strong>s Briefe herauszugeben – das nahm Meyer jedenfalls an – ist nicht belegt.<br />
Offenkundig hat Euler aber den Grundstein für eine Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe<br />
gelegt, die Meyer nach dem Tod Eulers am 15. September 1901 ernsthaft in Angriff nahm.<br />
47
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Die wichtigere Aufgabe sah Meyer allerdings zunächst darin, „<strong>Jahn</strong>s Entwicklungsgang<br />
in leicht verständlicher Weise auf dem Hintergrund einer Reihe von Zeitbildern<br />
darzustellen“. So veröffentlichte er 1904, im Alter von 37 Jahren, die Schrift<br />
„<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>. Ein Lebensbild aus großer Zeit“, die als Band 13 in der<br />
von Hans Vollmer begründeten und herausgegebenen Reihe „Sammlung belehrender<br />
Unterhaltungsschriften für die Deutsche Jugend“ erschien. Diese <strong>Jahn</strong> geradezu verklärende<br />
Schrift, die sein Leben bis 1815 behandelt, erschien 1913 in einer zweiten<br />
Auflage. Meyer verband mit der Neuauflage das Ziel, „Verständnis für jene herrliche<br />
Zeit zu erwecken, insbesondere die sittlichen und geistigen Kräfte aufzuzeigen, aus<br />
denen die große Befreiungstat geboren war“. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges<br />
stilisierte die nationaldeutsch ausgerichtete Deutsche Turnerschaft (DT) „ihren“ Nationalheros<br />
<strong>Jahn</strong> zu einem Symbol von nationaler Stärke, Macht und Überlegenheit.<br />
Da der Ausschuss der Deutschen Turnerschaft die Herausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe in<br />
Auftrag gegeben hatte, stand für Meyer von Anfang an fest, dass das Ergebnis seiner<br />
Arbeit sich in erster Linie an die Turner und ihr Umfeld richtete, die sich zukünftig<br />
um so intensiver mit dem Leben, den Wünschen und Hoffnungen ihres Idols<br />
beschäftigen konnten. Er verzichtete deshalb bei der Wiedergabe der Briefe auf die<br />
originale Schreibweise und glich die Orthographie der Vorlagen der damals eingeführten<br />
neuen Rechtschreibung an. Den zahlreichen Personennamen, insbesondere<br />
der Turner, biographische Erläuterungen beizufügen, hielt er für unnötig. Um dem<br />
Leser die Orientierung zu erleichtern, gliederte er <strong>Jahn</strong>s Leben in 13 Abschnitte und<br />
ordnete diesen Lebensabschnitten die entsprechenden Briefe <strong>Jahn</strong>s in chronologischer<br />
Reihenfolge zu. Jedem dieser 13 Abschnitte stellte er eine „allgemein unterrichtende<br />
Einleitung“ voran, die das Verständnis der Briefe erleichtern und zugleich die Anzahl<br />
der Anmerkungen einschränken sollte. In der allgemeinen Einleitung charakterisiert<br />
Meyer den Briefschreiber <strong>Jahn</strong>, seinen Stil und die Besonderheiten seiner Sprache.<br />
Ein Verzeichnis der Personen beschließt die erste Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>briefe, die<br />
letztlich 583 Druckseiten einnimmt. Dass sich Meyer dieser Herausforderung gestellt<br />
und beharrlich an der Verwirklichung des Vorhabens gearbeitet hat, ist ohne Zweifel<br />
ein großes Verdienst.<br />
Mit <strong>Jahn</strong>s Briefen hat sich Meyer auch in späteren Jahren noch beschäftigt. Im<br />
Dresdener Limpert-Verlag gab er 1930 als Band 5 der Reihe „Quellenbücher der<br />
Leibesübungen“ „Die Briefe F. L. <strong>Jahn</strong>s“ heraus. Diese Sammlung enthält einige<br />
<strong>Jahn</strong>briefe, die inzwischen bekannt geworden und in Fachzeitschriften veröffentlicht<br />
worden waren, allerdings fehlen auch 166 Briefe, die in der ersten Ausgabe von 1913<br />
noch enthalten waren. Von einer neuen Gesamtausgabe der <strong>Jahn</strong>-Briefe kann also bei<br />
der Limpert-Ausgabe keine Rede sein, eher von einer Studienausgabe, die den Studierenden<br />
der Leibesübungen einen raschen Zugang zu <strong>Jahn</strong> eröffnen sollte.<br />
48
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Weitere <strong>Jahn</strong>-Briefe publizierte Meyer im 19<strong>36</strong> erschienenen 1. Teil seiner „Geschichte<br />
des Turnwesens im Gau Nordmark der deutschen Turnerschaft“ und 1939 in der Zeitschrift<br />
„Volk und Leibesübung“. Seitdem sind weitere <strong>Jahn</strong>-Briefe bekannt geworden, so<br />
dass Walter Haase im Rahmen seiner 1979 bei Prof. Dr. Hans Langenfeld an der Universität<br />
Münster abgeschlossenen Examensarbeit „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s Briefe als sporthistorische<br />
Quelle“ auf insgesamt 583 <strong>Jahn</strong>briefe zurückgreifen konnte.<br />
Wenn Meyer feststellte, dass der „einzige jahrelang treu geführte Briefwechsel“ <strong>Jahn</strong>s<br />
der mit dem Geheimen Sekretär im preußischen Innenministerium Alexander August<br />
Mützell sei, so irrte er, denn er kannte offenkundig den Briefwechsel der Eheleute <strong>Jahn</strong><br />
mit dem Berliner Turnlehrer Wilhelm Lübeck nicht, der 1835 begann und nach <strong>Jahn</strong>s<br />
Tod im Jahre 1852 von seiner Witwe Emilie bis 1876 weitergeführt wurde. Die Briefe an<br />
Lübeck, die bis Ende 1843 geschrieben wurden, hat <strong>Friedrich</strong> Quehl der Öffentlichkeit in<br />
seiner 1918 erschienenen Edition „Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>“ zugänglich gemacht.<br />
Sämtliche Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> und Emilie <strong>Jahn</strong> an Lübeck, die in der Zentralund<br />
Landesbibliothek Berlin aufbewahrt werden, enthält die 2010 vom Verfasser besorgte<br />
Sammlung „Briefe von <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> und Emilie <strong>Jahn</strong> an Wilhelm Lübeck. 1835 –<br />
1876.“ Die Herausgabe dieser Briefe war zugleich ein Zwischenschritt zur Neuausgabe der<br />
Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, die seit einigen Jahren vorbereitet wird.<br />
Neuausgabe der Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />
Immer wieder tauchen Schriftstücke auf,<br />
die der <strong>Jahn</strong>-Forschung bisher unbekannt waren.<br />
Es wäre schön, wenn das Beispiel Manfred<br />
Nippes (<strong>Jahn</strong>-Brief an Häßler) Schule machen<br />
würde: Es ist davon auszugehen, dass noch weitere<br />
Briefe des „Turnvaters“ in Vereinsarchiven<br />
aufbewahrt werden oder in Privatbesitz sind,<br />
die in der geplanten Neuausgabe der <strong>Jahn</strong>briefe<br />
berücksichtigt werden sollten. Für diesen<br />
Zweck reicht eine Kopie aus, über die sich die<br />
<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> (Bearbeiter: Dr. Josef Ulfkotte,<br />
J. Ulfkotte@t-online.de) sehr freuen<br />
würde.<br />
49
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Unterschätzt und zu wenig bekannt:<br />
<strong>Jahn</strong>s „Bereicherung des Hochdeutschen<br />
Sprachschatzes“ (1806)<br />
Hanna Weibye<br />
Im Sommer 1806 erschien zu Leipzig eine sprachwissenschaftliche Schrift: Bereicherung<br />
des Hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft. In einer<br />
Rezension äußerte sich Christoph Meiners, Professor an der Universität Göttingen,<br />
recht positiv dazu: Seit langer Zeit habe ihn der erste Versuch eines jungen Gelehrten<br />
nicht so angenehm überrascht als der gegenwärtige. Er fügte am Ende hinzu, daß, „wenn<br />
es in seiner Macht wäre, er dem hoffnungsvollen jungen Mann mit dem größten Vergnügen<br />
eine Lage schaffen würde, wo derselbe seinem Lieblingsstudio nachhängen, und das<br />
wieder herstellen oder ergänzen könnte, was unsere berühmtesten Sprachforscher verdreht,<br />
oder unvollendet gelassen haben.“<br />
Autor dieser rund hundert Seiten umfassenden Schrift war kein anderer als J. F. L. Ch.<br />
<strong>Jahn</strong>, damals nicht ganz 28 Jahre alt. Er hoffte, sich mit diesem Versuch eine akademische<br />
Laufbahn zu schaffen. Leider wurde seine Bereicherung von den Zeitumständen überrollt,<br />
denn im Oktober desselben Jahres erlitt die Preußische Armee bei Jena und Auerstedt<br />
die bekannt katastrophale Niederlage, und weder <strong>Jahn</strong> noch seine Schrift waren danach<br />
imstande, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt zu wecken. <strong>Jahn</strong>s frühe Schrift<br />
über die deutsche Sprache geriet in Vergessenheit, ist noch heute wenig erwähnt und<br />
wurde nie gründlich erforscht, mit der Folge, dass die geläufige Vorstellung von <strong>Jahn</strong>s<br />
sprachwissenschaftlicher Tätigkeit sich auf die Erfindung des Turnwortschatzes und seine<br />
antifranzösischen Bemühungen um die Sprachreinigung beschränkt. Eine Untersuchung<br />
seiner Bereicherung aber, wie auch der Umstände ihrer Entstehung, eröffnet eine wertvolle<br />
Perspektive auf die Ideenwelt und die wissenschaftlichen Ambitionen des jungen <strong>Jahn</strong>:<br />
lange bevor er daran dachte, der „Turnvater“ oder der Nationalpolitiker zu werden.<br />
Kurz zur Vorgeschichte: <strong>Jahn</strong> hat 1796 bis 1800 in Halle studiert, 1800 bis 1802<br />
in Jena und Frankfurt/Oder verbracht, dann war er 1802 bis 1803 in Greifswald<br />
immatrikuliert. Von Greifswald relegiert gab er zeitweilig das Studium auf, um zwei Jahre<br />
lang als Hauslehrer in Mecklenburg zu leben, wo er unter anderem seine spätere Frau<br />
kennenlernte. Während dieser Hauslehrertätigkeit fing er an, Bereicherung des Hochdeutschen<br />
Sprachschatzes zu schreiben, und im Oktober 1805 begab er sich nach Göttingen,<br />
damals vielleicht die angesehenste Universität in Deutschland, um dort die große Bibliothek<br />
50
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
bei Anfertigung der Schrift zu benutzen. Es schien, als ob sich <strong>Jahn</strong> nach langjährigem<br />
Schwanken endlich für eine Karriere entschieden hatte, und zwar als Akademiker.<br />
Es überrascht uns nicht, dass<br />
Bereicherung des Hochdeutschen<br />
Sprachschatzes sich auch bewusst<br />
und recht treffend mit moderner<br />
Sprachtheorie befasst. <strong>Jahn</strong><br />
mischte sich in eine laufende<br />
Debatte um das Wesen der Allgemeinsprache<br />
ein, und zwar<br />
mit der Absicht, den deutschen<br />
Wortschatz zu erweitern und bewusster<br />
zu machen. Sein Werk ist<br />
als lexikografischer Beitrag angelegt<br />
und zielt auf den berühmten<br />
Wörterbuchverfasser Johann<br />
Christoph Adelung, der das<br />
umfangreiche Lexikon Versuch<br />
eines vollständigen grammatischkritischen<br />
Wörterbuchs der hochdeutschen<br />
Mundart herausbrachte<br />
(1774 – 1786 in sechs Bänden,<br />
zweite Ausgabe 1793 – 1801).<br />
Er nimmt außerdem Bezug auf<br />
Johann August Eberhards Versuch<br />
einer allgemeinen deutschen<br />
Synomynik der sinnverwandten<br />
Wörter der hochdeutschen Mundart<br />
(1802, sechs Bände).<br />
Das <strong>Jahn</strong>sche Werk ist lexikografisch gestaltet: Den Kern bilden 58 Gruppen von<br />
Synonymen (‚Neue Sammlung von Sinnverwandtschaften‘), die vergleichend definiert<br />
und über bis zu vier Seiten hinweg erläutert werden. Zuvor führt <strong>Jahn</strong> in der Einleitung<br />
auf immerhin zehn Seiten 104 bei Eberhard fehlende Sinnverwandtschaften auf, und er<br />
listet 141 einzelne Wörter auf, die aus seiner Sicht fehlen und die er den Eberhardschen<br />
Sinnverwandtschaften zuordnet.<br />
Das Werk fängt mit einer langen Einführung an, die <strong>Jahn</strong>s Stellungnahme zu Adelung<br />
und zu allgemeinen Fragen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft erhellt. Zunächst er-<br />
51
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
klärt er seine Vorstellung von der deutschen Sprache im Bezug zu Adelung. Wie viele<br />
seiner Zeitgenossen lobt er das Adelungsche Wörterbuch, lehnt aber Adelungs Version<br />
von der Entstehung des Hochdeutschen entschieden ab. Die hochdeutsche Sprache, die<br />
Adelung in seinem Wörterbuch gesammelt und beschrieben hat, war <strong>Jahn</strong> zufolge die<br />
Sprache der gebildeten und angesehenen Oberklassen (kurz: die Hofsprache) in Meißen,<br />
Obersachsen. Diese Variante sei das reinste und schönste Hochdeutsch gewesen und habe<br />
allen als Beispiel und Modell des erhabenen Sprachgebrauchs dienen sollen. Im Gegensatz<br />
zu Adelung versteht <strong>Jahn</strong> unter Hochsprache nicht einen einzelnen, durch günstige<br />
geschichtliche Umstände zur vorrangigen Stellung gekommenen Dialekt, sondern eine<br />
über-dialektale Standardsprache, eine Allgemeinsprache. Um diese Auffassung zu begründen,<br />
präsentiert er seine eigene Geschichte der Entstehung des Hochdeutschen, die mit<br />
der politischen Einheit des mittelalterlichen Deutschen Reiches begonnen habe.<br />
<strong>Jahn</strong> zufolge entstand eine Art überregionale Gesamtsprache bereits unter den Eliten<br />
des Reichs, die stets zwischen Turnieren, Hoftagen und dem kaiserlichen Hof reisen<br />
mussten. Luthers Bibelübersetzung habe dann aus dieser Sprache ein Ganzes von großer<br />
Schönheit und Würde geschaffen, das dem gemeinen Volk auch dadurch näher kam,<br />
dass es als Kirchensprache verwendet wurde. Dieses lutherische Fundament hätten spätere<br />
Sprachreformer zum Hochdeutschen weiter ausgebaut.<br />
<strong>Jahn</strong> unterscheidet sich von Adelung also nicht nur in seinem historischen Verständnis<br />
der hochdeutschen Sprachentstehung, sondern auch in seiner Konzeption der Natur und<br />
Form einer Standardsprache im Allgemeinen. Das Adelungsche Wörterbuch beschreibt<br />
und kodifiziert in erster Linie einen literarischen Standard, eine Schriftsprache, die nur<br />
von Eliten als Medium mündlicher Kommunikation benutzt worden sei. <strong>Jahn</strong>, im Gegensatz<br />
dazu, versteht unter Hochdeutsch ein Medium der allgemeinen Kommunikation,<br />
sowohl mündlicher als auch schriftlicher, und zwar von jedem Mensch zu jedem Zweck<br />
benutzbar: „Die Muttersprache ist ein Gemeingut aller und jeder Glieder des Volks.“<br />
Dieser Auffassung, die wegweisend ist für das wachsende Interesse an einer Nationalsprache<br />
im frühen neunzehnten Jahrhundert, hat <strong>Jahn</strong> in Gestalt seiner Synonymik<br />
konkrete Form gegeben: Er beabsichtigte einen praktischen Beitrag zur Entwicklung<br />
dieser überregionalen, allgemein nützlichen Standardsprache. Diese Absicht ist in der<br />
Wahl seiner Sinnverwandtschaften erkennbar. Gewicht fällt überwiegend auf Begriffe,<br />
die mit der Landschaft und dem alltäglichen Leben zu tun haben: Es gibt Sinnverwandtschaften<br />
für Ackerbau, Kleidung, häusliche Gegenstände und Alltagsverrichtungen. Eine<br />
ideelle Absicht verfolgt er mit der Bevorzugung des ländlichen Wortschatzes: Indem er<br />
dem Hochdeutschen als alltäglicher Sprache eine größere Funktionsvielfalt geben wollte,<br />
musste er den Sprachschatz um Wörter aus dem nicht-elitären, nicht-städtischen Leben<br />
ergänzen.<br />
52
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Beispiele:<br />
Abdachung – Abhang – Lehne – Leite – Gesenke – Böschung<br />
Aussteuer – Ausstattung – Mitgift – Brautschatz – Heiratsgut<br />
belagern – berennen – sperren – einschließen<br />
Betrüger – Gauner – Schwindler – Hochstapler<br />
bisweilen – dann und wann – ab und an – mitunter – zuweilen<br />
einräumen – zugeben – zugestehen – eingestehen<br />
Knotenstock – Knüttel – Ziegenhainer – Prügel – Knüppel<br />
läuten – beiern – bimmeln<br />
Meerenge – Straße – Sund (mit „M“ endet seine Zusammenstellung)<br />
Es gibt verschiedene Quellen, aus denen die Zusätze herkommen, insbesondere Dialektwörter,<br />
Fremdwörter, Archaismen, auch Neuschöpfungen. Laut <strong>Jahn</strong> können die Dialekte<br />
herrliche Schätze für das Hochdeutsche beisteuern: „Kürze und Wohllaut würden<br />
viel gewinnen, wären die Eigenthümlichkeiten gewisser Gegenden allgemein bekannt,<br />
und hätte nicht ein unerträglicher Landschaftsstolz herrliche Schätze verwünscht“. <strong>Jahn</strong><br />
idealisiert die Dialekte nicht nach der Art des Volkspoesie-Trends um das Jahr 1800: Sein<br />
Werk befasst sich bewusst und gezielt mit der überregionalen Standardsprache. Er fordert<br />
auf zu der Bereitschaft, regionale Varianten in Betracht zu ziehen, wenn es um die Füllung<br />
der Leerstellen geht, die er sieht.<br />
Eine alternative Methode zur Lückenfüllung, das Ausleihen von fremden Wörtern,<br />
lehnt er (wie man erwarten konnte) ab, wenngleich hier kein Fremdenhass zu Tage tritt,<br />
wie das im Deutschen Volkstum der Fall ist. In Bereicherung gibt <strong>Jahn</strong> zu, dass er manchmal<br />
das Prinzip Deutlichkeit über das Prinzip Reinheit habe siegen lassen, und einige nichtdeutsche<br />
Wörter werden in den Sinnverwandtschaften ohne Kommentar aufgeführt.<br />
Aber wieso schrieb <strong>Jahn</strong> eine Synonymik und kein bloßes Wörterbuch? Eine Synonymik<br />
konzentriert sich, ihrer Natur gemäß, auf die Vielfalt: In dem Aufblättern der Bedeutungsvielfalt<br />
sieht sie nicht Verwirrung, sondern Reichtum. Indem sie die verschiedenen<br />
Bedeutungen der Wörter im Vergleich zueinander definiert, macht sie den Reichtum der<br />
Sprache überdeutlich.<br />
<strong>Jahn</strong> nimmt, wie wir gesehen haben, in seine Synonymik Begriffe aus einem breiten<br />
Spektrum gesellschaftlicher und kultureller Bereiche hinein und versteht sich als ‚Sammler<br />
dieser Nachlese‘: eine Metapher für seine Verfahrensweise, die die Wörter, so anspruchslos<br />
sie auch scheinen, als wertvolle Brosamen versteht. Er ist der Auffassung, eine Sprache<br />
sei reich, wenn sie verschiedene Bedeutungen zur Verfügung hat und wenn diese Be-<br />
53
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
deutungen nicht auf „erhabene“ Begriffe begrenzt werden. Nach seiner Vorstellung vom<br />
Hochdeutschen sind auch soziale und regionale Varianten zu berücksichtigen. „Was die<br />
allgemeine Umgangs-, Schrift- und Büchersprache (oder kürzer ausgedrückt das Hochdeutsche)<br />
schon unterscheidet, oder billiger Weise unterscheiden sollte; was im gemeinen<br />
Leben und Wandel vorkommt, das nur ist Gegenstand dieser Schrift“.<br />
Die Hauptfunktion der Sprache ist auch für <strong>Jahn</strong> die der Kommunikation. In seinem<br />
Deutschem Volkstum wird sie stärker in den Dienst der zeitgenössischen Bedürfnisse nach<br />
nationaler Kommunikation gestellt: Die Standardisierung einer Sprache ist wichtig, weil<br />
sie es allen Gliedern eines Volkes ermöglicht, miteinander zu sprechen, und weil sie dadurch<br />
die nationale Einheit (und damit die politische Kraft des Staates) stärkt. Mit seiner<br />
frühen Schrift Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes steuerte er kein vorrangig<br />
politisches Ziel an, wollte noch nicht agitieren oder polemisieren, sondern verfolgte wissenschaftliche<br />
und kulturelle Ziele.<br />
Wenn der Krieg von 1806 seine Pläne nicht gestört hätte, hätte er sich wohl im Oktober<br />
1806 wieder nach Göttingen begeben, um sich dort zum zweiten Mal zu immatrikulieren.<br />
Er hätte vielleicht endlich seinen Universitätsabschluss bekommen und sich<br />
eine akademische Laufbahn als Professor der deutschen Sprache und Geschichte schaffen<br />
können. Wir können das nicht abschätzen. Aber es lohnt sich, bei diesem frühen Werk zu<br />
verweilen. Es zeigt uns, dass er nicht von Beginn an dazu bestimmt war, der „Turnvater“<br />
oder der Verfechter der nationalen Einheit zu werden. 1806 war seine wirkungsmächtigste<br />
Zeit noch nicht gekommen.<br />
Literatur<br />
– Walter Dengler: Johann Christoph Adelungs Sprachkonzeption (Frankfurt a. M., 2003)<br />
– Carl Euler: <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>: Sein Leben und Wirken (Stuttgart, 1881)<br />
– Hans-Martin Gauger: Die Anfänge der Synonymik: Girard (1718) und Roubaud (1785): Ein<br />
Beitrag zur Geschichte der lexikalischen Semantik mit einer Auswahl aus den Synonymiken beider<br />
Autoren (Tübingen, 1973)<br />
– Helmut Henne: „Das Problem des Meissnischen Deutsch oder ‚Was ist Hochdeutsch‘ im<br />
18. Jahrhundert“, Zeitschrift für Mundartforschung 35, 2 (1968), 109-129<br />
– Günther <strong>Jahn</strong>: ‚Die Studentenzeit des Unitisten F. L. <strong>Jahn</strong> und ihre Bedeutung für die Vor- und<br />
Frühgeschichte der Burschenschaft 1796 – 1819‘ in: Christian Hünemörder und Günter Cerwinka<br />
(eds.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19.<br />
und 20. Jahrhundert (16 vols., Heidelberg, 1995), 15, 1-129<br />
– Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (3 vols.,<br />
Berlin/New York, 1994 – 2000)<br />
54
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Brasilien setzt auf Deutschland<br />
Klaus Arnold<br />
In London zu den Olympischen Spielen errang Arthur Nabarrete Zanetti aus Brasilien<br />
mit 15,900 die Goldmedaille an den Ringen deutlich vor dem Chinesen Chen Yibing<br />
mit 15,800. Auch bei früheren Pokalwettkämpfen, internationalen Turnieren, Weltmeisterschaften<br />
und Olympischen Spielen waren Turner aus Brasilien bereits erfolgreich und<br />
standen auf dem Treppchen oder erreichten Platzierungen. Alle diese Erfolge hier aufzuzählen<br />
würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, denn die Liste ist lang.<br />
Wie wird es dann 2016 aussehen, wenn die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro<br />
ausgetragen werden? Denn:„Olympische Spiele stellen heute das bedeutendste internationale<br />
Sportfest der Welt dar“ . Auch wenn dieses sportliche Großereignis nur an Städte<br />
und nicht an Länder vergeben wird, investieren diese viel in den Spitzensport und vordere<br />
Plätze in der Länderwertung bleiben nicht aus. Erfahrungswerte zeigen, dass in diesen<br />
Ländern ein enormer Leistungsaufschwung realisiert wird, der bisher nicht möglich war.<br />
Analysen und Ergebnisse vergangener Olympischer Spielen belegen, dass die ausrichtenden<br />
Länder in der Ergebnisliste vordere Plätze belegen oder aber wenigstens in der Rangfolge<br />
weiter vorn liegen als je zuvor. Man sollte dabei berücksichtigen: „Olympiateilnehmer<br />
sind objektiv auch Vertreter ihres Landes“<br />
Der Titel des Beitrages verrät, dass Deutschland für das Turnen in Brasilien einen<br />
nicht zu unterschätzenden Stellenwert hat. Der Beitrag von Evelise Amgarten Quitzau<br />
„Die Turnerschaft von 1890 in Sao Paulo (Brasilien) – <strong>Jahn</strong>report Dezember 2011 belegt,<br />
wie schon damals der Einfluss aus Deutschland für das Turnen dort war. Diese guten<br />
Beziehungen können wir bis in die heutige Zeit verfolgen. Im Internet war zu erfahren,<br />
dass im April des vergangenen Jahres in Rio de Janeiro ein Turnzentrum eröffnet wurde,<br />
welches von der Firma Spieth aus Deutschland nach modernsten Anforderungen für das<br />
Gerätturnens eingerichtet wurde.<br />
Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch, dass 1973 eine Weltauswahl<br />
der Turner 3 Wochen zu Schauturnen in Brasilien unterwegs war. Für dieses Jahr ist wieder<br />
eine Deutschlandtour in Brasilien geplant.<br />
Zu verweisen ist außerdem auf Turnbücher aus Deutschland, die in den 80er Jahren<br />
dort herausgegeben wurden (siehe Abbildung 1 und 2). Grundlage für diese beiden Veröffentlichungen<br />
waren Bücher aus Deutschland.<br />
55
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Der Sportverlag Berlin gab in den 70er Jahren<br />
eine Reihe Schülerbücher für verschiedene<br />
Sportarten heraus, die für den Anfängerbereich<br />
konzipiert waren. Sie erschienen für die Sportarten<br />
Volleyball, Fußball, Eislauf, Schlittensport,<br />
Judo, Radsport, Ringen, Gymnastik, Basketball,<br />
Skilauf, Sportschwimmen und Wasserspringen.<br />
Eines war gar der Trainingslehre gewidmet. In<br />
dieser Reihe erschienen auch 2 Bücher für das<br />
Gerätturnen. (siehe Abbildung 3 und 4)<br />
Abbildung 1 zeigt das Buch für Jungen –<br />
1983 herausgegeben.<br />
In der Abbildung 2 ist das für Mädchen zu<br />
sehen – 1984 herausgegeben.<br />
Heute sind diese Bücher freilich vergriffen.<br />
Auch antiquarisch ist es nicht leicht diese zu<br />
bekommen. Kostete ein Buch damals 5 Mark<br />
so müssen heute mehr als 8 € aufgebracht werden.<br />
Ergänzend muss noch ausgeführt werden,<br />
dass die Abbildungen in diesem Beitrag von den<br />
jeweils 2. Auflage stammen. Die ersten Auflagen<br />
– Mädchen 1976 und Jungen 1978 – waren<br />
noch mit realen Bildern auf dem Umschlag erschienen.<br />
Erst in der 2. – Mädchen und Jungen<br />
1981 – wurde auf diese stilisierten Abbildungen<br />
zugegriffen. Alle diese Editionen wurden in einer<br />
Auflagenhöhe von je 10.000 Exemplaren auf<br />
den Markt gebracht.<br />
Die brasilianischen Ausgaben wählen andere<br />
Titelbilder wie die Abbildungen zeigen. Inhaltlich<br />
wurde im turntechnischen Teil alles original<br />
übernommen. Die in den deutschen Ausgaben<br />
damals notwendigerweise enthaltenen gesellschaftlichen<br />
Einordnungen und Ausführungen<br />
blieben weg.<br />
Leider war es lange Zeit nicht gelungen die<br />
brasilianischen Veröffentlichungen zu erhalten.<br />
Die im Lizenzvertrag vereinbarte Lieferung<br />
von Belegexemplaren wurde nicht eingehalten.<br />
Selbst Bemühungen über Studierende der<br />
TU München, die Kontakt zu Studierenden in<br />
56
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Brasilien haben, gelang es nicht diese Bücher zu<br />
bekommen. Auch beim Aufenthalt des Autors<br />
in Brasilien im Jahre 2011 gelang es nicht über<br />
eine Germanistiklehrerin aus Sao Paulo und<br />
die Reiseleiterin in Rio de Janeiro – eine Deutsche<br />
– die Bücher zu erwerben. Offenbar sind<br />
diese dort ebenfalls vergriffen. Dank der oben<br />
erwähnten Autorin im <strong>Jahn</strong>report Frau Quitzau<br />
war es schließlich 2012 gelungen die in den Abbildungen<br />
gezeigten Bücher zu bekommen.<br />
In das gezeichnete Bild von den Beziehungen<br />
beider Länder passt auch die Meldung:<br />
<strong>2013</strong> wird als Deutsches Jahr deklariert.<br />
Schülersport „Gerätturnen für Jungen“ ist in<br />
der Abbildung 3 zu sehen.<br />
Die Abbildung 4 ist das Umschlagbild für<br />
Mädchen.<br />
Quellen und Literatur:<br />
– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Ginasica em<br />
Aparelhos Para Meninos. 1983<br />
– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Ginasica em<br />
Aparelhos Para Meninas. 1984<br />
– Klaus Arnold/Eberhard Zinke: Schülersport Gerätturnen<br />
für Jungen. Berlin 1981<br />
– Eberhard Zinke/Klaus Arnold: Schülersport Gerätturnen<br />
für Mädchen. Berlin 1981<br />
– Quitzau, Evelise Amgarten: Die Turnerschaft von<br />
1890 in Sao Paolo (Brasilien). In: <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong> 33.<br />
Ausgabe, Dezember 2011<br />
– gymmedia – Internetportal Artistic Gymnastics<br />
– Internet: Horst Röder: Olympische Spiele in London<br />
1908 – 1948 – 2012<br />
– Heinz Florian Oertel / Kristin Otto: Unser Olympiabuch<br />
London 2012, Das Neue Leben S. 230<br />
57
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Das Turnen in Argentinien lebt!<br />
Annette R. Hofmann<br />
Dass es in der Vergangenheit in einigen Ländern Südamerikas ein aktives deutsches<br />
Turnwesen gegeben hat, ist bekannt. Deutsche Auswanderer des 19. und 20. Jahrhunderts<br />
haben sich vor allem in Chile, Brasilien und Argentinien niedergelassen und dort in ihren<br />
„deutschen Kolonien“, in denen das Deutschtum mit seinen Traditionen und seiner Kultur<br />
gepflegt wurde, auch eine Turnbewegung aufgebaut. 1<br />
In Brasilien gehen einige der größten Sportclubs des Landes auf die Turner zurück,<br />
aber diese können heute nicht mehr als Turnvereine in unserem Sinne angesehen werden.<br />
Weder wird die Tradition des Turnens verfolgt, noch sind es Deutschstämmige, die diese<br />
Vereine leiten. Dies ist in Argentinien ganz anders. Bis heute gibt es dort ein florierendes<br />
Turnwesen, allerdings wurde dies bisher noch nicht historisch aufgearbeitet. Insbesondere<br />
in der Hauptstadt Buenos Aires existieren verschiedene aktive Turnvereine. Eine kleine<br />
Delegation argentinischer Turner besucht auch regelmäßig die Internationalen Deutschen<br />
Turnfeste, so ist auch in diesem Jahr wieder eine Gruppe zu erwarten.<br />
Ein beruflich bedingter Besuch deutscher Schulen in Buenos Aires im Frühsommer<br />
2012 hat mir nebenbei auch einen kleinen Einblick in die Turnvereine vor Ort verschafft.<br />
Dies war für mich nicht nur aus Sicht des DTB faszinierend, sondern auch aufgrund meiner<br />
wissenschaftlichen Tätigkeit. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit der amerikanischen<br />
Turnbewegung, so konnte ich in Argentinien immer wieder Vergleiche zu den USA ziehen.<br />
Im Folgenden möchte ich ein paar Eindrücke und Informationen weitergeben. Es handelt<br />
sich hierbei nicht um eine wissenschaftliche Aufarbeitung des argentinischen Turnwesens,<br />
eher um eine Anregung, dass sich jemand für diese – sicherlich interessante und<br />
faszinierende – Aufgabe findet.<br />
Deutsche Einwanderung und Vereine<br />
Laut Wikipedia Angaben stammen 90 Prozent der Argentinier von europäischen Vorfahren<br />
ab. Obwohl hiervon nur 3 – 4 Prozent deutschstämmig sind, ist festzustellen, dass<br />
1 Die Turnbewegung in einigen südamerikanischen Ländern ist in Teilen historisch aufgearbeitet.<br />
So hat sich zum Beispiel Lothar Wieser in seiner Dissertation intensiv mit der Geschichte der<br />
Turnvereine in Brasilien beschäftigt, ebenso setzen sich die beiden Brasilianer Leomar Tesche und<br />
Evelise Quitzau damit auseinander. <strong>Mai</strong>k Temme hat sich in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten<br />
Doktorarbeit dem Turnen in Chile gewidmet<br />
58
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
die deutsche Kultur mit einem eigenen Schul- und Vereinswesen in der Region um Buenos<br />
Aires nicht nur sichtbar, sondern auch aktiv ist. Das 2007 im Auftrag der deutschargentinischen<br />
Industrie- und Handelskammer herausgebrachte Buch Argentinische<br />
Vereinigungen deutschsprachigen Ursprungs macht auf über 700 Seiten – allerdings ist das<br />
Buch zweisprachig – Angaben zu den deutschen Schulen, Vereinen, religiösen Gemeinschaften,<br />
einigen Unternehmen und deutschsprachigen Medien. Aus dieser Auflistung<br />
ist zu entnehmen, dass es einen Dachverband aller deutschen Vereine, den „Verband der<br />
Deutsch Argentinischen Vereinigungen“ gibt und auch einen „Deutsch-Argentinischen<br />
Turn- und Sportverband“, dieser wurde kürzlich in Deutsch-Argentinischer Kultur- und<br />
Sportverband) umbenannt. Aufgefallen ist mir, dass die deutsche Sprache unter den<br />
Deutsch-Argentienern noch eine große Rolle spielt. Diese wurde zum Teil über Generationen<br />
hinweg an die Nachkommen weitergegeben.<br />
Auf die Schulen bezogen kann man sagen, dass allein in Buenos Aires ca. zehn mit<br />
Schwerpunkt auf die deutsche Sprache und Kultur existieren; über die „offizielle“ deutsche<br />
Schule hinaus, die in vielen Ländern in enger Zusammenarbeit mit den Deutschen<br />
Botschaften geführt werden. Dabei sind es sind nicht nur die Kinder deutschstämmiger<br />
Argentinier, die diese besuchen. 2<br />
Deutsche Turnvereine in Buenos Aires<br />
Der erste Eindruck, den die besuchten Turnvereine vermittelten, war, dass im Gegensatz<br />
zu den noch um die 50 existierenden Turnvereinen in den USA, deren Mitglieder zum Teil<br />
überaltert sind und sportliche Angebote oft fehlen (Hofmann, 1999), die Situation in Argentinien<br />
viel rosiger zu sein scheint. Dies kann zumindest über die in Buenos Aires bestehenden<br />
Turnvereine gesagt werden. Dies zeigt sich nicht nur am Alter der Vereinsmitglieder<br />
und der Vielzahl an sportlichen Angeboten, sondern auch darin, dass im Unterschied zu<br />
den USA, die Vereine keine Klein- und Kleinstvereine mit weniger als 100 Mitgliedern<br />
sind. Im Gegenteil, einige der Vereine weisen über 1.000 Mitglieder auf und sind als Großvereine<br />
anzusehen.<br />
Die Anzahl der deutschen Turnvereine in Argentinien kann ich nicht nennen. Die oben<br />
erwähnte Überblicksveröffentlichung führt zwölf Turn- und Sportvereine auf, darunter<br />
aber auch einen Reitverein, je einen österreichischen und einen schweizerischen Sportclub<br />
und Wassersportverein.<br />
2<br />
Der Kontakt zu diesen Schulen wird zum Teil auch mit deutschen Hochschulen über Praktika<br />
gepflegt. So ist zum Beispiel die Pädagogische Hochschule <strong>Ludwig</strong>sburg in Baden-Württemberg<br />
anzuführen, die jedes Jahr Lehramtsstudierende für ein mehrwöchiges Praktikum nach Buenos<br />
Aires schickt. Hier soll auch Prof. Hermann Gall, ehemaliger Präsident des Akademischen Turnbunde<br />
(1985 – 97), erwähnt werden. Auf ihn geht diese Zusammenarbeit zurück.<br />
59
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Einige, der in Buenos Aires angesiedelten Vereine, sollen hier anhand der Angaben und<br />
persönlichen Gespräche knapp vorgestellt werden, allerdings sind die Angaben uneinheitlich.<br />
Neuer Deutscher Turnverein<br />
(*1911, ursprünglich 1855 Deutsche Turnverein Buenos Aires).<br />
– Mitglieder: ca. 2.000<br />
– eigenes Schwimmbad<br />
– Sportangebot: Handball, Hockey, Volleyball, Prellball, Tennis, Leichtathletik, Schwimmen,<br />
Turnen, Gymnastik und Wassergymnastik<br />
– Ein Gelände von 16 Hektar<br />
Deutscher Turnverein Villa Ballester (*1924)<br />
– Mitglieder: ca. 3.000<br />
– 87.000m² Grundfläche, unterhält die zweitgrößte Sporthalle Argentiniens<br />
– Sportangebote: Geräteturnen, Gymnastik, Leichtathletik, Schwimmen, Handball,<br />
Faustball, Fußball, andere Ballspiele, Fitnesscenter, 12 Tennisplätze, Abnahme deutsches<br />
Sportabzeichen<br />
Deutscher Turnverein Lomas des Zamora (*1944)<br />
jetzt: Deutscher Turnverein Almirante Brown 3<br />
– Ca. 1.500 Mitglieder<br />
– Zwei Schwimmbecken, Sportplatz, 2 Sporthallen, 9 Tennisplätze, 3 Hockeyplätze<br />
Leichtathletikplatz, Faustball- und Fußballplätze<br />
– Gelände von 18 Hektar<br />
Deutscher Turn- und Sportverein Quilmes<br />
(*1923, ursprünglich Turnverein der Deutschen Schule in Quilmes)<br />
– Mitglieder: Ca. 1.200<br />
– Sportplatz („<strong>Jahn</strong>heide“), Sporthalle, Tennisplätze, Sportheim, Kegelbahnen, Hockeyfeld,<br />
Mehrzweck-Sporthalle, Schwimmbecken<br />
– Sportangebote: Handball, Hockey, Leichtathletik, Kegeln<br />
Schwäbischer Sport- und Turnverein Piñeyro (*1931)<br />
– Gründung durch Donauschwaben, Kegeln und gesellige Angebote stehen im Vordergrund<br />
3<br />
Dieser Verein wurde als Deutscher Turnverein Lomas de Zamora gegründet, musste sich aber<br />
durch Druck der Behörden umbenennen.<br />
60
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Die Turnvereine sind als Mehrspartenvereine zu bezeichnen mit einem breiten<br />
Spektrum an Sportangeboten. Aus turnerischer Sicht ist vor allem auch das Angebot an<br />
Turnspielen wie Faustball und Prellball erwähnenswert.<br />
Die mit Vertretern aus den Turnvereinen geführten Gespräche machten deutlich, dass<br />
sehr viele von ihnen eng mit den deutschen Schulen in Buenos Aires zusammenarbeiten.<br />
Häufig werden die Vereinssportanlagen für den Sportunterricht der Schulen oder größere<br />
Sportveranstaltungen genutzt.<br />
Eine große Veranstaltung an der die Vereine und deutsche Schulen zusammenarbeiten<br />
ist die Durchführung des jährlich im Oktober ausgetragenen „Fest der Jugend“. 4 Es<br />
handelt sich um einen Sporttag mit um die 5.000 Teilnehmern an dem eine Art Bundesjugendspiele,<br />
Sportaufführungen und Spiele durchgeführt werden. Die Ausführung dieses<br />
Sporttages wird stark mit Carl Diem in Verbindung gebracht. Den Namen des deutschen<br />
Sportfunktionärs findet man häufig auf Urkunden in den Vereinsgebäuden. Während in<br />
Deutschland nur noch wenige wissen, wer Carl Diem war, so scheint der deutsche Sportfunktionär<br />
in den argentinischen Turnerkreisen noch ein Begriff zu sein. Die aktuell in<br />
Deutschland geführte Diskussion um seine Persönlichkeit ist nicht bis nach Argentinien<br />
durchgedrungen.<br />
Beim Betreten der Sportanlagen und Gebäude der Vereine stößt man auf viele traditionelle<br />
Turnersymbole. Dass man an den Turnhallen die 4f findet, versteht sich von selbst,<br />
darüber hinaus sind aber auch zahlreiche deutsche Sprüche an den Wänden, auf deutsch<br />
verfasste Urkunden, etc. interessant, und dass zum Beispiel der Turnverein noch an den<br />
rot-weißen Farben der deutschen Kaiserzeit festhält.<br />
Die Turnvereine in Buenos Aires zeichnen sich durchweg durch eine unerwartet hohe<br />
Mitgliederzahl aus. Diese sind von ihrer ethnischen Zusammensetzung bunt gemischt und<br />
nicht nur deutschstämmig. Die Vereine weisen durchweg eigene Sportgebäude und zum<br />
4 In der Zeitschrift Globus, die sich deutschen Kulturbeziehungen im Ausland annimmt, wurde ein<br />
Beitrag über „Das Fest der Jugend“ abgedruckt. (4/2012).<br />
61
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Teil auch Schwimmbäder mit beeindruckenden Außenanlagen<br />
auf, die nicht selten auch Tennisplätze, Freibad und<br />
Fußballfelder umfassen. Allerdings sieht man deutlich, dass<br />
sämtliche Vereine und Sportstätten schon einmal bessere Zeiten<br />
gesehen und ihre Blüte hinter sich gelassen haben. Trotz<br />
der hohen Mitgliederzahlen fehlen die Finanzen zur Aufrechterhaltung<br />
und Sanierung. Viele Sportstätten sind marode, das Material<br />
sehr häufig alt. Als deutsche Besucherin wundert man sich,<br />
dass diese Geräte überhaupt noch genutzt werden. Leider fehlt es an<br />
Geld, und Versuche über das Ausland an gebrauchte Sportgeräte zu<br />
kommen sind bisher nicht gelungen, da die derzeitige argentinische Regierung<br />
die Einfuhr internationaler Güter – egal ob neu oder gebraucht<br />
– sehr stark reguliert und einschränkt.<br />
Es ist schade zu zusehen, wie hier ein Stück deutsche Kultur, das sich über ein Jahrhundert<br />
erhalten hat, weniger aufgrund mangelnden Interesses, sondern aufgrund mangelnder<br />
Finanzkraft nach und nach verschwindet. Wäre es nicht auch ein Anreiz für die <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
hier eine Kooperation aufzubauen, um vielleicht ein Stück<br />
Turngeschichte im Ausland aufrecht zu erhalten? In Argentinien wäre dies noch möglich,<br />
anders als in den USA, wo man fast jährlich zuschauen kann, wie die Gesamtmitgliederzahl<br />
der rund 50 noch bestehenden Turnvereine nach und nach zusammenschrumpft.<br />
Schon jetzt umfassen sie nur noch ca. 12.000 Turner und Turnerinnen.<br />
Ausgewählte Literaturempfehlungen zur Vertiefung<br />
– Falkenberg, L. (2012). Miteinander statt gegeneinander. Globus 4, 20-21.<br />
– Hofmann, Annette (2001). Aufstieg und Niedergang des Deutschen Turnens in den USA. Schorndorf:<br />
Hofmann.<br />
– Hofmann, Annette & Krüger, Michael (Hrsg.) (2004). Südwestdeutsche Turner in der Emigration.<br />
Schorndorf: Hofmann.<br />
– Lege, Klaus-Wilhelm (Editor) (2007). Argentinische Vereinigungen deutschsprachigen Ursprungs:<br />
Ein Beitrag zur sozialen Verantwortung. Buenos Aires: Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer.<br />
Eigenverlag.<br />
– Temme, <strong>Mai</strong>k (2000). Die deutsche Turnbewegung in Chile 1852 – 1945. Würzgburg.<br />
– Tesche, Leomar (2002). O Turnen, a Educação e a Educação Física nas Escolas Teuto-Brasileiras, no<br />
Rio Grande do Sul: 1852 – 1940. Ijuí: Eotore Unijuí.<br />
– Tesche. Leomar (Hrsg.) (2011). Turnen. Transformações de uma cultura corporal europeaia na<br />
américa. Ijuí: Editora Uniju.<br />
– Wieser, Lothar(1990). Deutsches Turnen in Brasilien. Deutsche Auswanderung und die Entwicklung<br />
des deutsch-brasilianischen Turnwesens bis zum Jahre 1917. Göttingen: Arena Publications Limited.<br />
62
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Kurzberichte<br />
Neuigkeiten über die online-gestützte <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />
Um den Service für wissenschaftliches Arbeiten zum Forschungsgegenstand <strong>Friedrich</strong><br />
<strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> zu „modernisieren“, stand noch 2012 die Vision einer online-gestützten, internationalen<br />
<strong>Jahn</strong>-Bibliographie. Aus dieser Vision ist eine konkrete Projektbeschreibung<br />
hervorgegangen, über die dieser Bericht weiter informieren möchte (siehe dazu auch den<br />
Bericht im letzten <strong>Jahn</strong>-<strong>Report</strong>, S. 40/41).<br />
Die bibliographische Zielsetzung des Projekts stellt die erste Herausforderung dar. Anhand<br />
einer Musterstudie, die eine Verarbeitung der Schriften des 19. Jahrhunderts von und<br />
über <strong>Jahn</strong> vorsieht, soll eine Strukturierung zunächst erprobt und dann verbindlich festgelegt<br />
werden. Die Bibliographie, die mit der Literaturverwaltungssoftware CITAVI angelegt<br />
wird, erhält eine Gliederung, um dem Nutzer eine erste Orientierung zu ermöglichen. Die<br />
Gliederung wächst mit der Anlegung der Literaturangaben in der Musterstudie. Jeder Titel<br />
erhält zunächst eine verbindliche Zuordnung zu den vier Kategorien Primär-/Sekundärliteratur,<br />
Gattung, Thema und politische Epochen der deutschen Geschichte.<br />
Allein diesen ersten Schritt konnten die bisherigen <strong>Jahn</strong>-Bibliographien aus dem<br />
Bibliotheksregal nicht leisten. Des Weiteren bestimmt der Titel quasi seine präzisere Einordnung<br />
in eine oder mehrere Subkategorien. Beispielsweise kann die Kategorie „Thema“<br />
die Subkategorien „Politisches“ und „Biographisches“, aber auch „<strong>Jahn</strong>-Denkmäler“ und<br />
„<strong>Jahn</strong>-Museum“ haben. Dies ist allerdings nur die Strukturierung, die seitens der Arbeitsgruppe<br />
<strong>Jahn</strong>-Bibliographie vorgesehen ist. Ergänzt wird dies zusätzlich durch die Vorgaben<br />
der Eingabemaske von CITAVI, die die Angabe von beispielsweise Erscheinungsort und<br />
–jahr, Verlag und Seitenzahl verlangt. Der Nutzer kann so nach ganz bestimmten Kriterien<br />
suchen, solche auch zügig kombinieren und somit seine Quellen- und Literaturrecherchen<br />
individualisieren.<br />
Bei bibliographisch erfassten Quellen und Belegen stellt sich grundsätzlich die Frage<br />
nach der Unterscheidung von wissenschaftlich relevanten und nicht wissenschaftlichen bzw.<br />
nicht wissenschaftlich relevanten Quellen und Texten. Am Beispiel der <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />
kann dies exemplarisch gezeigt und mit dem Ziel geprüft werden, allgemeinere Kriterien<br />
zur Lösung dieses Problems zu definieren. Zum Abschluss der Musterstudie soll eine Gliederung<br />
vorliegen, an der sich die Anlegung der übrigen Jahrgänge orientiert.<br />
Eine weitere Herausforderung der Projektbearbeitung ist die Materialerhebung. Dazu<br />
sind zwei Schritte zu nennen. Zum einen wird bei der Auswertung von Fachliteratur,<br />
63
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Bibliographien, diverser Verzeichnissen und Katalogen „klassisch“ vorgegangen, zum anderen<br />
werden online-Datenbanken genutzt. Dabei wird insbesondere auch die internationale<br />
<strong>Jahn</strong>-Literatur erfasst, indem moderne, internationale Bibliothekssysteme und Datenbanken<br />
genutzt werden. Dies ist bisher in keiner <strong>Jahn</strong>-Bibliographie geschehen und stellt in der<br />
Sportwissenschaft generell ein Desiderat dar. Hier ist insbesondere auf die Turner-Archive<br />
in den USA zu verweisen: Ruth Lilly Special Collection & Archives der Indiana University<br />
Purdue in Indianapolis, Max Kade Center for German-American Studies der Kansas University<br />
(Unterlagen des traditionsreichen New Yorker Turnvereins und anderer deutscher<br />
Turnvereine in den USA).<br />
Ziel des <strong>Jahn</strong>-Bibliographie-Projekts ist es auch, diese Bestände mit zu berücksichtigen<br />
und somit eine international vernetzte <strong>Jahn</strong>- und in einem möglichen weiteren Schritt Turner-Bibliographie<br />
zu erstellen. Außerdem ist auf die <strong>Jahn</strong>-Forschung in Japan hinzuweisen.<br />
Eine dritte Herausforderung ist die technische Umsetzung des Projekts. Diese erfolgt in<br />
Absprache mit den Kooperationspartnern, dem „Bundesinstitut für Sportwissenschaft“ und<br />
der „Deutschen Sporthochschule“. CITAVI ist mit SpoLit kompatibel und die Bibliographie<br />
kann als externes Projekt mit dieser Datenbank verknüpft werden. Es erfolgt zusätzlich<br />
eine Verschlagwortung der im Projekt angelegten Angaben, um zielgenaues Suchen zu<br />
ermöglichen. Außerdem soll die Bibliographie auf dem Hochschul-Server der Deutschen<br />
Sporthochschule implementiert und bereitgestellt werden. Eine mit technischen Mitteln<br />
umgesetzte online-Bibliographie macht es möglich, diese stetig weiterzuentwickeln, deshalb<br />
soll das zunächst abgeschlossene Projekt nach inhaltlichen und methodischen Fragestellungen<br />
ausgewertet werden, um diese Erkenntnisse in die weitere Ausgestaltung einfließen zu<br />
lassen.<br />
Um den Begriff der „Vision“ erneut aufzugreifen: Es geht bei dieser modernen <strong>Jahn</strong>-<br />
Bibliographie nicht zuletzt auch um die Formulierung möglicher Anschlussprojekte. Die<br />
Vision besteht darin, eine Onlineplattform mit „e-living-references“ zu schaffen, wie es in<br />
der Fachsprache heißt. Die bibliographisch erfassten Titel sowie wissenschaftliche Kommentare<br />
und Beiträge können ständig eingearbeitet und aktualisiert werden. Sie werden von<br />
einem zu schaffenden Expertenbeirat („peer-review“) überprüft und unterstützt. Es sollen<br />
sich <strong>Jahn</strong>-Interessierte aus aller Welt angesprochen fühlen, durch Hinweise auf noch nicht<br />
erfasste Titel und Beiträge zum „Turnvater“ an der Weiterentwicklung der <strong>Jahn</strong>-Bibliographie<br />
mitzuwirken und somit den Service für die <strong>Jahn</strong>-Forschung noch weiter zu verbessern.<br />
Die neue <strong>Jahn</strong>-Bibliographie von Florian Mayer entsteht derzeit am Institut für Sportwissenschaft<br />
der Universität Münster, Arbeitsbereich Sportpädagogik/Sportgeschichte, Leitung: Prof.<br />
Dr. Michael Krüger, Mitarbeit: Dr. Josef Ulfkotte.<br />
Florian Mayer<br />
64
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ in Wien<br />
Brückenschlag DTB – ÖTB gefestigt<br />
Eine Veranstaltung mit bemerkenswerter Außenwirkung fand Ende März im Haus des<br />
Wiener Akademischen Turnvereins (Mitglied der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>) statt. Hier wurde, erstmals<br />
in Österreich, die DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ gezeigt, und nach der Eröffnung<br />
gab es ein kurzes Symposium zu turngeschichtlichen Fragen.<br />
Dieses Projekt stieß auf erstaunliche Resonanz. Rund 40 Interessierte erschienen. Referent<br />
war unter anderen der neu gewählte Bundesobmann des Österreichischen Turnerbundes<br />
(ÖTB), Karl Kolar (Linz). Seitens des Deutschen Turner-Bundes (DTB) war Gerd<br />
Steins, der Turnhistoriker aus Berlin, der die Ausstellung fürs Deutsche Turnfest 2009 in<br />
Frankfurt „gemacht“ hatte, nach Wien gekommen. Er führte in die Ausstellung ein, die<br />
zum zehnten Male gezeigt wurde. Hansgeorg Kling (Kassel), Präsident der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>,<br />
referierte über <strong>Jahn</strong>s Bemühungen um die deutsche Sprache.<br />
In der Diskussion wurde ein weiter Bogen geschlagen: von <strong>Jahn</strong>, seinen Bemühungen<br />
um die deutsche Sprache und seiner Erfindung der vier „F“ als Turn-Zeichen bis zu heutigen<br />
Fragen der Verwendung von Zeichen, Logos, Piktogrammen, Formeln, Symbolen, Marken<br />
und Ritualen. Karl Kolar steuerte seine Betrachtungen über das ÖTB-Markenzeichen bei,<br />
ging auch auf die Diskussion um ein moderneres Zeichen im ÖTB-Landesverband Oberösterreich<br />
ein und setzte dies in Beziehung zu den Erkennungsmerkmalen des ÖTB und seiner<br />
Vereine (Brauchtum, Tracht, Volkstanzen, Sonnwendfeier, Wimpelwettstreit, Turn 10).<br />
Insgesamt wurde es auch in der Diskussion der drei Referate als reizvoll eingestuft, sich<br />
mit diesem Thema zu beschäftigen: Der Einsatz von Sprache und Zeichen sei im Zusam-<br />
Auf dem „Podium“ (von links): Hansgeorg Kling, Karl Kolar, Erich Danneberg, Gerd Steins<br />
65
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
menhang zu sehen, wenn es darum geht, zu informieren, zu kommunizieren, andere zu<br />
überzeugen oder zu beeinflussen; insgesamt: wirksam tätig zu sein: Umberto Eco, der auch<br />
als Romanautor bekannt ist, macht deutlich, dass Sprache und Zeichen sehr gezielt eingesetzt<br />
werden, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, er sieht den Menschen als „symbolisches<br />
Wesen“ (Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte,<br />
Suhrkamp 1977).<br />
Mit der DTB-Ausstellung und dem Rundgespräch wurde zugleich der Brückenschlag<br />
zwischen dem DTB und dem ÖTB gefestigt: Bei der Formulierung der künftigen Aufgaben<br />
der Turnverbände (Blickrichtung auf die Dienstleisterfunktion, die sie für ihre Vereine<br />
haben) werden sie wohl in Zukunft enger zusammenarbeiten und sich vor allem bei<br />
Führungskräfte-Seminaren austauschen.<br />
Hansgeorg Kling<br />
ZITAT<br />
„Die Veranstaltung des Wiener Akademischen Turnvereins war gut besucht, hätte<br />
aber vom Gehalt her gesehen einen noch viel größeren Zuspruch verdient. … Aus<br />
den Vorträgen und der Ausstellung habe ich mitgenommen, dass die Wahrung<br />
der Identität und das schnörkellose Beibehalten einer Marke wesentlich für das<br />
Selbstverständnis und die Orientierung eines Verbandes sind. Eine Anpassung und<br />
Überarbeitung … muss gezielt und professionell erfolgen. Dabei gilt es den Geist<br />
zu wahren und den Auftritt zu stärken.“<br />
(Karl Kolar)<br />
Recht umtriebig ist Gerd Steins (Berlin) in diesen<br />
Monaten. Der Turnhistoriker sorgte sich zunächst<br />
um die Drucklegung des Katalogs der DTB-Ausstellung<br />
„Turn-Zeichen“, die er anlässlich des letzten<br />
Deutschen Turnfestes in Frankfurt zusammengestellt<br />
hatte (der Katalog ist jetzt zu beziehen für fünf Euro),<br />
sprach Ende März zu deren Eröffnung in Wien, wird<br />
Mitte Juni in Lanz bei Lenzen das dortige 15. <strong>Jahn</strong>-<br />
Kolloquium leiten und bereitet in diesen Wochen die<br />
Sonderausstellung „<strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> im Wandel<br />
seiner Porträts“ vor, die Mitte August im <strong>Jahn</strong>-<br />
Museum in Freyburg eröffnet wird.<br />
66
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
ANKÜNDIGUNG<br />
XV. Lanzer <strong>Jahn</strong>-Kolloquium<br />
im Rahmen des Prignitz-Sommer <strong>2013</strong><br />
Von der Turnfahrt zum Wandertag<br />
Samstag, 15. Juni <strong>2013</strong>, 16.30 Uhr:<br />
Landgasthof Paesler<br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-Straße 13<br />
19309 Lanz bei Lenzen/Elbe<br />
Tel./Fax: 038780-7302<br />
Leitung des Kolloquiums: Gerd Steins, Berlin<br />
Tel.: 030-3 05 83 00 / 2 29 44 15 • Fax 030-3 05 83 40 • <strong>Mai</strong>l: gestefos@t-online.de<br />
Die Teilnahme am Kolloquium ist gebührenfrei. Das Kolloquium wird ermöglicht durch<br />
die Kunst- und Kulturfesttage „Prignitz-Sommer | Landkreis Prignitz“.<br />
Buchbesprechungen<br />
Der Katalog zur DTB-Ausstellung „Turn-Zeichen“ (siehe S. 68!)<br />
Für die Ausstellung „Turn-Zeichen“, die Gerd Steins (Berlin) zum Deutschen Turnfest<br />
2009 in Frankfurt erstellte und die in der Paulskirche zum ersten Mal gezeigt wurde, liegt<br />
jetzt auch der Ausstellungskatalog vor. Er umfasst auf 52 Seiten nicht nur die Ausstellungstafeln<br />
mit ausführlichen Erläuterungen, sondern auch zusätzliche Informationen wie einen<br />
Überblick über die Entwicklung der vier „F“ von Gerd Steins und einen dreiseitigen Beitrag<br />
über das Banner der Deutschen Turnerschaft von Ingo Peschel; dazu ein umfassendes Literaturverzeichnis.<br />
Der Katalog, herausgegeben vom Forum für Sportgeschichte (Berlin) und von der <strong>Jahn</strong>-<br />
<strong>Gesellschaft</strong>, zugleich Band 17 der Sporthistorischen Blätter, wird gegen eine Schutzgebühr<br />
von fünf Euro abgegeben und kann bei der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> (Freyburg) bestellt werden.<br />
Hansgeorg Kling<br />
67
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
„Wir lernten einsehen, daß unser Glück nicht im Vielbesizzen besteht,<br />
sondern in der Genügsamkeit, im weisen Gebrauch des Erworbenen,<br />
und im frohen Streben nach erreichbaren Geistern“<br />
Ein Eintrag F. L. <strong>Jahn</strong>s in das Stammbuch des (späteren) Superintendenten Karl <strong>Friedrich</strong><br />
Ferdinand Tiebel.<br />
Im Jahre 1994 veröffentlichte Günther <strong>Jahn</strong> das Stammbuch <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s. 1<br />
Das „Album Amicorum“ enthält 60 Blätter aus Halle, Jena, Greifswald und Göttingen<br />
mit Eintragungen aus <strong>Jahn</strong>s Studentenzeit von 1798 bis 1806. Nach dem eher unrühmlichen<br />
Ende seiner Schullaufbahn am Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin hatte<br />
<strong>Jahn</strong> auf Wunsch seines Vaters 1796 an der Universität Halle als „Examinandus“ das<br />
Studium der Theologie aufgenommen. Zwei Jahre später trat er in Halle dem geheimen<br />
Studentenorden der Unitisten bei, für dessen Belange er sich fortan engagierte.<br />
Unter den Studenten war es damals Brauch, sich das Andenken an die Studienfreunde<br />
für die Zukunft durch eine Eintragung in das Stammbuch („Buch der Freundschaft“) zu<br />
bewahren. Diese Eintragung bestand in der Regel aus einem handschriftlichen Gruß, angereichert<br />
mit einem nach Möglichkeit selbst verfassten Gedicht oder einem anderen literarischen<br />
Text. Häufig wird ein Lebensmotto eingetragen. Studenten, die wie <strong>Jahn</strong> einem<br />
geheimen Orden angehörten, erfanden eine Vielzahl von verklausulierten Symbolen und<br />
Zeichen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu „ihrem“ Orden bestätigten. Nicht fehlen<br />
durften der Eintrag des Namens und des Datums. Genannt wird zumeist auch die Fakultät,<br />
an der der Einträger studiert sowie der Ort seiner Herkunft. Darüber hinaus enthalten<br />
viele Stammbücher kolorierte Federzeichnungen mit Ansichten der jeweiligen Universität<br />
bzw. einer oder gar mehreren Szenen aus dem Studentenleben. Solche Zeichnungen sind<br />
allerdings in <strong>Jahn</strong>s Stammbuch nicht zu finden, wohl aber im Stammbuch von Karl <strong>Friedrich</strong><br />
Ferdinand Tiebel (1778 – 1835), das vom Münchener Buch- und Kunstauktionshaus<br />
ZISSKA & SCHAUER kürzlich für 5.500 Euro an das Wiener Antiquariat Inlibris veräußert<br />
wurde. Mit ein Grund dafür, dass der Verkaufspreis 2.500 Euro über dem Schätzpreis<br />
von 3000 Euro lag, könnte der Hinweis gewesen sein, dass der „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> darin<br />
einen sechsseitigen Eintrag hinterlassen habe, der zugleich Einblicke in die bislang wenig<br />
bekannte frühe Studienzeit <strong>Jahn</strong>s gewähre.<br />
Tiebels Stammbuch enthält etwa 200 Eintragungen aus Halle, Lenzen (Prignitz),<br />
Magdeburg, Kloster Berge bei Magdeburg, Hillersleben u. a. aus den Jahren 1795 bis ca.<br />
1<br />
Günther <strong>Jahn</strong>: Die Stammbuchblätter <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s (1778 – 1852). Eintragungen aus der<br />
Studienzeit 1798 – 1806. In: Einst und Jetzt, Bd. 39 (1994), S. 87-141.<br />
69
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
1800, ist damit also deutlich umfangreicher als das Stammbuch <strong>Jahn</strong>s. Im Stammbuch<br />
<strong>Jahn</strong>s taucht Tiebel übrigens nicht auf. <strong>Jahn</strong>s Vater Alexander war Pfarrer in Lanz in der<br />
Westprignitz, dem Geburtsort <strong>Jahn</strong>s. Der Vater von Tiebel, Christian <strong>Friedrich</strong> (1738 –<br />
1809), war etwa zur gleichen Zeit Prediger im Nachbarort Lenzen. Die Familien <strong>Jahn</strong><br />
und Tiebel verband offenbar eine lebenslange Freundschaft, die Söhne sind miteinander<br />
aufgewachsen und verbrachten zumindest einen Teil ihrer Studienzeit miteinander. Die<br />
Verbindung zwischen <strong>Jahn</strong> und Karl <strong>Friedrich</strong> Ferdinand Tiebel brach auch nach dem<br />
endgültigen Scheitern von <strong>Jahn</strong>s überlanger Hochschulzeit nicht ab, mehrfach wird Tiebels<br />
Name in Briefen an <strong>Jahn</strong> zwischen 1807 und 1810 genannt. 2 Offenbar waren die<br />
beiden Familien sogar recht nah miteinander verwandt, denn <strong>Jahn</strong> schrieb am 30. August<br />
1816 in einem Brief an den Konsistorialrat v. Türk: „Superintendent Tiebel von Nauen<br />
ist ein naher Anverwandter von mir, und was mehr gilt als Blutsverwandtschaft, mein<br />
Jugendfreund von hohen Schulen her.“ 3<br />
Über den Eintrag <strong>Jahn</strong>s in das Stammbuch Tiebel ist dem Verkaufskatalog des Münchener<br />
Buch- und Auktionshauses zu entnehmen, dass er gemeinsam mit den Einträgen<br />
anderer Hallenser Studenten eine besondere Stammbuch-Abteilung bildet. <strong>Jahn</strong>s Eintrag<br />
vom 24. August 1798 („Halle d. 24ten des August 1798“), eingeleitet mit einem Zitat<br />
des Schriftstellers und Theologen von Kosegarten, betont die enge Freundschaft mit Tiebel<br />
und bietet dann eine „Erinnerung an unser akademisches Leben“, die im Juni 1797<br />
einsetzt. Darin berichtet <strong>Jahn</strong> über gemeinsame Wanderungen um den Giebichenstein<br />
bei Halle, erwähnt auch eine „Kaninchenhöhle“, die heute als „<strong>Jahn</strong>höhle“ bekannt ist.<br />
Auf zweieinhalb Stammbuchseiten fasst <strong>Jahn</strong> dann gemeinsame Reiseerlebnisse zusammen,<br />
eine „kleine Fahrt zum Petersberg“, eine Reise nach Thüringen vom 20. bis 27.<br />
August 1797, einen Besuch in Eisleben mit Besichtigung des Lutherhauses sowie eine<br />
Harzwanderung. In seinem Bericht über die Thüringenreise erwähnt er auch Goethe in<br />
Anspielung auf dessen in diesem Jahr erfolgte Anstellung als Bibliothekar an der Bibliothek<br />
der Herzogin Anna Amalia („Goethe spielt Großhaus Weimar“). <strong>Jahn</strong> schließt seinen<br />
Freundschaftseintrag mit den Zeilen: „In Wahrheit lieber Tiebel, wir können sagen, wir<br />
LEBTEN in Halle. Ohne Reideburg, den Tempel der Roheit, und hunnische Sauffeste<br />
lebten wir glücklich, ohne verderbliche Verbindungen hatten wir Freunde. – Wir lernten<br />
einsehen, daß unser Glück nicht im Vielbesizzen besteht, sondern in der Genügsamkeit,<br />
im weisen Gebrauch des Erworbenen, und im frohen Streben nach erreichbaren Geistern.<br />
Ewig Dein Freund <strong>Jahn</strong>.“<br />
2 Vgl. Hans-Joachim Bartmuß/Eberhard Kunze/Josef Ulfkotte (Hrsg.): „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> und sein patriotisches<br />
Umfeld. Briefe und Dokumente 1806 – 1812, Böhlau Verlag Köln-Weimar-Wien 2008, S.<br />
32, <strong>36</strong>, 57, 59, 62, 81f., 84, 86, 90.<br />
3 Zit. nach Wolfgang Meyer: Die Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, Leipzig 1913, S. 86.<br />
70
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>Jahn</strong>s Vater Alexander <strong>Friedrich</strong>, seine Mutter Dorothea Sophie (geb. Schultze) und<br />
eine Cousine Tiebels mit Namen E. <strong>Jahn</strong> haben sich ebenfalls in Tiebels Stammbuch<br />
eingetragen und zwar alle unter „Lanz, den 26. April 1798“, also etwa vier Monate früher<br />
als <strong>Jahn</strong>.<br />
Mehr ist über <strong>Jahn</strong>s Eintrag nicht zu erfahren, viel mehr auch nicht über das Stammbuch<br />
Tiebel insgesamt – von der Beschreibung des Erhaltungszustandes etc. abgesehen.<br />
Studentische Stammbücher sind beliebte Sammlerobjekte, und bekanntlich sind Sammler<br />
durchaus bereit, für ein besonderes Exemplar einen astronomisch anmutenden Preis zu<br />
zahlen. Das scheint im Fall von Tiebels Stammbuch so zu sein, jedenfalls hat das Wiener<br />
Antiquariat Inlibris dessen Wiederverkaufswert auf 18.000 Euro festgesetzt (s. www.inlibris.at;<br />
Stand: 5. 8. 2012).<br />
Josef Ulfkotte<br />
Neues <strong>Jahn</strong>-Denkmal in Neusiedl / Zaya<br />
Ganz selten noch entstanden in den letzten Jahrzehnten<br />
<strong>Jahn</strong>-Denkmäler. Eines der letzten und sicherlich<br />
das neuste ist das in Neusiedl an der Zaya<br />
(Niederösterreich). Der dortige ÖTB-Turnverein<br />
hat es Ende 2009 anlässlich seiner Julfeier enthüllt.<br />
Es ist 1 x 1 m groß und in Sicherheits-Verbundglas<br />
ausgeführt.<br />
Hans-Joachim Bartmuß und Josef Ulfkotte<br />
Nach dem Turnverbot: „Turnvater“ <strong>Jahn</strong> zwischen 1819 und 1852<br />
Nach den zehn „Berliner Jahren“ (1809–1819), seiner wir-<br />
kungsmächtigsten Zeit, geriet <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> aus dem<br />
Blickfeld der Öffentlichkeit. Die eindrucksvolle neue Arbeit von<br />
Bartmuß und Ulfkotte gibt streckenweise völlig neue Einblicke<br />
in die zweite Lebenshälfte <strong>Jahn</strong>s.<br />
Hans-Joachim Bartmuß und Josef Ulfkotte: Nach dem Turnverbot:<br />
„Turnvater“ <strong>Jahn</strong> zwischen 1819 und 1852. Böhlau Verlag<br />
(Wien-Köln-Weimar) 2011, 283 Seiten, 39,90 Euro. ISBN 978-<br />
3-412-20734-2.<br />
71
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
NOTIZEN<br />
Zwei Präsidien verabredeten eine enge Zusammenarbeit:<br />
Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft von Sportmuseen,<br />
Sportarchiven und Sportsammlungen e. V. (DAGS) wird im<br />
Herbst 2014 ihre Jahrestagung in Freyburg/Unstrut durchführen.<br />
Als Ausrichter und Gastgeber fungiert die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Das vereinbarten die beiden Präsidenten, der Historiker<br />
Stefan Grus M.A. (seit 1998 Leiter von Archiv und<br />
Bibliothek des Deutschen Schützenbundes, Wiesbaden, seit<br />
2004 Leiter des Deutschen Schützenmuseums auf Schloss<br />
Callenberg, Coburg) und Hansgeorg Kling, der Präsident<br />
der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Die <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong> trauert um Klaus<br />
Köste, den so erfolgreichen Turner und Olympiasieger von<br />
1972, der seit 1994 unser treues Mitglied war. Er starb am<br />
14. Dezember 2012, kurz vor seinem 70. Geburtstag, an<br />
Herzversagen. Seine erfrischende Art, mit der er zum jährlich<br />
stattfindenden <strong>Jahn</strong>-Turnfest in Freyburg den „Turnvater“<br />
zum Leben erweckte, wird fehlen. Bei der Trauerfeier in Leipzig<br />
versammelten sich mehrere hundert Freunde zu seinem<br />
Gedenken.<br />
Das tut er sich immer einmal wieder an: Im April<br />
startete Rainer Brechtken, Jahrgang 1945, seit 2000<br />
Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB), zu<br />
einem Halbmarathon in Portugal (der Start ein Geschenk<br />
zu seiner Verabschiedung aus dem Präsidium<br />
des Schwäbischen Turnerbundes). Den schaffte er in<br />
knapp zweieinhalb Stunden und wäre viel schneller gewesen,<br />
wenn er nicht schon nach 4 km in einen Sturz<br />
verwickelt worden wäre (Folge: aufgeschlagene Knie).<br />
Am 16. August dieses Jahres wird er in Freyburg zu Beginn<br />
der Mitgliederversammlung der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
zu uns sprechen.<br />
72
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Ein unverwüstlicher und treuer Turnbruder ist unser Mitglied<br />
Wilhelm Pappert (Flörsheim) auch in seinem 74. Lebensjahr.<br />
Ende April leistete er wie fast jede Woche seinen ehrenamtlichen<br />
Dienst beim DTB an der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise 8,<br />
jetzt zum 930. Male seit 1995: als derjenige, der die Bibliothek<br />
des DTB pflegt und der turngeschichtliche Fragen aus dem fünf-<br />
Millionen-Mitglieder-Verband beantwortet.<br />
Auf offene Ohren stieß das Anliegen der <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>,<br />
mit dem Landessportbund Sachsen-Anhalt enger zusammenzuarbeiten.<br />
Bei einem Gespräch mit dessen Vorstandsvorsitzendem<br />
Dr. Lutz Bengsch in Halle vereinbarten beide Seiten eine Folge<br />
von sportgeschichtlichen Beiträgen im Magazin „Sport in Sachsen-Anhalt“<br />
sowie die Behandlung von überfachlichen Fragen bei<br />
der Tagung der Präsidenten der 14 Kreis- und Stadtsportbünde<br />
Anfang September in Osterburg.<br />
Bianka Hüller (Halle), Jahrgang 1955, Diplomlehrerein für<br />
Russisch und Englisch, Gründungsmitglied des Landesturnverbands<br />
Sachsen-Anhalt (1990), ist seit demselben Jahr die hauptamtliche<br />
Geschäftsführerin ihres von Gudrun Steinbach (Leipzig)<br />
geleiteten Landesturnverbandes. Seit 1992 ist sie die Hauptverantwortliche<br />
für die Vorbereitung und Durchführung des jährlichen<br />
<strong>Jahn</strong>-Turnfestes in Freyburg/Unstrut. Die <strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong><br />
bedankt sich bei ihr für die stets gute Zusammenarbeit.<br />
Prof. Dr. Hans-Joachim Bartmuß, von<br />
1994 bis 2004 Vorsitzender des <strong>Jahn</strong>-Fördervereins<br />
(des Vorgängers der jetzigen <strong>Jahn</strong>-<br />
<strong>Gesellschaft</strong>), seit 2004 Ehrenpräsident der<br />
<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>, hält am 27. September<br />
<strong>2013</strong>, 17 Uhr, im Leipziger Theater der jungen<br />
Welt den Vortrag „Turnvater <strong>Jahn</strong> und<br />
die Befreiungskriege“. Das Foto zeigt ihn<br />
mit Dr. Josef Ulfkotte (rechts).<br />
73
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
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<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> JAHN<br />
REPORT<br />
Das sind unsere Autoren<br />
Dr. Klaus Arnold, Jahrgang 19<strong>36</strong>, Diplom-<br />
Sportlehrer und Skilehrer, von 1961 bis 1993 Lehrkraft<br />
an der DHfK in Leipzig für Gerätturnen, Didaktik<br />
des Schulsports und beim Internationalen<br />
Trainerlehrgang, zahlreiche Buchveröffentlichungen<br />
zum Gerätturnen.<br />
Email: pwk.arnold@gmx.net<br />
Prof. Dr. Annette Hofmann, Jahrgang wird<br />
nicht verraten, Professorin für Sportwissenschaft<br />
der PH <strong>Ludwig</strong>sburg, Präsidentin der Internationalen<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für die Geschichte der Leibeserziehung<br />
und des Sports (ISHPES), Vize-Präsidentin<br />
des DTB. Email: nettehof@ph-ludwigsburg.de<br />
Hansgeorg Kling, Jahrgang 19<strong>36</strong>, Studiendirektor<br />
a. D., Präsident der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<br />
<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>, Ehrenmitglied des Hessischen<br />
Turnverbandes, 1978 – 82 und 1986 – 90 Mitglied<br />
des DTB-Präsidiums als Bundeskultur- und Bundespressewart.<br />
Email: hansgeorg.kling@arcor.de<br />
Florian Mayer, Jahrgang 1987, Student der<br />
Fächer Geschichte und Sport für das Lehramt an<br />
Gymnasien, Westfälische Wilhelms-Universität<br />
Münster, studentische Hilfskraft am Institut für<br />
Sportwissenschaft, Arbeitsbereich Sportpädagogik/<br />
Sportgeschichte.<br />
Email: florian.mayer@uni-muenster.de<br />
Prof. Dr. Ingo Peschel, Jahrgang 1942, Professor<br />
em. für Theoretische Physik in Berlin, lange<br />
Zeit engagiert in der Deutschen Turnerjugend,<br />
Mitglied des Präsidiums der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<br />
<strong>Jahn</strong>-<strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Email: peschel@physik.fu-berlin.de<br />
Gerd Steins, Jahrgang 1949, Berufsschullehrer<br />
a. D., zahlreiche Veröffentlichungen über <strong>Jahn</strong> und<br />
die Hasenheide, zahlreiche Ausstellungen zu Turnen<br />
und Sport, seit langem engagiert im Forum für<br />
Sportgeschichte in Berlin.<br />
Email: gestefos@t-online.de<br />
Dr. Josef Ulfkotte, Jahrgang 1952, Vizepräsident<br />
des Präsidiums der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong>-<br />
<strong>Gesellschaft</strong>, Studiendirektor am Gymnasium<br />
Petrinum in Dorsten. Forschungsschwerpunkte:<br />
F. L. <strong>Jahn</strong>, Geschichte des Turnens, zahlreiche Veröffentlichungen.<br />
Email: j.ulfkotte@t-online.de<br />
Ilse-Marie Weiß, Jahrgang 1944, Diplom-<br />
Mathematikerin, von 1988 bis 2007 Mitarbeit bei<br />
Großgruppenvorführungen für Hessische Landesturnfeste,<br />
Deutsche Turnfeste und Gymnaestraden,<br />
seit 1989 Prüferin für das Deutsche Gymnastikabzeichen,<br />
1991 – <strong>2013</strong> Beauftragte für das Deutsche<br />
Gymnastikabzeichen im Hessischen Turnverband.<br />
Email: ilse-marie.weiss@gmx.de<br />
Hannah Weibye, Jahrgang 1985, gebürtige<br />
Schottin, studierte Germanistik und Romanistik<br />
in Cambridge, schrieb dort ihre Magisterarbeit<br />
über die national-politische Philosophie Johann<br />
Gottlieb Fichtes und promoviert zur Zeit unter<br />
der Betreuung Christopher Clarks (sein großes<br />
Preußen-Buch erschien 2006) über das Leben<br />
<strong>Jahn</strong>s.<br />
Email: hweibye@gmail.com<br />
Redaktion:<br />
Mitarbeit:<br />
Fotos:<br />
Hansgeorg Kling<br />
Josef Ulfkotte<br />
Foto-Becker (Rückseite unten),<br />
DTB (72 Brechtken),<br />
S. Grus (72), Gymmedia (72<br />
Köste), V. Hennig (3), Hüller<br />
(73), A. Kastner (71), R. Kautz<br />
(65, 66), J. Leirich (73 Bartmuß,<br />
Rückseite oben), LSB<br />
(73 Bengsch), Pappert (73)<br />
Abbildungen: <strong>Jahn</strong>-Museum (S. 5-11, 50),<br />
Weiß (S. 39-46), Arnold<br />
(56-57), Hofmann (61-62),<br />
Steins (Titel, 15, 16, 20, 29,<br />
68)<br />
75
JAHN<br />
REPORT<br />
<strong>36</strong>. Ausgabe, <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
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