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FaszinationHinteres Lauterbrunnental - UNESCO Welterbe ...

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Faszination Hinteres <strong>Lauterbrunnental</strong><br />

Aussicht vom Jungfraugipfel:<br />

Tiefblick ins Hintere <strong>Lauterbrunnental</strong><br />

mit (von links) Mittaghorn,<br />

Grosshorn, Breithorn,<br />

Tschingelhorn, Mutthorn und<br />

Gspaltenhorn. Im Mittelgrund<br />

sind Balmhorn, Doldenhorn und<br />

Blüemlisalp zu erkennen, im<br />

Hintergrund Grand Combin und<br />

Montblanc (jeweils von links).


Blick von der Silberhornhütte<br />

in den Talschluss des <strong>Lauterbrunnental</strong>s:<br />

Gipfelkette vom<br />

Mittaghorn (ganz links), Grosshorn,<br />

Breithorn, Tschingelhorn<br />

bis zum Gspaltenhorn<br />

Fotos: Andreas Wipf<br />

TEXT/FOTOS<br />

Andreas Wipf, Zürich<br />

D<br />

as <strong>Lauterbrunnental</strong>,ein von Süden nach Norden<br />

verlaufendes Trogtal,wurde schon früh wegen seiner<br />

imposanten Gebirgsszenerie von Reisenden,<br />

Forschern und Künstlern aufgesucht.Die senkrecht aufragenden<br />

Felswände mit den spektakulären Wasserfällen<br />

wie dem Staub-,Trümmel- und Schmadribachfall faszinierten<br />

die Besucher. Einige von ihnen stiessen auch in<br />

den Talhintergrund vor und entdeckten eine noch unberührte<br />

Hochgebirgslandschaft.<br />

Da heute die meisten Touristen dem Jungfraujoch<br />

oder dem Schilthorn entgegenstreben,konnte der Talhintergrund<br />

seinen Charakter und Charme bewahren. Seit<br />

den Vierziger- und Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts<br />

steht zudem ein Grossteil des Talschlusses unter Naturschutz,sodass<br />

Pläne für Wasserfassungen,einen Einstau<br />

der Lütschine, ein Sommerskigebiet mit Erschliessung<br />

des Petersgrates und weitere touristische Einrichtungen<br />

nicht verwirklicht werden konnten.


WISSENSCHAFT UND BERGWELT<br />

Einblick in den Aufbau der Alpen<br />

Der Talhintergrund, also das Gebiet hinter Stechelberg,<br />

liegt am nördlichen Rand des Aarmassivs.Durch Erosion<br />

sind hier ältere geologische Einheiten wie durch ein Fenster<br />

aufgeschlossen und lassen einen Blick in den Aufbau<br />

der Alpen zu.<br />

Im Talboden breitet sich das Lauterbrunner Kristallin<br />

mit seinen zahlreichen älteren Einschlüssen aus.Darüber<br />

folgt ein Sedimentmantel mit Ablagerungen der Trias,des<br />

Juras und des Tertiärs. Die Grenze zwischen Kristallin<br />

und Sedimenten steigt von Stechelberg gegen Obersteinberg,<br />

führt dann weiter zum Schafläger, vor der<br />

Zunge des Tschingelgletschers hindurch und quert die<br />

Nordwände vom Breithorn bis zur Jungfrau.Vom Rottal<br />

senkt sich die Kontaktzone wieder gegen Stechelberg ab.<br />

Besonders deutlich lässt sich dieser Grenzverlaufanhand<br />

des gelb angewitterten Trias-Dolomitbandes nachvollziehen.<br />

Auf der Südseite ist die älteste geologische Einheit,<br />

das Altkristallin,aufgeschlossen.Es baut die Gipfelregionen<br />

von Mutthorn,Tschingelhorn bis zur Äbeni Flue auf.<br />

Im Laufe der Alpenfaltung wurden hier ältere kristalline<br />

Gesteine aufjüngere Sedimente aufgeschoben.<br />

In den eisenreichen Oolith-Schichten des Doggers<br />

wurden auf beiden Talseiten Blei- und Eisenerze im<br />

Untertageabbau gefördert. Hinter Trachsellauenen entstanden<br />

Baubaracken und ein Schmelzofen.Die gewonnenen<br />

Mengen blieben aber unbedeutend,sodass im Jahre<br />

1805 der Betrieb eingestellt wurde.Heute findet man nur<br />

noch Spuren der einstigen Bergbautätigkeit wie z.B.das<br />

restaurierte Fundament des Schmelzofens oder eingestürzte<br />

Stollen und Abraumhalden.<br />

Vielfältige Flora<br />

Foto: zvg / Bibliothek SAC Sektion Bern<br />

«Der alte Schmelzofen und<br />

Trachsellauinen 1325 m»,<br />

fotografiert von Jules Beck<br />

Die speziellen geologischen Verhältnisse mit dem Vorhandensein<br />

von kristallinen und kalkreichen Gesteinen<br />

wirken sich auch auf die floristische Vielfalt aus.Weitere<br />

Faktoren wie der Grad der Bodenbildung,die Feuchtigkeits-<br />

und Nährstoffverhältnisse, das Relief (Kuppe,<br />

Senke), die Exposition usw. modifizieren das höhenabhängige<br />

Vorkommen eines Vegetationstypes.<br />

Die potenzielle Wald- bzw. Baumgrenze liegt im<br />

östlichen Berner Oberland auf etwa 2100 m ü.M.Diese<br />

Marke wird im Hinteren <strong>Lauterbrunnental</strong> nicht ganz<br />

erreicht, da an den steilen Flanken günstige Standorte<br />

grösstenteils fehlen. Zudem verhindern oder erschweren<br />

Lawinenniedergänge und auch Steinschlag das Aufkommen<br />

eines geschlossenenWaldes.Die regelmässige Beweidung<br />

sorgt ebenfalls für eine Herabsetzung der Baumgrenze.<br />

Oberhalb von etwa 1800 m haben sich alpine Rasenund<br />

Zwergstrauchgesellschaften entwickelt. Auf dem<br />

Obersteinberg und an den Hängen des Spitzhorns dominieren<br />

Pflanzenarten,die kalkreichen Untergrund bevorzugen,<br />

wie Blaugras, Alpen-Akelei, Strauss-Glockenblume,Alpen-Aster<br />

und Edelweiss.<br />

Im Bereich der Vorfelder von Tschingel-, Wetterlücken-,<br />

Breithorn- und der beiden Schmadrigletscher<br />

kann man eine Sukzession beobachten:In unmittelbarer<br />

Nähe der Gletscherzungen finden sich neben Moosen<br />

erste Pionierpflanzen wie Fleischers Weidenröschen,<br />

Schild-Ampfer und Kleearten. Je weiter vom Gletscher<br />

entfernt – und damit je länger die Zeit der Eisbedeckung<br />

zurückliegt –, desto geschlossener wird die Vegetation.<br />

Deutlich zeigt sich dies im Breithorngletschervorfeld,wo<br />

die Vegetation innerhalb eines Moränenwalles recht lückenhaft<br />

ausgebildet und ausserhalb schon weiter entwickelt<br />

ist.Eine mehr oder weniger geschlossene alpine Matte<br />

trifft man aber nur auf der südexponierten Seite des<br />

Tschingelgletschervorfeldes im Bereich des Schaflägers<br />

an.<br />

Eine augenfällige Vegetationsgrenze ist zwischen<br />

Oberhornsee und Oberhornalp im Bereich eines Moränenzuges<br />

zu sehen.Die Gletscherablagerungen bestehen<br />

zur Hauptsache aus kalkreichen Gesteinen, ausserhalb<br />

findet sich an der Oberfläche das Lauterbrunner Kristallin.Die<br />

Pflanzenarten aufdem Moränenwall wie Blaugras<br />

und Wundklee bilden einen scharfen Kontrast zum Bewuchs<br />

der anschliessenden Rundhöckerflur mit Säure liebenden<br />

Arten.<br />

44<br />

DIE ALPEN 11/2002


Geologische Übersichtskarte<br />

Gletscherstände und Moränenwälle<br />

«Breithorn-Gspaltenhorn von<br />

Roththalhütte 2760 m. Juli<br />

1874». Foto von Jules Beck. Der<br />

Tschingelgletscher reichte damals<br />

noch bis in die Ebene SW<br />

des Schaflägers herunter.<br />

Foto: zvg / Bibliothek SAC Sektion Bern<br />

Das Gebiet um die Oberhornalp zeugt von der ehemaligen<br />

erosiven Tätigkeit der Gletscher.Sie haben aus dem<br />

anstehenden Fels eine Rundhöckerlandschaft herausmodelliert.<br />

In den gletschergeschliffenen Wannen entstanden<br />

zahlreiche Flachmoore,von denen einige in den Sommermonaten<br />

von einem weissen Wollgras-Meer überzogen<br />

werden.Im Gegensatz dazu haben sich aufden Rundbuckeln<br />

trockenheitsresistente Arten angesiedelt.<br />

Spuren der Gletscher<br />

Nachdem sich die Gletscher seit dem Höhepunkt der<br />

letzten Eiszeit bis in die Alpentäler zurückgebildet hatten,<br />

bewegten sie sich in den vergangenen rund 11500 Kalenderjahren<br />

– im so genannten Postglazial – nur noch ungefähr<br />

in der Bandbreite zwischen einer Ausdehnung wie<br />

DIE ALPEN 11/2002 45


WISSENSCHAFT UND BERGWELT<br />

in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts (Hochstand)<br />

und heute.<br />

Die im Hinteren <strong>Lauterbrunnental</strong> vorhandenen Gletscherablagerungen<br />

mit der einzigartigen Moränenlandschaft<br />

sind geradezu prädestiniert, um die Gletscherschwankungen<br />

der Nacheiszeit zu studieren.So kann der<br />

Gletscherhochstand von 1850 relativ genau anhand der<br />

markanten, erst lückenhaft mit Vegetation bedeckten<br />

Moränenwälle rekonstruiert werden. Zudem existieren<br />

aus dieser Zeit die Messtischblätter zur Dufourkarte im<br />

Massstab 1:50 000,welche die Gletscher gerade während<br />

ihrer letzten Hochstandsphase festhalten.Im Gebiet zwischen<br />

Oberhornalp und Oberhornsee belegt die Vielzahl<br />

der formschönen Wallablagerungen, dass die Gletscher<br />

im Postglazial die Hochstandsausdehnung von 1850 noch<br />

übertroffen haben.<br />

Rückblick Gletscherschwankungen 1<br />

Gletschergeschichtliche Untersuchungen verfolgen das<br />

Ziel,Änderungen der Gletscherausdehnungen und somit<br />

auch klimatische Schwankungen in der Vergangenheit<br />

nachzuweisen. Mithilfe von diversen Methoden können<br />

die Gletscherablagerungen zeitlich eingeordnet werden.<br />

Bis jetzt konnten im Hinteren <strong>Lauterbrunnental</strong> nur<br />

Gletscher-Hochstandsphasen belegt werden. Wie weit<br />

die Gletscher in den dazwischenliegenden Perioden hingegen<br />

jeweils zurückschmolzen, ist (noch) nicht zu sagen.<br />

Mithilfe der Radiokarbonmethode – der Altersbestimmung<br />

von organischem Material – konnte als älteste Zeitmarke<br />

die Basis eines Flachmoors in der Nähe der Oberhornalp<br />

datiert werden.Die entsprechende Probe wurde<br />

aus einer Tiefe von rund 5,1 m entnommen und ergab ein<br />

14 C-Alter von 10390 ± 150 yBP (years before present =<br />

Anzahl Jahre vor 1950),was in unserer Zeitrechnung etwa<br />

10485 bis 10005 Jahre v.Chr. entspricht. Die Lage des<br />

Fundortes und das Profil zeigen,dass der Gletscher diese<br />

Stelle in den letzten rund 12000 Kalenderjahren nie mehr<br />

überschritten hat. Der Wall nördlich der Oberhornalphütte<br />

ist demzufolge älter, was auch<br />

seine weit fortgeschrittene Bodenentwicklung (Podsol)<br />

nahe legt.<br />

1 Wichtigste Resultate aus Wipf1994,2001<br />

Die beiden Moränenzüge<br />

mit einem Entstehungsalter<br />

von 4475 bzw.<br />

3340 yBP dokumentieren<br />

die grösste postglaziale<br />

Gletscherausdehnung<br />

auf der Oberhornalp und<br />

bilden eine Vegetationsgrenze,<br />

die sich auch<br />

farblich nachzeichnen<br />

lässt.<br />

Grosshorn mit seiner eindrücklichen<br />

Nordwand. An seinem<br />

Fusse werden die Konturen der<br />

1850er Ufermoränenwälle von<br />

Vordre und Hindre Schmadrigletscher<br />

durch das Sonnenlicht<br />

speziell hervorgehoben.<br />

Postglaziale Moränenwälle<br />

beim Oberhornsee.<br />

Der 1850er Ufermoränenwall<br />

(links)<br />

hebt sich durch seine<br />

graue Farbe markant<br />

von den älteren, vegetationsbedeckten<br />

Wällen ab.<br />

46


Die grösste postglaziale Ausdehnung erreichte der<br />

Gletscher aufder Oberhornalp ungefähr um 3300 v.Chr.<br />

( 14 C-Alter von 4475 ±75 yBP),wobei Ablagerungen vorangegangener<br />

Vorstösse bei diesem Vorrücken wohl zerstört<br />

wurden. Danach wich der Gletscher zurück, bis er<br />

um 1600 Jahre v.Chr.( 14 C-Alter 3340 ±80 yBP) wieder zu<br />

einer ähnlichen Grösse angewachsen war.Dabei wurden<br />

zwei Wallsysteme abgelagert, die auf einer Länge von<br />

mehreren hundert Metern erhalten geblieben sind. Diese<br />

Hochstandsphase war gekennzeichnet durch mehrmaliges<br />

Vorstossen und Abschmelzen des Gletschers:Wallablagerungen<br />

und Bodenbildung wechselten in zeitlich kurzen<br />

Intervallen ab.So konnte kurz nach 1600 Jahre v.Chr.<br />

(14C-Alter von 3330 ± 85 yBP) ein weiteres Vorrücken<br />

des Gletschers bis an den heutigen Westrand des Oberhornsees<br />

nachgewiesen werden.<br />

Lauterbrunnen Breithorn und<br />

Tschingelhorn (rechts) mit<br />

Hindre Schmadri-, Breithornund<br />

Wetterlückengletscher (von<br />

links). Die scharfgratigen<br />

1850er Ufermoränenwälle sind<br />

deutlich zu erkennen.<br />

Fotos: Andreas Wipf<br />

Grabung an einem Moränenwall<br />

mit fossilem Boden: Ein gut<br />

entwickelter Boden (braun;<br />

unterer Horizont) wurde bei<br />

einem Gletschervorstoss von<br />

Moränenmaterial überschüttet.<br />

DIE ALPEN 11/2002 47


WISSENSCHAFT UND BERGWELT<br />

Grosshorn mit seiner imposanten<br />

Nordwand sowie dem Vordre<br />

Schmadrigletscher und dem<br />

Schmadribachfall, einem von<br />

Künstlern oft gewählten Sujet.<br />

Noch um 1850 stirnte der Gletscher<br />

am Beginn des Wasserfalls.<br />

Oberhornalp mit Lauterbrunnen<br />

Breithorn (links), Tschingelhorn<br />

und Wetterlückengletscher<br />

Blick aus dem Breithorngletschervorfeld<br />

gegen die<br />

Jungfrau (links). Im Mittelgrund<br />

rechts stirnt der Vordre<br />

Schmadrigletscher.<br />

Fotos: Andreas Wipf<br />

48


Auch im Schafläger hat der Tschingelgletscher um<br />

jene Zeit seine Spuren hinterlassen. Es konnten zwei<br />

Hochstände datiert werden, wobei die dazugehörigen<br />

Wälle aber im Gegensatz zur Oberhornalp nur etwa 30 m<br />

ausserhalb des Hochstandes von 1850 liegen. Mit der<br />

14 C-Datierung von fossilen,d. h. ehemals vom Gletscher<br />

mit Moräne überschütteten Böden konnten in der Region<br />

des Oberhornsees bis zum Beginn der Neuzeit (ab 1500)<br />

sechs weitere Hochstandsphasen belegt werden.<br />

Gletscherschwankungen<br />

in Wort und Bild<br />

Die erste Erwähnung der Gletscher des Hinteren <strong>Lauterbrunnental</strong>s<br />

geht auf den Beginn des 18. Jahrhunderts<br />

zurück (Marchbuch von Samuel Bodmer, 1652–1724).<br />

Erste, aber gletschergeschichtlich schwer zu interpretierende<br />

Hinweise finden sich in Gottlieb Sigmund Gruners<br />

Bände «Eisgebirge des Schweizerlandes» aus dem Jahre<br />

1760, bevor mit Caspar Wolf (1735–1783) einer der<br />

berühmtesten Alpenmaler überhaupt die Gletscher des<br />

Talhintergrundes aufsuchte. Aus seiner Hand entstehen<br />

eine Reihe von Ölskizzen und -gemälden,die eine hochstandsähnliche<br />

Ausdehnung der Gletscher belegen.Auch<br />

Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) beschreibt, wie<br />

das Schmelzwasser direkt aus dem (Vordre Schmadri-)<br />

Gletscher hervortritt und den Schmadribachfall herunterstürzt.<br />

Das nachfolgende Zurückweichen des Gletschers bis in<br />

die 1810er-Jahre bezeugen Bilder von Koch und Lory. 2 Im<br />

Anschluss daran stiessen die Gletscher wieder vor, und<br />

der Vordre Schmadrigletscher stirnte in den 1820er-Jahren<br />

wieder an der Felsstufe des Schmadribachfalles.<br />

Nach diesem ersten Hochstand im 19. Jahrhundert 3<br />

und einem leichten Abschmelzen in den 1830er-Jahren<br />

erreichte der Vordre Schmadrigletscher um 1840 wieder<br />

die Felskante des Schmadribachfalles. 4 Den zweiten<br />

Hochstand des 19. Jahrhunderts hat J.R.Stengel aufdem<br />

Messtischblatt zur Dufourkarte in den Jahren 1850/51<br />

festgehalten: Der Tschingelgletscher erstreckte sich damals<br />

bis zum Schafläger hinunter.Breithorn- und Vordre<br />

Schmadrigletscher stiessen zusammen und endeten<br />

oberhalb des Schmadribachfalles. 5 Anschliessend setzte<br />

eine Schwundphase ein,die bis heute andauert:Auf dem<br />

Foto von Jules Beck aus dem Jahre 1874 ist der Tschingelgletscher<br />

bereits etwa 450 m hinter den letzten Hochstand<br />

zurückgeschmolzen.Dieser Schwund wurde aber in den<br />

1880/90er-,1920/30er- und 1970/80er-Jahren von leichten<br />

Wiedervorstössen unterbrochen.Dieses Verhalten belegen<br />

drei hintereinander gestaffelte Wallablagerungen<br />

sowie beim Tschingelgletscher die seit 1893 durchgeführten<br />

Messungen der Zungenlängenänderung. Er hat seit<br />

1850 rund 2,2 km eingebüsst.Die Gletscher des Hinteren<br />

<strong>Lauterbrunnental</strong>s haben in der Zeitspanne von 1850 bis<br />

1973 rund 3,1 km 2 an Fläche verloren,was einem relativen<br />

Verlust von etwa 20% entspricht (Wipf1999). Dieser<br />

Wert liegt etwas unter dem gesamtschweizerischen<br />

Durchschnitt von rund 27% (Maisch et al. 2000).<br />

Bedeutende Hochgebirgslandschaft<br />

Das Hintere <strong>Lauterbrunnental</strong> bietet einen grossen<br />

Reichtum an landschaftlichen Besonderheiten: imposante<br />

Gipfel,gleissende Gletscher mit ihren urtümlichen<br />

2 Aufdem Aquarell von Joseph Anton Koch (1768–1839) aus dem Jahre 1794<br />

ist der Gletscher zurückgewichen. Die Bilder von Gabriel Ludwig Lory<br />

(1763–1840) und seinem Sohn Matthias Gabriel Lory (1784–1846) bestätigen<br />

die geringe Gletscherausdehnung bis in die 1810er-Jahre.<br />

3 Festgehalten in den mit fast fotografischer Genauigkeit gezeichneten Aquarellen<br />

von Samuel Birmann (1793–1847) und einer Bleistiftzeichnung von Ludwig<br />

Richter (1803–1884)<br />

4 Aquarellierte Bleistiftzeichnung von Gottlieb Studer,1804–1890<br />

5 L.Sabathier (1887) und Johan Jakob Ulrich (1798–1877) zeichneten den<br />

Vordre Schmadrigletscher ebenfalls direkt am Schmadribachfall stirnend.<br />

DIE ALPEN 11/2002 49


WISSENSCHAFT UND BERGWELT<br />

Das warme Abendlicht erhellt<br />

den Gipfel der Jungfrau und den<br />

Hochfirn.<br />

Fotos: Andreas Wipf<br />

50


Vorfeldern, tosende Wasserfälle, türkisfarbene Seen und<br />

blumenreiche Matten. Aus den speziellen geologischen<br />

Verhältnissen lassen sich wichtige Erkenntnisse über die<br />

Entstehung der Alpen ableiten.Das Nebeneinander von<br />

kalkreichem und kristallinem Fels und der sich daraus ergebende<br />

Pflanzenreichtum machen den Talhintergrund<br />

zu einem botanischen Eldorado.Die einzigartige Moränenlandschaft<br />

stellt einen bedeutenden Zeugen der<br />

Landschaftsentwicklung des Talhintergrundes und ein<br />

ideales Untersuchungsgebiet für die wissenschaftliche<br />

Erforschung der nacheiszeitlichen Gletscherschwankungen<br />

im Alpenraum dar. 6 Es ist daher nicht erstaunlich,dass<br />

dieses Gebiet Eingang in den Perimeter des UN-<br />

ESCO-Weltnaturerbes «Jungfrau–Aletsch» gefunden<br />

hat. 7 a<br />

Wenige Minuten später<br />

erscheint die Jungfrau im<br />

Abendglühen.<br />

Föhnwolke im Lee<br />

des Jungfraugipfels<br />

Literatur<br />

Die ALPEN (1980–2001):Zeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs.Bern<br />

Die Gletscher der Schweizer Alpen 1977/78 und 1978/79 (1986): Jubiläumsband<br />

99. und 100. Bericht, Glaziologisches Jahrbuch der Gletscherkommission<br />

der Schweiz. Naturforschenden Gesellschaft/SNG,<br />

Hrsg. Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie<br />

(VAW) ETH Zürich<br />

Labhart,T.P.(1989):Geologie. In: Hochgebirgsführer durch die Berner<br />

Alpen. Band IV, Tschingelhorn-Finsteraarjoch-Obers Studerjoch.<br />

SAC-Verlag,Zug,S.17–22.<br />

Maisch M.,WipfA.,Denneler B.,Battaglia J.,Benz C.(2000): Die Gletscher<br />

der Schweizer Alpen. Gletscherhochstand 1850 – Aktuelle Vergletscherung-Gletscherschwund-Szenarien.<br />

vdf-Verlag, 2. Auflage,<br />

Zürich,373 S.<br />

Wipf,A.(1994): Gletschergeschichtliche Untersuchungen im Hinteren<br />

<strong>Lauterbrunnental</strong> (BE). Unpubl. Diplomarbeit am Geographischen<br />

Institut der Universität Zürich,150 S.<br />

Wipf, A.(1999): Die Gletscher der Berner, Waadtländer und nördlichen<br />

Walliser Alpen.Eine regionale Studie über die Vergletscherung<br />

im Zeitraum «Vergangenheit» (Hochstand von 1850), «Gegenwart»<br />

(Ausdehnung im Jahr 1973) und «Zukunft» (Gletscherschwund-<br />

Szenarien,21. Jhdt.), Physische Geographie, Vol. 40,Zürich,295 S.<br />

Wipf, A.(2001): Gletschergeschichtliche Untersuchungen im spätund<br />

postglazialen Bereich des Hinteren <strong>Lauterbrunnental</strong>s (Berner<br />

Oberland, Schweiz). – In: Geographica Helvetica. Jg. 56, Heft 2,<br />

S.133–144<br />

Zumbühl,H.J.,Holzhauser H.(1988):Alpengletscher in der Kleinen<br />

Eiszeit. In: DIE ALPEN. Zeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs,<br />

3.Quartalsheft 1988,Bern<br />

6 An weiteren Informationen über den Talhintergrund,insbesondere an historischen<br />

Bild- und Schriftquellen (alte Fotografien,Gemälde,Berichte,Chroniken<br />

usw.) ist der Autor sehr interessiert.Falls Ihnen solche Dokumente bekannt<br />

sind,wenden Sie sich bitte an Andreas Wipf,Institut für Kartographie,<br />

ETH-Hönggerberg,8093 Zürich, wipf@karto.baug.ethz.ch.<br />

7 Vgl.Die ALPEN 8/98<br />

DIE ALPEN 11/2002 51

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