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Fallsammlung - Teil F

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Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong><br />

<strong>Teil</strong> F<br />

RECHTSWIDRIGKEIT UND SCHULD<br />

Inhalt<br />

Fall 52 „Sie sind hiermit festgenommen!“<br />

Schwerpunkte<br />

• Jedermann-Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 Satz 1 StGB<br />

• Zum Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ – Tat- vs. Verdachtslösung<br />

Fall 53 Schlagfertiger Hausbesitzer<br />

Schwerpunkte<br />

• Grenzen des Jedermann-Festnahmerechts i.S.d. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO<br />

• Notwehr i.S.d. § 32 StGB und Grenzen des Notwehrrechts<br />

Fall 54 Günstige Gelegenheit<br />

Schwerpunkte<br />

• Notwehr (§ 32 StGB) als Nothilfe<br />

• Ex-ante-Maßstab der Erforderlichkeitsbeurteilung<br />

• Anforderungen an den Rechtfertigungswillen<br />

Fall 55 Kleine Kirschendiebe<br />

Schwerpunkte<br />

• „Gebotenheit“ als sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts (§ 32 StGB)<br />

• Krasses Missverhältnis zwischen Notwehrfolgen und drohendem Rechtsgutsschaden<br />

Fall 56 Provokante Zugluft<br />

Schwerpunkte<br />

• Zum Gebrauch letaler Waffen i.R.d. Notwehr (§ 32 StGB)<br />

• Abgrenzung der absichtlichen von sonst vorwerfbarer Notwehrprovokation<br />

• Einschränkung des Notwehrrechts bei sonst vorwerfbar provozierter Notwehrlage i.R.d.<br />

Merkmals „Gebotenheit“<br />

Fall 57 Vorgetäuschter Routine-Eingriff<br />

Schwerpunkte<br />

• §§ 223 ff. StGB bei ärztlichen Heileingriffen<br />

• Rechtfertigungsgrund der Einwilligung (Prüfungssystematik)<br />

• Willensmängelfreiheit der rechtfertigenden Einwilligung<br />

Fall 58 „Der will nur spielen...“<br />

Schwerpunkte<br />

• Spezielle Notstandsformen (§§ 228, 904 BGB)<br />

• Tötung eines Hundes bei von diesem ausgehender Gefahr<br />

Fall 59 Regenschirm -Abwehr<br />

Schwerpunkte<br />

• § 33 StGB – Umfang und Grenzen entschuldigter Notwehrüberschreitung<br />

• Intensiver Notwehrexzess<br />

• Extensiver Notwehrexzess<br />

Fall 60 Gefährliche Eiger-Nordwand<br />

Schwerpunkte<br />

• Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB<br />

• Entschuldigender Notstand, § 35 StGB<br />

• Zur Indisponibilität des Rechtsguts Leben i.R.d. rechtfertigenden Einwilligung<br />

© CT 2013 119


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 61 Feuer bei Nacht<br />

Schwerpunkte<br />

• Irrtum über Rechtfertigungsumstände (Erlaubnistatumstandsirrtum), hier: Putativnotwehr<br />

• Prüfungssystematik und Argumente beim Erlaubnistatumstandsirrtum<br />

Fall 62 Religiöses Züchtigungsrecht?<br />

Schwerpunkte<br />

• Erlaubnisnormirrtum als indirekter Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB (Abgrenzung des<br />

Erlaubnisirrtums vom Erlaubnistatumstandsirrtum i.S.d. eingeschränkten Schuldtheorie)<br />

• Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums<br />

Fall 63 In der Ursache freie Handlung<br />

Schwerpunkte (im Ausgangsfall)<br />

• Zur Differenzierung von Handlungs- und Schuldunfähigkeit<br />

• Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB und diesbzgl. Bedeutung der BAK<br />

• Problemlösungsansätze und Prüfungsaufbau bei der a.l.i.c.-Strafbarkeit<br />

• § 323a StGB (Vollrausch) als Auffangtatbestand<br />

Schwerpunkte (in der Abwandlung)<br />

• Auswirkungen des error in persona im Rahmen der a.l.i.c.-Strafbarkeit<br />

• Entbehrlichkeit der a.l.i.c. beim fahrlässigen Erfolgsdelikt<br />

• Verhältnis der a.l.i.c. zum Vollrauschtatbestand des § 323a StGB<br />

Fall 64 „Haste Probleme...?!“<br />

Schwerpunkte<br />

• Zur Bestimmtheit des Doppelvorsatz’ i.R.d. „actio libera in causa“ („a.l.i.c.“)<br />

• Entbehrlichkeit der a.l.i.c. beim fahrlässigen Erfolgsdelikt<br />

• Verhältnis der a.l.i.c. zum Vollrauschtatbestand des § 323a StGB<br />

120 © CT 2013


Fall 52<br />

Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

„Sie sind hiermit festgenommen!“<br />

Schwerpunkte<br />

• Jedermann-Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 Satz 1 StGB<br />

• Zum Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ – Tat- vs. Verdachtslösung<br />

Sachverhalt<br />

Der rüstige Rentner T geht in der Innenstadt spazieren, als aus einem<br />

großen Kaufhaus plötzlich der ärmlich gekleidete, auch im Übrigen verwahrlost<br />

wirkende O mit einem brandneuen Blu-Ray-Player unter dem Arm<br />

herausstürzt. Just in diesem Moment ertönt ein schrilles Alarmsignal aus<br />

dem Innern des Kaufhauses. Der O schaut zunächst kurz zurück, blickt<br />

sich sodann nach allen Seiten um und hastet schließlich zielstrebig in<br />

Richtung Hauptbahnhof.<br />

Der T folgert, so verhalte sich ja wohl nur ein Dieb, und beschließt,<br />

den Flüchtigen dingfest zu machen, wobei er über die ihm unverhofft<br />

zukommende wichtige Funktion höchst erfreut ist. Er stellt dem O ein<br />

Bein, sodass dieser zu Boden fällt, dreht ihm dann den Arm auf den Rücken<br />

und setzt sich hinterrücks auf ihn. Er macht dabei ein ernstes Gesicht<br />

und lässt die Worte verlauten: „Sie sind hiermit festgenommen.“<br />

Erst später klärt sich auf, dass es sich bei dem O um einen ehrlichen<br />

Kunden des Kaufhauses handelte, der seinen Zug nicht verpassen wollte.<br />

Dass bei seinem hastigen Verlassen des Kaufhauses gleichzeitig ein Alarmsignal<br />

zu hören war, war bloßer Zufall und hatte mit dem O nichts zu<br />

tun.<br />

Strafbarkeit des T wegen Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB<br />

Der T könnte sich, indem er den O zu Fall brachte und längere Zeit am Boden festhielt,<br />

wegen Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB strafbar gemacht haben.<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand<br />

Der objektive Tatbestand des § 239 StGB ist verwirklicht, wenn die Fortbewegungsfreiheit<br />

aufgehoben ist, d.h., dem Opfer muss, wenn auch nur vorübergehend, unmöglich<br />

gemacht worden sein, nach seinem freien Willen seinen Aufenthalt zu verändern.<br />

Zur Tathandlung „Freiheitsberaubung“ i.S.d. § 239 StGB BGH, NStZ 2003, 371: „Zwar setzt [der objektive Tatbestand des<br />

§ 239 StGB] keine bestimmte Dauer der Entziehung der persönlichen Bewegungsfreiheit voraus; es reicht vielmehr grundsätzlich<br />

auch eine nur vorübergehende Einschränkung aus [...]. Andererseits stellt nicht jedes auch nur kurzzeitige Festhalten<br />

des Gegners im Verlauf einer körperlichen Auseinandersetzung, das [...] zu einer zeitlich nur unerheblichen Beeinträchtigung<br />

der Fortbewegungsfreiheit führt, eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB dar.“<br />

© CT 2013 121


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Hier liegt unproblematisch eine solche „Beraubung“ der körperlichen Fortbewegungsfreiheit<br />

des O seitens des T vor.<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Der T müsste rechtswidrig gehandelt haben; die von der Tatbestandsverwirklichung<br />

grundsätzlich indizierte Rechtswidrigkeit entfällt ausnahmsweise, wenn tatbestandsmäßiges<br />

Handeln durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist.<br />

a) Recht zur vorläufigen Festnahme<br />

In Betracht kommt das Jedermann-Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO.<br />

aa) Festnahmelage<br />

(1) Voraussetzung des § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO ist, dass der O „auf frischer Tat betroffen<br />

oder verfolgt“ gewesen war.<br />

Der O hat jedoch im materiell-rechtlichen Sinne und ex post betrachtet keine Straftat begangen;<br />

vielmehr ließen allein die Umstände die (fehlerhafte) Ex-ante-Deutung zu, der O<br />

sei ein Warenhausdieb und auf der Flucht.<br />

Ob allerdings ein bloßer, wenn auch substantiierter Tatverdacht, der sich später als<br />

richtig oder falsch erweisen kann, i.S.d. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO ausreicht, ist strittig.<br />

(2) Hiergegen spricht zuvorderst der Gesamtwortlaut des § 127 StPO: In dessen Abs. 1<br />

Satz 1 wird ausdrücklich das Betroffensein auf frischer Tat gefordert, damit ein Privater pro<br />

magistratū festnehmen darf. Demgegenüber genügt zur Festnahmebefugnis von Beamten<br />

der Staatsanwaltschaft und Polizei, so Abs. 2 i.V.m. § 112 StPO, ein dringender Tatverdacht.<br />

Nicht eine Gleichstellung, sondern eine Differenzierung der Eingriffsbefugnisse von<br />

Privaten und Organen der Strafrechtspflege erscheint die Intention des Gesetzgebers, die<br />

sich darauf begründet, dass Staatsanwaltschaft und Polizei zur Festnahme verpflichtet sind<br />

(vgl. § 258a StGB), der Bürger hingegen nicht; zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der<br />

Strafrechtspflege sind sie deshalb im Irrtumsfall (erlaubnis-)tatbestandlich schützenswert.<br />

Wer sich demgegenüber als Privater in „fremde Belange“ einmischt, dem ist eine sorgfältige<br />

Vergewisserung über seine Berechtigung zumutbar, unterliegt er doch im Gegensatz<br />

zu Amtsträgern keiner disziplinarischen Verantwortung. Angemessenen Schutz vor<br />

Strafe erfährt der festnehmende Private im gutgläubigen Irrtumsfall über die Rechtsfigur<br />

des sog. Erlaubnistatumstandsirrtums.<br />

Zu dieser sog. Tatlösung siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 354; Kühl, StrafR AT, § 9, Rn. 83 ff.<br />

(3) Zustimmung „verdient jedoch die bei den Prozessualisten vorherrschende, auch sonst<br />

vordringende Meinung, die bei dringendem Tatverdacht dem Privaten ein Festnahmerecht<br />

schon dann gibt, wenn er unter Anwendung der objektiv gebotenen Sorgfalt den Angetroffenen<br />

für den Täter hält. Denn der Staat darf, wenn er den Bürger für eine öffentliche<br />

Aufgabe heranzieht, von ihm nicht mehr verlangen als die Anwendung aller objektiv möglichen<br />

Sorgfalt. Außerdem sind nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen die Einleitungshandlungen<br />

eines Strafverfahrens stets Verdachtstatbestände [...], weil in<br />

diesem Stadium eine absolute Sicherheit nicht bestehen kann, sodass das Eingriffsrecht<br />

an das anknüpfen muss, was zurzeit erkennbar ist. Auch kann man die Rechtmäßigkeit<br />

der Festnahme nicht gut so lange in der Schwebe lassen, bis die Täterschaft des<br />

Festgenommenen rechtskräftig festgestellt ist. Der Hinweis auf die Unerfahrenheit des<br />

Privatmanns ist kein Gegenargument, wenn man von ihm dieselbe Sorgfalt verlangt, die<br />

122 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

auch ein Beamter anwenden müsste; höhere Anforderungen als an einen Beamten zu stellen<br />

oder gar die Kenntnis unerkennbarer Umstände zur Voraussetzung der Rechtmäßigkeit<br />

zu machen, ist aber verfehlt.“ 32<br />

Dazu mit Argumentation aus der Perspektive des Festnehmenden Kargl, NStZ 2000, 8 (10): „In dieser Hinsicht dürfte der<br />

Festnahmewillige deutlich eher Prozessualist als Strafrechtler sein. Er wird die Täterschaft des Festgenommenen aus<br />

Wahrnehmungen ableiten, die aus seiner Sicht ein festes Urteil, eine Überzeugung rechtfertigen. Er wird also sagen, ich<br />

habe den Festgenommenen aufgrund bestimmter Beobachtungen für den Dieb halten müssen; mehr als von der Täterschaft<br />

im Vertrauen auf die fünf Sinne überzeugt zu sein, kann ich gar nicht leisten. Der Festnehmende wird sich folglich<br />

nicht auf eine Realität festlegen lassen, die seiner anhand eigener Beobachtung operationalisierbaren Überzeugung widerspricht.<br />

Dabei kann sich der Festnehmende auf den erkenntnistheoretisch unabweisbaren Befund stützen, dass sich<br />

Überzeugungen auf einer Beobachterrealität gründen und damit notwendig subjektiv bleiben. Die Strafprozessordnung<br />

trägt dem dadurch Rechnung, dass sie keinen Täter, sondern nur einen Beschuldigten oder Verdächtigen, keine objektive<br />

Tat, sondern nur eine Tat im Sinne von Beschuldigung oder Verurteilung kennt. Es ist nicht zu sehen, weshalb ein Bürger,<br />

der für das Strafverfolgungsorgan handelt, eine andere Perspektive als die der Strafprozessordnung einnehmen sollte. Mit<br />

dem Wortlautargument ist die ‚Verdachtslösung’ jedenfalls nicht zu kippen.“ Siehe auch BGH (Zivilsenat), NJW 1981,<br />

745: „Eine Festnahme oder Verfolgung aufgrund § 127 StPO ist gerechtfertigt, wenn die erkennbaren äußeren Umstände<br />

einen dringenden Tatverdacht vermitteln.“; Köhler, StrafR AT, S. 319 f.: „objektiv-dringliche Verdachtsevidenz“.<br />

(4) Das Merkmal „auf frischer Tat“ ist mithin notwendigerweise subjektiv, d.h. nach<br />

Maßgabe des Bildes zu ermitteln, das sich der Festnehmende von der Situation macht und<br />

aufgrund des schnellen Augenblicksurteils überhaupt machen kann.<br />

In der Folge lag im Fall hier eine für § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO zureichende, wenn auch in<br />

Wirklichkeit nicht gegebene Festnahmelage vor.<br />

Vertretbar ist aber auch, mit den Vertretern der „Tatlösung“ darauf abzustellen, dass keine Veranlassung besteht, zum<br />

Nachteil des von einer Festnahme Betroffenen den Tatbegriff und damit den Wortlaut des § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO<br />

auszuweiten, obwohl objektiv keine Festnahmelage bestand. Da T indes annahm, dass er in Übereinstimmung mit § 127<br />

Abs. 1 Satz 1 StPO handelte und durch das Jedermann-Festnahmerecht gedeckt wäre, er also irrtümlich davon ausging,<br />

dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes vorlägen, befand er sich – nach dieser<br />

Lösung – in einem sog. Erlaubnistatumstandsirrtum, der seinen Vorsatz analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB entfallen lässt,<br />

so bspw. Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 354.<br />

bb) Festnahmehandlung<br />

An der Verhältnismäßigkeit der Festnahmehandlung des T, hier der kurzfristigen Freiheitsberaubung,<br />

bestehen keine Zweifel.<br />

cc) Festnahmegrund<br />

Im Sinne des § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO darf eine Festnahme nur erfolgen, wenn der Täter<br />

der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann. Beide<br />

Festnahmegründe sind im Fall des aus dem Kaufhaus stürmenden („weglaufenden“) und<br />

dem T unbekannten O gegeben.<br />

dd) Festnahmewille<br />

T’s Absicht war es, den O festzunehmen und der staatlichen Strafverfolgung zuzuführen.<br />

Dass er zudem „über die ihm unverhofft zukommende wichtige Funktion höchst erfreut“<br />

war, ist als bloßes untergeordnetes Nebenmotiv dem Festnahmewillen nicht schädlich.<br />

b) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Freiheitsberaubung des T an dem O ist gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO gerechtfertigt.<br />

3. Strafbarkeitsergebnis<br />

§ 239 StGB (-)<br />

Die geringfügige Körperverletzung des T an dem O (§ 223 StGB) und die Nötigung (§ 240 StGB) zum Zwecke der Festnahme<br />

(„Polizeigriff“) ist gleichfalls gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO gerechtfertigt.<br />

32<br />

Roxin, StrafR AT I, § 17, Rn. 24 m.w.N.<br />

© CT 2013 123


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 53<br />

Schlagfertiger Hausbesitzer<br />

Schwerpunkte<br />

• Grenzen des Jedermann-Festnahmerechts i.S.d. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO<br />

• Notwehr i.S.d. § 32 StGB und Grenzen des Notwehrrechts<br />

Sachverhalt<br />

Ausgangsfall<br />

Der T wohnt in einem großen Haus am Stadtrand. Eines Nachts wird er<br />

durch verdächtige Geräusche im Keller wach. Beim Nachsehen erkennt er,<br />

dass ein Einbrecher (E) gerade damit beschäftigt ist, den Inhalt des<br />

Safes – insb. wertvolle Erbstücke verschiedener Art – auszuräumen und<br />

sich in die Taschen zu stecken. Auf seinen Zuruf „Heee, was machen Sie<br />

da?!“ hin wendet sich der E erschrocken mitsamt seiner Beute zur Flucht.<br />

T stürzt ihm hinterher; es gelingt ihm, den E im Garten zu stellen,<br />

indem er ihn von hinten mit einer Holzlatte niederschlägt.<br />

Hat sich der T strafbar gemacht?<br />

Abwandlung<br />

Der E hat ohne Beute die Flucht angetreten, als er von dem T im Garten<br />

niedergeschlagen wird.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Lösung<br />

AUSGANGSFALL<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist jedoch, ob die Tat des T rechtswidrig war.<br />

Die Rechtswidrigkeit wird durch die Verwirklichung eines Straftatbestands indiziert; sie<br />

entfällt ausnahmsweise, wenn Rechtfertigungsgründe eingreifen.<br />

a) Recht zur vorläufigen Festnahme<br />

In Betracht kommt eine Rechtfertigung gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO durch das sog.<br />

Jedermann-Festnahmerecht.<br />

124 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

aa) Festnahmelage<br />

Der T hatte den E auf frischer Tat bei einem Diebstahlsversuch sowie einem Hausfriedensbruch<br />

betroffen; somit lag die für § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderliche Rechtfertigungslage<br />

vor.<br />

bb) Festnahmehandlung<br />

Problematisch ist jedoch, ob der Schlag des T als Festnahmehandlung gerechtfertigt ist.<br />

§ 127 Abs. 1 Satz 1 StPO dient grundsätzlich nur der Rechtfertigung der mit einer Festnahme<br />

als solcher einhergehenden Freiheitsbeeinträchtigung; Körperverletzungshandlungen<br />

sind nur dann mitumfasst, sofern es sich um typische, geringfügige Begleiterscheinungen<br />

des Festhaltens als solchem handelt.<br />

Der gezielte schwere Schlag mit der Holzlatte ist deshalb keine von § 127 Abs. 1 Satz 1<br />

StPO gedeckte Handlung. Folglich ist die Tat des T nicht durch § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO<br />

gerechtfertigt.<br />

„§ 127 I 1 StPO rechtfertigt nur solche Tatbestandserfüllungen, die für eine Festnahme normalerweise unerlässlich<br />

sind, also die leichte Körperverletzung durch festes Zupacken, die Freiheitsberaubung durch Festhalten und ggf. durch<br />

Einschließen oder Fesseln und die Nötigung, die im Zwang zum Mitgehen auf die Polizeiwache liegt.“ 33 „Ein Schusswaffengebrauch<br />

zum Zwecke der Festnahme ist nichtstaatlichen Organen wegen der besonderen Gefährlichkeit eines solchen<br />

Vorgehens nur in Form von Warnschüssen gestattet. Im Übrigen kann § 127 I StPO bei Privaten auch im Falle besonders<br />

schwerwiegender Rechtsgutsverletzungen den Einsatz von Schusswaffen nicht legitimieren.“ 34 – Zum Umfang des<br />

Festnahmerechts kurz und übersichtlich Kühl, StrafR AT, § 9, Rn. 91.<br />

Setzt sich der auf frischer Tat Betroffene mit Gewalt gegen die berechtigte Festnahme zur Wehr, so hat der Festnehmende<br />

dagegen das Notwehrrecht und ist zu allen erforderlichen Abwendungsmaßnahmen berechtigt. 35 So auch BGHSt 45, 378<br />

(381, 383); Roxin, StrafR AT I, § 17, Rn. 28.<br />

b) Recht zur Notwehr<br />

Zu prüfen ist aber der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB).<br />

aa) Notwehrlage<br />

Als Notwehrlage normiert das Gesetz einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff.<br />

In dem Eindringen des E, aber auch in der Wegnahme der Wertsachen lag eine willentliche<br />

Beeinträchtigung der Rechtgüter des T, insbesondere seines Eigentums, somit ein Angriff.<br />

Dieser war auch rechtswidrig, da dem E für sein strafrechtlich gem. §§ 242, 243, 123, StGB<br />

relevantes Verhalten kein Erlaubnissatz zugute kam.<br />

Fraglich ist allerdings, ob der rechtswidrige Angriff (noch) gegenwärtig war.<br />

Kurzdefinition: „Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch fortdauert.“ 36<br />

Ein Angriff dauert solange fort, bis entweder der Rechtsgutsangriff vollständig abgewehrt<br />

ist oder aber die Rechtsgutsbeeinträchtigung endgültig ist. Bezogen auf den<br />

Diebstahl bedeutet dies, dass bis zur Beendigung, also der Beutesicherung, der Eigentumsangriff<br />

fortdauert. Dass der E sich bereits auf der Flucht befand, ändert nichts daran,<br />

dass der schon vollendete Diebstahl noch nicht beendet war. Somit dauerte der Angriff<br />

auf das Eigentum des T fort, sodass noch immer eine Notwehrlage gegeben war.<br />

„Beendet und damit nicht mehr gegenwärtig ist der Angriff, wenn er fehlgeschlagen, endgültig aufgegeben oder vollständig<br />

durchgeführt ist, sodass die Rechtsgutsverletzung durch Gegenwehr nicht mehr abgewendet werden kann.“ 37 – Zur Gegenwärtigkeit<br />

des Angriffs beim Diebstahl und dem Erlaubtsein des „Beuteabjagens“ siehe Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 28;<br />

Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 46, 50 m.w.N.<br />

bb) Notwehrhandlung<br />

Zulässige Notwehrhandlung ist gem. § 32 Abs. 2 StGB die zur Abwendung des Angriffs<br />

erforderliche und gebotene Verteidigung.<br />

33<br />

Roxin, StrafR AT I, § 17, Rn. 28.<br />

34<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 356.<br />

35<br />

Kühl, StrafR AT, § 9, Rn. 91.<br />

36<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 328; ganz ähnlich Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 21.<br />

37<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 328.<br />

© CT 2013 125


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

(1) Der Schlag mit der Holzlatte hinderte den E an der Flucht und war somit zur Vereitelung<br />

des Diebstahlserfolgs (Beutesicherung) geeignet. Er war auch erforderlich, da dem T kein<br />

milderes Mittel zu Gebote stand, das ebenso geeignet gewesen wäre.<br />

Merke: Mildere Mittel, die jedoch nicht gleich effektiv oder gar risikoreicher sind, lassen die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung<br />

nicht entfallen. Dass der T dem E z.B. zunächst einen Haken hätte stellen können, um ihn aufzuhalten, ist deshalb<br />

für die Notwehrprüfung unbeachtlich. Siehe hierzu etwa Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 100 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 43:<br />

„In Wirklichkeit kommt es darauf an, ob [...] nach dem Einsatz eines weniger gefährlichen Abwehrmittels bei [dessen]<br />

Erfolglosigkeit immer noch eine sichere Abwehr mit einem härteren Mittel möglich ist.“<br />

(2) Eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts kommt wegen des hohen Wertes<br />

und des Affektionsinteresses an den Erbstücken nicht in Betracht. Zweifel an der Gebotenheit<br />

der Handlung (§ 32 Abs. 1 StGB) bestehen insofern nicht.<br />

cc) Notwehrwille<br />

Der T handelte mit dem Willen, sein Eigentum zu verteidigen, sodass auch der subjektive<br />

Tatbestand der Notwehr erfüllt ist.<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Tat des T war folglich als Notwehr i.S.d. § 32 StGB gerechtfertigt; es liegt kein strafbares<br />

Unrecht vor.<br />

3. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (-)<br />

ABWANDLUNG<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

a) Recht zur vorläufigen Festnahme gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO (-)<br />

b) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

aa) Als Notwehrlage kommt hier allein der Angriff des E auf das Hausrecht des T, § 123<br />

StGB (Hausfriedensbruch), in Betracht.<br />

Grund: Ein Angriff auf das Eigentum des T ist seitens des ohne Beute fliehenden Diebes nicht mehr gegenwärtig. Vgl.<br />

dazu Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 46, 50 m.w.N.<br />

Zweifel bestehen allerdings an der Gegenwärtigkeit des Angriffs auf das Hausrecht. Da der<br />

T sich hier zur Flucht gewendet hatte, könnte man annehmen, das Hausrecht sei bereits<br />

nicht mehr beeinträchtigt, da der widerrechtliche Aufenthalt des E gerade beendet wird.<br />

bb) Aber auch soweit man wortgebunden darauf abstellt, dass sich der E während seiner<br />

Flucht noch immer auf dem Besitztum des T befindet, erscheint es zweifelhaft, den<br />

Schlag mit der Holzlatte als notwehrspezifische Verteidigung anzusehen. Denn für<br />

die Erforderlichkeit im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ist basale Voraussetzung, dass die<br />

Verteidigungshandlung zur Angriffsabwendung geeignet ist.<br />

126 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Die Verteidigungsmaßnahme muss also grundsätzlich dazu in der Lage sein, „den Angriff<br />

entweder ganz zu beenden oder ihm wenigstens ein Hindernis in den Weg zu legen“ 38 .<br />

Durch das Niederschlagen wird aber der E gerade davon abgehalten, seinen Angriff durch<br />

Verlassen des Grundstücks zu beenden, wie er es erkennbar vorhatte.<br />

cc) Somit scheidet eine Rechtfertigung durch Notwehr in Ermangelung des als Notwehrhandlung<br />

zu qualifizierenden Schlags mit der Holzlatte aus. Die Tat des T verbleibt<br />

rechtswidrig.<br />

3. Schuld (+)<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (+)<br />

38<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 335.<br />

© CT 2013 127


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 54<br />

Günstige Gelegenheit<br />

Schwerpunkte<br />

• Notwehr (§ 32 StGB) als Nothilfe<br />

• Ex-ante-Maßstab der Erforderlichkeitsbeurteilung<br />

• Anforderungen an den Rechtfertigungswillen<br />

Sachverhalt<br />

Der Bankräuber (B) stürmt den Kassenraum einer Bank in vermummtem Zustand<br />

und mit einer echt wirkenden Spielzeugpistole. Als er am Schalter Geld<br />

fordert, wird er von dem T hinterrücks mit einem „Totschläger“ zu Boden<br />

gestreckt. Der T freut sich über die Gelegenheit, endlich einmal von<br />

seinem „Totschläger“ Gebrauch machen zu können und zudem der Bank noch<br />

den Verlust des Bargeldes ersparen zu können.<br />

Hat sich der T strafbar gemacht?<br />

Anmerkung: Ein „Totschläger“ ist eine biegsame Schlagrute, an deren Ende<br />

sich eine etwa golfballgroße Metallkugel befindet. Schläge auf den Schädel<br />

können durch den Peitscheneffekt, bei dem das Endgewicht kurzzeitig<br />

eine deutlich erhöhte Geschwindigkeit erreicht, schwerste Verletzungen<br />

bis hin zu einem Aufplatzen des Schädels verursachen. „Totschläger“ sind<br />

in Deutschland verbotene Waffen i.S.d. WaffG.<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

a) Recht zur vorläufigen Festnahme gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO<br />

Durch das sog. Jedermann-Festnahmerecht sind nur mit dem eigentlichen Festnahmevorgang<br />

typischerweise verbundene, geringfügige Körperverletzungen erlaubt, nicht<br />

aber das Niederschlagen mit einer Waffe wie dem Totschläger.<br />

§ 127 Abs. 1 Satz 1 StPO greift zugunsten des T nicht.<br />

b) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

aa) Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (+)<br />

128 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

bb) Notwehrhandlung<br />

Zulässig i.S.d. § 32 StGB ist die erforderliche und insgesamt gebotene Verteidigungshandlung<br />

zur Abwendung eines Angriffs von sich (Notwehr) oder einem anderen (Notwehr in<br />

Form der Nothilfe).<br />

(1) Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung<br />

Zweifeln unterliegt hier die Frage der Erforderlichkeit. Sie setzt voraus, dass ein milderes,<br />

gleichermaßen abwehrgeeignetes Mittel nicht verfügbar war.<br />

Geht man davon aus, dass der Angriff mit einer Spielzeugpistole objektiv harmlos ist, so<br />

hätte das einfache körperliche Hinausdrängen des Angreifers oder das Abnehmen der Pistole<br />

als milderes Verteidigungsmittel ausgereicht.<br />

Dabei würden allerdings übertriebene Anforderungen an den Notwehrübenden gestellt.<br />

Wird dieser von einem Täter mit einer Scheinwaffe bedroht, so kommt es allein darauf an,<br />

wie der Angegriffene die Drohung verstehen musste; maßgebend ist also die Ex-ante-<br />

Einschätzung eines objektiven Dritten an der Stelle des Angegriffenen.<br />

Dazu Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 46: „Diese Auslegung des Merkmals der Erforderlichkeit führt zu dem kriminalpolitisch<br />

wünschenswerten Ergebnis, dass objektiv unvermeidbare Irrtümer über die Notwendigkeit einer Abwehrmaßnahme<br />

zu Lasten des Angreifers gehen, an der Erforderlichkeit also nichts ändern.“ Zur Problematik der Scheinwaffe siehe auch<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 338; Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 108.<br />

Der Angreifer muss damit rechnen, dass seine Drohung ernst genommen wird; ein Risiko<br />

braucht der Abwehrende nicht einzugehen. 39 War aber von einem mit einer Schusswaffe<br />

bewaffneten Täter (B) auszugehen, so gab es zur Angriffsabwendung kein milderes<br />

Mittel als das von dem T angewandte.<br />

Dass es sich bei der verwendeten Waffe um einen sog. Totschläger, eine gem. § 2 Abs. 3<br />

WaffG i.V.m. Anlage 2, Abschn. 1, Nr. 1.3.2. verbotene Waffe, handelt, ändert nichts an<br />

der Rechtmäßigkeit der erforderlichen Verteidigung.<br />

Siehe etwa BGH, NStZ 1986, 357 f.; Perron, in Schönke/Schröder, StGB, § 32, Rn. 36.<br />

(2) Gebotenheit der Verteidigungshandlung (+)<br />

cc) Notwehrwille bzw. Nothilfewille<br />

Schließlich müsste der T mit dem von § 32 StGB geforderten Verteidigungswillen<br />

(„um…zu“) gehandelt haben. Bedenken am Vorliegen dieses sog. subjektiven Rechtfertigungselements<br />

könnten insofern bestehen, als der T sich auch und insb. darüber gefreut<br />

hat, seinen Totschläger endlich einmal benutzen zu können. Für den Rechtfertigungswillen<br />

ist jedoch das Mitwirken minderwertiger Nebenmotive im Rahmen eines „Motivbündels“<br />

so lange unschädlich, als diese den Verteidigungswillen nicht vollkommen<br />

verdrängen. Es ist keine Motivationsdominanz des Verteidigungswillens erforderlich.<br />

Siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 275 ff., 350a. – Noch weiter gehend Kühl, StrafR AT, § 7,<br />

Rn. 124 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 130, der ein bloßes Verteidigungs- bzw. Rechtfertigungsbewusstsein ausreichen<br />

lässt: „Eine Verteidigung liegt nicht erst vor, wenn der Angegriffene um der Verteidigung willen handelt, sondern<br />

schon dann, wenn er weiß dass er einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abwehrt. Und dem hinter der Notwehr<br />

stehenden Rechtsbewährungsgedanken ist bereits dann objektiv und subjektiv genüge getan, wenn der Täter – aus welchen<br />

Motiven auch immer – in dem Bewusstsein handelt, das Recht gegen das Unrecht durchzusetzen.“<br />

Da der T zumindest auch handelte, um die Rechtsgüter der Bank zu verteidigen, handelte<br />

er mit Rechtfertigungsbewusstsein und mit Verteidigungswillen (Nothilfewillen).<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Körperverletzung ist als Notwehr gem. § 32 StGB gerechtfertigt.<br />

3. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (-)<br />

39<br />

Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 46.<br />

© CT 2013 129


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 55<br />

Kleine Kirschendiebe<br />

Schwerpunkte<br />

• „Gebotenheit“ als sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts (§ 32 StGB)<br />

• Krasses Missverhältnis zwischen Notwehrfolgen und drohendem Rechtsgutsschaden<br />

Hinweis<br />

• Über das normative Merkmal der Gebotenheit unterliegt „das schneidige Schwert“ der Notwehr<br />

einer sozialethischen Kontrolle seiner Anwendbarkeit und Reichweite. Bei dem nachfolgenden<br />

Fall handelt es sich um den klassischen, plastischen Schulfall zur Einschränkung<br />

des Notwehrrechts.<br />

Sachverhalt<br />

Der alleinlebende Bauer T, der seit einem Autounfall gelähmt ist, sitzt<br />

im Rollstuhl auf seiner Terrasse. Plötzlich bemerkt er, wie zwei ihm<br />

bekannte Nachbarsjungen in einen seiner voller Früchte hängenden Kirschbaum<br />

klettern und sich nach Herzenslust bedienen. Auf seine wütenden<br />

Zurufe hin erntet er nur höhnisches Gelächter. Auch als er den kleinen<br />

Dieben droht, ihnen notfalls mit Gewalt Einhalt zu gebieten, ändert sich<br />

nichts. Daraufhin greift der T zu seinem neben ihm liegenden Schrotgewehr<br />

und gibt zwei Gewehrsalven auf den Baum ab. Die Kirschendiebe fallen vom<br />

Baum und sind schwer verletzt.<br />

Hat sich der T der gefährlichen Körperverletzung i.S.d. §§ 223, 224 StGB<br />

strafbar gemacht?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Die von der Tatbestandsverwirklichung indizierte Rechtswidrigkeit der Tat des T könnte<br />

durch das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes entfallen.<br />

In Betracht kommt Notwehr.<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

aa) Notwehrlage<br />

Grundvoraussetzung des Notwehrrechts ist, dass eine Notwehrlage gegeben ist, d.h. ein<br />

gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (§ 32 Abs. 1 StGB). Ein solcher Angriff liegt in<br />

jeder von menschlichem Verhalten ausgehenden Beeinträchtigung rechtlich geschützter<br />

Interessen. Das Abpflücken von Kirschen von fremden Bäumen ist ein Gewahrsamsbruch<br />

130 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

und verwirklicht spätestens mit Trennung der Früchte vom Baum den Straftatbestand des<br />

Diebstahls (§ 242 StGB). Das (aus dieser Perspektive) Opfer T befand sich somit in einer<br />

Notwehrlage.<br />

bb) Notwehrhandlung<br />

Problematisch ist indes, ob die Schüsse des T eine Notwehrhandlung in den Grenzen<br />

des § 32 StGB waren.<br />

Im Rahmen der Notwehr ist zulässig die zur Abwehr des Angriffs erforderliche und gebotene<br />

Verteidigung.<br />

(1) Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung<br />

Das Merkmal „erforderlich“ macht zur Voraussetzung, dass der Notwehrübende das relativ<br />

schonendste, sicher abwehrgeeignete Mittel wählen muss. Konnte er den Angriff anderweitig,<br />

d.h. weniger einschneidend, aber gleich wirksam abwenden, so war seine Handlung<br />

nicht erforderlich. Maßgebend ist der Horizont eines besonnenen Betrachters aus der<br />

Ex-ante-Perspektive des Angegriffenen.<br />

Der Angegriffene braucht sich weder auf unsichere Verteidigungsmittel verweisen zu lassen, noch muss er gar eine Güterabwägung<br />

vornehmen. Das Notwehrrecht basiert auf dem Rechtsbewährungsgedanken; der Angreifer ist nur insoweit<br />

zu schützen, als dies aus dem Übermaßverbot folgt.<br />

Hier war der T allein, Hilfe war nicht ersichtlich und infolge seiner Lähmung war der T nicht<br />

in der Lage, die Jungen anders zu vertreiben, zumal sich Warnrufe als fruchtlos erwiesen<br />

hatten. Die Schüsse waren also zur Verteidigung seiner Rechtsgüter erforderlich.<br />

An dieser Stelle wird der dogmatische Unterschied zwischen Erforderlichkeit und (nunmehr zu prüfender) Gebotenheit<br />

deutlich; Näheres z.B. bei Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 47.<br />

(2) Gebotenheit der Verteidigungshandlung<br />

Notwehr ist allerdings gem. § 32 Abs. 1 StGB nur die zur Verteidigung „gebotene“ Handlung.<br />

Hieraus folgt allgemein, dass die Notwehr als Ausnahme vom originär staatlichen<br />

Gewaltmonopol normativen, d.h. sozialethischen Einschränkungen unterliegt.<br />

Grundsätzlich braucht das Recht dem Unrecht nicht zu weichen. 40 Doch muss in Ausnahmefällen die Möglichkeit einer<br />

normativen (vernunftorientierten) Korrektur bestehen. Das Merkmal der „Gebotenheit“ wurde deshalb 1975 (wieder) in § 32<br />

StGB eingefügt; in der Gesetzesbegründung heißt es: „Nach der Ansicht des Ausschusses bedarf das Notwehrrecht aus<br />

sozialethischen Gründen einer Begrenzung, durch die Fälle ausgeschlossen werden, die keine Rechtfertigung verdienen.<br />

Das gilt etwa bei einer Verteidigung gegenüber Angriffen von Kindern und Geisteskranken, wo man auch nach den<br />

allgemeinen Wertvorstellungen dem ‚Angriff’ durch Flucht ausweichen kann, ohne sich damit in seiner Ehre etwas zu vergeben.<br />

Ferner ist an ‚Angriffe’ zu denken, die so geringfügig sind, dass ihre Hinnahme zugemutet werden kann. [...]“ 41 –<br />

Eingehend zur „Gebotenheit“ Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 55 ff.<br />

Insbesondere in Fällen von Bagatellangriffen oder einem sonstigen krassen Missverhältnis<br />

muss daher auf Notwehr verzichtet werden, selbst wenn damit die Rechtsgutseinbuße<br />

unabgewendet bleibt.<br />

Der Wert der gestohlenen Kirschen dürfte wenige Euro betragen; zudem waren dem T die<br />

Täter (Nachbarsjungen) bekannt. Dieser Bagatellangriff auf ein ersetzbares Rechtsgut<br />

rechtfertigt nicht die schwere Verletzung (oder gar Tötung) der zudem noch jugendlichen<br />

Angreifer.<br />

Zum „krassen Missverhältnis“ siehe auch BayOLG, NJW 1954, 1377 (Verteidigung des Pfandrechts an einem Huhn mit<br />

Axthieben) und NJW 1963, 824 (erzwungene Einfahrt in eine Parklücke).<br />

Weder mit dem Individualschutzprinzip noch mit dem Rechtsbewährungsprinzip als den<br />

beiden Grundpfeilern des Notwehrrechts ist eine solch drastische Abwehrmaßnahme zu<br />

vereinbaren. 42 Für sie soll und darf das Notwehrrecht nach allgemeinen sozialethischen<br />

Wertvorstellungen nicht rechtfertigend zur Verfügung stehen.<br />

Das krasse Missverhältnis zwischen den Notwehrfolgen und dem Schaden, der den<br />

Rechtsgütern des T drohte, steht mithin der Gebotenheit der Notwehrhandlung entgegen,<br />

40<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 339.<br />

41<br />

BT-Drucks. V/4095, S. 14.<br />

42<br />

So auch Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 343.<br />

© CT 2013 131


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

sodass – mangels Gebotenheit der Schüsse – diese nicht als Notwehrhandlung i.S.d. § 32<br />

Abs. 2 StGB zu qualifizieren sind.<br />

Zu den Fallgruppen der sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts siehe Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT,<br />

§ 8, Rn. 343 ff.<br />

b) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Notwehr scheidet zur Rechtfertigung der Tat des T aus. Andere Rechtfertigungsgründe<br />

kommen nicht in Betracht. Die Tat des T verbleibt rechtswidrig.<br />

Merke: Scheidet schon das „scharfe Schwert“ der Notwehr als Rechtfertigungsgrund aus, weil die Handlung nicht erforderlich<br />

oder geboten war, so erübrigt sich die Prüfung anderer Rechtfertigungsgründe.<br />

3. Schuld (+)<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (+)<br />

Geht man davon aus, dass der T bei seinen Schüssen auch den Tod der Nachbarsjungen für möglich hielt und diesen<br />

zumindest billigend in Kauf nahm (dolus eventualis), so ist er außerdem gem. §§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB eines versuchten<br />

Totschlags strafbar. Der (kurz gehaltene) Sachverhalt gibt hierzu aber keine besonderen Hinweise.<br />

132 © CT 2013


Fall 56<br />

Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Provokante Zugluft<br />

Schwerpunkte<br />

• Zum Gebrauch letaler Waffen i.R.d. Notwehr (§ 32 StGB)<br />

• Abgrenzung der absichtlichen von sonst vorwerfbarer Notwehrprovokation<br />

• Einschränkung des Notwehrrechts bei sonst vorwerfbar provozierter Notwehrlage i.R.d.<br />

Merkmals „Gebotenheit“<br />

Hinweis<br />

• Vgl. BGHSt 47, 97 ff. – Notwehrprovokation durch sozialethisch verwerfliches Vorverhalten<br />

Sachverhalt<br />

Der T sitzt alleine in einem Zugabteil; auf dem Gang stehen andere<br />

Fahrgäste. Zu dem T gesellt sich der O, der durch Alkohol leicht berauscht<br />

ist und eine geöffnete Bierdose bei sich hat. Biergeruch breitet<br />

sich im Abteil aus. Der T fühlt sich von dem O gestört und entschließt<br />

sich, ihn mit Kaltluft aus dem Abteil „hinauszuekeln“. Er öffnet das<br />

Fenster, sodass O friert, in der Folge aufsteht und das Fenster zumacht.<br />

Der T öffnet es erneut, das sodann wieder von O geschlossen wird. Dieser<br />

Vorgang wiederholt sich noch einige Male, wobei es zu einem Wortstreit<br />

kommt, bei dem O immer lauter wird. Nachdem der T das Fenster wiederum<br />

geöffnet hat, droht der O, während er das Fenster abermals schließt, dem<br />

T mit erhobener Faust Schläge für den Fall an, dass das Fenster noch<br />

einmal geöffnet würde. Der T zieht daraufhin sein Fahrtenmesser „etwas<br />

aus der Scheide heraus“, sodass die Klinge sichtbar wird. Er will dem O<br />

zeigen, dass ihm ein Messer zur Verfügung steht. In der Annahme, das<br />

Messer werde den O von Tätlichkeiten abschrecken, macht T erneut das<br />

Fenster auf. Nun springt der O auf, um seine Drohung wahrzumachen, und<br />

stürzt sich auf den T. Der T greift nach seinem Fahrtenmesser und sticht<br />

damit dem über ihn gebeugten O ungezielt in einer Aufwärtsbewegung acht<br />

bis zehn Zentimeter tief in den Oberbauch. In dieser Phase des Geschehens<br />

tritt der Zeuge Z in das Abteil ein. Er trennt die Kämpfenden. Der O<br />

verstirbt kurze Zeit darauf an den Folgen des Messerstichs.<br />

Hat sich der T eines Totschlags gem. § 212 StGB strafbar gemacht?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen Totschlags gem. § 212 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand<br />

Fraglich ist, ob der T hinsichtlich einer Tötung des O vorsätzlich gehandelt hat.<br />

© CT 2013 133


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

In Betracht kommt allein die Vorsatzform des dolus eventualis (bedingter Vorsatz), die<br />

allerdings vorsatzkonstitutiv zureichend ist.<br />

Zur Abgrenzung des Eventualvorsatz’ von Fahrlässigkeit BGH, NStZ 2007, 150 (151): „Bedingt vorsätzliches Handeln<br />

setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt,<br />

ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet; bewusste<br />

Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht<br />

einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.“<br />

Bedenkt man die objektiv höchstgefährliche Begehungsweise des in ungezielter Aufwärtsbewegung<br />

abgegebenen Messerstichs, bei dem der Eintritt des Todes lediglich vom Zufall<br />

abhing, so konnte der T vor den möglichen Folgen seines Tuns auf einen glücklichen<br />

Ausgang nicht vertrauen. Vielmehr spricht der äußere Geschehensverlauf dafür, dass<br />

der T die Tötungsmöglichkeit ernst genommen und sich mit ihr – in Anbetracht der ihm<br />

selbst drohenden Gefahr – abgefunden hat.<br />

BGH, NStZ 2007, 150 (151) im Fall von Hammerschlägen auf den Hinterkopf: „Nach ständiger Rechtsprechung des BGH<br />

wird [...] in der Regel das Vertrauen auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges dann zu verneinen sein, wenn der vorgestellte<br />

Ablauf eines Geschehens einem tödlichen Ausgang so nahe ist, dass nur noch ein glücklicher Zufall diesen verhindern<br />

kann [...]. Wird das Opfer in einer Weise verletzt, die offensichtlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit [...] zum Tode<br />

führt [...], liegt (zumindest) bedingter Tötungsvorsatz auf der Hand [...].“ – Zum Grad der Wahrscheinlichkeit des Unrechtserfolgs<br />

als Indiz Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 7, Rn. 218; zum ausreichenden sachgedanklichen Mitbewusstsein<br />

Kühl, StrafR AT, § 5, Rn. 98 f.<br />

Der T handelte mithin (bedingt) vorsätzlich.<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Die Rechtswidrigkeit der Tat, die von der Tatbestandsverwirklichung indiziert ist, könnte<br />

allerdings durch das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes entfallen.<br />

In Betracht kommt Notwehr.<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

aa) Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (+)<br />

bb) Notwehrhandlung<br />

Zulässig gem. § 32 StGB ist eine zur Abwehr des Angriffs erforderliche und insgesamt<br />

gebotene Verteidigungshandlung.<br />

(1) Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung<br />

Zunächst müsste der Messerstich in den Bauch des O erforderlich gewesen sein, d.h., er<br />

müsste das mildeste aller gleich geeigneten, in der „konkreten Kampflage“ 43 zur Verfügung<br />

stehenden Abwehrmittel gewesen sein.<br />

(a) Bei Schuss- oder Stichwaffen gilt schon aufgrund der Unersetzlichkeit des durch die<br />

Notwehrhandlung bedrohten Rechtsguts Leben, dass deren letaler Einsatz allein als ultima<br />

ratio erlaubt sein darf; dabei wohnen der Waffe selbst mildere Mittel inne: Der Waffengebrauch<br />

ist grundsätzlich zuvorderst anzudrohen; bei Erfolglosigkeit der Drohung ist<br />

zu versuchen, die Waffe gezielt wenig gefährlich einzusetzen. Erst hernach darf sich des<br />

Angriffs mit tödlicher Wirkung erwehrt werden. Stets bleibt aber gerade die konkrete<br />

Kampfsituation, wie sie ein besonnener Dritter in der Lage des Angegriffenen beurteilt<br />

hätte, maßgebend.<br />

(b) Der O stürzte sich aus unmittelbarer Nähe auf den T und setzte unmittelbar zu Faustschlägen<br />

an. In dieser akuten, konkreten Gefahrensituation war eine (erneute) Androhung<br />

des Messereinsatz’ offensichtlich sinnlos und damit ungeeignet, um die bevorstehende<br />

Körperverletzung abzuwehren; überdies war ein gezielter, d.h. weniger gefährlicher Messereinsatz<br />

(etwa ein Stich ins Bein) schwerlich möglich.<br />

Zwar hätte der T um Hilfe rufen können, um andere Fahrgäste auf sich aufmerksam zu<br />

machen. Doch wären diese zur Abwehr der unmittelbar bevorstehenden Faustschläge zu<br />

43<br />

BGHSt 27, 336 (337); Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 335; Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 101 m.w.N. zur Rspr.<br />

134 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

spät gekommen; sie hätten die Körperverletzung des O an dem T nicht vereiteln, sondern<br />

nur deren Intensivierung verhindern können. Überdies braucht sich ein Angegriffener, dem<br />

ein Messer zur Abwehr zur Verfügung steht, nicht auf eine für ihn risikoreiche Prügelei<br />

einzulassen.<br />

(c) Der tödliche ungezielte Stich in den Oberbauch war folglich zur Abwehr der bevorstehenden<br />

Körperverletzung erforderlich.<br />

(2) Gebotenheit der Verteidigungshandlung<br />

Unter dem Gesichtspunkt, dass die erforderliche Abwehrhandlung gem. § 32 Abs. 1 StGB<br />

„geboten“ sein muss, erscheint allerdings das provokante Vorverhalten des T nicht<br />

ohne Bedeutung.<br />

Sinn und Zweck des Merkmals der Gebotenheit ist es, das an sich festgestellte Erlaubtsein<br />

der Tat als erforderliche Abwehrhandlung einer abschließenden, notfalls korrektiven sozialethischen<br />

Gesamtbewertung zu unterziehen.<br />

(a) Wer etwa einen Angriff absichtlich provoziert, um den anderen unter dem Deckmantel<br />

der Notwehr verletzen zu können, handelt rechtsmissbräuchlich. Er hat sich bewusst selbst<br />

in die Gefahr eines Angriffs auf seine Rechtsgüter begeben und als Verteidiger der Rechtsordnung<br />

disqualifiziert. Mit den Grundgedanken des Notwehrrechts, Individualschutz und<br />

Rechtsbewährung, wäre es unvereinbar, wollte man diesem Täter, der eine Verteidigung<br />

nur vortäuscht und in Wahrheit angreifen will, seine Tat erlauben.<br />

Zur absichtlichen Notwehrprovokation siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 347: „Wer das Notwehrrecht<br />

gezielt missbrauchen will, hat das Recht nicht auf seiner Seite, sodass der Ausschluss des Notwehrrechts auch keine<br />

Preisgabe schützenswerter Positionen beinhaltet.“<br />

Dem T kam es jedoch nicht darauf an, den O „in Notwehr“ töten zu können; vielmehr wollte<br />

er ihn aus dem Abteil „hinausekeln“, wodurch er zwar eben nicht absichtlich, aber dennoch<br />

vorwerfbar den Angriff des O und damit seine eigene Notwehrlage provozierte.<br />

Zu differenzieren ist also zwischen sog. Absichtsprovokation und sonst schuldhafter Provokation einer Notwehrsituation.<br />

Letztere Provokationen haben in der Praxis, so auch in Übungsarbeiten, weitaus größere Bedeutung. – Die Provokationsproblematik<br />

entsteht aber überhaupt erst dann, wenn die Provokation selbst – mangels Gegenwärtigkeit oder<br />

Rechtswidrigkeit – keinen Angriff i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB darstellt, auf den mit Notwehr reagiert werden dürfte. Siehe Kühl,<br />

StrafR AT, § 7, Rn. 212.<br />

(b) „Ein für den Umfang des Notwehrrechts bedeutsames Vorverhalten, das ‚von Rechts<br />

wegen vorwerfbar’ ist [...], liegt jedenfalls auch dann vor, wenn dieses Vorverhalten seinem<br />

Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt“ 44 ; es muss zumindest sozialethisch<br />

missbilligenswert (wertwidrig) sein und in engem räumlich-zeitlichen sowie insg.<br />

adäquatem Zusammenhang zur Tatsituation stehen. 45<br />

Anders etwa Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 73: „Richtigerweise wird man verlangen müssen, dass ein notwehreinschränkendes<br />

Vorverhalten in rechtswidriger Weise ein Rechtsgut des Verletzten beeinträchtigt. Denn was unterhalb der<br />

Rechtswidrigkeitsschwelle sozialethisch missbilligenswert ist, lässt sich mit rechtlichen Kategorien nicht mehr erfassen und<br />

bleibt daher zu vage. Es soll auch deshalb keine notwehreinschränkende Kraft haben, weil derjenige, der nur sozialethische<br />

Tadel verdient, sich immerhin noch auf dem Boden des Rechts bewegt. Was nicht verboten ist (z.B. nicht beleidigende<br />

Hänseleien), muss man von Rechts wegen hinnehmen oder mit gleicher Münze heimzahlen; wenn man sich stattdessen<br />

zu einem rechtswidrigen Angriff provozieren lässt, bewährt der Verteidiger das Recht (wenn auch nicht die Moral) ohne<br />

Abstriche.“ – Eine Mindermeinung will dem Angegriffenen zwar das Notwehrrecht vollständig belassen, ihn allerdings über<br />

die Figur der „actio illicita in causa“ („im Ursprung unerlaubte Handlung“) als Fahrlässigkeitstäter zur Verantwortung<br />

ziehen; vgl. auch BGH, NStZ 2001, 143. Eingehend zur a.i.i.c. und deren Vor- und Nachteilen Kühl, StrafR AT, § 7,<br />

Rn. 254 ff. und 242 ff.; mit guter Begründung die a.i.i.c. ablehnend Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 77.<br />

Ist der Angegriffene in diesem Sinne selbst mitursächlich an seiner Notwehrlage, hätte er<br />

also den Angriff voraussehen können und vermeiden müssen, so steht ihm nur ein in Relation<br />

zu Art und Stärke des Angriffs eingeschränktes Notwehrrecht zur Verfügung: Der<br />

Angegriffene hat zunächst tunlichst auszuweichen, bei stets drohendem Angriff darf sodann<br />

Schutzwehr (reine Defensivmaßnahmen) und erst hernach Trutzwehr, d.h. aktivaggressive,<br />

ggf. tödliche Gegenwehr geübt werden (sog. Drei-Stufen-Theorie).<br />

44<br />

BGHSt 42, 97 (101); vgl. auch BGHSt 24, 256 (359).<br />

45<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 348.<br />

© CT 2013 135


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

„‚Gebotensein’ der Notwehr und ‚Erforderlichkeit’ der Verteidigungshandlung können ineinander übergehen, decken sich<br />

aber nicht. Ob eine Handlung durch Notwehr geboten ist, hängt von normativen und sozialethischen Erwägungen ab.<br />

Demgegenüber richtet sich die Erforderlichkeit der Abwehr allein nach den tatsächlichen Gegebenheiten, insbes. nach der<br />

Art und Stärke des Angriffs.“ 46<br />

Zur ultima ratio, der Trutzwehr, darf erst übergegangen werden, wenn die Grenze noch<br />

zumutbarer defensiver Verteidigungshandlungen überschritten ist. Dabei gilt, dass das<br />

Notwehrmaß umso eingeschränkter ist, je schwerer die Provokation wog. Die Notwehrbeschränkung<br />

ist wiederum umso geringer, je schwerer das Übel ist, das von dem Angreifer<br />

droht. 47<br />

„Dass [der O] von vornherein vorhatte, den [T] zusammenzuschlagen und auf diese Weise<br />

lebensgefährlich zu verletzen, liegt nach den Umständen nicht nahe: Es kann [dem O] trotz<br />

der Alkoholeinwirkung nicht verborgen geblieben sein, dass zahlreiche Personen im Gang<br />

standen, die seine Flucht hätten vereiteln können, wenn sie schon nicht dem [T] zu Hilfe<br />

kamen. [...] Hätte der [T] […] laut um Hilfe gerufen, so hätten die Mitreisenden dies [...]<br />

wahrgenommen. [Es bestand also] die Aussicht, dass ein Hilferuf des [T] seine Lage verbessern<br />

würde. [...] Hilferufe des [T] waren überdies geeignet, insofern mäßigend auf [den<br />

O] einzuwirken, als sie ihm deutlich machten, dass ihm der Fluchtweg versperrt war.“ 48<br />

Jedenfalls war dem T verwehrt, bei „nur“ drohenden Faustschlägen sogleich eine lebensgefährliche<br />

Abwehr durch einen Messerstich in den Oberbauch des Angreifers vorzunehmen.<br />

Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich auch mit seinen Händen vor Schlägen<br />

des O hätte schützen und den durch Alkohol beeinträchtigten Gegner mit Fußtritten aus<br />

dem Gleichgewicht hätte bringen können, bis die gebotenen Rufe um Hilfe andere Fahrgäste<br />

zu eben solcher veranlasst hätten oder sich die Möglichkeit einer Flucht aus dem<br />

Abteil aufgetan hätte.<br />

Vgl. BGHSt 42, 97 (101 f.); Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 258 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 348.<br />

(c) In Relation zum tödlichen Messerstich waren solche Maßnahmen aufgrund der Mitverursachung<br />

der eigenen Notwehrlage dem T bei sozialethischer Gesamtbewertung der Tat<br />

zuzumuten. Die von dem T sofort ausgeübte tödliche Trutzwehr war demgemäß vorschnell<br />

und damit i.S.d. § 32 Abs. 1 StGB nicht geboten.<br />

So auch Kühl, StrafR AT, § 7, Rn. 259a; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 349; .i.E. auch Roxin, StrafR AT I,<br />

§ 15, Rn. 72, der schon auf die fehlende Erforderlichkeit abstellt, und BGHSt 42, 97 (102), allerdings mit dogmatisch<br />

unklarer Vermengung von Erforderlichkeits- und Gebotenheitsgesichtspunkten.<br />

b) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Tötungshandlung des T ist weder durch Notwehr noch durch einen anderen Rechtfertigungsgrund<br />

gerechtfertigt.<br />

3. Schuld (+)<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§ 212 StGB (+)<br />

Die notwendigerweise beim Totschlag mitverwirklichte Körperverletzung ist infolge Gesetzeskonkurrenz verdrängt;<br />

der Strafausspruch lautet deshalb nur auf Totschlag.<br />

46<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 342 m.w.N.<br />

47<br />

BGHSt 42, 97 (101).<br />

48<br />

BGHSt 42, 97 (101 ff.).<br />

136 © CT 2013


Fall 57<br />

Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Vorgetäuschter Routine-Eingriff<br />

Schwerpunkte<br />

• §§ 223 ff. StGB bei ärztlichen Heileingriffen<br />

• Rechtfertigungsgrund der Einwilligung (Prüfungssystematik)<br />

• Willensmängelfreiheit der rechtfertigenden Einwilligung<br />

Sachverhalt<br />

Arzt T stellt bei der Patientin O eine lebensbedrohliche Krebswucherung<br />

fest, die dringend entfernt werden muss. Da er weiß, dass O sehr ängstlich<br />

ist und einem operativen Eingriff dieses Umfangs nie zustimmen<br />

würde, spiegelt er ihr einen Routine-Eingriff vor, um ihr Leben zu<br />

retten. In diesen willigt die O ein. Bei der Operation entfernt der T<br />

ihr die Geschwulst.<br />

Hat sich der T strafbar gemacht?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand<br />

Zweifelhaft ist bereits, ob ärztliche Heiltätigkeit überhaupt tatbestandsmäßiges Handeln<br />

i.S.e. körperlichen Misshandlung oder Gesundheitsschädigung darstellen kann. Trotz der<br />

Heilungsintention ist dies mit dem Argument zu bejahen, dass – faktisch-objektiv betrachtet<br />

– in den körperlichen Zustand eingegriffen und dieser in Mitleidenschaft gezogen<br />

wird.<br />

Nach st. Rspr. (seit RGSt 25, 375) ist jede ärztliche, die Integrität des Körpers berührende Maßnahme tatbestandlich<br />

Körperverletzung, und zwar gleichgültig, ob erfolgreich oder missglückt, kunstgerecht oder fehlerhaft. Insofern bedarf<br />

ärztliches Handeln stets einer besonderen Rechtfertigung, i.d.R. durch Einwilligung des Patienten; siehe zum Ganzen etwa<br />

Eser/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, § 223, Rn. 27 ff.<br />

Da der T mit der Operation die O in ihrer Körperintegrität beeinträchtigt hat, ist der objektive<br />

Tatbestand verwirklicht.<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

a) Rechtfertigende Einwilligung<br />

Die Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Tat, die von der Tatbestandsverwirklichung<br />

ausgeht, könnte durch eine rechtfertigende Einwilligung seitens der O als Ausdruck<br />

ihres allgemeinen Selbstbestimmungsrechts widerlegt sein.<br />

Übersichtlich zu den Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung etwa Wessels/Beulke/Satzger,<br />

StrafR AT, § 9, Rn. 370 ff.; umfassend zum Ganzen Roxin, StrafR AT I, § 13, 1 ff.<br />

© CT 2013 137


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

aa) Disponibilität des tatbestandlich geschützten Rechtsguts<br />

Basale Voraussetzung der Einwilligung ist die Disponibilität des tangierten Rechtsguts. Die<br />

Disponibilität der hier einwilligungsgegenständlichen körperlichen Unversehrtheit ergibt<br />

sich nicht zuletzt im Umkehrschluss aus § 228 StGB.<br />

Nicht disponibel ist demgegenüber das Rechtsgut Leben, was sich aus der vom Gesetzgeber unter Strafe gestellten Tötung<br />

auf Verlangen (§ 216 StGB) ergibt. Auch Rechtsgüter der Allgemeinheit sind indisponibel.<br />

bb) Individuelle Verfügungsbefugnis über das geschützte Rechtsgut<br />

Verfügungsbefugt ist grundsätzlich nur der Rechtsgutsinhaber oder sein (gesetzlicher)<br />

Vertreter, woran im Falle der O keine Zweifel bestehen.<br />

cc) Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers<br />

Auch hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit der O bestehen keine Bedenken. Insb. ist nicht<br />

dargetan, dass ihre Krankheit zu solchen Schmerzen geführt hatte, dass sie nicht mehr<br />

klar denken konnte und hierdurch die erforderliche natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit<br />

aufgehoben gewesen wäre.<br />

dd) Erteilung der Einwilligung<br />

Die O hat ihre Einwilligung ausdrücklich und nach außen erkennbar vor der Tat (der Operation)<br />

erklärt.<br />

ee) Mängelfreiheit der Einwilligung<br />

Die Einwilligung entfaltet aber nur dann rechtfertigende Wirkung, wenn der Einwilligende<br />

sie ernstlich und ohne wesentliche Willensmängel erklärt hat. Er muss sich über Art<br />

und Umfang der Tat vollständig im Klaren sein, darf weder getäuscht noch bedroht worden<br />

sein.<br />

Insb. bei ärztlichen Heileingriffen muss eine vollständige und umfassende Aufklärung<br />

über Umfang und Risiken erfolgen.<br />

Dazu Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 9, Rn. 376: „Ärztliche Eingriffe in die körperliche Integrität des Patienten sind<br />

[...] erst durch eine Einwilligung nach pflichtgemäßer Aufklärung gerechtfertigt. […] Damit die Einwilligung […] als<br />

Ausdruck der Autonomie des Patienten gewertet werden kann, muss diesem wenigstens eine ausreichende Bewertungsgrundlage<br />

zur Verfügung stehen. Die Aufklärung des Patienten muss daher zumindest Art, Bedeutung und Tragweite<br />

des Eingriffs in Grundzügen umfassen.“<br />

Hier hat der T die O nicht nur nicht umfassend informiert, sondern sie sogar durch die<br />

Verharmlosung aktiv getäuscht.<br />

Zwar geschah die Täuschung zum Wohle, sogar zur Lebensrettung der O, doch „wäre [es]<br />

ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit,<br />

wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig<br />

und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung<br />

rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen vorherige Billigung vornähme. Denn ein<br />

selbst lebensgefährlich Kranker kann triftige und sowohl menschlich wie sittlich achtenswerte<br />

Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch<br />

sie von seinem Leiden befreit werden könnte [...].“ 49<br />

Dazu BGHSt 11, 111 (113 f.) weiter: „Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche<br />

Unversehrtheit fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst<br />

dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter<br />

in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche<br />

Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich.<br />

Zwar ist es sein vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem<br />

Leiden zu heilen. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber in dem grundsätzlichen freien Selbstbestimmungsrecht des<br />

Menschen über seinen Körper ihre Grenze.“<br />

In der Folge liegt keine wirksame Einwilligung der O vor.<br />

49<br />

BGHSt 11, 111 (114).<br />

138 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

b) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Körperverletzung des T verbleibt rechtswidrig.<br />

3. Schuld (+)<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (+)<br />

© CT 2013 139


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 58<br />

„Der will nur spielen...“<br />

Schwerpunkte<br />

• Spezielle Notstandsformen (§§ 228, 904 BGB)<br />

• Tötung eines Hundes bei von diesem ausgehender Gefahr<br />

Sachverhalt<br />

Ausgangsfall<br />

Der Zivildienstleistende T macht mit dem leicht gehbehinderten Rentner R<br />

einen Spaziergang durch den Park, als ihnen der X mit seinem an kurzer<br />

Leine geführten Deutschen Schäferhund entgegenkommt. Plötzlich reißt<br />

sich das Tier los, fängt an, böse zu knurren und zu bellen, und macht<br />

Anstalten, den T anzufallen und zu beißen. Kurzerhand greift sich der T<br />

den Spazierstock des R und schlägt so lange auf den Kopf des Hundes ein,<br />

bis dieser tot ist. Dabei zerbricht der Spazierstock.<br />

Ist der T einer Sachbeschädigung i.S.d. § 303 StGB an dem Hund des X<br />

und/oder an dem Spazierstock des R strafbar?<br />

Abwandlung<br />

Wie ist die Strafbarkeit des T zu beurteilen, wenn es sich bei dem Hund<br />

um einen abgerichteten Pitbull-Terrier handelt, den X aus unbekannten<br />

Gründen auf T gehetzt hat?<br />

Lösung<br />

AUSGANGSFALL<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Sachbeschädigung gem. § 303 StGB am Hund des X<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand<br />

Tatbestandsvoraussetzung ist die Beschädigung oder Zerstörung einer Sache. Der Hund<br />

(Tier) ist gem. § 90a BGB einer Sache gleichgestellt. Seine Tötung stellt eine Vernichtung<br />

seiner Sachexistenz dar, die den Tatbestand des § 303 Abs. 1 StGB erfüllt.<br />

b) Subjektiver Tatbestand<br />

Indem der T zumindest angenommen haben wird, der Tod des Hundes sei möglich, und<br />

sich hiermit um seiner Rettung willen abgefunden hat, handelte der T zumindest bedingt<br />

vorsätzlich (dolus eventualis). Folglich ist auch der subjektive Tatbestand der Sachbeschädigung<br />

zureichend gegeben.<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist die Rechtswidrigkeit der Tat. Ihr ausnahmsweises Entfallen setzt das Eingreifen<br />

von Rechtfertigungsgründen voraus.<br />

140 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

Eine Notwehrlage verlangt einen Angriff; ein solcher kann nur bei menschlichem Verhalten,<br />

nicht aber bei dem eines Tieres vorliegen. Notwehr scheidet deshalb als Rechtfertigungsgrund<br />

aus.<br />

b) Notstandsrecht gem. § 228 BGB<br />

Fraglich ist aber, ob die Tat des T aufgrund Notstands gerechtfertigt war.<br />

Primär ist abzustellen auf die zivilrechtlichen Notstandstatbestände der §§ 228, 904<br />

BGB, die aufgrund der Einheit der Rechtsordnung auch im Strafrecht Berücksichtigung<br />

finden müssen und aus Spezialitätsgründen (den §§ 34, 35 StGB) vorrangig sind.<br />

Beim defensiven Sachnotstand (§ 228 BGB) geht die Gefahr von der Sache aus, die beschädigt wird. Insofern tritt die<br />

Sachwehr in defensivem Notstand bei einer Gefährdung durch Tiere (oder auch leblose Gegenstände) an die Stelle des<br />

§ 32 StGB (Notwehr gegenüber menschlichen Angriffen). 50 – Im Gegensatz dazu dient das Recht aus aggressivem Sachnotstand<br />

(§ 904 BGB) der Rechtfertigung einer Beschädigung an solchen Sachen, die zur Abwehr einer von anderswo<br />

drohenden Gefahr erforderlich sind. – Zu den zivilrechtlichen Sachnotständen siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger,<br />

StrafR AT, § 8, Rn. 290 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 16, Rn. 107 ff.<br />

In Abgrenzung zum aggressiven kommt hier eine Rechtfertigung durch das defensive<br />

Sachnotstandsrecht des § 228 BGB in Betracht.<br />

aa) Notstandslage<br />

§ 228 Satz 1 BGB setzt zunächst eine von der beschädigten Sache selbst ausgehende<br />

Gefahr voraus.<br />

Gefahrenquelle war der Hund des X, den der T mit dem Spazierstock getötet hat. Die von<br />

§ 228 Satz 1 BGB normierte Notstandslage ist folglich vorhanden.<br />

bb) Notstandshandlung<br />

Abweichend von § 34 StGB macht § 228 BGB nur – neben der Erforderlichkeit der Handlung<br />

– zur Auflage, dass der angerichtete Schaden zur abgewendeten Gefahr nicht außer<br />

Verhältnis steht.<br />

„§ 228 BGB sieht davon ab, ein wertmäßiges Überwiegen des bedrohten Rechtsgutes zu verlangen, weil die Abwehrhandlung<br />

sich gegen die gefahrsetzende Sache als solche richtet“. 51 Erkennbar wird die (bereits an obiger Stelle erwähnte)<br />

Vergleichbarkeit des defensiven Sachnotstands mit dem „scharfen Schwert“ der Notwehr i.S.d. § 32 StGB.<br />

Die Tötung des Hundes zur Abwendung einer von diesem ausgehenden, nicht anders abwendbaren<br />

Leibes- oder gar Lebensgefahr ist nicht unverhältnismäßig, sodass objektiv<br />

eine Notstandhandlung i.S.d. Rechtfertigungsnorm gegeben ist.<br />

cc) Verteidigungswille<br />

Da der T auch mit dem Willen zur Abwendung der Notstandslage tätig wurde, sind die<br />

Voraussetzungen des § 228 BGB insgesamt erfüllt.<br />

3. Ergebnis<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Sachbeschädigung des T am Hund des X ist gem. § 228 BGB nicht rechtswidrig.<br />

§ 303 StGB (-)<br />

50<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 290; grundlegend dazu RGSt 34, 295 (296).<br />

51<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 293.<br />

© CT 2013 141


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

II. Strafbarkeit des T wegen Sachbeschädigung gem. § 303 StGB am Spazierstock<br />

des R<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

a) Notstandsrecht gem. § 904 Satz 1 BGB<br />

Fraglich ist, ob die Tat des T durch ein zu seinen Gunsten eingreifendes Notstandsrecht<br />

aus § 904 Satz 1 BGB (aggressiver Sachnotstand) gerechtfertigt ist.<br />

aa) Notstandslage<br />

Die von § 904 Satz 1 BGB vorausgesetzte gegenwärtige Gefahr, hier in Form des Leib<br />

und Leben des T bedrohenden Hundes, liegt vor.<br />

bb) Notstandshandlung<br />

§ 904 Satz 1 BGB fordert, dass die erfolgte Handlung zur Abwendung der Gefahr notwendig,<br />

d.h. erforderlich, war und dass überdies – im Vergleich zu § 34 StGB schärfer –<br />

der gedroht habende Schaden gegenüber dem zur Gefahrabwendung verursachten<br />

Sachschaden unverhältnismäßig groß ist.<br />

Dem T drohte von dem Hund des X eine Leibes- und Lebensgefahr. Eine gegenüber dem<br />

Eingriff in das Eigentum des R (Sachbeschädigung an dessen Spazierstock infolge der<br />

Schläge auf den Hund) mildere, aber gleich abwehrgeeignete Maßnahme stand ihm nicht<br />

zur Verfügung. Eben diese Sachbeschädigung war nur geringfügig, der dem T drohende<br />

Körperschaden mithin unverhältnismäßig groß.<br />

§ 904 BGB basiert auf dem Gedanken einer in Notsituationen solidarischen Rechtsgemeinschaft und dem daraus<br />

resultierenden „gewissen Maß an Opferbereitschaft“ des Einzelnen. 52 Gem. § 904 Satz 2 BGB kann aber der zum Sachopfer<br />

Verpflichtete zivilrechtlich Schadensersatz verlangen.<br />

cc) Verteidigungswille<br />

Zumal der T auch mit dem Willen zur Abwendung der Notstandslage handelte, sind die<br />

Voraussetzungen des § 904 Satz 1 BGB insgesamt erfüllt.<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Rechtswidrigkeit der Sachbeschädigung an dem Spazierstock des R entfällt folglich<br />

gem. § 904 Satz 1 BGB.<br />

Eine gleichfalls zu bejahende mutmaßliche Einwilligung des R braucht nicht mehr geprüft zu werden.<br />

3. Ergebnis<br />

§ 303 StGB (-)<br />

III. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T hat sich nicht strafbar gemacht.<br />

52<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 295.<br />

142 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

ABWANDLUNG<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Sachbeschädigung gem. § 303 StGB am Hund des X<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

aa) Notwehrlage<br />

§ 32 Abs. 2 StGB setzt einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraus. Problematisch<br />

ist allein, ob es sich bei dem auf den T losstürmenden Hund des X um einen<br />

Angriff i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB handelt, welcher eine menschliche Handlung erfordert.<br />

Demgegenüber von Tieren bzw. Sachen (§ 90a BGB) drohende Gefahren eröffnen den<br />

Anwendungsbereich des defensiven Sachnotstands i.S.d. § 228 StGB (siehe oben den<br />

Ausgangsfall).<br />

Die Beurteilung dieser Frage hängt davon ab, ob ein auf einen Menschen gehetzter Kampfhund<br />

als gefährliches Werkzeug des „Hetzers“ zu bewerten ist, dieser mithin einer gefährlichen<br />

Körperverletzung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB strafbar wäre.<br />

„Dem Zweck des § [224] StGB entspricht es [...], bei der Begehungsweise ‚mittels eines<br />

anderen gefährlichen Werkzeugs’ nicht zu unterscheiden, ob der Täter den Angriff auf einen<br />

anderen Menschen mit einem toten Gegenstand durch Aufwendung eigener körperlicher<br />

Kraft ausführt oder ob er lediglich seinen Willen einsetzt, um die Verletzung eines<br />

anderen herbeizuführen, indem er ein infolge seiner Veranlagung oder Abrichtung zum<br />

Angriff auf Menschen bereites Tier veranlasst, sein Opfer anzufallen, anstatt den Überfall<br />

selbst körperlich auszuführen. Dass das auf einen anderen Menschen gehetzte Tier von<br />

Leben erfüllt ist, kann an der Beurteilung nichts ändern, da das Tier zu eigener freier Willensentscheidung<br />

nicht fähig ist und mithin von ihm ähnlich wie von einem toten Gegenstand<br />

Gebrauch gemacht wird. Der Täter benutzt das Tier in diesem Fall als Werkzeug. In<br />

beiden Fällen handelt der Rechtsbrecher auch in gleichem Maße strafwürdig. Notwendig<br />

ist bei beiden Arten der Einwirkung allerdings, dass das Werkzeug nach seiner objektiven<br />

Beschaffenheit und der Art seiner Benutzung zu einem gefährlichen Werkzeug gemacht<br />

wird [...], dass seine Anwendung im Einzelfall die Gefahr erheblicher Verletzungen mit sich<br />

bringt.“ 53 Dies ist hier bei dem auf einen Menschen gehetzten Pitbull-Terrier der Fall.<br />

Folglich liegt ein Angriff des X auf den T, der mit dem Werkzeug „Kampfhund“ ausgeführt<br />

wird, vor; eine von Menschenhand ausgelöste Notwehrlage ist gegeben.<br />

Siehe etwa Roxin, StrafR AT I, §15, Rn. 6; Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 290.<br />

3. Ergebnis<br />

bb) Erforderliche und gebotene Notwehrhandlung (+)<br />

cc) Notwehrwille (+)<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Die Sachbeschädigung des T an dem Hund des X ist gem. § 32 StGB gerechtfertigt.<br />

§ 303 StGB (-)<br />

53<br />

BGHSt 14, 152 (154 f.).<br />

© CT 2013 143


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

II. Strafbarkeit des T wegen Sachbeschädigung gem. § 303 StGB am Spazierstock<br />

des R<br />

Die zwar objektiv sowie subjektiv verwirklichte Sachbeschädigung ist – wie im Ausgangsfall<br />

– gem. § 904 Satz 1 BGB gerechtfertigt, mithin straflos.<br />

III. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T hat sich nicht strafbar gemacht.<br />

144 © CT 2013


Fall 59<br />

Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Regenschirm-Abwehr<br />

Schwerpunkte<br />

• § 33 StGB – Umfang und Grenzen entschuldigter Notwehrüberschreitung<br />

• Intensiver Notwehrexzess<br />

• Extensiver Notwehrexzess<br />

Sachverhalt<br />

Ausgangsfall<br />

Der T befindet sich nachts auf dem Weg nach Hause, als er bemerkt, wie<br />

eine Gestalt (G) urplötzlich neben ihm aus dem Gebüsch springt und ihn<br />

mit den Worten „Jetzt bist du geliefert!“ attackiert. Der T ist zu Tode<br />

erschrocken, reißt seinen in eine Metallspitze zulaufenden Regenschirm<br />

hoch und versetzt dem G eine tiefe Stichwunde. Da der T selbst sehr groß<br />

und kräftig ist und G körperlich weit unterlegen ist, hätte auch eine<br />

einfache körperliche Gegenwehr des T ohne Einsatz des Regenschirms zur<br />

Beendigung des Angriffes ausgereicht.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Abwandlung<br />

Als G bereits aus seiner Stichwunde schwer blutend am Boden liegt, ist<br />

der T noch immer so erschrocken und verängstigt über den Vorfall, dass<br />

er dem G „sicherheitshalber“ noch einen weiteren Stich mit dem Schirm<br />

versetzt.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Lösung<br />

AUSGANGSFALL<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist die Rechtswidrigkeit der Tat, die grundsätzlich von der Straftatbestandsverwirklichung<br />

indiziert ist, aber bei Eingreifen von Rechtfertigungsgründen entfallen kann.<br />

In Betracht kommt, dass die Tat des T durch Notwehr i.S.d. § 32 StGB gerechtfertigt ist.<br />

© CT 2013 145


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

3. Schuld<br />

a) Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (+)<br />

b) Notwehrhandlung<br />

Zulässig i.S.d. § 32 StGB ist die erforderliche und insgesamt gebotene Verteidigungshandlung<br />

zur Abwendung eines Angriffs. Hier ist die Erforderlichkeit zweifelhaft. Sie setzt voraus,<br />

dass der Täter das mildeste sicher abwehrgeeignete Mittel wählt.<br />

Im Falle des T hätte angesichts des Kräfteverhältnisses bereits eine einfache körperliche<br />

Abwehr ohne Einsatz des Schirms ausgereicht. Deshalb fehlt es an der Erforderlichkeit<br />

der konkret getätigten Handlung.<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Notwehr scheidet somit als Rechtfertigungsgrund aus; auch andere Rechtfertigungsgründe<br />

sind nicht einschlägig. Die Tat des T ist rechtswidrig.<br />

Dass der T Unrecht getan hat, also den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung<br />

rechtswidrig verwirklicht hat, genügt allein nicht, um ihn mit Strafe zu sanktionieren. Erforderlich<br />

ist überdies, dass die Tat ihm dergestalt persönlich vorwerfbar ist, dass in ihr die<br />

fehlerhafte Einstellung des Täters zu den Verhaltensanforderungen der Rechtsordnung<br />

zum Ausdruck kommt (Gesinnungsunwert).<br />

Dazu Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 396 f.: „In Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes<br />

beruht das deutsche Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip: Strafe setzt Schuld voraus [...]. [...]<br />

Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen<br />

Recht und Unrecht zu entscheiden. Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf<br />

gegen den Täter zu erheben.“ Überdies besteht mit Blick auf den präventiven Zweck der Strafe keine Notwendigkeit, einen<br />

nicht Schuldigen zu bestrafen. 54 Grundlegend dazu auch BGHSt 2, 194 (200 f.).<br />

In diesem Sinne erscheint die Schuld des T deshalb problematisch, weil seine Tat entschuldigt<br />

sein könnte. In Betracht kommt der Entschuldigungsgrund des § 33 StGB.<br />

a) § 33 StGB<br />

Der die Schuld des Täters entfallen lassende sog. Notwehrexzess setzt voraus, dass der<br />

Täter in einer Notwehrlage die Grenzen seines Notwehrrechts aus Verwirrung, Furcht<br />

oder Schrecken überschritten hat.<br />

Zum Notwehrexzess eingehend Roxin, StrafR AT I, § 22, Rn. 68 ff.; kurz und übersichtlich Wessels/Beulke/Satzger,<br />

StrafR AT, § 10, Rn. 446 ff.<br />

Aus eben einem solchen sog. asthenischen Affekt hat der T die i.S.d. Notwehrrechts nicht<br />

erforderliche Tat begangen. Die Überschreitung der zulässigen Intensität des Notwehrrechts<br />

(intensiver Notwehrexzess) ist entschuldigt.<br />

b) Ergebnis der Schuldprüfung<br />

Ein Schuldvorwurf ist dem T mithin nicht zu machen.<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (-)<br />

54<br />

Vgl. Kühl, StrafR AT, § 10, Rn. 5 m.w.N.<br />

146 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

ABWANDLUNG<br />

Strafbarkeit des T wegen gefährl. Körperverletzung gem. §§ 224, 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

3. Schuld<br />

Fraglich ist, ob die Tat des T durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt war.<br />

a) Notwehrlage<br />

Zwar lag ein rechtswidriger Angriff seitens des G vor, doch war dieser vollständig abgewehrt,<br />

als der T ein weiteres Mal mit dem Schirm zuschlug. Eine Notwehrlage besteht aber<br />

gem. § 32 Abs. 2 StGB nur, wenn der Angriff „gegenwärtig“ ist, d.h. unmittelbar bevorsteht,<br />

begonnen hat oder noch fortdauert 55 .<br />

Mangels Gegenwärtigkeit des Angriffs lag mithin keine Notwehrlage (mehr) vor.<br />

b) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Notwehr scheidet als Rechtfertigungsgrund aus. Die Tat des T ist rechtswidrig.<br />

a) § 33 StGB<br />

§ 33 StGB regelt die Überschreitung der Notwehrgrenzen aus asthenischen Affekten.<br />

aa) Dies betrifft grundsätzlich und unstrittig den Fall, dass im Rahmen einer bestehenden<br />

Notwehrlage gehandelt wird und lediglich eine Überschreitung der erforderlichen Mittel<br />

dem Täter zur Last fällt (sog. intensiver Notwehrexzess).<br />

Der T hat jedoch „zu Tode erschrocken“ und „verängstigt“ die zeitliche Grenze des Notwehrrechts<br />

überschritten.<br />

bb) Fraglich ist, ob auch diese Fälle des sog. (hier nachzeitigen) extensiven Notwehrexzess’<br />

von § 33 StGB erfasst sind oder aber zumindest eine analoge Anwendung der Norm<br />

geboten ist.<br />

(1) Zwar legen Wortlaut und systematische Stellung der Vorschrift nahe, dass eine Notwehrlage<br />

tatsächlich bestanden haben muss, damit § 33 StGB anwendbar sein kann.<br />

Formal gesehen kann erst sodann die Grenze der Notwehr überschritten werden. Somit<br />

schiede eine Entschuldigung der zeitlichen Überschreitung der Notwehr(-lage) aus.<br />

So BGH, NStZ 2002, 141: „§ 33 StGB kommt dem Täter, der aus einem der dort genannten asthenischen Affekte handelt,<br />

nur so lange zu Gute, bis die Notwehrlage und Angriffsgefahr endgültig beseitigt sind [...].“; RGSt 21,189 ff.; 54, 36 (37);<br />

62, 76 (77); BGH, NJW 1968, 1885; NStZ 1987, 20.<br />

(2) Doch stellt grundsätzlich auch die Voraussetzung der Gegenwärtigkeit eine (zeitliche)<br />

Grenze der Notwehr dar, sodass die Anwendbarkeit des § 33 StGB nicht kategorisch ausgeschlossen<br />

erscheint. „[E]ine ‚begriffliche Unmöglichkeit’ des extensiven Exzesses liegt<br />

also nicht vor. Auch fehlt es in diesen Fällen nicht an der ‚psychologischen Überforderung<br />

durch die Dramatik der Situation’, da es gerade der rechtswidrige Angriff ist, der<br />

als Vor- oder Nachwirkung den asthenischen Affekt hervorruft. Ebenso leuchtet die Annahme<br />

nicht ein, dass bei intensivem Exzess eine Unrechtsminderung gegeben ist, die bei<br />

extensivem Exzess fehle. Denn wenn jemand bei einer maßvollen Reaktion über die zeitlichen<br />

Grenzen der Notwehr geringfügig hinausgeht, kann sein Unrecht weit geringer sein,<br />

55<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 328; ganz ähnlich Roxin, StrafR AT I, § 15, Rn. 21.<br />

© CT 2013 147


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

als wenn er bei einem gegenwärtigen Angriff die Grenzen der Erforderlichkeit erheblich<br />

überschreitet.“ 56<br />

(3) Die „Grenzen der Notwehr“ können dennoch nur „überschritten“ werden, wenn eine<br />

Notwehrlage immerhin bestanden hat. 57 Das heißt, dass nur der nachzeitige Notwehrexzess<br />

im Anwendungsbereich des § 33 StGB liegen kann.<br />

Erforderlich verbleibt allerdings, dass ein enger räumlich-zeitlicher Zusammenhang zwischen<br />

Notwehrlage und Tathandlung bestand. 58<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 447: „Ist [...] die zunächst gerechtfertigte Gegenwehr nunmehr rechtswidrig,<br />

da der Angriff bereits abgeschlossen ist, so entspricht die psychische Situation der des intensiven Notwehrexzesses, und<br />

auch der Wortlaut des § 33 steht nunmehr einer Anwendbarkeit auf diese Fallgruppe nicht entgegen.“ – Weiter allerdings<br />

Roxin, StrafR AT I, § 22, Rn. 88 ff., der vor- und nachzeitigen Notwehrexzess als von § 33 StGB erfasst sieht.<br />

cc) Die Überschreitung der zeitlichen Grenze des Notwehrrechts durch den T, die aus<br />

Furcht und Schrecken und in unmittelbarem Zusammenhang zur vormals gegebenen Notwehrlage<br />

geschah, ist mithin entschuldigt.<br />

Mit dem BGH (a.a.O.) ist eine a.A. ebenso gut vertretbar, d.h. die Ansicht, dass § 33 StGB stets eine bestehende Notwehrlage<br />

voraussetzt und der T folglich im vorliegenden Fall nicht entschuldigt ist, weil § 33 StGB nicht greift.<br />

b) Ergebnis der Schuldprüfung<br />

Gem. § 33 StGB entfällt die Schuld des T.<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§§ 224, 223 StGB (-)<br />

56<br />

Roxin, StrafR AT I, § 22, Rn. 89.<br />

57<br />

Kühl, StrafR AT, § 12, Rn. 143.<br />

58<br />

Roxin, StrafR AT I, § 22, Rn. 90; Kühl, StrafR AT, § 12, Rn. 144.<br />

148 © CT 2013


Fall 60<br />

Christian Trentmann<br />

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Gefährliche Eiger-Nordwand<br />

Schwerpunkte<br />

• Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB<br />

• Entschuldigender Notstand, § 35 StGB<br />

• Zur Indisponibilität des Rechtsguts Leben i.R.d. rechtfertigenden Einwilligung<br />

Sachverhalt<br />

T, X und Y sind Bergsteiger und haben sich gemeinsam auf eine Expedition<br />

zur Ersteigung der Eiger-Nordwand gemacht; zur Sicherheit sind sie mit<br />

Seilen aneinander gebunden. Bei der Überquerung einer Gletscherspalte<br />

rutscht der hinten gehende X aus und stürzt am Seil einige Meter in die<br />

Tiefe. Hierdurch reißt er T und Y mit herunter. Nachdem alle drei einige<br />

Stunden hilflos in der Luft gehangen haben, entschließt sich T, das Seil<br />

zu X und Y zu kappen, um wenigstens sich selbst hochziehen zu können und<br />

so dem sicheren Tod durch Erfrieren zu entgehen. X und Y stimmen dem<br />

Vorhaben angesichts der ausweglosen Lage zu. Sie kommen bei dem Sturz<br />

in die Tiefe ums Leben; T gelingt es, vom Gewicht der beiden Gefährten<br />

befreit, sich am Seil wieder hochzuziehen und dadurch in Sicherheit zu<br />

bringen.<br />

Hat sich der T eines Totschlags (§ 212 StGB) strafbar gemacht?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen Totschlags gem. § 212 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist, ob die von der Tatbestandsverwirklichung indizierte Rechtswidrigkeit der Tat<br />

aufgrund eines zugunsten des T eingreifenden Rechtfertigungsgrunds entfällt.<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr scheidet schon wegen fehlenden Angriffs aus.<br />

b) Rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB<br />

In Betracht kommt rechtfertigender Notstand i.S.d. § 34 StGB.<br />

aa) Notstandslage<br />

Grundvoraussetzung ist eine gegenwärtige Gefahr für ein (beliebiges) Rechtsgut.<br />

„Gefahr i.S.d. § 34 kann auch eine Dauergefahr sein. [...] Die Gegenwärtigkeit einer Gefahr reicht hiernach weiter als die<br />

Gegenwärtigkeit des Angriffs i.S.d. § 32. Dies hängt mit dem Unterschied zwischen Gefahr und Angriff zusammen; das<br />

© CT 2013 149


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

3. Schuld<br />

Angriffsstadium der Notwehr setzt eine akute Zuspitzung der Gefahr, d.h. wenigstens ein unmittelbares Bevorstehen des<br />

rechtsgutsbeeinträchtigenden Verhaltens voraus [...].“ 59<br />

Der T war weder in der Lage, sich aus eigener Kraft unter Rettung der X und Y zu befreien,<br />

noch war fremde Hilfe erreichbar. Sein Leben war der konkreten Gefahr des Erfrierens<br />

ausgesetzt.<br />

bb) Notstandshandlung<br />

Fraglich ist weiter, ob sich das Durchtrennen des Seils als Rettungshandlung i.S.d. § 34<br />

StGB darstellt. Das setzt voraus, dass die Gefahr nicht anders abwendbar war, das hierdurch<br />

geschützte Rechtsgut das beeinträchtigte wesentlich überwog und die Notstandshandlung<br />

auch angemessen war.<br />

(1) Das Durchtrennen des Seils war die einzige Möglichkeit, das Leben des T zu retten.<br />

Die Gefahr war also nicht anders abwendbar.<br />

Die Voraussetzung „nicht anders abwendbar“ entspricht der der Erforderlichkeit bei der Notwehr (§ 32 StGB). Zu prüfen ist<br />

mithin, ob – bei mehreren zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – das gewählte Mittel das mildeste sicher abwehrgeeignete<br />

war. Es gilt, wie bei der Notwehr, ein Ex-ante-Maßstab; siehe Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 308 f.<br />

(2) Allerdings muss auch ein wesentlicher Wertüberhang zugunsten des geschützten<br />

Interesses gegenüber dem beeinträchtigten gegeben sein. Hierfür kommt es zunächst auf<br />

einen abstrakten Vergleich der betroffenen Rechtsgüter an.<br />

Der T hat das Rechtsgut Leben in zwei Fällen beeinträchtigt, um sein eigenes Leben zu<br />

retten. Eine Verrechnung „Leben gegen Leben“ verbietet sich aber von Verfassungs<br />

wegen. Das Rechtsgut Leben ist jedenfalls absolut schützenswert. Dieser Grundsatz ist in<br />

Bezug auf die Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Tötungsdelikts nicht relativierbar,<br />

auch dann nicht, wenn ein einzelnes Leben schon mehr oder weniger todgeweiht ist.<br />

(3) Also war das Kappen des Seils keine von § 34 StGB gedeckte Notstandshandlung.<br />

b) Rechtfertigende Einwilligung<br />

Auch die Zustimmung („Ermunterungen“) von X und Y vermag nicht, als Einwilligung i.S.e.<br />

Rechtsgutsverzichts die Tat des T zu rechtfertigen. Denn mit Blick auf § 216 StGB (Strafbarkeit<br />

der Tötung auf Verlangen) ist das Rechtsgut Leben indisponibel.<br />

c) Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />

Mangels Eingreifen eines Rechtfertigungsgrunds verbleibt die Tat des T, die Tötung von X<br />

und Y, rechtswidrig.<br />

Fraglich ist indes, ob der T schuldhaft handelte.<br />

Hintergrund des Prüfungspunkts „Schuld“ ist das Schuldprinzip als neben dem Gesetzlichkeitsprinzip zweites großes Prinzip<br />

des Strafrechts, vgl. z.B. § 46 StGB. – Dazu BGHSt 2, 194 (200 f.): „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit.<br />

Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich<br />

für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der<br />

innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt<br />

und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen<br />

des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden [...].“<br />

An der Schuldfähigkeit des T bestehen keine Bedenken; doch könnte seine Handlung, die<br />

Tötung von X und Y, gem. § 35 StGB entschuldigt sein.<br />

a) Entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB<br />

aa) Notstandslage<br />

Eine gegenwärtige Gefahr für das Rechtsgut Leben des T lag vor.<br />

Im Gegensatz zu § 34 StGB ist die von § 35 StGB erfasste Notstandslage wesentlich enger gefasst: Nur eine gegenwärtige<br />

Gefahr für Leben, Leib oder (Fortbewegungs-)Freiheit, die dem Täter selbst, einem Angehörigen oder einer dem<br />

Täter nahe stehenden Person droht, eröffnet den Anwendungsbereich des § 35 StGB.<br />

59<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 8, Rn. 306 f.<br />

150 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

bb) Notstandshandlung<br />

Die Gefahr darf nicht anders als durch rechtswidrige Verletzung eines anderen Rechtsguts<br />

abwendbar gewesen sein.<br />

Der T hatte keine Möglichkeit, den sicheren Tod durch Erfrieren abzuwenden, als sich von<br />

den beiden anderen Bergsteigern loszumachen. Somit war seine Tat erforderlich.<br />

Im Gegensatz zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) beinhaltet § 35 StGB keine Interessenabwägung oder<br />

gar das wesentliche Überwiegen des zu schützenden Rechtsguts. Doch muss die Notstandshandlung „als ultima ratio<br />

den einzigen und letzten Ausweg aus der Notlage bilden; sie muss also zur Abwendung der Gefahr objektiv geeignet<br />

und erforderlich sein. [...] Außerdem ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; der angerichtete<br />

Schaden darf nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zur Schwere der Gefahr bestehen. Wer zur Abwendung einer<br />

nur geringfügigen Leibesgefahr oder Freiheitsbeeinträchtigung einen Unbeteiligten schwer verletzt oder gar tötet, ist nicht<br />

entschuldigt. Je gravierender die mit der Rettungshandlung verbundene Rechtsgutsverletzung ist, desto sorgfältiger muss<br />

der Täter die Möglichkeiten eines anderen Auswegs prüfen. Die Prüfung der Nichtandersabwendbarkeit wird also bereits<br />

durch Zumutbarkeitserwägungen mitgeprägt.“ 60<br />

cc) Rettungswille<br />

Da der T handelte, um unter dem Eindruck der Gefahr sein eigenes Leben zu retten, ist<br />

auch das subjektive Rechtfertigungselement zureichend erfüllt.<br />

dd) Unzumutbarkeit der Gefahrtragung<br />

Schließlich darf gem. der Ausnahmeregelung in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB auch keine besondere<br />

Gefahrtragungspflicht des Täters bestehen. Gesetzlich typisierter Fall ist die Gefahrtragungspflicht<br />

desjenigen, der die Gefahr selbst verursacht hat oder der in besonderem<br />

Rechtsverhältnis mit erhöhter Gefahrtragungspflicht stand.<br />

Zur Ausnahmeregelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB und deren Regelbeispielen etwa Kühl, StrafR AT, § 12, Rn. 59 ff.<br />

Hinsichtlich des T ist kein Umstand ersichtlich, der die Unzumutbarkeit der Gefahrtragung<br />

widerlegen könnte.<br />

b) Ergebnis der Schuldprüfung<br />

Die Tat des T ist gem. § 35 StGB entschuldigt.<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§ 212 StGB (-)<br />

60<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 438 f.<br />

© CT 2013 151


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Fall 61<br />

Feuer bei Nacht<br />

Schwerpunkte<br />

• Irrtum über Rechtfertigungsumstände (Erlaubnistatumstandsirrtum), hier: Putativnotwehr<br />

• Prüfungssystematik und Argumente beim Erlaubnistatumstandsirrtum<br />

Sachverhalt<br />

Der T ist nachts auf einer schwach beleuchteten Nebenstraße der Hamburger<br />

Reeperbahn unterwegs, als er plötzlich von dem ungepflegt aussehenden O<br />

von der Seite angetippt wird. Der T glaubt, O wolle ihn ausrauben.<br />

Kurzerhand streckt er den O mit einem Faustschlag nieder, um sich zu<br />

schützen. Tatsächlich wollte der O den T lediglich um Feuer für seine<br />

Zigarette bitten.<br />

Hat sich der T strafbar gemacht?<br />

Lösung<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist die Rechtswidrigkeit der Tat; sie wird grundsätzlich von der Straftatbestandsverwirklichung<br />

indiziert.<br />

a) Recht zur Notwehr gem. § 32 StGB<br />

Notwehr scheidet mangels objektiv nicht vorliegendem rechtswidrigem Angriff aus.<br />

b) Irrtum über das tatsächliche Gegebensein der Notwehrlage<br />

Allerdings glaubte der T sich in einer Notwehrlage; er ging irrtümlich davon aus, dass<br />

die sachlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrunds (die Tatumstände<br />

eines Erlaubnistatbestands) vorlägen. Wären sie tatsächlich gegeben gewesen,<br />

hätte es sich also tatsächlich um einen rechtswidrigen Angriff seitens des O gehandelt,<br />

so wäre die erforderliche und gebotene Abwehrhandlung in Form des Faustschlags als von<br />

§ 32 StGB gerechtfertigt, zumal T diesen auch mit Verteidigungswillen ausführte.<br />

Wichtig: „Ob wirklich ein Erlaubnistatumstandsirrtum vorliegt, kann [...] erst festgestellt werden, wenn geprüft wurde, ob<br />

sich der Täter an die Voraussetzungen der jeweiligen Erlaubnisnorm gehalten hat. Bei der Putativnotwehr muss also auf<br />

der Basis der Fehlvorstellung des Täters (= seine Sicht zur Wirklichkeit gemacht) geprüft werden, ob der vorgestellte Angriff<br />

ein gegenwärtiger rechtswidriger war, ob sich die Verteidigungshandlung im Rahmen der Erforderlichkeit hielt, ob der Täter<br />

sich verteidigen wollte und – in bestimmten Fällen – ob er die ‚sozialethischen’ Einschränkungen der Notwehr eingehalten<br />

hat. Diese zusätzlichen Erfordernisse sind deshalb zu stellen, weil sonst der im Irrtum befindliche Täter mehr Rechte hätte<br />

als ein Täter, der sich wirklich in einer Rechtfertigungssituation, z.B. in einer Notwehrsituation, befindet.“ 61 – Zu warnen<br />

ist insg. vor „überstürzten“ Annahmen eines Erlaubnistatumstandsirrtums; dazu eingehend Gasa, JuS 2005, 890 ff.<br />

61<br />

Kühl, StrafR AT, § 13, Rn. 69.<br />

152 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Ein solcher sog. Erlaubnistatumstandsirrtum ist im StGB nicht geregelt. Seine Behandlung<br />

ist deshalb in Anlehnung an die Wertungsmodelle entweder des § 17 StGB (schuldausschließender<br />

Verbotsirrtum) oder des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB (vorsatzausschließender<br />

Tatumstandsirrtum) zu ermitteln.<br />

Zur zunächst beabsichtigten, aber sodann verworfenen Regelung dieser Irrtumsproblematik im Rahmen des (Neu-)Entwurfs<br />

des StGB von 1962 (BT-Drucks. IV/650, zur geltenden Rechtslage BT-Drucks. V/4095, S. 9) siehe Roxin, StrafR AT I,<br />

§ 14, Rn. 53.<br />

aa) Der T kannte alle Umstände des objektiven Straftatbestands der Körperverletzung<br />

(§ 223 StGB). Deren Verwirklichung geschah tatvorsätzlich; ein reiner Tatumstandsirrtum,<br />

wie ihn § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB direkt regelt, liegt nicht vor.<br />

bb) Möglich erscheint, den Irrtum über das Erlaubtsein der Tat wie auch alle anderen nicht<br />

als Tatumstandsirrtümer zu klassifizierenden Irrtümer unter die Weitläufigkeit des Merkmals<br />

der fehlenden Unrechtseinsicht i.S.d. § 17 StGB einzuordnen. Denn wenn der<br />

Tatbestand eines Delikts – anders als i.R.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB – bewusst und gewollt<br />

verwirklicht wird, so liegt der Schluss nahe, dass die Strafbarkeit aus vorsätzlichem Delikt<br />

allein eine Frage der Vermeidbarkeit ist. Das hieße, der Täter muss sich besonders sorgfältig<br />

vergewissern, ob er ausnahmsweise zu einer tatbestandlichen Rechtsgutsverletzung<br />

berechtigt ist. Irrt er sich hier, so ist wie beim Verbotsirrtum auch beim Rechtswidrigkeitsirrtum<br />

ausnahmslos die Wertungsebene des fehlenden Unrechtsbewusstseins i.S.d. § 17<br />

StGB betroffen.<br />

Hinter dieser sog. strengen Schuldtheorie steht, alle Irrtümer, die sich nicht i.S.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB auf Merkmale<br />

des Deliktstatbestands beziehen, ausnahmslos („streng“) als Verbotsirrtümer, d.h. als Probleme der fehlenden Unrechtseinsicht,<br />

anzusehen und damit auf der Schuldebene anzusiedeln. – Nachweise zu den Vertretern dieser (älteren)<br />

Lehre etwa bei Roxin, StrafR AT I, § 14, Fn. 84.<br />

cc) Doch ist der Täter, der annimmt, durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt zu handeln,<br />

„an sich rechtstreu“ 62 . Denn „[w]er Umstände annimmt, deren Vorliegen die Tat<br />

rechtfertigen würden, handelt auf Grund einer Zielsetzung, die mit den Normen des Rechts<br />

völlig übereinstimmt. Was er will, ist nicht nur nach seiner – unmaßgeblichen – subjektiven<br />

Meinung, sondern auch nach dem objektiven Urteil des Gesetzgebers rechtlich einwandfrei.“<br />

63<br />

Wie bei der Unkenntnis von „Tatumständen“ i.S.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB verstellt dem<br />

Täter auch die irrige Annahme von Rechtfertigungsumständen die Sicht auf den sein Handeln<br />

beinhaltenden konkreten Verletzungs- und Unrechtsgehalt. „Der Täter entscheidet<br />

sich zwar für die Verletzung des anderen, doch nur, weil er glaubt, etwas ausnahmsweise<br />

Erlaubtes zu tun. Dass er etwas Rechtswidriges tut, weiß er nicht, weil er die Situation<br />

verkennt.“ 64 In diesem Sinne besteht kein qualitativer Unterschied zwischen dem Irrtum<br />

über Tatumstände und dem über Erlaubnistatumstände.<br />

Zu einer zutreffenden Wertung des Verletzungsgeschehens in seiner wirklich verübten<br />

Form kann der Täter infolge seiner unrichtigen Faktenkenntnis gar nicht vordringen. Die<br />

von § 17 StGB vorausgesetzte Fehlbewertung findet deswegen nicht statt; eine fehlende<br />

„Einsicht“ i.S.d. § 17 StGB, die dem Vorwurf der Vermeidbarkeit ausgesetzt wäre, liegt<br />

folglich nicht vor.<br />

„Wenn man einem solchen Täter eine vorsätzliche Straftat vorwirft oder ihn [...] – wie die<br />

strenge Schuldtheorie – dem für vorsätzliche Rechtsbrecher geschaffenen Strafrahmen<br />

unterwirft, verwischt man den grundlegenden Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit,“<br />

65 indem mit Fahrlässigkeitskennzeichen (Sorgfaltspflichtverletzungen) für das<br />

Bestehen eines Vorsatzes argumentiert wird. Doch handelt nur vorsätzlich, „wer sich für<br />

ein Verhalten entscheidet, das von der Rechtsordnung verboten ist (selbst wenn er dieses<br />

62<br />

BGHSt 3, 105 (107).<br />

63<br />

Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 64.<br />

64<br />

Kühl, StrafR AT, § 13, Rn. 72.<br />

65<br />

Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 64.<br />

© CT 2013 153


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Verbot nicht kennt). Wer aber von Vorstellungen geleitet ist, die auch bei objektiver Beurteilung<br />

auf etwas rechtlich Erlaubtes gerichtet sind und dabei infolge eines Mangels an<br />

Aufmerksamkeit und Sorgfalt einen unerwünschten Erfolg herbeiführt, den trifft der Vorwurf<br />

der Fahrlässigkeit.“ 66<br />

Hinter dieser ganz herrschenden „eingeschränkten Schuldtheorie“, die – im Gegensatz zur strengen Schuldtheorie –<br />

den Erlaubnistatumstandsirrtum als Irrtum sui generis („eigener Art“) aus dem Anwendungsbereich des § 17 StGB<br />

herausnimmt (deshalb „eingeschränkt“) und dem Tatumstandsirrtum gleichstellt, stehen unterschiedliche Begründungsmodelle.<br />

Deren wichtigste sind die eingeschränkte Schuldtheorie i.e.S., die das sog. Vorsatzunrecht auf der Rechtswidrigkeitsebene<br />

analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB verneint (so Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 64; Kühl, StrafR AT, § 13, Rn. 73;<br />

Köhler, StrafR AT, S. 326; vgl. BGHSt 3, 105 [107]; 3, 357 [364]; 31, 264 [286 f.]), sowie die rechtsfolgenverweisende<br />

eingeschränkte Schuldtheorie, die zwar auf der Schuldebene die Schuld („Vorsatzschuld“) verneint, dies jedoch – mit<br />

der vorgenannten eingeschränkten Schuldtheorie i.e.S. übereinstimmend – mit der Rechtsfolge analog § 16 Abs. 1 Satz 1<br />

StGB (so Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 11, Rn. 479; OLG Hamm, NJW 1987, 1034). Zum gesamten „Theorienwirrwarr“<br />

67 übersichtlich und kritisch Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 52 ff.<br />

dd) Somit ist auf den Erlaubnistatumstandsirrtum des T § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog<br />

anzuwenden: Da der T einen Tatumstand der Notwehrlage (Erlaubnistatumstand) irrig annahm,<br />

der, wenn er tatsächlich (objektiv) vorgelegen hätte, seine Körperverletzung an dem<br />

O gerechtfertigt hätte, entfällt das vom Tatbestand indizierte Handlungsunrecht auf<br />

der Rechtswidrigkeitsebene, mithin das Vorsatzunrecht.<br />

„Der Unrechtsvorsatz, der nach der hier befürworteten eingeschränkten Schuldtheorie [i.e.S.] für die Vorsatzstrafe erforderlich<br />

ist, umfasst also mehr als der Tatbestandsvorsatz des § 16 Abs.1. Zu ihm gehört die Kenntnis der Umstände des<br />

gesetzlichen Tatbestandes (§ 16 Abs.1) sowie zusätzlich die Nichtannahme rechtfertigender Umstände.“ 68<br />

3. Ergebnis<br />

c) Zwischenergebnis: Rechtswidrigkeit (-)<br />

§ 223 StGB (-)<br />

II. Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 StGB<br />

Siehe § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB, der analog zur Anwendung kommt.<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (+)<br />

b) Erfolgsverursachung / Kausalität (+)<br />

c) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Zurechnung des Erfolgs (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld, insb. Fahrlässigkeitsschuld (+)<br />

4. Ergebnis<br />

§ 229 StGB (+)<br />

III. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T hat sich einer fahrlässigen Körperverletzung gem. § 229 StGB strafbar gemacht.<br />

66<br />

Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 64.<br />

67<br />

Roxin, StrafR AT I, § 14, Fn. 88.<br />

68<br />

Roxin, StrafR AT I, § 14, Rn. 70.<br />

154 © CT 2013


Fall 62<br />

Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Religiöses Züchtigungsrecht?<br />

Schwerpunkte<br />

• Erlaubnisnormirrtum als indirekter Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB (Abgrenzung des Erlaubnisirrtums<br />

vom Erlaubnistatumstandsirrtum i.S.d. eingeschränkten Schuldtheorie)<br />

• Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums<br />

Sachverhalt<br />

Der T ist strenggläubiger Angehöriger der Religionsgemeinschaft R; er<br />

lebt mit seiner Frau O als Asylbewerber seit ca. zwei Monaten in der<br />

Bundesrepublik Deutschland. Der T entstammt einer bäuerlich-dörflichen<br />

Gemeinschaft im Staate A, ist dort im Geiste jahrhundertealter Glaubensregeln<br />

erzogen worden und spricht kein Wort Deutsch.<br />

Im Zuge alltäglicher Streitigkeiten mit der O und aus Unzufriedenheit<br />

über den nach seiner Ansicht unangemessenen, verschwenderischen Umgang<br />

mit den sehr knappen Haushaltsmitteln schlägt er mehrfach auf sie ein.<br />

Er will sie hierdurch auf ihr in seinen Augen vorliegendes Fehlverhalten<br />

aufmerksam machen und eine Verhaltenskorrektur erreichen. Die O erleidet<br />

erhebliche Schmerzen und verschiedene Blutergüsse.<br />

Der T glaubt sich bei seinem Verhalten im Einklang mit geoffenbarten<br />

Grundsätzen religiösen Rechts, da nach seiner Auffassung den von seiner<br />

Religionsgemeinschaft als Glaubensgrundlage verwendeten Schriften ein<br />

entsprechendes Züchtigungsrecht zu entnehmen sei.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Lösung<br />

Strafbarkeit des T wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit<br />

Die Tat des T müsste rechtswidrig sein, was von der Tatbestandsverwirklichung (widerlegbar)<br />

indiziert ist.<br />

a) Zwar glaubte sich der T „im Einklang mit geoffenbarten Grundsätzen religiösen Rechts“<br />

und beruft sich auf ein Züchtigungsrecht gegenüber seiner Ehefrau. Doch ist ein solches<br />

in der deutschen Rechtsordnung weder ausdrücklich statuiert, noch gewohnheitsrechtlich<br />

anerkannt.<br />

© CT 2013 155


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

3. Schuld<br />

Die Rechtsordnung muss „schlüssig und strikt intolerant sein, wenn das zugrundeliegende<br />

Freiheitsprinzip selbst verletzt wird“, wenn es also um fundamentale Freiheitsprinzipien,<br />

insb. das Selbstbestimmungsrecht des Menschen negierende Ansichten geht. 69<br />

Zum interkulturellen Normenkonflikt eingehend Köhler, StrafR AT, S. 433 ff.<br />

Nicht zuletzt mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG wäre es in diesem Sinne nicht<br />

vereinbar, ein Züchtigungsrecht des Ehemanns gegenüber seiner Ehefrau anzunehmen.<br />

b) Der T nahm also irrtümlich an, durch einen nicht existierenden Erlaubnistatbestand<br />

(Rechtfertigungsgrund) gerechtfertigt zu handeln, obwohl er zutreffende Kenntnis von<br />

allen Umständen des Sachgeschehens hatte.<br />

Letzteres lässt keinen Zweifel am Unrechtsvorsatz des T zu: Bewusst und gewollt, bei richtiger<br />

Faktenkenntnis, verwirklichte der T den Tatbestand der Körperverletzung. Ihm fehlte<br />

allein die Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun, weil er sich die Existenz einer eben nicht<br />

existierenden Erlaubnisnorm vorstellte. Nicht ein Irrtum auf der Sachverhalts-, sondern auf<br />

der Wertungs- bzw. Normebene liegt vor. Ein solcher sog. Erlaubnis(norm)irrtum belässt<br />

mit Blick auf § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB den Vorsatz des Täters unberührt und ist folglich<br />

nach § 17 StGB eine Frage der Vermeidbarkeit i.R.d. Schuld.<br />

So in Übereinstimmung alle Schuldtheorien; anders nur die veraltete, weil vor der Existenz des § 17 StGB entwickelte<br />

„Vorsatztheorie“.<br />

Fraglich ist schließlich allein die Schuld des T, der hier entgegenstehen könnte, dass dem<br />

T das Unrechtsbewusstsein infolge seines Erlaubnisnormirrtums fehlte. Ein solcher (indirekter)<br />

Verbotsirrtum lässt die Schuld des Täters gem. § 17 Satz 1 StGB aber nur dann<br />

entfallen, wenn er unvermeidbar war.<br />

§ 17 StGB erfasst zunächst den „klassischen“ direkten Verbotsirrtum, der als Wertungsirrtum vom Tatumstandsirrtum<br />

auf der Sachverhaltsebene (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB) abzugrenzen ist. Darüber hinaus ist § 17 StGB auch auf die indirekten<br />

Verbotsirrtümer, d.h. Erlaubnisirrtümer (Erlaubnisnorm- und Erlaubnisgrenzirrtum) anzuwenden. Diese sind nach<br />

der ganz herrschenden eingeschränkten Schuldtheorie abzugrenzen vom gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog vorsatzausschließenden<br />

Erlaubnistatumstandsirrtum. – Das heißt: Erlaubnisirrtum und Erlaubnistatumstandsirrtum stehen sich<br />

entsprechend dem Verhältnis des klassischen direkten Verbotsirrtums zum Tatumstandsirrtum gegenüber; maßgeblich ist<br />

jeweils die betroffene Ebene, d.h. ein Irrtum auf der Sachverhaltsebene (über die Umstände des tatsächlichen Geschehens)<br />

ist § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB (ggf. analog) zuzuordnen und ein solcher auf der Wertungs- bzw. Normebene § 17 StGB.<br />

„Mängel im Wissen sind bis zu einem gewissen Grad behebbar. Der Mensch ist, weil er<br />

auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist, auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung<br />

gerufen, sich als <strong>Teil</strong>haber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten<br />

und das Unrecht zu vermeiden. Dieser Pflicht genügt er nicht, wenn er nur das nicht tut,<br />

was ihm als Unrecht klar vor Augen steht. Vielmehr hat er bei allem, was er zu tun im<br />

Begriff steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in<br />

Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu<br />

bedarf es der Anspannung des Gewissens, ihr Maß richtet sich nach den Umständen des<br />

Falles und nach dem Lebens- und Berufskreis des Einzelnen. Wenn er trotz der ihm danach<br />

zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines<br />

Tuns nicht zu gewinnen vermochte, war der Irrtum unüberwindlich, die Tat für ihn nicht<br />

vermeidbar. In diesem Falle kann ein Schuldvorwurf gegen ihn nicht erhoben werden.<br />

Wenn dagegen bei gehöriger Anspannung des Gewissens der Täter das Unrechtmäßige<br />

seines Tuns hätte erkennen können, schließt der Verbotsirrtum die Schuld nicht<br />

aus.“ 70<br />

Ein potentielles Unrechtsbewusstsein ist somit ausreichend; zu den „sehr strengen Anforderungen“ des BGHSt 2,<br />

194 (201 f.), an die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 11, Rn. 466;<br />

Kühl, StrafR AT, § 13, Rn. 60 f.; eingehend Roxin, StrafR AT I, § 21, Rn. 35 ff.<br />

Auch wenn der T in einem beschränkten Umfeld aufgewachsen ist, kann er die Fortgeltung<br />

überkommener Maßstäbe in einem anderen kulturellen Umfeld nicht unterstellen. Vielmehr<br />

69<br />

Köhler, StrafR AT, S. 435.<br />

70<br />

BGHSt 2, 194 (201).<br />

156 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

ist ihm zuzumuten, unter „gehöriger Gewissensanspannung“ sich zu der Erkenntnis durchzuringen,<br />

dass sein Verhalten der bundesdeutschen Rechtsordnung fundamental, d.h.<br />

eine die Freiheit aller Bürger sichernde Vorschrift des Kernstrafrechts betreffend,<br />

widerspricht. Dies gilt umso mehr, als der Aufenthalt des T in der Bundesrepublik<br />

Deutschland bereits zwei Monate andauerte und auf unbestimmte Dauer angelegt war.<br />

Vgl. Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, § 17, Rn. 17.<br />

Der (indirekte) Verbotsirrtum des T war somit vermeidbar; die Schuld des T entfällt nicht.<br />

Ein anderes Ergebnis (Straffreiheit) erscheint gerade auch unter kriminalpolitischen, strafzweckorientierten Gesichtspunkten<br />

nur schwer vertretbar.<br />

4. Strafbarkeitsergebnis<br />

§ 223 StGB (+)<br />

Gem. § 17 Satz 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB kann die Strafe des T entsprechend seiner minderen Schuld gemildert werden<br />

(fakultative Strafmilderung).<br />

© CT 2013 157


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Fall 63<br />

In der Ursache freie Handlung<br />

Schwerpunkte (im Ausgangsfall)<br />

• Zur Differenzierung von Handlungs- und Schuldunfähigkeit<br />

• Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB und diesbzgl. Bedeutung der BAK<br />

• Problemlösungsansätze und Prüfungsaufbau bei der a.l.i.c.-Strafbarkeit<br />

• § 323a StGB (Vollrausch) als Auffangtatbestand<br />

Schwerpunkte (in der Abwandlung)<br />

• Auswirkungen des error in persona im Rahmen der a.l.i.c.-Strafbarkeit<br />

• Entbehrlichkeit der a.l.i.c. beim fahrlässigen Erfolgsdelikt<br />

• Verhältnis der a.l.i.c. zum Vollrauschtatbestand des § 323a StGB<br />

Hinweise<br />

• Der Fall behandelt das klassische Problem der sog. actio libera in causa („a.l.i.c.“). Diese<br />

versucht das unbillige Ergebnis, dass ein Täter, der unter dem Deckmantel der Schuldunfähigkeit<br />

eine schwere Straftat begeht, „nur“ aus § 323a StGB (Vollrausch) bestraft werden<br />

kann, zu vermeiden. Alle Begründungsmodelle der a.l.i.c. (Ausnahme-, Ausdehnungs- und<br />

Tatbestandsmodell) sind jedoch rechtsstaatlichen Bedenken ausgesetzt.<br />

• Lesenswert und instruktiv dazu BGHSt 42, 235 ff.<br />

Sachverhalt<br />

Ausgangsfall<br />

Der T erwägt schon seit Längerem, den ihm verhassten Nachbarn O umzubringen.<br />

Dazu hat er sich bereits eine Schusswaffe gekauft; er kann sich<br />

jedoch zur endgültigen Ausführung nicht entschließen, zum einen weil er<br />

Bestrafung fürchtet, zum anderen weil ihn ein Rest moralischer Skrupel<br />

plagt. Daher fasst er den Entschluss, sich „mit Alkohol zuzuschütten“,<br />

um sich seiner Hemmungen zu entledigen und den O im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit<br />

zu erschießen.<br />

An einem Freitagabend lädt der T den nichtsahnenden O zu sich nach Hause<br />

ein, angeblich, um mit ihm „das Kriegsbeil bei ein paar Getränkchen zu<br />

begraben“. Während T und O zusammensitzen, konsumiert der T, der Alkohol<br />

sonst selten trinkt, insgesamt die Menge von nahezu zwei Flaschen Wodka,<br />

nebst anderer, weiterer alkoholhaltiger Getränke. Nunmehr im Zustand<br />

vollkommener Trunkenheit zieht der T, der sich kaum noch in aufrechter<br />

Sitzposition halten kann und den O nur noch schemenhaft erkennt, seine<br />

Pistole und schießt mehrmals in Richtung des O. Dieser wird tödlich<br />

getroffen.<br />

Die dem T später von der Polizei entnommene Blutprobe enthält eine<br />

Blutalkoholkonzentration (BAK) von 3,4 ‰ für den Tatzeitpunkt.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Abwandlung<br />

Wiederum sitzen T und der ahnungslose O zusammen und saufen. Der T ist<br />

bereits in zurechnungsunfähiger Verfassung. O ist gerade auf die Toilette<br />

gegangen, sodass dem T Zeit bleibt, seine Pistole hervorzuholen und<br />

schussbereit auf die Wiederkehr des O zu warten. Schemenhaft erkennt er<br />

eine Person, die sich schwankend durch die Tür ins Wohnzimmer begibt;<br />

in dem Glauben, es sei der O, drückt der T ab. Als er sich dem auf den<br />

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Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Boden gesackten, stark blutenden Opfer nähert, erkennt der T, dass es<br />

sein Sohn X ist, den er tödlich getroffen hat. Dieser war früher als<br />

angekündigt von einer Party nach Hause gekehrt, weil er zu schnell zu<br />

viel Alkohol getrunken hatte.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Lösung<br />

AUSGANGSFALL<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Mordes gem. § 211 StGB durch den Schuss auf O<br />

(unmittelbare Tathandlung)<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand<br />

aa) „Tötung eines Menschen“<br />

Fraglich erscheint i.R.d. objektiven Tatbestands allein, ob dem Verhalten des T, d.h. dem<br />

Schuss auf den O, aufgrund des hochgradigen Rauschzustands noch Handlungsqualität<br />

beigemessen werden kann.<br />

Doch ist die willentlich-motorische Steuerungsfähigkeit eines Volltrunkenen grundsätzlich<br />

nicht, wie etwa im Zustand der Bewusstlosigkeit, vollständig ausgeschaltet, „solange<br />

der Trunkene noch in der Zielrichtung sinnvolle, koordinierte Bewegungsabläufe vornehmen<br />

kann“ 71 . Auch die Auslösung des tödlichen Schusses auf den O durch den T war<br />

stets – trotz aller bei Alkoholintoxikation typischerweise vorliegenden Ausfallerscheinungen<br />

– noch von seinem Willen zielgesteuert.<br />

bb) (Objektives) Mordmerkmal: Heimtücke (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld<br />

Strafe setzt die Schuld des Täters voraus, d.h. die individuelle Vorwerfbarkeit der Tat und<br />

damit den Vorwurf, der Täter habe sich falsch zwischen Recht und Unrecht entschieden.<br />

a) Schuldunfähigkeit<br />

Grundvoraussetzung der Schuld ist die Fähigkeit, das Unrecht der Tat überhaupt einsehen<br />

und nach dieser Einsicht handeln zu können (Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, vgl.<br />

§ 20 StGB). Diese wird beim Erwachsenen, der strafrechtliches Unrecht verwirklicht, vom<br />

Gesetzgeber als regelmäßig gegeben vermutet.<br />

aa) Ohne Schuld handelt jedoch gem. § 20 StGB, wer bei Begehung der Tat etwa wegen<br />

einer krankhaften seelischen Störung (1. Variante) oder einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung<br />

(2. Variante) schuldunfähig ist.<br />

71<br />

Roxin, StrafR AT I, § 8, Rn. 70.<br />

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Die Schuldunfähigkeitsfeststellung erfolgt dabei vermittels einer biologisch-psychologischen<br />

Methode unter notwendiger Verwendung empirischer Grundlagen sowie normativer<br />

Aspekte.<br />

In studentischen Übungsarbeiten wird zumeist ein eindeutiger Hinweis auf das Vorliegen der Schuldunfähigkeit gegeben<br />

sein; jedenfalls wird eine eigenständige Bewertung, die im „wirklichen Leben“ die Aufgabe von Sachverständigen ist, nicht<br />

gefordert sein. Vgl. dazu Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 3; zur Methodologie der Schuldunfähigkeitsfeststellung Roxin,<br />

StrafR AT I, § 20, Rn. 1 ff.<br />

bb) Der T befand sich zur Tatzeit in einem hochgradigen Rauschzustand. Möglich erscheint<br />

deshalb ein durch Alkoholintoxikation verursachter Ausschluss der Schuldfähigkeit. Ob dieser<br />

gegebenenfalls unter das Merkmal der krankhaften seelischen Störung zu subsumieren<br />

oder aber als tiefgreifende Bewusstseinsstörung aufzufassen ist, kann mangels praktischer<br />

Erheblichkeit der begrifflichen Einordnung offen bleiben.<br />

Für Vollrausch als „krankhafte seelische Störung“, weil körperliche Vergiftung, etwa BGHSt 43, 66 (69); Roxin,<br />

StrafR AT I, § 20, Rn. 10.<br />

cc) Der T hatte zum Tatzeitpunkt eine BAK von 3,4 ‰ . Doch gibt es keinen gesicherten<br />

medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber, dass allein wegen einer bestimmten<br />

BAK zur Tatzeit vom Vorliegen eines alkoholbedingten Ausschluss’ der Einsichts- und<br />

Steuerungsfähigkeit auszugehen ist. Vielmehr ist Rücksicht zu nehmen auf psychodiagnostische<br />

Beurteilungskriterien dergestalt, dass erst eine Gesamtbeurteilung aller einen<br />

Rückschluss auf den Grad der Beeinträchtigung zulassenden Umstände entscheidend<br />

sein kann, was „die Prüfung aller äußeren und inneren Kennzeichen des Tatgeschehens<br />

und der Persönlichkeitsverfassung des Täters voraussetzt, in die auch der BAK-Wert<br />

einzubeziehen ist“ 72 .<br />

Dennoch berechtigt ein BAK-Wert von über 3,0 ‰ zu der (widerlegbaren) Vermutung einer<br />

möglichen Schuldunfähigkeit des Täters; er ist ein „beachtliches Indiz“ 73 . Von Bedeutung<br />

ist aber bereits an dieser Stelle die (abstrakte) Art und Schwere des Delikts: Es<br />

gilt der „Grundsatz [...], dass an eine Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens umso<br />

strengere Anforderungen zu stellen sind, je schwerer die Tat und damit die natürliche<br />

Hemmschwelle ist“ 74 . In der Folge ist die BAK-Untergrenze i.S. obiger Vermutungsregel<br />

von 3,0 ‰ bei Tötungs- und schweren Gewaltdelikten um 10 Prozent auf 3,3 ‰ anzuheben.<br />

75<br />

Zur Bedeutung der BAK i.R.d. Schuldunfähigkeitsfeststellung übersichtlich Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 10; eingehend und<br />

umfassend Perron, in Schönke/Schröder, StGB, § 20, Rn. 16 ff.; aus der Rspr. etwa BGHSt 43, 66 ff.; 35, 308 ff.; 36,<br />

286 ff.; 37, 231 ff.<br />

dd) Mithin lässt der Promillewert von 3,4 ‰, der bei dem T für den Tatzeitpunkt festgestellt<br />

wurde, die Möglichkeit der alkoholverursachten Schuldunfähigkeit vermuten. Diese Annahme<br />

wird gerade dadurch bestätigt, dass es sich bei dem T um einen Alkohol ungewohnten,<br />

sog. Gelegenheitstrinker handelt. Dem Ausschluss der Schuldfähigkeit entgegenstehende<br />

Umstände sind dem Geschehen wiederum nicht zu entnehmen.<br />

Es ist insofern festzustellen, dass der T gem. § 20 StGB schuldunfähig war, als er den<br />

Schuss auf den O abgab.<br />

b) Bedarf und Möglichkeiten einer gerechtigkeits- und präventionsorientierten Ergebniskorrektur<br />

Es erscheint unbillig, das Tatgeschehen allein auf die konkrete, unmittelbare Tatausführung<br />

zu beschränken und den Umstand unberücksichtigt zu belassen, dass sich der T bewusst<br />

und willentlich in schuldunfähigen Zustand versetzt hat, um die Tat „zurechnungsunfähig<br />

zu begehen“.<br />

72<br />

BGHSt 36, 286 (288); st. Rspr., vgl. BGHSt 35, 308 (315 f.).<br />

73<br />

BGH, StrV 1990, 107.<br />

74<br />

Perron, in Schönke/Schröder, StGB, § 20, Rn. 16d m.w.N. zur Rspr.<br />

75<br />

Vgl. Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 10; BGHSt 43, 66 (69).<br />

160 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

Denn der T wäre insofern allein aus dem auf fünf Jahre Freiheitsentzug begrenzten Strafrahmen<br />

des § 323a StGB (Vollrausch) und nicht gem. § 211 StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe<br />

zu bestrafen – dies trotz seiner rechtsmissbräuchlichen Gesinnung und seiner<br />

in der Ursache des Sich-Betrinkens freien (und damit schuldhaften) Handlungsentscheidung<br />

(„actio libera in causa“) zur Rechtsgutsverletzung und Unrechtsbegehung.<br />

Nicht nur aus Gerechtigkeitserwägungen, sondern auch im Präventionsinteresse ist<br />

dies bedenklich.<br />

Zur Rechtsfigur der „actio libera in causa“ siehe etwa Jerouscheck, JuS 1997, 385 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 56 ff.;<br />

BGHSt 42, 235 ff.<br />

aa) Zur Möglichkeit einer Ausnahme von § 20 StGB<br />

(1) Überlegenswert ist vor dem genannten Hintergrund, ob in eben jenen Fällen eine (ungeschriebene)<br />

Ausnahme von dem § 20 StGB zugrunde liegenden Prinzip der Koinzidenz<br />

von Tatbegehung und Schuld zu machen ist. In diesem Sinne könnte dem Täter die Berufung<br />

auf seine in actū fehlende Schuldfähigkeit als selbstwidersprüchlich versagt werden,<br />

wenn er bereits bei Herbeiführung des schuldausschließenden Rauschzustandes mit dem<br />

konkreten Vorsatz handelt, im schuldunfähigen Zustand eine bestimmte Straftat zu verwirklichen.<br />

Dem Täter würde dabei – unter Vorverlagerung allein des Schuldvorwurfs – das<br />

schuldhafte Vorverhalten des Sich-Berauschens als schuldhafte Tatbegehung angelastet.<br />

Für eine solche sog. Ausnahmelösung etwa Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 10 und Kühl, StrafR AT, § 11,<br />

Rn. 18, denn jedenfalls werde der „§ 323a-Ausweg“ der Sache nicht gerecht; eine Klarstellung de lege ferenda sei zu<br />

begrüßen.<br />

(2) Eine solche Ausnahme ist jedoch „mit dem eindeutigen Wortlaut des § 20 StGB, nach<br />

dem die Schuldfähigkeit ‚bei Begehung der Tat’ vorliegen muss, nicht in Einklang zu<br />

bringen. Aus diesem Grunde kann die actio libera in causa auch nicht als richterrechtliche<br />

Ausnahme von dem Koinzidenzprinzip [...] oder als Gewohnheitsrecht [...] anerkannt werden.<br />

Beide Erklärungsversuche sind mit Art. 103 Abs. 2 GG, der strafbarkeitsbegründendes<br />

Gewohnheitsrecht verbietet [...], nicht vereinbar [...]. [...] Ob der Gesetzgeber die<br />

Rechtsfigur der actio libera in causa als richterrechtliche Ausnahme von § 20 StGB akzeptiert<br />

hat, ist angesichts des eindeutigen Wortlautes des § 20 StGB ohne Bedeutung, solange<br />

er dies nicht im Gesetzestext zum Ausdruck bringt [...].“ 76<br />

bb) Zur Möglichkeit einer Ausdehnung des Schuldtatbestands<br />

(1) Möglich erscheint ferner, den Begriff der „Begehung der Tat“ in § 20 StGB in der Weise<br />

auszudehnen, dass das vortatbestandliche, auf die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar<br />

bezogene Vorverhalten (das Sich-Betrinken) zwar nicht vom Unrechtstatbestand, wohl<br />

aber vom funktional zu verstehenden Schuldtatbestand erfasst ist.<br />

Für eine solche sog. Ausdehnungslösung Streng, JuS 2001, 540 (542 ff.); ders., JZ 1994, 709 (711).<br />

(2) Doch es „spricht nichts dafür, dass das Strafgesetzbuch den in § 16 Abs. 1, § 16 Abs. 2,<br />

§ 17 Satz 1 und in § 20 unterschiedslos verwendeten Begriff in § 20 in einem weiteren Sinn<br />

verstanden wissen will als in jenen anderen Vorschriften. Im Übrigen hätte dieses ‚Ausdehnungsmodell’<br />

über die Fallgestaltungen der actio libera in causa hinaus, um die es ihr geht,<br />

eine auch unter Präventions- und Gerechtigkeitsgedanken nicht zu rechtfertigende Einschränkung<br />

des § 20 StGB zur Folge [...].“ 77<br />

Der Sache nach bestehen gerade bei einer Ausdehnung des Tatbegriffs in § 20 StGB, noch<br />

mehr als bei einer bloß singulären Ausnahme vom Koinzidenzprinzip (i.S. obiger Ausnahmelösung)<br />

rechtsstaatliche und damit verfassungsrechtliche Zweifel. Denn Art. 103 Abs. 2<br />

GG schließt Strafbarkeitsbegründungen jenseits der gesetzlichen Festlegungen kategorisch<br />

aus.<br />

Dazu Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 70: „terminologischer Trick, der an der fehlenden Koinzidenz von Tat und Schuld der<br />

Sache nach nichts ändert“. Nach Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 18 ist deshalb die Ausnahmelösung „ehrlicher“.<br />

76<br />

BGHSt 42, 235 (241 f.).<br />

77<br />

BGHSt 42, 235 (240 f.).<br />

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Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

c) Ergebnis der Schuldprüfung<br />

In der Folge verbleibt es dabei, dass der T bei Abgabe des Schusses auf den O schuldunfähig<br />

i.S.d. § 20 StGB war.<br />

4. Ergebnis<br />

§ 211 StGB durch den Schuss auf den O (-)<br />

Zwar ist der T nicht wegen des Schusses auf den O des Mordes strafbar; doch verbleibt die Möglichkeit, an das Sich-<br />

Betrinken den Strafbarkeitsvorwurf zu knüpfen. Zu diesem, sich in der nachfolgenden Prüfung niederschlagenden Gedanken<br />

der sog. Tatbestandslösung („Vorverlagerungstheorie“) eingehend Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 56 ff.<br />

II. Strafbarkeit des T wegen Mordes gem. § 211 StGB durch das Sich-Betrinken<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand<br />

aa) „Tötung eines Menschen“ (Tathandlung und Taterfolg)<br />

Zur Verwirklichung des objektiven Straftatbestands des Mordes i.S.d. § 211 StGB ist zunächst<br />

erforderlich, dass der T einen Menschen getötet hat.<br />

(1) Der O ist tot, der Taterfolg mithin eingetreten.<br />

(2) Allein problematisch ist, ob das Sich-Betrinken des T, an das hier der Strafbarkeitsvorwurf<br />

geknüpft wird, taugliche Tötungshandlung i.S.d. Mordtatbestands (respektive Totschlagstatbestands,<br />

§ 212 StGB) sein kann.<br />

Die Tötungsdelikte sind reine Erfolgsdelikte. Das heißt, es kommt grundsätzlich (d.h. abgesehen<br />

von den Mordmerkmalen) allein auf den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs,<br />

den Tod eines Menschen, an, ohne dass an das „Wie“ der Täterhandlung vom Tatbestandswortlaut<br />

spezielle Anforderungen gestellt werden.<br />

Beispiel: Das Entflammen eines Streichholz‘ ist per se keine Tötungshandlung; wird jedoch dadurch die Lunte einer Bombe<br />

entzündet, durch die ein Mensch stirbt, so ist es eine Handlung, an die §§ 211 ff. StGB anknüpfbar sind.<br />

Also stellt das Sich-Betrinken eine für § 211 StGB mögliche Tathandlung dar.<br />

Anders ist dies bei eigenhändigen Delikten wie den Aussagedelikten (§§ 153 ff. StGB) und verhaltensgebundenen<br />

Delikten wie den Verkehrsdelikten der §§ 315c (Gefährdung des Straßenverkehrs), 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr).<br />

Dazu BGHSt 42, 235 (239 f.): „Die Verkehrsstraftaten [...] setzen voraus, dass der Täter das Fahrzeug ‚führt’. Führen eines<br />

Fahrzeugs ist aber nicht gleichbedeutend mit Verursachen der Bewegung. Es beginnt erst mit dem Bewegungsvorgang<br />

des Anfahrens selbst [...]. Dazu genügt nicht einmal, dass der Täter in der Absicht, alsbald wegzufahren, den Motor seines<br />

Fahrzeugs anlässt und das Abblendlicht einschaltet [...]. Umso mehr muss eine Ausdehnung auf zeitlich vorgelagerte<br />

Handlungen nach der gesetzlichen Umschreibung der Tathandlung ausscheiden. Auch im Sich-Berauschen in Fahrbereitschaft<br />

liegt dementsprechend noch nicht der Beginn der Trunkenheitsfahrt.“ Vgl. BGHSt 35, 390 (394).<br />

bb) Kausalität der Tathandlung<br />

Nach der Äquivalenztheorie, die besagt, dass alle dem Taterfolg vorgelagerten Bedingungen<br />

gleichwertig ursächlich für dessen Eintritt sind, wenn sie „condiciones sine qua<br />

non“ sind, ist das Sich-Betrinken eine Bedingung, ohne die der Taterfolg ausgeblieben<br />

wäre. Der Anknüpfung des Strafbarkeitsvorwurfs an diese Handlung steht auch insofern<br />

nichts entgegen.<br />

cc) Objektive Zurechnung des Taterfolgs<br />

Fraglich ist allerdings, ob auch bei normativer Wertung des Geschehens der eingetretene<br />

Tod durch Erschießen in zurechenbarem Zusammenhang zur Tathandlung des Sich-<br />

Betrinkens steht, ob also dem T der Tod des O als „sein Werk“ zuzurechnen ist.<br />

Dies ist der Fall, wenn die Täterhandlung die Schaffung eines unerlaubten (rechtlich relevanten)<br />

Risikos darstellt und der spätere konkrete, tatbestandsmäßige Taterfolg als Verwirklichung<br />

eben dieses spezifischen, vom Täter gesetzten Risikos zu bewerten ist (Risikoverwirklichungszusammenhang).<br />

162 © CT 2013


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Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

(1) Unerlaubte (rechtlich relevante) Risikoschaffung<br />

Zwar liegt im Sich-Betrinken und umso mehr im Sich-in-Vollrausch-Versetzen ein von der<br />

Rechtsordnung erkanntes und damit grundsätzlich rechtlich relevantes Risiko (vgl. den Tatbestand<br />

des Vollrausches, § 323a StGB).<br />

Doch muss eben dieses Risiko auch von der Schutzreichweite des in Prüfung stehenden<br />

Straftatbestands, hier § 211 StGB, erfasst sein. In diesem Sinne erscheint fraglich,<br />

ob ein Sich-Betrinken – objektiv betrachtet – bereits das Risiko beinhaltet, vor dem § 211<br />

StGB schützen soll, ob also im (ggf. weit vorgelagerten) Sich-Betrinken eine straftatbestandseröffnende<br />

Gefahr für das Rechtsgut Leben des späteren Opfers liegt.<br />

(a) Zeitliche Grenze straftatbestandlich relevanten Verhaltens ist der Beginn der Versuchsstrafbarkeit,<br />

der gem. § 22 StGB vom unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung<br />

markiert wird. Dem vorgelagerte Handlungen sind bloße Vorbereitungshandlungen<br />

und also solche nicht strafbar.<br />

Dazu BGHSt 23, 356 (358): „Ob [...] eine strafbare Handlung auch dann vorliegen kann, wenn der Handelnde nicht erst im<br />

Stadium des Versuchs, sondern schon während der Vorbereitungshandlungen zurechnungsunfähig wird, [...] ist zu verneinen.<br />

Planung und Vorbereitung bewegen sich [...] im strafrechtlich nicht relevanten Raum und können deshalb nicht<br />

zur Strafbarkeit einer Tat führen, die der Täter im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit beginnt und durchführt. Nur wenn<br />

der Täter in noch schuldfähigem Zustand, also in freier und deshalb zurechenbarer Entscheidung mit der Tatausführung<br />

[...] wenigstens begonnen hat, kann eine Verantwortlichkeit auch für die im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit bewirkte<br />

Weiterführung der Tat in Betracht kommen.“<br />

„Bloße Vorbereitungshandlung ist, was die Ausführung der (für den späteren Zeitpunkt geplanten) Tat nur ermöglichen<br />

oder erleichtern soll, wie etwa das Besorgen der Waffe, das Herrichten der Tatmittel, das Auskundschaften oder Aufsuchen<br />

des vorgesehenen Tatorts und das Hinschaffen der Tatwerkzeuge.“ 78<br />

Unmittelbares Ansetzen i.S. von § 22 StGB und der Versuchslehre bedeutet, dass aus<br />

Sicht des Täters die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“ überschritten ist und objektiv die<br />

Tatbestandsverwirklichung aufgrund unmittelbaren räumlich-zeitlichen Zusammenhangs<br />

bevorsteht. Die erforderliche Unmittelbarkeitsbeziehung kann sich insb. daraus ergeben,<br />

„dass die vom Täter in Gang gesetzte Ursachenreihe nach seiner Vorstellung vom Tatablauf<br />

ohne Zäsur und ohne weitere wesentliche Zwischenakte in die eigentliche Tatbestandshandlung<br />

einmünden soll, mit der Folge, dass aus seiner Sicht das Angriffsobjekt<br />

schon konkret gefährdet erscheint“ 79 .<br />

Zum „unmittelbaren Ansetzen“ beim Versuch etwa Kühl, StrafR AT, § 15, Rn. 38 ff., 55 ff.; aus der Rspr. etwa BGHSt 26,<br />

201 (203); 28, 162 (163); 30, 363 (364).<br />

(b) Demgemäß kann nicht jedes (eben teilweise nur tatvorbereitendes und folglich strafloses)<br />

Sich-Betrinken den Versuchsbeginn eines Mordes darstellen. Es ist erforderlich, dass<br />

das Sich-Versetzen in den Defektzustand, d.h. das In-Gang-Setzen des Geschehensablaufs<br />

in verantwortlichem Zustand, 80 und die Tat in einem begründeten, zeitlich-örtlichen<br />

Handlungszusammenhang 81 dergestalt stehen, dass es nach der Vorstellung des Täters<br />

bis zum Erfolgseintritt auf keine wesentlichen Zwischenakte bis zum Erfolgseintritt am Opfer<br />

ankommt.<br />

(c) Eine Ausdehnung der Strafbarkeit auch auf ein als Vorbereitungshandlung zu erkennendes<br />

Sich-Betrinken verstieße hingegen zulasten des Täters gegen den Gesetzeswortlaut<br />

(insb. § 22 StGB) und damit gegen Art. 103 Abs. 2 StGB.<br />

Krit. Streng, JuS 2001, 540 (541): „[Die] an sich schon nicht tragfähige, allein ergebnisorientierte Hochstufung der Defektherbeiführung<br />

als bloßer Vorbereitungshandlung zum strafbaren Versuch führt naheliegenderweise dann zu erheblichen<br />

Folgeproblemen beim Rücktritt vom Versuch. Es stellt sich die Frage, ob der Schuldunfähige überhaupt noch einen für<br />

§ 24 StGB relevanten Rücktrittswillen im Sinne von ‚Freiwilligkeit’ bilden kann; und bejahendenfalls ergeben sich aus der<br />

dann nahe liegenden Annahme eines beendeten Versuchs zusätzliche, schwer nachvollziehbare Rücktrittshemmnisse. –<br />

Von der fragwürdigen Vorverlegung der Versuchsphase wären auch [etwaige andere] Tatbeteiligte betroffen, da sie bereits<br />

durch die Selbst-Intoxikation des sich Mut antrinkenden Täters oder Mittäters in das Ausführungsstadium versetzt würden.“<br />

Siehe auch Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 415, 419; Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 12 ff. – Eine (allgemeine)<br />

Erwiderung bei Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 61.<br />

78<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 14, Rn. 602 m.w.N. zur Rspr. des BGH.<br />

79<br />

Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 14, Rn. 601 m.w.N. zur Rspr. des BGH.<br />

80<br />

BGHSt 17, 335.<br />

81<br />

Vgl. Köhler, StrafR AT, S. 396.<br />

© CT 2013 163


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

(d) Zwar macht sich der Täter zu seinem eigenen, unverantwortlichen Werkzeug und<br />

hat den weiteren Ablauf des Geschehens vom Eintritt der Schuldunfähigkeit an nicht mehr<br />

in der Hand, sodass der Versuchsbeginn grundsätzlich gegeben sein kann – ähnlich der<br />

mittelbaren Täterschaft, § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, bei der den Versuchsbeginn frühestens<br />

von der Entlassung des Werkzeugs aus dem Herrschaftsbereich des Täters markiert wird.<br />

Doch verbleibt ausschlaggebend die konkrete Situation, sodass ein „Aus-den-Händen-<br />

Geben“ der Geschehensherrschaft nur bei ansonsten aus Sicht des Täters (vgl. § 22 StGB:<br />

„nach seiner Vorstellung von der Tat“) unmittelbar bevorstehender Tatausführung genügt.<br />

Zur sog. Werkzeugtheorie etwa Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 61; krit. dazu Streng, JuS 2001, 540 (542).<br />

(e) Der T saß mit dem O gemeinsam bei sich zu Hause, als er sich mittels Alkohol in<br />

schuldunfähigen Zustand versetzte. Nach seiner Vorstellung von der Tat war die Schwelle<br />

zum „Jetzt-geht-es-los“ mit dem „ersten Schluck“ überschritten und auch objektiv<br />

bestand eine unmittelbare zeitlich-räumliche Beziehung zur Tatbestandsverwirklichung.<br />

Das Rechtsgut Leben des O war konkret gefährdet.<br />

Mit dem „letzten Schluck“ vor Eintritt der Schuldunfähigkeit hatte der T sodann – i.S.<br />

eines beendeten Versuchs (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB) – alles getan, was aus seiner<br />

Sicht zur ihm zurechenbaren Herbeiführung des Erfolgs nötig war.<br />

So auch Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 65: „Mit dem ‚letzten Schluck’ vor Eintritt der Schuldunfähigkeit liegt schon ein<br />

beendeter Versuch vor [...]. Der Versuch beginnt aber schon, wenn der Täter in voll schuldfähigem Zustand seine Schuldfähigkeit<br />

mit dem Vorsatz ihrer Ausschließung und der anschließenden Tatbestandsverwirklichung vermindert.“ – Dagegen<br />

wird eingewendet, dass der Täter, bevor er schuldunfähig werde, das Stadium der erheblich verminderten Schuldfähigkeit<br />

durchlaufe, in dem frühesten der Versuch liegen könne. Das bedeute, dass die a.l.i.c.-Konstruktion des Tatbestandsmodells<br />

stets zu einer Milderbestrafung nach § 21 StGB führen müsse; dazu Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 14.<br />

In diesem Sinne liegt also im Vollverantwortlichen In-Gang-Setzen der ersten zum Schuldausschluss<br />

führenden Handlung (dem „ersten Schluck“) der Beginn und im Abschluss des<br />

Sich-Berauschens (dem „letzten Schluck“) das Ende des (in jedem vollendeten Mord als<br />

Durchgangsstadium notwendigerweise mitverwirklichten) versuchten Mordes an dem O.<br />

Der weitere Geschehensablauf lag nicht mehr in der Hand des – nunmehr einsichts- und<br />

steuerungsunfähigen – T und enthielt mithin aus seiner Sicht keine wesentlichen Zwischenakte<br />

mehr bis zum Erfolgseintritt.<br />

Dieses Ergebnis beruht aber ganz maßgeblich auf dem Umstand, dass T und O bereits gemeinsam in unmittelbarer<br />

zeitlich-räumlicher Nähe zueinander waren. Zweifelhaft wäre es dann, wenn der T sich etwa in einer Kneipe betrunken<br />

hätte, um erst hernach den O aufzusuchen und nach eben diesem (wohl wesentlichen) Zwischenschritt zu töten. Siehe<br />

Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 13.<br />

(f) T hat somit ein von § 211 StGB tatbestandlich schon erfasstes Risiko geschaffen.<br />

(2) Risikorealisierung (+)<br />

(3) Zwischenergebnis: objektive Zurechnung (+)<br />

dd) (Objektives) Mordmerkmal: Heimtücke (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand<br />

Der T hat vorsätzlich in Form der Absicht gehandelt, und zwar einerseits in Bezug auf die<br />

Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, andererseits in Bezug auf das Sich-Versetzen<br />

in den schuldunfähigen Zustand.<br />

Zu diesem sog. Doppelvorsatz siehe Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 67; Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 19 ff.<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld (+)<br />

Bei Beginn des Sich-Betrinkens war der T voll schuldfähig.<br />

Unerheblich ist, dass der T im späteren Moment des Erfolgseintritts schuldunfähig war.<br />

Denn die Schuld muss allein „bei Begehung der Tat“ (§ 20 i.V.m. § 8 StGB) vorliegen.<br />

164 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

4. Ergebnis<br />

§ 211 StGB durch das Sich-Betrinken (+)<br />

III. Strafbarkeit des T wegen Vollrausches gem. § 323a StGB<br />

Das Auffangdelikt des § 323a StGB scheidet aus, da die Tatbestandsvoraussetzung,<br />

dass der Täter (hier der T) wegen der im Rauschzustand begangenen Tat nicht bestraft<br />

werden kann, nicht erfüllt ist.<br />

BGHSt 2, 14 (17); zum Verhältnis der a.l.i.c. und § 323a StGB etwa Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 75; Sternberg-Lieben/Hecker,<br />

in Schönke/Schröder, StGB, § 323a, Rn. 30 ff.; siehe auch die ABWANDLUNG dieses Falls.<br />

IV. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T ist des Mordes an dem O gem. § 211 StGB strafbar.<br />

ABWANDLUNG<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Mordes gem. § 211 StGB durch den Schuss auf O<br />

(unmittelbare Tathandlung)<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand<br />

Fraglich ist allein, ob der Tatvorsatz des T nicht deshalb zu verneinen ist, weil der T den O<br />

und nicht den X töten wollte (error in persona).<br />

Zum objektiven Tatbestand des Tötungsdelikts gehört der vom Gesetzgeber bloß gattungsmäßig<br />

bestimmte Tatumstand „anderer Mensch“. Mithin bezieht sich die von § 16 Abs. 1<br />

Satz 1 StGB geforderte Kenntnis auch nur hierauf. Der T hat mithin – trotz seines Irrtums<br />

– ein gleichwertiges Rechtsgut und damit taugliches Tatobjekt i.S.d. § 211 StGB verletzt.<br />

Die darüber hinausgehende Identität des Opfers ist hingegen im für die strafrechtliche Beurteilung<br />

unbeachtlichen Motivbereich zu verorten, der die Frage betrifft, warum der Täter<br />

sein Opfer töten wollte. Der vorliegende Identitätsirrtum des T ist also ein bloß außertatbestandlicher<br />

Motivirrtum, der den Tatvorsatz unberührt lässt.<br />

Siehe etwa Kühl, StrafR AT, § 13, Rn. 24; Roxin, StrafR AT I, § 12, Rn. 196 m.w.N.<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld<br />

Wie an obiger Stelle ausgeführt, ist der T alkoholbedingt schuldunfähig (§ 20 StGB).<br />

Eine gewohnheitsrechtliche Ausnahme oder Einschränkung von § 20 StGB nach den<br />

Grundsätzen der a.l.i.c. ist insb. unter Verweis auf Art. 103 Abs. 2 GG abzulehnen.<br />

4. Ergebnis<br />

§ 211 StGB durch den Schuss auf den O (-)<br />

© CT 2013 165


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

II. Strafbarkeit des T wegen Mordes gem. § 211 StGB an O durch das<br />

Sich-Betrinken<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

Problematiken der a.l.i.c.-Tatbestandslösung (Vorverlagerungstheorie, Werkzeugtheorie) wie im AUSGANGSFALL.<br />

b) Subjektiver Tatbestand<br />

Fraglich ist allein, ob der erforderliche Doppelvorsatz des T gegeben ist.<br />

(1) Der T hatte in schuldfähigem Zustand beschlossen, sich zu betrinken und den O zu<br />

töten; in schuldunfähigem Zustand hat er jedoch infolge einer Personenverwechslung den<br />

X getötet. Der eingetretene Kausalverlauf divergiert also mit dem, den sich der T beim<br />

Sich-Betrinken vorgestellt hatte, sodass ein gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB vorsatzausschließender<br />

Irrtum über den Kausalverlauf vorliegen könnte.<br />

Vorsätzliches Handeln ist charakterisiert durch den Willen des Täters zur Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Geschehens<br />

in Kenntnis aller Tatumstände (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Als Bindeglied zwischen Tathandlung und -erfolg zum<br />

objektiven Tatbestand gehörend, ist auch der Kausalablauf dergestalt Tatumstand i.S.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB, dass er<br />

vom Täter in seinen wesentlichen Zügen erfasst gewesen sein muss. Unwesentlich sind Kausalverlaufsirrtümer aber<br />

namentlich dann, wenn der eingetretene dem vorgestellten Geschehensablauf gleichwertig und demgemäß keine<br />

andere Bewertung der Tat gerechtfertigt ist. Vgl. BGH, NStZ 2002, 475 (476); BGHSt 7, 325 (329); 14, 193; 23, 133<br />

(135); Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 7, Rn. 258.<br />

(2) Der Tötungsvorsatz des T war konkretisiert auf eine bestimmte Person, den O, als<br />

er sich selbst in den unzurechnungsfähigen Zustand versetzte und damit das Geschehen<br />

aus der Hand gab. Nach seiner (zutreffenden) Vorstellung von der Tat (vgl. § 22 StGB)<br />

hatte er alles Erforderliche getan, damit das Geschehen in den Verletzungserfolg einmünden<br />

würde. Auf die Kausalabweichung hatte der nunmehr einsichts- und steuerungsunfähige<br />

T keinen Einfluss mehr; das menschliche Werkzeug – er selbst – ging sodann fehl<br />

(„Abirrung“).<br />

Dazu Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 74: „Der error in persona des schuldunfähigen [Mörders] ist für den noch schuldfähigen<br />

Täter der a.l.i.c. eine aberratio ictūs, sodass auch insoweit nur ein Versuch zu begründen ist.“; so auch Wessels/Beulke/Satzger,<br />

StrafR AT, § 10, Rn. 418; Perron, in Schönke/Schröder, StGB, § 20, Rn. 37; differenzierend Kühl,<br />

StrafR AT, § 11, Rn. 23; anders BGHSt 21, 381 (384).<br />

Nicht entscheidend ist mithin der Irrtum in schuldunfähigem Zustand (Personenverwechslung),<br />

sondern die Fehlvorstellung vom Ablauf des Geschehens in dem dem Rauschzustand<br />

vorgelagerten Moment der schuldfähigen Fassung des Tötungsvorsatz’. Der<br />

hier maßgebliche Irrtum des T betrifft deshalb nicht die Identität (bloßer error in persona),<br />

sondern den Verletzungsverlauf.<br />

(3) Insofern ist ein anderes (höchstpersönliches) Rechtsgut verletzt worden, als es der T<br />

vorhatte. Der tatsächliche Geschehensablauf ist gegenüber dem vorgestellten nicht gleichwertig.<br />

Der vorliegende Kausalverlaufsirrtum ist mithin dergestalt wesentlich, d.h. (rechts-) erheblich,<br />

dass eine andere Bewertung der Tat gerechtfertigt ist; er lässt den Vorsatz des T<br />

entfallen, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB.<br />

2. Ergebnis<br />

§ 211 StGB durch das Sich-Betrinken (-)<br />

III. Strafbarkeit des T wegen versuchten Mordes gem. §§ 211, 22, 23 StGB an O<br />

durch das Sich-Betrinken<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit i.S.d. § 22 StGB<br />

a) Subjektiver Tatbestand: Tatentschluss (+)<br />

b) Objektiver Tatbestand: Unmittelbares Ansetzen (+)<br />

166 © CT 2013


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld (+)<br />

4. Ergebnis<br />

§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB an dem O durch das Sich-Betrinken (+)<br />

IV. Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB an X<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

„Insofern bedarf es [...] allerdings nicht des Rückgriffs auf die Rechtsfigur der actio libera in causa [...]. Gegenstand<br />

des strafrechtlichen Vorwurfs ist bei § 222 StGB – wie auch bei anderen fahrlässigen Erfolgsdelikten – jedes in Bezug auf<br />

den tatbestandsmäßigen ‚Erfolg’ sorgfaltswidrige Verhalten des Täters, das diesen ursächlich herbeiführt. Aus diesem<br />

Grunde bestehen, wenn mehrere Handlungen als sorgfaltswidrige in Betracht kommen [...], keine Bedenken, den Fahrlässigkeitsvorwurf<br />

an das zeitlich frühere Verhalten [red. das Sich-Betrinken] anzuknüpfen, das dem Täter – anders als das<br />

spätere – auch als schuldhaft vorgeworfen werden kann.“ 82 Vgl. BGHSt 40, 341 (343); Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT,<br />

§ 10, Rn. 421.<br />

a) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (+)<br />

b) Kausalität der Täterhandlung (+)<br />

c) Obj. Sorgfaltspflichtverletzung bei obj. Zurechnung des Taterfolgs (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld, insb. Fahrlässigkeitsschuld (+)<br />

4. Ergebnis<br />

§ 222 StGB an dem X (+)<br />

V. Strafbarkeit des T wegen Vollrausches gem. § 323a StGB<br />

§ 323a StGB ist (tatbestandlich und nach seinem Sinn und Zweck) ein Auffangdelikt für<br />

im Vollrausch begangene Straftaten, deretwegen der ja schuldunfähige Täter nicht bestraft<br />

werden kann.<br />

Im Rahmen von a.l.i.c.-Fallkonstellationen ist bei § 323a StGB problematisch, worin genau die Rauschtat besteht und<br />

ob diese mit der a.l.i.c.-Tat identisch ist, ob also der Täter ihretwegen schon bestraft wird. Ist dies der Fall, so tritt § 323a<br />

StGB als (tatbestandlich) subsidiär zurück. Vgl. BGHSt 2, 14 (19); Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 75; Sternberg-Lieben/Hecker,<br />

in Schönke/Schröder, StGB, § 323a, Rn. 30 ff.<br />

1. Vorliegend hat sich der T eines versuchten Mordes (fakultativ milderbare lebenslängliche<br />

Freiheitsstrafe) in Tateinheit mit einer fahrlässigen Tötung (maximal fünf Jahre Freiheitsstrafe)<br />

strafbar gemacht.<br />

Der Deliktsvorwurf eines vollendeten Mordes scheitert allein daran, dass der ansonsten<br />

unbeachtliche error in persona im Rahmen der a.l.i.c. als aberratio ictūs und damit vorsatzausschließender<br />

Irrtum über den Kausalverlauf (im Moment des Sich-Betrinkens) zu werten<br />

ist. Folglich, die Rauschtat i.S.d. § 323a StGB für sich betrachtet, ist diese ein<br />

vollendeter Mord, dessen der T wegen Schuldunfähigkeit nicht bestraft werden kann.<br />

2. Dem steht der potentielle Einwand, einen Irrtum als einerseits für den Tätervorsatz unbeachtlich<br />

(bloßer error in persona i.R.d. Ermittlung der Rauschtat Mord i.S.d. § 323a<br />

StGB) und andererseits für den Tätervorsatz beachtlich (vorsatzausschließender Kausalverlaufsirrtum<br />

[aberratio ictūs] i.R.d. a.l.i.c.-Strafbarkeit) zu bewerten und damit widersprüchlich<br />

zu verwenden, nicht entgegen. Denn es geht um zwei verschiedene Irrtümer:<br />

Der eine betrifft den (Doppel-)Vorsatz im Zeitpunkt des Sich-Betrinkens und ist vorsatzaus-<br />

82<br />

BGHSt 42, 235 (236 f.).<br />

© CT 2013 167


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

schließend, der andere den (auch in schuldunfähigem Zustand bildbaren) natürlichen Vorsatz<br />

im Zeitpunkt der unmittelbaren Tathandlung des Erschießens. Insofern ist für die<br />

Rauschtat i.S.d. § 323a StGB allein maßgeblich, dass der T (im Moment der Schussabgabe)<br />

einen anderen Menschen töten wollte und auch einen anderen Menschen getötet<br />

hat und dass eben die Identität des Getöteten nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehört.<br />

3. Allerdings besteht mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Strafrahmen des versuchten<br />

Mordes und der fahrlässigen Tötung kein Bedarf, den geringeren Strafrahmen des<br />

§ 323a StGB (maximal fünf Jahre Freiheitsstrafe) auffangweise heranzuziehen. Ungeachtet<br />

dessen muss im abschließenden Schuldspruch klargestellt werden, dass der T im<br />

Rausch eine nicht nur versuchte, sondern vollendete Tat (Rauschtat) begangen hat.<br />

Deshalb ist § 323a StGB erfüllt bzw. nicht subsidiär.<br />

VI. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T ist strafbar des versuchten Mordes an dem O gem. §§ 211, 22, 23 StGB in Tateinheit<br />

mit fahrlässiger Tötung des X gem. § 222 StGB sowie – aufgrund Klarstellungsbedürfnisses<br />

– mit Vollrausch gem. § 323a StGB.<br />

168 © CT 2013


Fall 64<br />

Christian Trentmann<br />

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„Haste Probleme...?!“<br />

Schwerpunkte<br />

• Zur Bestimmtheit des Doppelvorsatz’ i.R.d. „actio libera in causa“ („a.l.i.c.“)<br />

• Entbehrlichkeit der a.l.i.c. beim fahrlässigen Erfolgsdelikt<br />

• Verhältnis der a.l.i.c. zum Vollrauschtatbestand des § 323a StGB<br />

Sachverhalt<br />

Der T neigt, wie er weiß, im angetrunkenen Zustand zu Gewalttätigkeiten.<br />

Dennoch lässt er sich am Samstagabend in seiner Stammkneipe „volllaufen“.<br />

Im nunmehr schuldunfähigen Zustand glaubt der T, der ebenfalls in der<br />

Kneipe anwesende O habe ihn „schief angeguckt“. T zögert nicht lange,<br />

steht auf und schlägt dem O mit der Faust ins Gesicht.<br />

Strafbarkeit des T?<br />

Lösung<br />

I. Strafbarkeit des T wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB durch den Faustschlag<br />

(unmittelbare Tathandlung)<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

a) Objektiver Tatbestand (+)<br />

b) Subjektiver Tatbestand (+)<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld<br />

a) Der T ist alkoholbedingt schuldunfähig (§ 20 StGB).<br />

Für Vollrausch als „krankhafte seelische Störung“ etwa BGHSt 43, 66 (69); Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 10.<br />

b) Da der T allerdings schon beim Sich-Versetzen in Schuldunfähigkeit (Sich-Betrinken)<br />

wusste, dass er unter Alkoholeinfluss zu Gewalttätigkeiten neigt, ist fraglich, ob dies zu<br />

einer Andersbeurteilung der Schuldunfähigkeit des T zu führen vermag.<br />

Denn versetzt sich ein Täter vorsätzlich in den Zustand der Zurechnungsunfähigkeit und<br />

hat er zugleich den Vorsatz, in diesem Zustand eine Straftat zu begehen, so könnte aus<br />

Gerechtigkeits- und Präventionsgesichtspunkten seine Schuldfähigkeit auf den „eigentlichen<br />

Tatzeitpunkt“ der actio praecedens, des Sich-Berauschens, zu beziehen sein.<br />

Die unmittelbare Körperverletzung an dem O durch den Faustschlag wäre also in der Ursache<br />

eine freie, d.h. schuldhafte Handlung („actio libera in causa“).<br />

Die hier in Rede stehenden Schuldmodelle der a.l.i.c. setzen – ebenso wie die Alternativlösung auf der Tatbestandsebene<br />

(„Tatbestandslösung“) – voraus, dass der Täter mit „Doppelvorsatz“ handelt. Zur „Ausnahmelösung“ etwa Wessels/Beulke/Satzger,<br />

StrafR AT, § 10, Rn. 10 und Kühl, StrafR AT, § 11, Rn. 18; zur „Ausdehnungslösung“ Streng, JuS<br />

2001, 540 (542 ff.); ders., JZ 1994, 709 (711).<br />

© CT 2013 169


Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

aa) Problematisch erscheint aber das Vorliegen des doppelt erforderlichen Vorsatz’ des<br />

T im Zeitpunkt des Sich-Betrinkens.<br />

Zu den Anforderungen an den Vorsatz im Rahmen der a.l.i.c. siehe BGHSt, 17, 259 ff.; 21, 381 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 20,<br />

Rn. 73 f.<br />

Über das – hier gegebene – bewusste und gewollte, d.h. vorsätzliche Versetzen in die<br />

Schuldunfähigkeit erfordert der „Vorsatz [...] den Willen des Täters, die Merkmale eines<br />

oder mehrerer bestimmter Tatbestände zu verwirklichen, sei es in der Form des unbedingten<br />

oder des bedingten Vorsatzes, im letzteren Falle in der Weise, dass er mit der<br />

Möglichkeit der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale rechnet und hiermit einverstanden ist.<br />

Im geltenden deutschen Strafrecht ist der Vorsatz also tatbestandsbezogen [...]. Ein allgemeines<br />

Bewusstsein, unter Alkoholeinfluss zu Gewalttaten zu neigen, stellt keinen<br />

auf die genannten Tatbestände gerichteten Vorsatz dar.“ 83<br />

Die Kenntnis des Täters von seiner Neigung zu Gewalttaten im Rausch ist zwar ein Beweisanzeichen für die innere<br />

Tatseite, doch als solches mehrdeutig. Sie „kann zum Schluss führen, dass er den Willen und das Bewusstsein hat, im<br />

Rauschzustand eine oder mehrere bestimmte Straftaten zu begehen (unbedingter Vorsatz), oder dass er hiermit rechnet<br />

und für den Fall der Begehung mit der Tat einverstanden ist (bedingter Vorsatz). Es kann aber auch sein, dass die Kenntnis<br />

des Täters von seiner Neigung lediglich zu dem Schluss führt, dass er mit der Möglichkeit gerechnet hat, dass es zu<br />

bestimmten Straftaten komme, er aber darauf vertraut hat, dieser Erfolg werde nicht eintreten (bewusste Fahrlässigkeit)<br />

oder dass ihm lediglich zur Last gelegt werden kann, er hätte bedenken müssen, im Zustand des Rausches strafbare<br />

Handlungen zu begehen (unbewusste Fahrlässigkeit).“ 84<br />

bb) Der Vorsatz des T war mithin nicht ausreichend konkretisiert; die subjektiven Anforderungen<br />

der Rechtsfigur der a.l.i.c. sind nicht erfüllt.<br />

cc) Deshalb kann an dieser Stelle offen bleiben, ob eine gewohnheitsrechtlich begründete<br />

Ausnahme oder Einschränkung von § 20 StGB nach den Grundsätzen der a.l.i.c. mit Blick<br />

auf das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) überhaupt zulässig ist.<br />

Die Ausnahme- sowie die Ausdehnungslösung ablehnend etwa BGHSt 42, 235 (240 f.); Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 58.<br />

4. Ergebnis<br />

c) Im Ergebnis verbleibt es bei der Schuldunfähigkeit des T i.S.d. § 20 StGB.<br />

§ 223 StGB durch den Faustschlag (-)<br />

II. Strafbarkeit des T wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB durch das Sich-<br />

Betrinken<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

Im Zeitpunkt des Sich-Betrinkens ist – nach den Grundsätzen der a.l.i.c., d.h. auch bei der<br />

hier in Rede stehenden sog. Tatbestandslösung – erforderlich, dass der Täter mit doppeltem<br />

Vorsatz handelte.<br />

Zwar wusste der T, dass er im alkoholisierten Zustand zu Gewalttätigkeiten neigt; doch<br />

gereicht dies, wie an obiger Stelle bereits dargelegt, den Anforderungen, die an das Merkmal<br />

des Tatvorsatz’ zu stellen sind, nicht.<br />

2. Ergebnis<br />

§ 223 StGB durch das Sich-Betrinken (-)<br />

„Die Möglichkeit im Wege der freien Beweiswürdigung auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit aus der ‚Neigung zu Gewalttaten’<br />

zu schließen, ist, soweit es sich um die Körperverletzung handelt, gegeben. Jedoch sind Fälle des vorsätzlichen Ingangsetzens<br />

nicht allzu häufig [...]. Die Vorsatzfeststellung muss daher vorsichtig und genau getroffen werden [...]. Öfter<br />

ereignen sich Fälle, in denen sich der Täter in einen Rausch versetzt, obschon er nach ungünstigen früheren Erfahrungen<br />

hätte voraussehen können, dass er in diesem Zustand widerrechtliche Erfolge bestimmter Art herbeiführen kann [...]. Dann<br />

aber kommt nur Fahrlässigkeit in Betracht.“ 85<br />

83<br />

BGHSt 17, 259 (260 f.).<br />

84<br />

BGHSt 17, 259 (261 f.).<br />

85<br />

BGHSt 17, 259 (261).<br />

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Christian Trentmann<br />

Strafrecht AT • <strong>Fallsammlung</strong> • <strong>Teil</strong> F: Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

III. Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 StGB<br />

Da es bei Fahrlässigkeitsdelikten für den Tatbestand allein auf die pflichtwidrige Verursachung eines Unrechtserfolges<br />

ankommt, kann hier – wegen der Gleichwertigkeit aller Ursachen – unbedenklich auch auf die Ursächlichkeit der Rauschhandlung<br />

bereits im normalen Deliktsaufbau eingegangen werden. Der Rückgriff auf die Grundsätze der Rechtsfigur<br />

der a.l.i.c. erübrigt sich deshalb im Gegensatz zum Vorsatzdelikt. So auch BGHSt 42, 235 (236 f.); vgl. auch BGHSt<br />

40, 341 (343); Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, § 10, Rn. 421.<br />

1. Tatbestandsmäßigkeit<br />

§ 229 StGB setzt im Tatbestand voraus, dass der T objektiv sorgfaltswidrig und vorhersehbar<br />

sowie insg. zurechenbar eine Körperverletzung verursacht hat, obwohl er dies hätte<br />

vermeiden können.<br />

a) Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (+)<br />

b) Kausalität der Täterhandlung (+)<br />

c) Obj. Sorgfaltspflichtverletzung bei obj. Zurechnung des Taterfolgs<br />

Da der T wusste, dass er betrunken gewalttätig wird, handelte er insofern sorgfaltspflichtwidrig.<br />

Eben die von dieser Pflichtwidrigkeit ausgehende und vom Schutzzweck des § 229<br />

StGB erfasste Gefahr hat sich sodann im Verletzungserfolg an dem O verwirklicht.<br />

2. Rechtswidrigkeit (+)<br />

3. Schuld, insb. Fahrlässigkeitsschuld<br />

a) Im für die Schuld maßgeblichen Zeitpunkt der Sorgfaltspflichtverletzung bestehen an<br />

der Schuldfähigkeit des T keine Zweifel.<br />

b) Da für den T die Sorgfaltspflichtwidrigkeit auch subjektiv erkennbar und voraussehbar<br />

war, handelte er insg. schuldhaft.<br />

4. Ergebnis<br />

§ 229 StGB (+)<br />

IV. Strafbarkeit des T wegen Vollrausches gem. § 323a StGB<br />

§ 323a StGB ist nach dessen Tatbestandswortlaut ein Auffangdelikt für Straftaten, die im<br />

rauschbedingt schuldunfähigen Zustand begangen werden.<br />

Die Tatbestandsvoraussetzung „Rauschtat“ i.S.d. § 323a StGB ist eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, d.h., sie<br />

braucht nur objektiv vorzuliegen, nicht aber vom Vorsatz des Täters erfasst zu sein. Strafgrund des Vollrausches ist die<br />

vom Rauschzustand ausgehende Gefährlichkeit für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter, die, um strafbares Unrecht zu<br />

sein, ihrer Bestätigung durch das objektive Vorliegen einer im Rausch begangenen rechtswidrigen Tat bedarf.<br />

Rauschtat i.S.d. § 323a StGB ist nicht die fahrlässige Körperverletzung i.S.d. § 229 StGB,<br />

sondern die im Zustand der Schuldunfähigkeit vorsätzlich begangene Körperverletzung<br />

i.S.d. § 223 StGB, deren Möglichkeit der T bei Sich-Versetzen in den schuldausschließenden<br />

Rauschzustand fahrlässigerweise nicht bedacht hatte.<br />

Auch ist der Strafrahmen des § 323a StGB (bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug) höher als<br />

der der fahrlässigen Körperverletzung nach § 229 StGB („nur“ maximal drei Jahre). „Es<br />

würde nicht einleuchten, wenn derjenige, der im schuldausschließenden Rausch eine [...]<br />

Körperverletzung begeht, nur deshalb milder als in § 323a vorgesehen bestraft werden<br />

müsste, weil ihm außerdem noch eine fahrlässige a.l.i.c. zur Last fällt. Die a.l.i.c. schließt<br />

also eine Bestrafung nach § 323a immer nur dann aus, ‚wenn sie den Tatbestand verwirklicht,<br />

unter dessen Strafdrohung die Rauschtat fällt’ [...].“ 86<br />

86<br />

Roxin, StrafR AT I, § 20, Rn. 76 mit Verweis auf BGHSt 2, 14 (19).<br />

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Christian Trentmann<br />

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V. Strafbarkeitsergebnis<br />

Der T ist gem. § 229 StGB der fahrlässigen Körperverletzung in Tateinheit mit Vollrausch<br />

gem. § 323a StGB strafbar.<br />

§ 222 StGB (+)<br />

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