Kinderland Schleswig - herzlich willkommen 2011 - Kinderschutz ...
Kinderland Schleswig - herzlich willkommen 2011 - Kinderschutz ...
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<strong>Kinderland</strong> <strong>Schleswig</strong>-Holstein: Kinder <strong>herzlich</strong> <strong>willkommen</strong>?!<br />
Irene Johns<br />
Problemstellung<br />
<strong>Schleswig</strong>-Holstein zieht die Schuldenbremse. Spätestens ab dem Jahr 2020 sollen die<br />
Ausgaben des nördlichsten Bundeslandes ohne die Aufnahme neuer Kredite ausgeglichen<br />
werden. Die Devise heißt Sparen als Investition in die Zukunft künftiger Generationen. Aber<br />
wie sollte ein kindergerechtes und kinderfreundliches <strong>Schleswig</strong>-Holstein im Jahr 2020 trotz<br />
des Sparzwangs und der begrenzten finanziellen Mittel aussehen? Bevor versucht wird, eine<br />
Antwort auf die Frage zu geben, sind die Trends zu skizzieren, die ein „<strong>Kinderland</strong><br />
<strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“ maßgeblich beeinflussen.<br />
Trends und Probleme auf dem Weg zu einem „<strong>Kinderland</strong><br />
<strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“<br />
Die demografische Entwicklung, aber auch die veränderten Lebensbedingungen von<br />
Familien spiegeln sich in Trends und Problemen wider, die bei dem Entwurf eines<br />
„<strong>Kinderland</strong>es <strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“ berücksichtigt werden müssen. Im Folgenden sind<br />
die wichtigsten dieser Trends aufgeführt.<br />
Weniger Kinder, weniger Eltern, mehr Alleinerziehende, mehr ältere<br />
Menschen<br />
In <strong>Schleswig</strong>-Holstein werden im Jahr 2020 weniger Kinder und Familien (Eltern) leben,<br />
während die Zahl älterer Mitbürger steigen wird 1 . Diese Entwicklung wird sich in den<br />
ländlichen Regionen noch ausgeprägter zeigen als in den Städten. Zudem besteht ein Trend<br />
bei jüngeren Menschen ländliche Regionen zu verlassen und in die Städte bzw. stadtnahen<br />
Gebiete abzuwandern. Gründe dafür sind mangelnde Bildungsstrukturen, fehlende<br />
Arbeitsangebote, schlechtere Verkehrsanbindung und geringere Attraktivität des<br />
Lebensumfeldes – man spricht von einer Bildungsabwanderung. Das führt zu einer relativen<br />
Konzentration der Elternjahrgänge in städtischen Regionen. Dadurch werden sich<br />
Bevölkerungsrückgang und Alterung in den ländlichen Räumen noch verstärken 2 .<br />
Schon heute stellen Kinder eine Minderheit in unserer Gesellschaft dar. Das weitere<br />
Auseinanderklaffen dieser „Altersschere“ kann zu Konflikten zwischen den Generationen<br />
führen bzw. diese verschärfen. Das gleiche gilt für das Verhältnis von kinderlosen Bürgern zu<br />
Familien. Möglicherweise werden Kinder zukünftig von immer mehr Menschen als störend<br />
empfunden. Dem gilt es entgegenzuwirken. Zum anderen wachsen immer mehr Kinder bei<br />
allein erziehenden Elternteilen 3 auf. Damit steigt die Zahl derer, die allein für alle Sorgen und<br />
Nöte ihrer Kinder verantwortlich sind sowie für alle Entscheidungen, die die Erziehung,<br />
Bildung, Entwicklung und das Wohlergehen ihrer Kinder betreffen. Gerade in dieser Gruppe<br />
ist der Problemdruck häufig verbunden mit wirtschaftlichen und sozialen Belastungen<br />
dementsprechend sehr hoch. Insgesamt dürfte der Bedarf an Unterstützung und<br />
Hilfeangeboten, aber auch an Betreuungsangeboten steigen.<br />
1 In <strong>Schleswig</strong>-Holstein leben 2,834 Mio. Einwohner, davon sind 14,3% (405.900) unter 15 Jahre und 21,3% (602.700) 65 Jahre<br />
und älter (Stand 31.12.2008). Die Statistiker sagen voraus, dass bis zum Jahr 2020 die Zahl der Kinder unter 15 Jahre<br />
gegenüber 2008 um rund 16 % sinken wird, die Zahl der über 65-Jährigen dagegen sich um etwa 15 % erhöhen wird.<br />
Gleichzeitig verringert sich die Zahl der potenziellen Eltern. Bis zum Jahr 2025 soll die Elterngeneration (22 -35 Jährige) in<br />
<strong>Schleswig</strong>-Holstein um 2,5 % zurückgehen, das entspricht einem Rückgang von 10.300 Personen<br />
2 Die Vorausschätzung zeichnet eine demografische Entwicklung, die die Zahl der Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in<br />
Dithmarschen und Ostholstein bis zum Jahr 2025 um 35% abnehmen lässt, in Steinburg sogar um knapp 40%.<br />
3 In <strong>Schleswig</strong>-Holstein liegt der Anteil bei rund 22%. Auffallend ist, dass die Alleinerziehenden überproportional häufig Hilfe<br />
suchen, z.B. bei den <strong>Kinderschutz</strong>-Zentren im Land: hier liegt ihr Anteil bei über 40 %.<br />
1
Hoher Anteil von Kindern und Familien mit Migrationshintergrund<br />
Bei sinkenden Kinderzahlen insgesamt steigt der Anteil von Kindern mit<br />
Migrationshintergrund 4 / 5 . Nach dem Mikrozensus 2008 haben in <strong>Schleswig</strong>- Holstein rund<br />
ein Viertel aller Kinder von 0 bis unter 6 Jahren einen Migrationshintergrund, bei den Kindern<br />
von 6 bis unter 18 Jahren sind es rund ein Fünftel .<br />
Die multikulturelle Gesellschaft ist also bereits Realität. Der im Vergleich zu früheren Zeiten<br />
hohe Anteil von Kindern und Familien mit Migrationshintergrund stellt neue<br />
Herausforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben.<br />
Zunehmende Kinderentwöhnung in der Gesellschaft<br />
Veränderte Lebensformen und eine zunehmende Kinderentwöhnung unserer Gesellschaft<br />
führen dazu, dass ein Leben mit Kindern nicht mehr „nebenbei“ mitgelernt wird. Viele Eltern<br />
haben schon als Kind nicht mehr die Erfahrung gemacht, mit mehreren Geschwistern<br />
aufzuwachsen und haben vor der Geburt ihres eigenen Kindes meist keinen Alltag mit<br />
Kindern erlebt. Das erste Baby, das ein Erwachsener im Arm hält, ist oftmals das eigene.<br />
Eltern haben daher häufig wenige Kenntnisse darüber, was Kinder in welchem Alter können,<br />
wissen, brauchen und tun. Aus dieser Unkenntnis heraus haben sie oft unrealistische<br />
Erwartungen an die Möglichkeiten ihrer Kinder, verlangen von ihnen zu viel oder zu wenig.<br />
Deshalb haben Eltern heute einen erhöhten Beratungsbedarf für die Erziehung ihrer Kinder.<br />
Einige Eltern sind darüber hinaus aus unterschiedlichen Belastungsgründen nicht oder nicht<br />
ausreichend in der Lage, ihre Kinder gut zu versorgen und zu fördern. Diese Entwicklung<br />
lässt sich auch in den <strong>Kinderschutz</strong>-Zentren im Land erkennen: Die Hilfeanfragen sind in<br />
zehn Jahren um 50% gestiegen. Von 1.300 Kindern, für die pro Jahr um Hilfe angefragt wird,<br />
sind mehr als 43% jüngere Kinder.<br />
Gesundheitliche Beeinträchtigung von Kindern<br />
Gesundheitszustand und -entwicklung vieler Kinder geben Anlass zur Sorge. Übergewicht,<br />
chronische Erkrankungen und psychische Auffälligkeiten nehmen zu. Jedes 2. Kind in<br />
<strong>Schleswig</strong>- Holstein weist zum Zeitpunkt der Einschulungsuntersuchung mindestens eine<br />
Auffälligkeit aus den Bereichen Sehen, Hören, Körpergewicht, Motorik/Koordination, Sprache<br />
oder Verhalten auf 6 .<br />
Der erste bundesweite Kinder- und Jugendgesundheits-Survey (KIGGS) 7 kommt zu dem<br />
Ergebnis, dass 15% der Kinder- und Jugendlichen übergewichtig oder adipös sind, rund 23%<br />
eine allergische Erkrankung wie Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis haben und 11,5<br />
% der Mädchen und 17,8% der Jungen verhaltensauffällig sind bzw. grenzwertig auffällig.<br />
Auch die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen des Kinder- und Jugendärztlichen<br />
Dienstes in <strong>Schleswig</strong>- Holstein zeigen, dass Ernährungsstörungen häufig sind und<br />
Auffälligkeiten in Motorik/Koordination 8 und Verhaltensauffälligkeiten 9 in den letzten Jahren<br />
eher zunehmen. Sowohl die bundesweite Studie (KIGGS) als auch die<br />
Einschulungsuntersuchungen in <strong>Schleswig</strong>-Holstein machen den negativen Einfluss eines<br />
Lebens an der Armutsgrenze für die Gesundheit von Kindern deutlich: Kinder aus sozial<br />
schwachen Familien sind z.B. häufiger von Übergewicht sowie psychischen Auffälligkeiten<br />
betroffen als der Durchschnitt.<br />
4 Definition aus dem Mikrozensus: Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet<br />
der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als<br />
Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“.<br />
5 In <strong>Schleswig</strong>-Holstein lebten 2008 5,2% Ausländer. 4% aller schleswig-holsteinischen Kinder unter 15 Jahren hatten einen<br />
ausländischen Pass und 6% der 15 bis 25jährigen. In den Städten liegt der Anteil höher. So sind es in Kiel 7,7% aller Kinder<br />
unter 15 Jahren und 9,6% der 15 bis 25jährigen.<br />
6 Bericht über die Untersuchungen der Kinder- und Jugendärztlichen Dienste und Zahnärztlichen Dienste in <strong>Schleswig</strong>- Holstein<br />
des Schuljahres 2008/2009 (Stichprobenumfang = 25.871)<br />
7 Mit einem zusätzlichen Landesmodul für <strong>Schleswig</strong>-Holstein<br />
8 2008/2009: 17,1% der Einschüler und Einschülerinnen<br />
9 2008/2009:18,7% der Einschüler und Einschülerinnen<br />
2
Verschärfung der sozialen Kluft durch Kinderarmut<br />
Kinder- und damit auch Familienarmut hat sich als Grundproblematik in den letzten Jahren<br />
immer weiter verschärft mit all den bekannten Folgen für die Entwicklung von Kindern. In<br />
<strong>Schleswig</strong>-Holstein leben rund 14% aller Kinder und damit jedes siebte Kind an der<br />
Armutsgrenze (Kinder in Bedarfsgemeinschaften). In Städten wie Kiel, Lübeck, Neumünster<br />
ist es sogar mehr als jedes vierte Kind. Zusätzlich haben wir es mit einer großen Zahl von<br />
Familien zu tun, die sog. Geringverdiener sind, das heißt mit Familien, bei denen es<br />
wirtschaftlich so eng ist, dass sie zu eigenen finanziellen Beiträgen bei der Kinderbetreuung,<br />
Klassenfahrten u.a. nicht (mehr) in der Lage sind. Diese Familien sind von den meisten<br />
Zuschüssen abgekoppelt und müssen daher bei allen Überlegungen mit bedacht werden.<br />
Die Folgen von Kinderarmut und die von ihr ausgehenden Gefährdungen sind vielfältig: Sie<br />
reduziert Bildungschancen, beeinträchtigt die Gesundheit, ist ein Risikofaktor für Gewalt und<br />
Vernachlässigung. Kinderarmut schließt Kinder von sozialen und kulturellen Aktivitäten aus.<br />
Für die betroffenen Kinder bedeutet das eine erhebliche Minderung ihrer Chancen auf einen<br />
guten Schulabschluss, auf ein Leben in Gesundheit, auf Teilhabe an sozialen und kulturellen<br />
Aktivitäten und auf ein entwicklungsförderndes und ausgeglichenes Familienleben.<br />
Steigende Hilfeanfragen bei Gewalt gegen Kinder<br />
In Jugendämtern, <strong>Kinderschutz</strong>-Zentren und anderen Hilfeeinrichtungen der Kinder- und<br />
Jugendhilfe steigen seit Jahren die Hilfeanfragen bei bestehenden oder vermuteten<br />
Gefährdungen von Kindern durch körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt oder<br />
Kindesvernachlässigung 10 . Neben der aktuellen Misshandlung des Kindes sind Mutter oder<br />
Vater oft durch eigene Gewalterfahrung in der Kindheit geschädigt und geben eigene<br />
unbewältigte Verletzungen und Beziehungen weiter. Die sozialen und wirtschaftlichen<br />
Belastungen der Familien – oft verbunden mit eingeschränkten oder fehlenden<br />
Zukunftsperspektiven – sind vielfach hoch und sind in den letzten Jahren gestiegen. Es gibt<br />
heute in Bezug auf das Kindeswohl eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Belange von<br />
Kindern und Eltern. Neben der Gewalt gegen Kinder in der Familie und dem sozialen<br />
Nahraum werden seit etwa zwei Jahren auch Fälle sexueller Gewalt in Heimen, Internaten,<br />
kirchlichen Einrichtungen u. a. Institutionen verstärkt wahrgenommen. Unterstützt wird das<br />
gewachsene öffentliche Bewusstsein durch neue rechtliche Vorgaben im Kinder- und<br />
Jugendhilfegesetz und dem seit April 2008 geltenden <strong>Kinderschutz</strong>gesetz <strong>Schleswig</strong>-Holstein<br />
(KiSchG).<br />
Bildung wird immer wichtiger, Bildungschancen für zahlreiche Kinder<br />
sinken<br />
Bildung und Qualifizierung werden immer wichtiger. Es erfolgt eine immer höhere<br />
Spezialisierung an Wissen und die technische Entwicklung entwertet vorhandene Kenntnisse<br />
und Fertigkeiten in rasantem Tempo. Vor diesem Hintergrund ist umso bedenklicher, dass<br />
zahlreiche Schulabgänger die Schule ohne Abschluss verlassen, insbesondere Kinder mit<br />
Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Milieus. Im Jahr 2008 beendeten fast<br />
8,5% der Schulabgänger in <strong>Schleswig</strong>-Holstein ihre Schullaufbahn ohne<br />
Hauptschulabschluss 11 . Das ist bundesweit der höchste Anteil in einem westdeutschen<br />
Flächenland. In der Stadt Neumünster blieben 13,5% der Schulabgänger ohne<br />
10 Allein der Kreis Pinneberg weist für die Jugendhilfe für das Jahr 2010 240 bestätigte Fälle von Kindeswohlgefährdung aus.<br />
Die Zahl der angezeigten Fälle liegt niedriger .Laut Polizeilicher Kriminalstatistik kommen auf 100.000 Einwohner in <strong>Schleswig</strong>-<br />
Holstein 16,6 angezeigte Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern (§176 StGB). Das sind 2009 470 Fälle. Hinzu kommen<br />
128 angezeigte Fälle körperlicher Misshandlung von Kindern.<br />
11 Ergebnisse: Studie Bertelsmann-Stiftung 2010<br />
3
Hauptschulabschluss, in Kiel 9,5%. Besonders alarmierend ist die Situation der<br />
Förderschüler. 96,6% der Förderschüler erreichten in <strong>Schleswig</strong>-Holstein keinen<br />
Hauptschulabschluss 12 . Unsere Gesellschaft kann es sich nicht erlauben, Kinder und<br />
Jugendliche ohne die nötigen Fertigkeiten zum Bildungserwerb und zur Qualifizierung „ins<br />
Leben“ zu entlassen und ihnen damit die Chance zu einer Erwerbstätigkeit und einem Leben<br />
in Selbstverantwortung zu verwehren.<br />
Schwerpunktsetzung für ein „<strong>Kinderland</strong> <strong>Schleswig</strong>-Holstein<br />
2020“<br />
Um den Herausforderungen zu begegnen, die aus den o.g. Trends und Problemen<br />
resultieren, sind – auch vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage –<br />
Schwerpunkte bei der Entwicklung hin zu einem „<strong>Kinderland</strong> <strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“ zu<br />
setzen.<br />
Diese Schwerpunkte sollten in den nächsten Jahren sein:<br />
Unterstützung der Kinder in allen Altersstufen / Lebensphasen (insbesondere durch<br />
den Ausbau der Frühen Hilfen und die Vernetzung aller Akteure der Kinder- und<br />
Jugendhilfe sowie des Gesundheitswesens)<br />
Gesundes Aufwachsen für alle Kinder<br />
Verbesserung der Bildungschancen und Ausbau der Tagesbetreuung<br />
<br />
<br />
Konsequenter Abbau und Verhinderung von Kinderarmut<br />
Konsequente Förderung der Partizipation von Kindern (Kinder beteiligen und<br />
„Erwachsenen-Brille“ absetzen)<br />
Was genau unter diesen Schwerpunkten zu verstehen ist, soll im Folgenden erläutert<br />
werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei allen genannten Maßnahmen stets auf den<br />
besonderen Bedarf bei Kindern (Familien) mit sozialer Benachteiligung und bei Kindern<br />
(Familien) mit besonderem Versorgungsbedarf (chronische Erkrankungen, Behinderung) zu<br />
achten ist. Für sie müssen sensibel und pragmatisch geeignete Zugangswege zu<br />
Hilfeangeboten geschaffen werden.<br />
Unterstützung der Kinder in allen Altersstufen / Lebensphasen<br />
(insbesondere Ausbau Frühe Hilfen und Vernetzung)<br />
In der Vergangenheit wurden gefährdete Kinder und belastete Familien mit<br />
Unterstützungsangeboten ( der Kinder- und Jugendhilfe) häufig erst erreicht, wenn die<br />
Kinder in einer Kindertagesstätte und die Folgen der Gefährdung bereits eingetreten waren<br />
(z.B. Kindesvernachlässigung, Kindesmisshandlung). Hinzu kommt der Aspekt der<br />
Kinderentwöhnung (s.o.), der dazu führt, dass der Beratungsbedarf von Eltern (vor allem<br />
beim ersten Kind) aufgrund der Unsicherheit noch vor der Geburt, vor allem aber direkt nach<br />
der Geburt und in den ersten Lebensjahren ihres Kindes hoch ist. Mittlerweile haben wir aber<br />
erkannt, dass Hilfeangebote nicht früh genug gemacht werden können, da für die weitere<br />
positive Entwicklung des Kindes bereits die frühkindliche Phase, also die Altersstufe von 0<br />
bis 3 Jahren, ausschlaggebend ist. Hier setzen die so genannten Frühen Hilfen an.<br />
Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren sind besonders verletzlich und in hohem Maße abhängig<br />
von kompetenter familiärer Fürsorge. Gerade in den ersten drei Lebensjahren durchlaufen<br />
Kinder große Entwicklungsphasen in sehr kurzen Zeitabschnitten. Besondere<br />
Belastungssituationen in Familien (wie Armut, Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankung eines<br />
Elternteils, Behinderung eines Kindes etc.) können zu einem erheblichen Entwicklungsrisiko<br />
für den Säugling werden.<br />
Mit dem Landeskinderschutzgesetz ist 2008 in <strong>Schleswig</strong>-Holstein die Entwicklung von<br />
Frühen Hilfen angeschoben und gefördert worden. Das Land hat die Entwicklung in allen<br />
12 Allerdings ist in <strong>Schleswig</strong>-Holstein der Anteil der getrennt in Förderschulen unterrichteten Kinder und Jugendlichen<br />
bundesweit am niedrigsten.<br />
4
Kreisen und kreisfreien Städten unterstützt und mit je 50.000 Euro pro Jahr gefördert. Durch<br />
diese Unterstützung hat sich in <strong>Schleswig</strong>-Holstein einiges entwickeln können. Zum größten<br />
Teil handelt es sich aber noch um zeitlich befristete Projekte mit engsten personellen und<br />
fachlichen Ressourcen - weit entfernt von einem flächendeckenden Netz. Für das<br />
Haushaltsjahr <strong>2011</strong>/2012 hat das Land seine finanzielle Unterstützung für den Aufbau eines<br />
Netzes der Frühen Hilfen um 40 % gekürzt. Durch diese Kürzung besteht die Gefahr, dass<br />
viele gute Ansätze mangels Finanzierung im Sande verlaufen und ein stabiles Netz der<br />
Frühen Hilfen gar nicht erst entstehen kann.<br />
Kinder und Eltern brauchen von Anfang an Unterstützung, Förderung und Hilfen.<br />
Wegen der existenziellen Bedeutung der Frühen Hilfen für die betroffenen Kinder und damit<br />
für den <strong>Kinderschutz</strong> insgesamt müssen Frühe Hilfen generell allen Familien zugänglich<br />
gemacht werden. Es sollte daher einen Rechtsanspruch zur Beratung im Bereich Frühe<br />
Hilfen geben. Das Land <strong>Schleswig</strong>- Holstein sollte sich für diesen Weg auf der Bundesebene<br />
einsetzen. Beim Ausbau einer verlässlichen Infrastruktur für frühe Förderung und Frühe<br />
Hilfen muss berücksichtigt werden, dass die Hilfen auch Zugang eröffnen zu Familien mit<br />
schwierigen Lebenssituationen, die von sich aus den Kontakt zum Hilfesystem nicht suchen.<br />
Dieses Ziel kann erreicht werden, indem Familien regelhaft nach der Geburt ihres Kindes<br />
aufgesucht und damit ein erster Kontakt gemacht und der Weg für eine Unterstützung<br />
geebnet wird.<br />
Und das Ziel kann erreicht werden durch eine enge Vernetzung und Kooperation zwischen<br />
Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Diese Vernetzung ist<br />
Grundlage für ein funktionierendes System Früher Hilfen. Sie steht allerdings erst am<br />
Anfang. Das liegt jedoch nicht am mangelnden Engagement oder fehlenden guten Willen der<br />
beteiligten Akteure, sondern daran, dass die einzelnen Systeme extrem unterschiedlich sind<br />
sowohl in Hinblick auf Zuständigkeiten von Kommune, Land und Bund, auf rechtliche<br />
Grundlagen, auf Finanzierung, auf Politikressourcen u.a.m. Selbst für Fachleute ist es<br />
schwer, sich außerhalb ihres eigenen Systems in der Vielfalt anderer Hilfeangebote und<br />
Strukturen zurechtzufinden - für Familien bisweilen unmöglich. Mit den Frühen Hilfen ist man<br />
erstmalig dabei, Vernetzungswege zwischen den Systemen zu bahnen. Aber nach den<br />
bisherigen Erfahrungen wird eine funktionierende Zusammenarbeit und verlässliche<br />
Vernetzung mit dem Gesundheitswesen nur möglich werden, wenn <strong>Schleswig</strong>-Holstein das<br />
öffentliche Gesundheitswesen (die Kinder- und Jugendärztlichen Dienste) stärkt und<br />
ausbaut.<br />
Gesundes Aufwachsen für alle Kinder<br />
Gesundheit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche, um ihr<br />
Leben gut meistern zu können. Die Daten der Einschulungsuntersuchungen in <strong>Schleswig</strong>-<br />
Holstein und des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheits-Surveys machen deutlich,<br />
dass viele Kinder gesundheitliche Beeinträchtigungen haben (s.o.). Dabei sind<br />
psychosoziale Risiken und gesundheitliche Einschränkungen eng verzahnt. Der<br />
Gesundheitszustand sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher ist deutlich schlechter als<br />
in Vergleichsgruppen. Um gesundheitliche Chancengleichheit für Kinder zu fördern, muss die<br />
Gesundheitsförderung und die Prävention deutlich verstärkt werden.<br />
Gesundheitspräventive Maßnahmen werden – sicher nicht zuletzt aufgrund ihrer starken<br />
Mittelschichtorientierung - von sozial benachteiligten Menschen nur unzureichend<br />
wahrgenommen. Daher müssen Angebote ausgebaut und verstärkt werden, die einen<br />
niedrigschwelligen Zugang sicherstellen und die von dieser Gruppe auch angenommen<br />
werden (können) – auch von Kindern, deren Eltern nicht oder kaum mitwirken. Als Beispiele<br />
sind hier Aktivitäten zu nennen wie die Kindergesundheitsmesse, die Kinderküche auf Tour<br />
des <strong>Kinderschutz</strong>bundes oder die gesundheitsfördernden Maßnahmen, die in den<br />
Kindertagesstätten und den Schulen in mehr oder weniger breitem Umfang (z.B. zu<br />
gesunder Ernährung, mehr Bewegung, Sprech- und Sprachförderung, zur Sexualpädagogik<br />
5
und zur Sucht- und Gewaltprävention) stattfinden. Diese Maßnahmen müssen systematisiert<br />
und konsequent ausgebaut werden.<br />
In welchen Bereichen besonderer Handlungsbedarf besteht, ergibt sich aus den Ergebnissen<br />
der Einschulungsuntersuchungen. Kinder- und Jugendärzte u.a. Sachverständige müssen<br />
daraus weitere gesundheitspolitische Maßnahmen vorschlagen, mit denen<br />
erfolgversprechend dieser bedrohlichen Entwicklung entgegengewirkt werden kann. Dabei<br />
kann es sich nicht – wie das bislang der Fall ist – um Aktionen mit mehr oder weniger<br />
breitem Umfang handeln, sondern um sehr breit und auf Nachhaltigkeit angelegte<br />
Programme. In einem nächsten Schritt ist zu formulieren, wer diese Programme wie<br />
durchführen kann. Beide Schritte erfordern einen erheblichen konzeptionellen und<br />
finanziellen Aufwand und setzen auch in der Umsetzung eine enge Kooperation von Schule,<br />
Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenwesen mit dem Gesundheitswesen als notwendig<br />
voraus. Gleichwohl gibt es zu einer stärkeren Gesundheitsförderung keine Alternative.<br />
Neben der Gesundheitsförderung für alle Kinder muss auch vermehrt an die besonderen<br />
Versorgungsbedürfnisse von Kindern mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen im<br />
allgemeinen Schulsystem, insbesondere angesichts der zunehmenden Ganztagsbetreuung,<br />
gedacht werden. Das Angebot von Schulkrankenschwestern sowohl zur<br />
Gesundheitserziehung aller Schüler/-innen wie auch zur Betreuung von Kindern mit<br />
besonderen gesundheitlichen Bedarfen muss in enger Kooperation mit dem öffentlichen<br />
Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und der Eingliederungshilfe ausgebaut werden.<br />
Verbesserung der Bildungschancen und Ausbau der Tagesbetreuung<br />
Bildung ist ein Thema, das sich längst nicht mehr auf einen bestimmten Lebensabschnitt<br />
begrenzen lässt, wie das Stichwort „Lebenslanges Lernen“ zutreffend bezeichnet. Da der<br />
vorliegende Artikel jedoch das „<strong>Kinderland</strong> <strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“ zum Gegenstand hat,<br />
beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Verbesserung der Bildungschancen<br />
von Kindern – und hier in den ersten Lebensjahren. Denn: Je früher ein Kind gefördert wird,<br />
desto höher sind seine Chancen Bildung zu erwerben und seine intellektuellen Potenziale zu<br />
nutzen. Auf den Themenkomplex Schule soll nur kurz eingegangen werden.<br />
In Deutschland ist der Zugang zu Bildung und Entwicklungsförderung ganz wesentlich<br />
abhängig von der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Eltern, ihrem Bildungsgrad und ggf.<br />
einer Migrationserfahrung. Bildung und Betreuung ist unter zwei Gesichtspunkten zu<br />
bewerten: Zum einen geht es um die Entwicklungschancen von Kindern – so hat gerade die<br />
frühkindliche Bildung für die gesunde Entwicklung des Einzelnen, aber auch für die gesamte<br />
Gesellschaft, eine große Bedeutung. Zum anderen geht es um die Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf. Dieser Aspekt ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Er kann darüber<br />
entscheiden, ob Menschen überhaupt bereit sind, Eltern zu werden. Er kann zudem darüber<br />
entscheiden, ob Menschen an einem Ort leben oder fortziehen. Bildungs- und<br />
Betreuungsangebote werden somit zum Standortfaktor. Insbesondere für die ländlichen<br />
Regionen in <strong>Schleswig</strong>-Holstein bedeutet das, wenn sie entgegen der vorhergesagten<br />
Entwicklung eine Trendwende einleiten wollen, müssen sie gemeindenah, mit ausreichenden<br />
und flexiblen Betreuungszeiten, genügend Plätze für eine qualifizierte Bildung und Betreuung<br />
auch für Kinder unter 3 Jahren anbieten. Zudem können insbesondere Betreuungsangebote<br />
darüber entscheiden, ob Eltern einer Arbeit nachkommen können oder nicht. Das wiederum<br />
kann bedeuten, dass Eltern es schaffen, eigenverantwortlich aus einem Hartz-IV-Bezug zu<br />
kommen. Betreuungsangebote sind somit eine wichtige Maßnahme bei der Verhinderung<br />
von Kinderarmut. Vor allem für Alleinerziehende sind Betreuungsmöglichkeiten eine wichtige<br />
Voraussetzung für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit.<br />
Politisches Ziel muss die Beitragsfreiheit der Betreuungsangebote bleiben. Überbrückt<br />
werden muss die Zeit mit für Eltern bezahlbaren Beiträgen. Gerade im Bereich der<br />
Kinderbetreuung für unter 3jährige sind die Elternbeiträge in <strong>Schleswig</strong>-Holstein extrem<br />
unterschiedlich und drohen in manchen Regionen völlig aus dem Ruder zu laufen. Sozial<br />
benachteiligte Kinder brauchen kostenfreie Kindertages- und Krippenplätze – auch, wenn<br />
6
ihre Eltern nicht berufstätig sind. Hier geht es wiederum um Chancengleichheit für alle<br />
Kinder. Es geht um die Förderung aller Kinder und damit um eine Angleichung der<br />
Ausgangsbedingungen außerhalb des Elternhauses. Viele Kinder benötigen eine frühe<br />
Unterstützung und Betreuung, um Entwicklungsdefizite sowie mangelnde Versorgung und<br />
Förderung durch die Eltern auszugleichen – unabhängig davon, ob die Eltern zuhause sind<br />
und die Kinder selbst betreuen könnten. Die frühe qualifizierte Tagesbetreuung ist für diese<br />
Kinder geradezu existenziell für ihre Entwicklung. Die frühe Förderung hat insbesondere in<br />
Bezug auf ihre Bildungschancen eine kompensatorische Wirkung. Ein weiteres Argument für<br />
die frühkindliche Betreuung und Förderung: Kinder brauchen für ihre Entwicklung andere<br />
Kinder. Wenn durch den demografischen Wandel die Zahl der Kinder zurückgeht, wird die<br />
Kindertagesbetreuung unter diesem Gesichtspunkt noch wichtiger werden.<br />
Im Zusammenhang mit Bildungschancen müssen wir uns immer wieder der Frage stellen,<br />
ob und inwieweit wir eingewanderten Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern gerecht<br />
werden. Bisher gelingt es offensichtlich nur unzureichend, diese Kinder zu einem<br />
Bildungserfolg zu führen. Es muss uns gelingen, die Integration besser zu gestalten. So<br />
muss für die nächsten Jahre für alle 3 bis 6jährigen Kinder mit Migrationshintergrund die<br />
Sprachförderung in den Kindertagesstätten so verstärkt werden, dass sie bei Schuleintritt mit<br />
der Unterrichtssprache keine Schwierigkeiten haben. Wenn hier gespart wird, führt das<br />
letztendlich zu dem Ergebnis, dass diese Kinder als Jugendliche überdurchschnittlich häufig<br />
nach dem Schulbesuch ohne Abschluss dastehen und in vielen Fällen der Weg in die<br />
Arbeitslosigkeit vorgezeichnet ist.<br />
Zum Themenkomplex schulische Bildung sei an der Stelle nur kurz auf die Bedeutung der<br />
Bildungs- und Betreuungsangebote durch Ganztagsschulen hingewiesen. Mehr<br />
Chancengerechtigkeit in der Bildung bedeutet, einen weiteren Ausbau von Ganztagsschulen<br />
mit den notwendigen Förderangeboten. Wir brauchen für alle Kinder ein Schulsystem, das<br />
sie fördert und qualifiziert. Politisches Ziel muss auch hier die Beitragsfreiheit bleiben,<br />
überbrückt werden muss die Zeit mit der generell kostenfreien Teilnahmemöglichkeit bei allen<br />
schulischen Angeboten für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche.<br />
Konsequenter Abbau und Verhinderung von Kinderarmut<br />
Arme oder von Armut bedrohte Kinder erfahren nicht nur zahlreiche Benachteiligungen in<br />
ihrer aktuellen Lebenssituation. Vielmehr haben diese Benachteiligungen massive und<br />
langfristige Folgen. Kinderarmut mindert ihre Chancen, ihre persönlichen Fähigkeiten zu<br />
entfalten und sich zu eigenständigen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu entwickeln.<br />
Es gibt wenigstens zwei Argumente, Kinderarmut konsequent abbauen zu wollen. Erstens<br />
haben Kinder ein verbrieftes Recht auf gute Bildung, Gesundheit, Teilhabe und ein<br />
Aufwachsen ohne Gewalt. Dieses Recht steht nicht nur in der von der Bundesregierung<br />
ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention, sondern seit Dezember 2010 auch in der<br />
Verfassung des Landes <strong>Schleswig</strong>-Holstein. Zweitens ist es aus ökonomischer Sicht sinnvoll,<br />
in eine gute Absicherung aller Kinder zu investieren, damit sie als Jugendliche und<br />
Erwachsene am sozialen Leben teilhaben und die Gesellschaft verantwortungsvoll<br />
mitgestalten können und dem Arbeitsmarkt in notwendigem Maße zur Verfügung stehen. Mit<br />
anderen Worten: Wir können uns Kinderarmut auf Dauer nicht leisten!<br />
Der <strong>Kinderschutz</strong>bund weist darauf hin, dass für die Bekämpfung von Kinderarmut, gute<br />
Infrastrukturen und eine finanzielle Grundausstattung für Kinder notwendig sind, die ihnen<br />
die Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglichen. Das Bildungspaket, das als Ergebnis des<br />
Bundesverfassungsgerichtsurteils von der derzeitigen Bundesregierung gemeinsam mit den<br />
Hartz-IV-Kinderregelsätzen auf den Weg gebracht wird, macht die ganze Ambivalenz in der<br />
Frage der Bekämpfung der Kinderarmut deutlich. Das Bildungspaket, das nur mit<br />
zusätzlichem Verwaltungsaufwand umgesetzt werden kann und damit mit hohen<br />
zusätzlichen Kosten, wird von einer Verdachtslogik geleitet, dass finanzielle Leistungen bei<br />
Kindern nicht ankommen. Das mag in dem einen oder anderen Fall berechtigt sein, aber das<br />
7
generell negative Elternbild wird durch Studien nicht bestätigt. Vielmehr sparen die meisten<br />
Eltern, die von Sozialtransfers leben, bei sich selbst, um ihren Kindern die bestmöglichen<br />
Chancen zu eröffnen 13 Außerdem kann eine Verdachtslogik nicht die Grundlage einer<br />
politischen Strategie sein. Stattdessen brauchen wir eine Politik der Befähigung von Kindern<br />
und Jugendlichen.<br />
Wir kommen langfristig nur weiter, wenn wir für alle Kinder eine Kindergrundsicherung<br />
einführen, die sich an dem aktuell geltenden kindlichen Existenzminimum bzw. an dem<br />
entsprechenden steuerlichen Freistellungsbetrag orientiert. Die Kindergrundsicherung soll<br />
gestuft sein, das heißt sie beinhaltet für alle Kinder das so genannte sächliche<br />
Existenzminimum (zurzeit 322 Euro) für Ernährung, Kleidung etc., und zusätzlich – bis der<br />
Staat die Leistung für Bildung, Betreuung, Erziehung gebührenfrei zur Verfügung stellt –<br />
auch einen weiteren Betrag in Höhe von 180 Euro, der dem verfassungsrechtlich<br />
festgestellten Bedarf für Erziehung, Betreuung und Ausbildung<br />
entspricht. Um die Kindergrundsicherung sozial gerecht zu gestalten, soll sie mit dem<br />
Grenzsteuersatz des bisherigen elterlichen Einkommens ohne Kindergrundsicherung<br />
versteuert werden. Das heißt, die Kindergrundsicherung schmilzt mit steigendem<br />
Einkommen langsam ab, während Familien ohne oder mit geringem Einkommen die<br />
gesamte Leistung erhalten 14 .<br />
Angesichts der Dimension von Kinderarmut reicht es nicht mehr aus, an einzelnen<br />
Schrauben im bisherigen System zu drehen. Notwendig ist vielmehr, dass <strong>Schleswig</strong>-<br />
Holstein gemeinsam mit anderen Bundesländern auf Bundesebene die Einführung einer<br />
Kindergrundsicherung auf den Weg bringt und parallel dazu die Infrastrukturen im Bereich<br />
Bildung und Betreuung ausbaut und dabei schrittweise den Weg der Gebührenfreiheit für<br />
den Bildungs- und Betreuungsbereich geht.<br />
Konsequente Förderung der Partizipation von Kindern (Kinder beteiligen<br />
und „Erwachsenen-Brille“ absetzen)<br />
Die Partizipation von Kindern ist nicht nur ein (gesetzlich) verankertes Recht, sie ist eine<br />
Chance für unsere Gesellschaft, die von großem Nutzen für unser Land und unsere<br />
Demokratie sein kann – wenn sie denn nicht nur rechtlich geregelt, sondern konsequent<br />
umgesetzt und „gelebt“ wird. Das erfordert allerdings ein Umdenken bzw. eine neue<br />
Sichtweise der Erwachsenen (die in der Regel die „Entscheider“ sind).<br />
Beteiligung ist nach der UN Kinderrechtskonvention ein elementares Kinderrecht. Es soll<br />
Kindern entsprechend ihres Entwicklungsstandes die Möglichkeit geben, mit ihrer eigenen<br />
Welt- und Problemsicht Einfluss zu nehmen auf Entscheidungsprozesse, die die Gestaltung<br />
ihres Lebensumfeldes in Familie, Schule, Kommune u.a. betreffen. Durch Mitsprache,<br />
Auseinandersetzung, Mitwirkung sammeln Kinder Erfahrungen in demokratischen<br />
Aushandlungsprozessen und können den Erfolg ihres Engagements direkt erfahren. Damit<br />
ist Partizipation nicht nur eine Chance für Kinder und ihre Entwicklung sondern auch für<br />
unsere Gesellschaft. Denn die Erfahrungen, die über Beteiligung gemacht werden, sichern<br />
langfristig demokratisches Handeln und (ehrenamtliches) Engagement. Nach einer Studie<br />
des Deutschen Hilfswerks 15 beteiligen sich Erwachsene eher an der Gestaltung des<br />
Gemeinwesens, wenn sie bereits als Kinder und Jugendliche aktiv gestaltend sein konnten.<br />
Mehr als 900 ehrenamtlich Aktive sowie Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker wurden<br />
befragt. Das Ergebnis: fast 83% derjenigen, die sich heute gesellschaftlich stark engagieren,<br />
haben dieses bereits in der Kindheit und Jugend getan. Damit ist bereits das erste Argument<br />
genannt, das für eine Partizipation von Kindern spricht: die Förderung einer positiven<br />
13 Deutscher <strong>Kinderschutz</strong>bund Bundesverband (Hrsg.): Stellungnahme vom 06.10.2010 zum Referentenentwurf des<br />
Bundesarbeitsministeriums zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des II. und XII. SGB. Berlin S. 8<br />
14 Bündnis Kindergrundsicherung (Hrsg.) (2010): Kinder brauchen mehr! Grundsicherung für Kinder. Konzeptbroschüre. Berlin<br />
15 Deutsches Hilfswerk e.V. (Hrsg.) 2007: Vita gesellschaftlichen Engagements. Studie zum Zusammenhang zwischen früher<br />
Beteiligung und dem Engagement bis ins Erwachsenenalter. Berlin<br />
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Einstellung zu gesellschaftlichem Engagement durch frühe gesellschaftlichen Teilhabe. Ein<br />
weiteres Argument für die Beteiligung von Kindern ist, dass es viele Fragen gibt, die nur<br />
Kinder und Jugendliche den Kommunen beantworten können. Hierzu zählen u.a.<br />
Entscheidungen über Schulwege und Schulwegsicherung. Denn natürlich kann man<br />
Experten beschäftigen und eine Wegeplanung machen (lassen). Aber welche Wege die<br />
Kinder wirklich nehmen, welche Abkürzungen, welche Schleichwege, das wissen nur die<br />
Kinder selbst. Sie sind die Experten und Expertinnen in eigener Sache. Ein drittes Argument<br />
ist, dass eine Beteiligung von Kindern die Integration fördert.<br />
Wie aber lässt sich die Beteiligung von Kindern konkret gestalten?<br />
Grundlage für Beteiligungsprozesse sind klar verankerte Strukturen (rechtliche Vorgaben,<br />
Richtlinien, Vereinbarungen o. a.) und eine Qualifizierung der Beteiligten. So brauchen<br />
Erwachsene neben einer klaren Haltung, die die Perspektive von Kindern ernst nimmt und<br />
ihnen Entscheidungsräume ermöglicht, auch Methodenwissen über die Umsetzung von<br />
Beteiligung. <strong>Schleswig</strong>- Holstein gilt seit vielen Jahren bundesweit als Vorreiter der<br />
kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligung.2003 hat <strong>Schleswig</strong> – Holstein die Beteiligung<br />
von Kindern und Jugendlichen im § 47f der Gemeindeordnung für die Kommunen als<br />
Pflichtaufgabe festgeschrieben. Zudem ist <strong>Schleswig</strong> -Holstein bundesweit das erste Land,<br />
das für Kinderfreundlichkeit und Alltagsdemokratie seit 1997/1998 Moderatoren im Rahmen<br />
der Demokratiekampagne ausgebildet hat und insbesondere im Bereich der Partizipation der<br />
Kindertageseinrichtungen beispielhaft Modelle einer gelingenden Kinderbeteiligung<br />
entwickelt hat. <strong>Schleswig</strong> – Holstein ist bundesweit für seine Beteiligung von Kindern und<br />
Jugendlichen bekannt und hat Standards gesetzt. Aber Partizipation muss gelebt werden, es<br />
reicht nicht, sie formal zu regeln. Das heißt beispielsweise, dass die Kommunen im Land<br />
Kinder und Jugendliche nach § 47f der Gemeindeordnung beteiligen müssen, wenn deren<br />
Belange in besonderem Maße betroffen sind. Die Gemeindeordnung bietet einen<br />
Grundpfeiler, um eine systematische und verlässliche Beteiligung zu organisieren. In der<br />
Umsetzung sind einige Kommunen sehr engagiert, während andere wenig Notwendigkeit für<br />
eine Beteiligung sehen. Vorsichtig ausgedrückt kann man sagen, dass die flächendeckende<br />
Umsetzung noch viel Entwicklungspotential hat.<br />
Fazit<br />
Bereits im Jahr 2020 werden (auch) in <strong>Schleswig</strong>- Holstein immer weniger Kinder in einer<br />
zunehmend alternden Gesellschaft leben. Da Kinder die Zukunft unserer Gesellschaft sind,<br />
muss – gerade unter dem Gesichtspunkt des Geburtenrückgangs – alles getan werden, um<br />
sicher zu stellen, dass sie verantwortliche, integrationsfähige und leistungsorientierte<br />
Mitglieder dieser Gesellschaft werden (können). An diese Kinder werden hohe<br />
Anforderungen gestellt. Gleichzeitig sind insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender<br />
sozialer und wirtschaftlicher Belastungen immer mehr Eltern nicht in ausreichendem Maße in<br />
der Lage, ihren Kindern die hierfür nötigen Kompetenzen zu vermitteln und die erforderlichen<br />
Mittel zur Verfügung zu stellen. Um diese Diskrepanz von steigenden Herausforderungen an<br />
die Kinder einerseits und sinkenden Möglichkeiten der Eltern andererseits zu lösen, sind<br />
erhebliche Anstrengungen seitens der Gesellschaft notwendig – ideell wie materiell. Denn<br />
der Schutz unserer Kinder und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen sowie ihrer<br />
Bildungs- und Entwicklungschancen erfordern nicht nur ein Umdenken, sie kosten auch<br />
Geld. Das ändert sich auch nicht durch die Schuldenbremse. Aus heutiger Sicht werden der<br />
Bund, das Land und die Kommunen aufgrund des demographischen Wandels mehr in jedes<br />
einzelne Kind „investieren“ müssen.<br />
Dabei muss stärker als bisher darauf geachtet werden, dass Schwerpunkte gesetzt werden<br />
und in besonders wirkungsvolle und nachhaltige Maßnahmen investiert wird. Eltern und<br />
Kinder brauchen von Anfang an Unterstützung, Förderung und Hilfen. Dazu muss das<br />
entwickelte System der Frühen Hilfen weitergeführt und konsequent ausgebaut werden. Wir<br />
brauchen für alle Kinder ein Bildungssystem (Kindertagesstätte und Schule), das sie fördert<br />
und qualifiziert. Bildung schafft Lebenschancen. Selektion dagegen schadet dem einzelnen<br />
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Kind und mindert die Entwicklungsmöglichkeiten unseres Landes. Gesundheitsförderung und<br />
Prävention ist eine öffentliche Aufgabe, die wesentlich breiter als bisher und auf<br />
Nachhaltigkeit angelegt und umgesetzt werden muss. Für die Umsetzung brauchen wir ein<br />
enges Netzwerk insbesondere zwischen den Bildungseinrichtungen und einem gestärkten<br />
öffentlichen Gesundheitswesen. Angesichts der Dimension von Kinderarmut reicht es nicht<br />
mehr aus, an einzelnen Schrauben im bisherigen System zu drehen. Um Kinderarmut<br />
konsequent abzubauen und zu verhindern, muss strukturell etwas geändert werden. Dabei<br />
muss es um die Themen Kindergrundsicherung und Ausbau der Infrastrukturen gehen, um<br />
die Teilhabe der Kinder zu sichern und ihre Chancen auf eine gute Gesundheit und Bildung<br />
zu verbessern. Die Beteiligung von Kindern ist ein Grundstein, um die Teilhabe von Kindern<br />
an der Gesellschaft zu gewährleisten und das für unsere Gesellschaft unverzichtbare<br />
(ehrenamtliche) Engagement zu sichern. Wie diese Schwerpunkte und Maßnahmen konkret<br />
aussehen, wurde in den obigen Ausführungen bereits ausführlich dargestellt.<br />
Wenn wir es ernst meinen mit einem „<strong>Kinderland</strong> <strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020“, müssen wir<br />
bereit sein zu Veränderungen – das schließt auch materielle Umverteilungen mit einem<br />
Schwerpunkt bei den Kindern und Familien ein. Das ist kein geringes Ansinnen vor dem<br />
Hintergrund, dass die Solidarität zwischen den gesellschaftlichen Gruppen schwindet und<br />
der Vertrag zwischen den Generationen neu geschlossen werden muss. Aber diese<br />
Investitionen in Kinder sind ein wesentlicher Beitrag für ein kindergerechtes und<br />
kinderfreundliches <strong>Schleswig</strong>-Holstein 2020. Sie schaffen die notwendigen<br />
Rahmenbedingungen, damit Kinder gut aufwachsen und zu verantwortungsvollen,<br />
tatkräftigen Erwachsenen heranwachsen können. Nur so hat unser Land eine Zukunft.<br />
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