Veränderte Kindheit - neue Morbidität: Gesellschaft und psychische ...
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<strong>Veränderte</strong> <strong>Kindheit</strong> - <strong>neue</strong> <strong>Morbidität</strong>:<br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>und</strong> <strong>psychische</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
F. Resch<br />
Klinik für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
Universitätsklinikum Heidelberg<br />
Ganterschwil, 2012
Lebensräume - Entwicklungsräume
Modernisierung der Seele<br />
„ ... alles halb so wild ...“<br />
(M. Dornes 2012)<br />
Theorie der sozialen<br />
Beschleunigung<br />
(H. Rosa 2005)<br />
„Selbstausbeutung der<br />
Müdigkeitsgesellschaft“<br />
(Byung-Chul Han 2010)<br />
„Unerschrocken in die<br />
Brutstätte der Ungewissheiten“<br />
(Z. Bauman 2008)
Themenkomplexe<br />
Zeitgeist<br />
- Rolle der Therapie<br />
Symptom<br />
- Neue <strong>Morbidität</strong><br />
Umwelten<br />
- Familie<br />
- Schule/Arbeit<br />
- Neue Medien
Symptom <strong>und</strong><br />
gesellschaftlicher Kontext<br />
Mikrosystem =<br />
emotionaler Dialog<br />
interaktionale Matrix<br />
Opfer<br />
Störfaktor<br />
Mesosystem =<br />
Schulklima/Arbeitswelt<br />
Alltagsgestaltung<br />
Makrosystem =<br />
Politischer Stil<br />
Krieg/Terror
<strong>Kindheit</strong> heute<br />
• Neue <strong>Morbidität</strong><br />
• Familie <strong>und</strong> Erziehung<br />
• Arbeitsmarkt <strong>und</strong> Schule<br />
• Neue Medien <strong>und</strong> Risikokonsum<br />
• Umbruchszeiten
„Noch nie ging es Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
in Deutschland so gut wie heute“<br />
Aber: etwa 1/3 unter der Grenze der<br />
Armutsgefährdung / arbeitslose Eltern / Eltern<br />
ohne Berufsabschluss<br />
Rauschenbach, DJI-Survey 2012
KIGGS-Studie 2007<br />
Gesamtproblemwert (SDQ-Elternbericht)<br />
unauffällig grenzwertig auffällig<br />
Geschlecht<br />
Jungen 82,2% 8,8% 9,0%<br />
Mädchen 88,5% 6,2% 5,3%<br />
Migrationsstatus<br />
Migrant 78,7% 11,5% 9,8%<br />
Nicht-Migrant 86,5% 6,8% 6,7%<br />
Sozioökonomischer Status<br />
Niedriger 76,8% 11,0% 12,2%<br />
Mittlerer 86,6% 7,0% 6,4%<br />
Hoher 91,9% 4,6% 3,5%<br />
Gesamt 85,3% 7,5% 7,2%<br />
Erhebung der Verhaltensauffälligkeiten mit dem Strength and Difficulties Questionaire<br />
(SDQ) durch die Eltern von 14.478 Kindern von 3-17 Jahren
Bedingungen des Aufwachsens<br />
haben sich geändert<br />
• mehr als jedes 3. Kind unter 6 Jahren mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
(soziokulturelle Heterogenität)<br />
• r<strong>und</strong> ¾ der 25j. haben Abitur<br />
• Neue Medien<br />
• Mobilität <strong>und</strong> Reisen<br />
• „entbettete Sozialräume“<br />
(Eigenanteil an Entwicklung für Jugendliche ↑)<br />
(Rauschenbach, DJI-Survey 2012)
Riskante <strong>Kindheit</strong><br />
Steigt die Prävalenz<br />
<strong>psychische</strong>r Störungen als<br />
„Neue <strong>Morbidität</strong>“?
Neue <strong>Morbidität</strong><br />
Argumente für real steigende Tendenz <strong>psychische</strong>r Störungen:<br />
• somato-<strong>psychische</strong> Risiken<br />
– angeborene Erkrankungen<br />
– Transplantationen<br />
– Krebsheilung<br />
– Frühgeburten<br />
• Verschiebung der Gesamtmorbidität ins Kindes- <strong>und</strong> Jugendalter<br />
• Soziale Risiken (soziale Differenzierung)<br />
– Armut<br />
– Migration<br />
– Komplexität
Neue <strong>Morbidität</strong><br />
Argumente für scheinbare Zunahme:<br />
• Awareness - gesellschaftliche Achtsamkeit<br />
• Medikalisierung sozialer Probleme<br />
• Inkonsistenz der Normen <strong>und</strong> Definitionen
Realzunahme in einigen Symptombereichen
Epochaler Symptomwandel<br />
• Selbstverletzung <strong>und</strong> Suizidalität<br />
• Psychosomatische Symptome<br />
(Kopfschmerzen)<br />
• Schizophrene Ausdrucksformen<br />
– z. B. Abnahme der Katatonie
Selbstverletzendes Verhalten<br />
Schülerangaben<br />
Elternangaben<br />
Prozent<br />
0 5<br />
10<br />
10<br />
1-3 pro Jahr >3 pro Jahr<br />
Prozent<br />
0 5<br />
1-3 pro Jahr >3 pro Jahr<br />
männlich<br />
weiblich<br />
männlich<br />
weiblich<br />
Ges<strong>und</strong>heitserhebung Heidelberg: N S =5832, N E =3413, 15-16jährige Schüler
Selbstmordversuch<br />
Schülerangaben<br />
Elternangaben<br />
0 2<br />
Prozent<br />
Prozent<br />
4 6<br />
4 6<br />
einmal<br />
mehrmals<br />
0 2<br />
einmal<br />
mehrmals<br />
männlich<br />
weiblich<br />
männlich<br />
weiblich
Suizidales<br />
Verhalten wird<br />
von den Eltern<br />
nur selten<br />
erkannt!
Diagnostische Weiterentwicklungen<br />
in DSM-V<br />
• Ängstlich-Depressives Syndrom<br />
• Schizophrenes Prodromalsyndrom<br />
• Severe Mood Dysregulation (SMD)<br />
• Selbstverletzungssyndrom<br />
Prävalenzanstieg <strong>psychische</strong>r Störungen
Gefahren<br />
• Medikalisierung der Gefühle<br />
• Keine Angst<br />
• Keine Trauer<br />
• Keine Wut<br />
• Medikalisierung der Armut <strong>und</strong> sozialer Missstände<br />
• Lernprobleme<br />
• Misserfolg<br />
• Arbeitslosigkeit<br />
• Medikalisierung der Existenz / Sinnfrage<br />
• Leben <strong>und</strong> Tod<br />
• Lebensverlängerung<br />
• Glück
Risikofaktor Familie:<br />
Störungen des emotionalen Dialogs<br />
Pablo Picasso:<br />
Mutter mit Kind
Die Familie als Kontext<br />
Mutter<br />
Elternbeziehung<br />
Vater<br />
Beziehungsqualität<br />
Erziehungsqualität<br />
Bindung<br />
Konflikte<br />
Vernachlässigung<br />
Kind<br />
Aushandeln vs<br />
Befehlen
Ist die Familie krank?<br />
• Auflösung durch Scheidungen?<br />
• „Patchwork“ ohne Verantwortung?<br />
• Bindungsschwäche?<br />
• Syndrom der kalten Schulter?<br />
• Zeitmangel?<br />
• Konflikte?<br />
• Erschöpfung?<br />
(nach Dornes, 2012)
Die Familie ist nicht krank<br />
aber<br />
es gibt kranke Familien
Kinder psychisch kranker Eltern<br />
Gesprächsbasis<br />
Stigma
Kinder psychisch kranker Eltern<br />
• Psychische Belastungen<br />
– Bindungsprobleme<br />
(emotionaler Dialog)<br />
– Sorge/Verantwortung – Parentifizierung<br />
(„falsches Selbst“)<br />
– Traumatisierung
Psychisch kranker Elternteil<br />
• veränderte Wahrnehmung<br />
• Belastbarkeit ↓<br />
• Beschäftigung mit eigener Krankheit<br />
maladaptives Elternverhalten
Elternverhalten<br />
• Nicht die Diagnose macht Unterschiede<br />
der mütterlichen Sensitivität bei psych.<br />
Krankheiten<br />
• Symptom-Belastung <strong>und</strong><br />
gesellschaftliches Funktionieren sind<br />
relevant!<br />
Mowbray & Khang, 2000
Elternstress <strong>und</strong> emotionale Probleme<br />
der Adoleszenz<br />
Adoleszente<br />
-.17<br />
Selbstwertgefühl<br />
-.44<br />
Psychiatrische<br />
Symptome<br />
bei Eltern<br />
-.13<br />
Elternunterstützung<br />
-.14<br />
Adolesz.<br />
emotionale<br />
Probleme<br />
-.10<br />
außerfamiliäre<br />
Unterstützung<br />
-.17<br />
.17<br />
(Roustit et al. 2010)
genetische Belastung<br />
psychisch<br />
kranker<br />
Elternteil<br />
Kind<br />
„Vulnerabilität“<br />
psychosoziale Belastungen<br />
ges<strong>und</strong>er<br />
Elternteil<br />
Helfersystem
Emotionaler Dialog<br />
• 6-12 Wo.: Konversationsähnlicher<br />
Austausch<br />
– Protokonversation<br />
– Unterscheidung von<br />
Person <strong>und</strong> Ding<br />
(Brazelton 1974; Trevarthen 1974; Tarabulsy et al. 1996; Übersicht bei Dornes 2006)
• affect attunement<br />
Emotionaler Dialog<br />
– Differenzierte Antwort auf Gefühlsausdrücke<br />
– durch veränderte Antwortamplitude Modulation<br />
• social referencing<br />
– Soziale Referenzierung / Bedeutungsgebung<br />
• joint attention<br />
– Gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Drittes
Depression <strong>und</strong> Dissoziation bei<br />
traumatisierten Müttern stört<br />
empfindlich den emotionalen Dialog<br />
Arbeitskreis frühe <strong>Kindheit</strong>, Heidelberg
<strong>Gesellschaft</strong>licher Kontext
Komplementäre Lebensfelder<br />
Familie<br />
Individuum<br />
Peers<br />
Schule<br />
Beruf<br />
<strong>Gesellschaft</strong>
Moderne Schule
Schulschwänzen<br />
We-Stay Studie Heidelberg, 2670 Jugendliche der 8. <strong>und</strong> 9. Klassen
Moderne Arbeitswelt
„... mit medialem<br />
Müll gefütterte<br />
Kinder der<br />
Chancenlosigkeit ...“<br />
Quo Vadis Europa?<br />
Gewalt verstehen?<br />
Badische Zeitung, 3.1.2012
Neue Medien - Pornographie<br />
„Let‘s talk about Porno“<br />
1. Pubertäres Leben<br />
2. Schönheitsideale<br />
3. Pornographie im Netz<br />
4. Sexualisierte Kommunikation<br />
nach Schnell 2010, Hajok 2011
• Cyber-Mobbing<br />
Neue Medien - Mobbing<br />
– I Share Gossip<br />
• Bullying<br />
– Beschimpfungen, Gerüchte, sexuelle Belästigungen<br />
• Happy Slapping<br />
– Prügelvideos<br />
34% unangenehme Erfahrungen<br />
Erwachsene zumeist kein Wissen<br />
(I. Schulz 2011)
We-Stay Studie Heidelberg, 2689 Jugendliche der 8. <strong>und</strong> 9. Klassen
Gamer
Risikokonsum bei Jugendlichen<br />
Entwicklung bei 12-15-jährigen Jugendlichen (Angaben in Prozent, GBE 2011)
Gibt es eine philosophische Krise des<br />
spätmodernen Informationszeitalters<br />
• Kapitalismus?<br />
• Werteverfall?<br />
• Beschleunigung?<br />
• Verunsicherung?
Was heißt postmodern?<br />
nicht eine Zielrichtung, ein Stil, eine<br />
Mode, ein Mythos, eine Geschichte ...<br />
Begriff nach J. F. Lyotard
Was heißt postmodern?<br />
Vielfalt, Mehrwertigkeit, Flickenteppich,<br />
Mehrdimensionalität, Kontextualisierung<br />
von Gültigkeit (Werte <strong>und</strong> Regeln).<br />
30 Jahre später: was nun?<br />
Begriff nach J. F. Lyotard
Umbruchszeit<br />
• Kein Totalitätsanspruch „einer Lösung“ für<br />
gesellschaftliche Probleme<br />
• Keine einheitliche Erklärung für die<br />
„condition humaine“<br />
• Auflösung des „Einen <strong>und</strong> Ganzen“
Umbruchszeit: Risiken<br />
Keine historisierende Richtungsweisung?<br />
Zeitalter einer „<strong>neue</strong>n Neugier“<br />
oder<br />
Beliebigkeit <strong>und</strong> Chaos?<br />
Simplifizierender F<strong>und</strong>amentalismus?
Umbruchszeit<br />
Qual der Wahl oder Chancen des Handelns<br />
• Informationsvielfalt<br />
• Erfolgsdruck/Konkurrenz<br />
• Komplexität der Kontexte<br />
• Wertepluralität<br />
• Globalisierung/Kulturschnittstellen<br />
• Mobilität<br />
• Flexibilität
Risiken<br />
• Überfülle des potentiell Machbaren<br />
(A. Ehrenberg)<br />
• Hamsterrad der narzisstischen<br />
Selbstausbeutung<br />
(Byung-Chul Han)<br />
• Trennungsraten - Anspruchsinflation<br />
(Dornes)<br />
Nicht Dürfen<br />
Nicht Können
Übermaß an Positivität<br />
(Überfluss)<br />
Beziehung<br />
Mobilität<br />
Exzess an<br />
Konsumation<br />
Kommunikation<br />
Information<br />
Produktion<br />
(Byung-Chul Han 2011)
Umbruchszeit<br />
Individuelle Voraussetzungen<br />
• Hohe Ausbildungs-/Bildungsqualität<br />
• Hohe Selbststeuerung/Selbstreflexion<br />
• Hohe kommunikative Kompetenz
Das aktuelle Problemdreieck<br />
Spätmoderne<br />
Maximen<br />
Psychosozialer<br />
Druck<br />
• Vielfalt<br />
• Globalität<br />
• Mobilität<br />
• Flexibilität<br />
Psychosoziale<br />
Kompetenz<br />
Erwachsene<br />
Erziehungs- <strong>und</strong><br />
Beziehungskultur<br />
Kinder
Rolle des Therapeuten I<br />
• Keine Systemges<strong>und</strong>heit vs. Individuum<br />
• Keine Erlösungserwartung für soziale<br />
Probleme<br />
• Keine Sinnstiftung durch Expertentum
Rolle des Therapeuten II<br />
• Individualisierte Hilfe (bio-psycho-sozial)<br />
• Differenzierte Problemanalyse<br />
• Integration statt Fragmentierung der<br />
Helfersysteme
DANKE