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einfachste Körperform. Zur Rezeption von Goethes Gartenhaus in ...

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Klassik und Avantgarde<br />

Das Bauhaus <strong>in</strong> Weimar<br />

1919-1925<br />

Herausgegeben <strong>von</strong><br />

Hellmut Th. Seemann<br />

und Thorsten Valk<br />

Wallste<strong>in</strong> Verlag


Wolfgang Pehnt<br />

Blutwarmes Leben – <strong>e<strong>in</strong>fachste</strong> Körperform<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Rezeption</strong> <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong><br />

<strong>in</strong> Zeiten des Bauhauses 1<br />

»Das Goethe-<strong>Gartenhaus</strong> zeichnet man nicht, es ist schon zu oft geschehen«,<br />

befand die Bauhaus-Schüler<strong>in</strong> Lou Scheper-Berkenkamp <strong>in</strong> ihrer humoristischen<br />

Übersichtskarte <strong>von</strong> Weimar unter besonderer Berücksichtigung se<strong>in</strong>er<br />

Kulturstätten aus dem Jahre 1924. 2 In der Tat war diese Ikone des Goethe-<br />

Kultes wieder und wieder gezeichnet, radiert, lithografiert und fotografiert<br />

worden und wurde es auch weiterh<strong>in</strong> (Abb. 1). Auch das Missvergnügen e<strong>in</strong>er<br />

jungen Bauhäusler<strong>in</strong> änderte nichts an der steilen publizistischen Karriere des<br />

<strong>Gartenhaus</strong>es. Es gehöre »zu dem unberührbaren Bestand dessen <strong>in</strong> Deutschland,<br />

das man sich für die Ewigkeit geweiht vorzustellen liebt, weil es e<strong>in</strong>e letzte<br />

Innigkeit deutschen Wesens auszudrücken sche<strong>in</strong>t!«, me<strong>in</strong>te zwei Jahre später<br />

Hans Wahl, Direktor des Goethe-Nationalmuseums. 3<br />

Der Dichter war <strong>in</strong> das Haus »an der Ilm schönen Wiesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Thale« 4<br />

im April 1776 e<strong>in</strong>gezogen. Sechs Jahre lang hatte er es als ständigen, wenn auch<br />

nicht alle<strong>in</strong>igen Wohnsitz benutzt und später als idyllischen Zufluchtsort. Seit<br />

es 1841 für den Besucherverkehr freigegeben und nach dem Tode des Goethe-<br />

1 Annemarie Jaeggi und Wolfgang Voigt b<strong>in</strong> ich für H<strong>in</strong>weise und Ratschläge dankbar.<br />

Dem Thema g<strong>in</strong>g Voigt bereits 1992 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfangreichen, auf Paul Schmitthenner<br />

zentrierten Aufsatz nach: Vom Ur-Haus zum Typ. Paul Schmitthenners ›deutsches<br />

Wohnhaus‹ und se<strong>in</strong>e Vorbilder. In: Vittorio Magnago Lampugnani, Romana Schneider<br />

(Hrsg.): Moderne Architekur <strong>in</strong> Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition.<br />

Stuttgart 1992, S. 244-265.<br />

2 Reproduziert <strong>in</strong>: Jeann<strong>in</strong>e Fiedler, Peter Feierabend (Hrsg.): Bauhaus. Köln 1999,<br />

S. 33. H<strong>in</strong>weis <strong>von</strong> Annemarie Jaeggi. – Als frühe Abbildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fachpublikation<br />

nennt Kai K. Gutschow die Süddeutsche Bauzeitung 15 (1905), S. 145; The<br />

Anti-Mediterranean <strong>in</strong> the Literature of Modern Architecture. Paul Schultze-Naumburg’s<br />

Kulturarbeiten. Carnegie Mellon University, 10. August 2006. In: Jean-François<br />

Lejeune, Michelangelo Sabat<strong>in</strong>o (Hrsg.): North-South. The Mediterranean Ideal<br />

<strong>in</strong> Modern Architecture. New York (<strong>in</strong> Vorbereitung).<br />

3 Hans Wahl: <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>. Leipzig o. J. [1926], S. 3.<br />

4 Johann Wolfgang Goethe an Auguste <strong>von</strong> Stolberg, 17.-24. Mai 1776. In: <strong>Goethes</strong><br />

Werke (Weimarer Ausgabe, künftig: WA). 143 Bde. Hrsg. im Auftrag der Großherzog<strong>in</strong><br />

Sophie <strong>von</strong> Sachsen. Weimar 1887-1919. Nachdruck: München 1987. Bd. 144-<br />

146: Nachträge und Register zur IV. Abt. Briefe Bd. 1-3. Hrsg. <strong>von</strong> Paul Raabe.<br />

München 1990. IV, 3, S. 64.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

69<br />

Abb. 1: <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>, Weimar, Foto 2000


70 wolfgang pehnt<br />

Enkels Walther im Jahre 1885 vollends zur öffentlichen Gedenkstätte wurde, 5<br />

gewann die touristische Attraktion auch e<strong>in</strong>en kulturpolitischen Stellenwert. In<br />

den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts spielte sie e<strong>in</strong>e tragende<br />

Rolle. Von konservativen Zeitgenossen wurde das Haus <strong>in</strong> den 1920er und<br />

30er Jahren gern als Argument gegen die ungeliebte Moderne benutzt, als »Ur-<br />

Ausdruck e<strong>in</strong>es Hauses«, 6 enthoben allen modischen Wandels.<br />

Unüberbrückbarer Abgrund<br />

Der räumlich nächste Adressat der Moderne-Kritik war das Weimarer Bauhaus,<br />

das e<strong>in</strong>e Stellvertreter-Rolle für die neue Zeit zu übernehmen begann und<br />

entsprechende Angriffe auf sich zog. »Goethehaus und Bauhaus s<strong>in</strong>d zwei<br />

fe<strong>in</strong>dliche Lager, deren politische Fehde das Leben im Geme<strong>in</strong>wesen an der Ilm<br />

oft pe<strong>in</strong>lich erschwert.« 7 Wege, die Lehrer und Schüler zwischen den verschiedenen<br />

Standorten der Bauhaus-Institute zurücklegten und Moderne-Interessenten<br />

wie Goethe-Touristen e<strong>in</strong>schlugen, kreuzten sich <strong>in</strong> der überschau baren<br />

Mittelstadt vielfach. Anlässe zur kritischen Gegenüberstellung waren daher<br />

ständig gegeben. So schrieb die Deutsche Bauzeitung, als 1922 die Pläne für<br />

e<strong>in</strong>e Bauhaus-Siedlung Am Horn bekannt wurden: »Goethe und die alten Meister<br />

würden sonderbare Augen machen beim Anblick dieser Bauhaus-Siedlung,<br />

und mit Recht dürfte Altmeister Goethe ausrufen: Habt ihr es noch nicht<br />

weitergebracht?« 8<br />

Die Frage wurde erst recht gestellt, als das Musterhaus Am Horn nach e<strong>in</strong>em<br />

Entwurf <strong>von</strong> Georg Muche entstand, realisiert vom Bauatelier Gropius unter<br />

der technischen Leitung <strong>von</strong> Adolf Meyer mit Walter March (Abb. 2). Das<br />

Versuchshaus stellte das größte Exponat der Bauhaus-Ausstellung <strong>von</strong> 1923<br />

dar. Als öffentlich begehbares Anschauungsobjekt war es das vor Ort anschaulichste<br />

Zeugnis e<strong>in</strong>er neuen Bauges<strong>in</strong>nung. Auf dem Wege dorth<strong>in</strong> durchquerte<br />

5 Vgl. Ernst Gerhard-Güse, Margarete Oppel: <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>. Weimar 2008.<br />

6 He<strong>in</strong>rich Tessenow: Der Wohnhausbau. München 2 1914, S. 7. Vgl. Marco De Michelis:<br />

He<strong>in</strong>rich Tessenow 1876-1950. Stuttgart 1991, S. 59.<br />

7 Gisella Selden-Goth: Das andere Weimar. In: Prager Tageblatt, 26. August 1923. –<br />

Die meisten hier benutzten Pressestimmen zur Bauhaus-Ausstellung <strong>von</strong> 1923 s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

drei Mappen mit Zeitungsausschnitten im Bauhaus-Archiv Berl<strong>in</strong> gesammelt (GS 10/<br />

Mappe 75, Zeitungsausschnitte über Bauhaus-Ausstellung Sommer 1923/I und II).<br />

H<strong>in</strong>weis auf das Material <strong>von</strong> Annemarie Jaeggi. Auszüge veröffentlicht bei Christian<br />

Wolsdorff: Das ›Haus am Horn‹ im Spiegel der Presse. In: Magdalena Droste,<br />

Christian Wolsdorff, Bauxi Mang (Hrsg.): Georg Muche. Das künstlerische Werk<br />

1912-1927. Berl<strong>in</strong> 1980, S. 31 ff.<br />

8 A. Buschmann: Die Bauhaus Siedlung <strong>von</strong> Walter Gropius <strong>in</strong> Weimar. In: Deutsche<br />

Bauzeitung 56 (1922), H. 64, S. 392.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

71<br />

Abb. 2: Georg Muche (Entwurf), Bauatelier Walter Gropius unter Leitung<br />

<strong>von</strong> Adolf Meyer, Haus Am Horn, Weimar, 1923<br />

fast jeder Besucher, der aus der Stadt kam, »<strong>Goethes</strong> seligen Park« an der Ilm<br />

und wanderte »an <strong>Goethes</strong> stillem <strong>Gartenhaus</strong>« vorüber. 9 Daher lud das Musterhaus,<br />

nur wenige hundert Meter vom »alten Hausgen« im »lieben Gärtgen<br />

vorm Thore« 10 entfernt, zum Vergleich geradezu e<strong>in</strong>: e<strong>in</strong>geschossiger Flachbau<br />

mit erhöhter Gadenzone über dem zentralen Wohnraum gegen zweistöckigen<br />

Hausquader unter holzsch<strong>in</strong>delgedecktem Walmdach, Experimentalbaustelle<br />

mit <strong>in</strong>dustriellen Fertigfabrikaten gegen die Handwerkstradition <strong>von</strong> »hohem<br />

Dach und niedrem Haus« 11 .<br />

Das »weiße Würfelhaus« <strong>von</strong> 1923 hatte <strong>in</strong> dieser Gegenüberstellung wenig<br />

Chancen auf wohlwollende Beurteilung. Rezensenten fanden es »für Menschen<br />

mit Nerven glatt unbewohnbar«, fühlten sich an das »Sammelbecken e<strong>in</strong>er<br />

Hochdruckwasserleitung« er<strong>in</strong>nert oder gar an »jene Häuschen auf öffentlichen<br />

Plätzen, die […] auf der e<strong>in</strong>en Seite ›für Herren‹, auf der anderen ›für<br />

9 Zit. bei A. Ho.: Die Bauhauswoche <strong>in</strong> Weimar. In: Neue Hessische Volksblätter.<br />

Darmstadt, 17. August 1923; Egbert Delpy: Die Weimarer Bauhaus Ausstellung. In:<br />

Leipziger Neueste Nachrichten, 22. August 1923.<br />

10 Johann Wolfgang Goethe an Auguste <strong>von</strong> Stolberg, 17.-24. Mai 1776. In: WA IV, 3,<br />

S. 64.<br />

11 Johann Wolfgang Goethe, 1828. Handschriftliche Zeile unter e<strong>in</strong>er Radierung nach<br />

Otto Wagner. In: WA I, 4, S. 142.


72 wolfgang pehnt<br />

Damen‹ zugänglich s<strong>in</strong>d«. 12 Dass die Konfrontation auch bei freundlichen Beobachtern<br />

nicht zugunsten des neuen Gebäudes ausg<strong>in</strong>g, belegt die Reaktion<br />

des Architekturtheoretikers und -lehrers Paul Klopfer, der als Direktor der Weimarer<br />

Baugewerkenschule Lehrveranstaltungen auch für Bauhäusler hielt:<br />

Me<strong>in</strong> Heimweg führte mich an <strong>Goethes</strong> Gartenhäuschen vorbei. Wie <strong>in</strong>nig<br />

wuchs es heraus, aus dem Wiesenplan im Vere<strong>in</strong> mit den hohen Bäumen und<br />

dem Berghang dah<strong>in</strong>ter. In e<strong>in</strong>er Frühl<strong>in</strong>gsnacht schlug dort die Nachtigall<br />

[…] All dieses urwüchsige, heimliche, heimatliche Kulturhafte fehlt dem<br />

Gropiushaus – <strong>in</strong> der Kühle se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren und äußeren Ersche<strong>in</strong>ung hat es<br />

nichts mit Nachtigallen zu tun. 13<br />

Anwälte des Neuen wie Sigfried Giedion und Adolf Behne äußerten E<strong>in</strong>wände<br />

<strong>von</strong> der anderen Seite her. Giedion beklagte die mangelnde Öffnung des <strong>in</strong>trovertierten<br />

Hauses zum Außenraum h<strong>in</strong>. Behne fand den um den höheren Mittelraum<br />

geordneten Grundriss zwanghaft und wünschte sich e<strong>in</strong> dynamischeres,<br />

funktionales Bauen, wie es gleichzeitig <strong>in</strong> manchen Beispielen der Internationalen<br />

Architektur-Ausstellung zu sehen sei. 14 Angesichts dieser fatalen Reaktion<br />

unterschiedlichster Parteigänger nimmt es nicht Wunder, dass Gropius sich<br />

bei der New Yorker Bauhaus-Ausstellung <strong>von</strong> 1938 der Äußerung »e<strong>in</strong>er jungen<br />

unvore<strong>in</strong>genommenen Kanadier<strong>in</strong>« entsann, die, endlich, e<strong>in</strong>en positiven<br />

Vergleich zwischen Goethe- und Musterhaus zog. <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>, habe<br />

Miss G. Wookey <strong>von</strong> der Universität Toronto bemerkt, sei das e<strong>in</strong>zige Gebäude<br />

<strong>in</strong> ganz Weimar, »das e<strong>in</strong>e gewisse kongeniale Verwandtschaft zum Bauhaus<br />

aufwiese«. 15<br />

In der Kulturpropaganda völkisch-nationaler Kreise machte das <strong>Gartenhaus</strong><br />

Karriere als Inbegriff bürgerlich-deutscher Bescheidenheit, an dem die Produktionen<br />

der neuen Zeit gemessen wurden. E<strong>in</strong>er, der ihm zu dieser Rolle verhalf,<br />

war der Maler, Architekt und Kulturschriftsteller Paul Schultze-Naumburg, der<br />

früh <strong>in</strong> Weimar gebaut hatte und <strong>von</strong> 1930 bis 1940 die Vere<strong>in</strong>igten Kunstlehranstalten<br />

Weimar, e<strong>in</strong>e Nachfolgeanstalt des Bauhauses, leitete. In den Kulturarbeiten,<br />

se<strong>in</strong>em verdienstvollen publizistischen Frühwerk, das sich im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>von</strong> Dürerbund und Heimatschutz für die Erhaltung der Kulturlandschaften<br />

12 A. Ho: Die Bauhauswoche <strong>in</strong> Weimar (Anm. 9); Fritz Stahl: Das Musterhaus. In:<br />

Berl<strong>in</strong>er Tageblatt, 28. August 1923; ohne Verf.: Das Bauhaus. In: Mitteldeutsche<br />

Zeitung. Erfurt, 27. August 1923; ohne Verf.: Viel Lärm um Nichts. In: Jenaische<br />

Zeitung, 16. August 1923, Fränkischer Courier, Nürnberg, 21. August 1923.<br />

13 Zit. bei Konrad Nonn: Das Staatliche Bauhaus <strong>in</strong> Weimar. In: Zeitschrift der Bauverwaltung<br />

44 (1924), H. 6, S. 44.<br />

14 Sigfried Giedion: Bauhaus und Bauhauswoche zu Weimar. In: Das Werk. September<br />

1923; Adolf Behne: Das Musterwohnhaus der Bauhaus-Ausstellung. In: Die Bauwelt<br />

14 (1923), H. 41.<br />

15 Herbert Bayer, Walter Gropius, Ise Gropius (Hrsg.): 1919 Bauhaus 1928. Zit. nach<br />

der deutschen Ausgabe Stuttgart 1955, S. 83.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

73<br />

e<strong>in</strong>setzte, spielte das <strong>Gartenhaus</strong> bereits e<strong>in</strong>e Rolle. Schultze-Naumburg bildete<br />

es allerd<strong>in</strong>gs nicht als Ganzes ab, obwohl es als positives Beispiel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e argumentative<br />

Konfrontation guter, das heißt bei Schultze-Naumburg vor<strong>in</strong>dustrieller,<br />

Bauten mit verderbten Baulichkeiten des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts<br />

vorzüglich gepasst hätte.<br />

Aber pars pro toto war das <strong>Gartenhaus</strong> doch vertreten, mit dem Gartentor,<br />

das Goethe sich vom großherzoglichen Oberbaudirektor Clemens Wenzeslaus<br />

Coudray noch zwei Jahre vor se<strong>in</strong>em Tode hatte entwerfen lassen: »Man zeige<br />

mir <strong>in</strong> der ganzen Welt e<strong>in</strong>e zweite Tür, die mehr dem S<strong>in</strong>n entspricht, als<br />

freundlicher Zugang zu e<strong>in</strong>em heiteren Garten zu dienen und die dabei mehr<br />

dem Material – dem durch Farbe geschützten Holz – entspricht«. Der Autor<br />

setzte noch e<strong>in</strong>s darauf: Es sei für ihn das schönste Bild, das er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Foto-<br />

Sammlung besitze. 16 E<strong>in</strong> anderes <strong>Goethes</strong>ches <strong>Gartenhaus</strong>, das an der rückwärtigen<br />

Gartenmauer des Hauses am Frauenplan, fand gleichfalls E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong><br />

Schultze-Naumburgs Kulturfeldzug. 17<br />

In den 1920er und 30er Jahren verschärften sich die Fehden, <strong>in</strong> denen den<br />

Neuerern das <strong>Gartenhaus</strong> als Muster vorgehalten wurde. Die damals konservative<br />

Fachzeitschrift Baumeister suchte im ersten Heft des Jahrgangs 1934 ihre<br />

künftige Redaktionspolitik im Dritten Reich zu def<strong>in</strong>ieren und illustrierte den<br />

Leitartikel ihres Hauptschriftleiters Guido Harbers mit mehreren Abbildungen<br />

und maßgerechten Plänen dieses »S<strong>in</strong>nbildes notwendiger geistiger Sammlung<br />

und körperlicher Erholung«. Das eigene Heim werde wieder zum Ziel staatlicher<br />

Kulturpolitik, »bei voller Freiheit der <strong>in</strong>neren organischen Entwicklung«. 18<br />

Gründlicher kann man sich nicht irren.<br />

E<strong>in</strong>en Höhepunkt erreichte der propagandistische Diskurs mit dem <strong>Gartenhaus</strong><br />

auf dem Panier bei Paul Schmitthenner. In dessen Baugestaltung <strong>von</strong><br />

1932, später mit dem zunächst als Untertitel verwendeten Begriff Das deutsche<br />

Wohnhaus als Haupttitel, figurierte e<strong>in</strong>e sonnendurchstrahlte Aufnahme des<br />

<strong>Gartenhaus</strong>es gegenüber der dräuenden Abbildung e<strong>in</strong>er »Wohnmasch<strong>in</strong>e«, die<br />

sich als Hans Scharouns kle<strong>in</strong>e Villa <strong>in</strong> der Stuttgarter Weißenhofsiedlung<br />

(1927) entpuppt. Schmitthenner, neben Paul Bonatz Haupt der sogenannten<br />

Stuttgarter Schule, hatte Anlass, den Architekten der Siedlung zu grollen. An<br />

der prestigeträchtigen Werkbund-Veranstaltung auf dem Weißenhof waren weder<br />

Bonatz noch er selbst beteiligt worden – und das <strong>in</strong> ihrem Lehr- und Wohnort<br />

Stuttgart. So konstatierte Schmitthenner nicht weniger als e<strong>in</strong>e »Menschheitsfrage«:<br />

»Von <strong>Goethes</strong> Haus zur Wohnmasch<strong>in</strong>e klafft e<strong>in</strong> Abgrund, der<br />

16 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Bd. 2. Gärten. München 1902, 2 1905,<br />

3 1909, S. 175 f.<br />

17 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Bd. 4. Städtebau. München 1906, 2 1909,<br />

S. 426.<br />

18 Guido Harbers: Die Neue Zeit und »Der Baumeister«. In: Der Baumeister 32 (1934),<br />

H. 1, S. 1-3, hier S. 3.


74 wolfgang pehnt<br />

unüberbrückbar […] Auf der e<strong>in</strong>en Seite: Rechnender Verstand, Masch<strong>in</strong>e,<br />

Masse, Kollektivismus, auf der anderen Seite: Gefühl, blutwarmes Leben,<br />

Mensch, Persönlichkeit«. 19 In Schmitthenners eigenen Entwürfen kehrt der<br />

Typus des zweistöckigen <strong>Gartenhaus</strong>es, mit drei Fensterachsen und steilem<br />

Walmdach, immer wieder, wenn auch zumeist mittig und nicht seitlich erschlossen.<br />

Se<strong>in</strong>e Stuttgarter Studenten ließ er <strong>Goethes</strong> Häuschen übungshalber<br />

zeichnen. 20<br />

Schmitthenner sollte 1933 auf e<strong>in</strong>e Berl<strong>in</strong>er Leitungsposition im Bauwesen<br />

berufen werden – laut se<strong>in</strong>es Kollegen Hans Poelzig e<strong>in</strong> »sehr wichtiger, e<strong>in</strong>flussreicher<br />

Posten« – und amtierte für kurze Zeit als Reichsfachleiter für bildende<br />

Kunst im Kampfbund für deutsche Kultur (1933/34). 21 Se<strong>in</strong> Enga gement<br />

für Volk und Führer ist ihm nicht honoriert worden, er reüssierte im Dritten<br />

Reich so wenig wie Schultze-Naumburg. Mit se<strong>in</strong>er Rede über das »sanfte Gesetz«,<br />

zuerst <strong>in</strong> Freiburg 1941 gehalten, verdarb er es sich endgültig mit den<br />

Machthabern. 22 In der Nachkriegsauflage <strong>von</strong> Das deutsche Wohnhaus 23 verschwand<br />

die Abbildung des Scharounschen Wohnmasch<strong>in</strong>chens, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

kapriziösen Willkür auch zuvor schon e<strong>in</strong> denkbar ungeeigneter Beleg für modernen<br />

Kollektivismus gewesen war. <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong> musste nun auf e<strong>in</strong>er<br />

Doppelseite geme<strong>in</strong>sam mit dem gleichfalls abgebildeten Straßburger Münster<br />

die »Sendung des deutschen Volkes« 24 auch und erst recht nach dem verlorenen<br />

Krieg verteidigen.<br />

Die tatsächliche Entstehungs- und Nutzungsgeschichte des <strong>Gartenhaus</strong>es trat<br />

<strong>in</strong> solchen Polemiken <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Es war nicht erst <strong>in</strong> <strong>Goethes</strong> Lebenszeit<br />

als e<strong>in</strong> Produkt der Epoche »um 1800« entstanden, wie es viele Veröffentlichungen<br />

der 1920er und 30er Jahre (und noch unserer Tage) suggerieren. Es<br />

lag <strong>in</strong> Gärten und We<strong>in</strong>äckern, datierte <strong>in</strong>s 16. und 17. Jahrhundert und unter-<br />

19 Paul Schmitthenner: Baugestaltung. Das deutsche Wohnhaus. Stuttgart 1932, S. 8. –<br />

Schmitthenner wies se<strong>in</strong>e Leser und Schüler bereits 1926 auf das Vorbild <strong>Gartenhaus</strong><br />

h<strong>in</strong>: Das bürgerliche Haus. In: Die Bauzeitung 23 (1926), H. 22-23, S. 175-<br />

177.<br />

20 Mitteilung <strong>von</strong> Gerd Behrens, Hamburg, e<strong>in</strong>em Schmitthenner-Schüler, an Theodor<br />

Böll, Kunstbibliothek, Hamburg. Vgl. die Zeichnung <strong>von</strong> Erich Petzold <strong>in</strong>: Wolfgang<br />

Voigt, Hartmut Frank (Hrsg.): Paul Schmitthenner 1884-1972. Ausstellungskatalog.<br />

Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M. Tüb<strong>in</strong>gen 2003, S. 48.<br />

21 Vgl. Wolfgang Voigt: Vom Ur-Haus zum Typ (Anm. 1), S. 252, 263; Hans Poelzig<br />

an Paul Schmitthenner, 17. Juni 1934. Getty Research Institute, Los Angeles. Abgedruckt<br />

<strong>in</strong>: Wolfgang Pehnt, Matthias Schirren (Hrsg.): Hans Poelzig. Architekt<br />

Lehrer Künstler. München 2007, S. 207 f.<br />

22 Vgl. Hartmut Frank: Schiffbrüche der Arche. In: Paul Schmitthenner. Das deutsche<br />

Wohnhaus. Neuauflage Stuttgart 1984, S.V-XVII; Aufsätze <strong>von</strong> Wolfgang Voigt,<br />

Christian Weller und Hartmut Frank <strong>in</strong>: Paul Schmitthenner. Ausstellungskatalog<br />

(Anm. 20).<br />

23 Paul Schmitthenner. Das deutsche Wohnhaus. Stuttgart 3 1950.<br />

24 Paul Schmitthenner. Baugestaltung (Anm. 19), S. 8.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

75<br />

lag mehreren Umbauten. Auch der Dichter übernahm das Haus im damaligen<br />

Börnerschen Garten, das Herzog Carl August für ihn kaufte, nicht ohne Veränderungen.<br />

25 Erst Goethe ließ zwei Fenster vermauern, um sich besser gegen<br />

W<strong>in</strong>d und Kälte zu schützen. Die Symmetrie der Hauptfassade wurde mit Hilfe<br />

e<strong>in</strong>es Bl<strong>in</strong>dfensters notdürftig gewahrt. Sogar die Rankspaliere, die dekorativ<br />

die verputzten Flächen gliedern, fügen sich ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>er pedantischen Regel.<br />

Ihre vertikalen Leisten halten unterschiedliche Abstände, Teile der Fassade<br />

blieben ganz ausgespart. Über solche, der Zweckmäßigkeit oder e<strong>in</strong>em Mangel<br />

an Dogmatik geschuldeten Verstöße, auch über die Restaurierungen und wechselnden<br />

Ausstattungen, die seit <strong>Goethes</strong> Tod stattgefunden hatten, sah die konservative<br />

Kulturkritik gnädig h<strong>in</strong>weg. So leicht ließ sie sich dieses vom Dichterruhm<br />

überglänzte Belegstück ihrer antimodernen Ästhetik nicht <strong>in</strong> Frage<br />

stellen.<br />

Neue und alte Sachlichkeit<br />

Weimar war nicht nur für Patrioten das »höchste Symbol re<strong>in</strong>ster Deutschheit<br />

und letzte Ziel alles Strebens deutscher Menschen«, 26 sondern die Stadt, die<br />

der ersten demokratischen Republik <strong>von</strong> 1918 bis 1933 den Namen gegeben<br />

hatte. Auch <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong> gehörte nicht ausschließlich <strong>in</strong> die konservative<br />

Asservaten-Kammer. »Es gilt nicht, um 1920 […] e<strong>in</strong> falsches Biedermeiertum<br />

künstlich zu beleben, das doch nur Maskerade und nie Leben werden<br />

kann, sondern es gilt, die Aufgaben, die unsere Zeit uns stellt, mit den Mitteln,<br />

die unsere Armut uns gelassen hat, im gleichen S<strong>in</strong>ne sauber und sachlich zu<br />

lösen, wie es jene Zeit getan hat«, schrieb der Kritiker Paul Fechter. 27 In se<strong>in</strong>er<br />

strengen Quaderform, die Höhe des Hauskorpus im Verhältnis 1:1 zur Höhe<br />

des steilen Walmdaches, entsprach das <strong>Gartenhaus</strong> durchaus »jenen typischen<br />

Bau-Elementen«, die Gropius zu den Grundlagen für ›Neues Bauen‹ zählte; sie<br />

beruhten »selbstverständlich auf den <strong>e<strong>in</strong>fachste</strong>n Körperformen der Stereometrie:<br />

Würfel, Halbkugel, Halbzyl<strong>in</strong>der, Kegel, Prisma, Pyramide«. 28<br />

25 Den Kaufvertrag unterzeichnete Goethe auf Wunsch des Herzogs, der <strong>in</strong> der Weimarer<br />

Öffentlichkeit nicht als Förderer se<strong>in</strong>es Günstl<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten wollte.<br />

Vgl. u. a. Wolfgang Huschke: Die Geschichte des Parkes <strong>von</strong> Weimar. Weimar 1951,<br />

S. 180 ff.; Ra<strong>in</strong>er Ewald: <strong>Goethes</strong> Architektur. Des Poeten Theorie und Praxis. Weimar<br />

1999, vor allem S. 48 ff.<br />

26 Leonhard Schrickel: Weimar. E<strong>in</strong>e Wallfahrt <strong>in</strong> die Heimat aller Deutschen. Weimar<br />

o. J., S. 278.<br />

27 Paul Fechter: Schönheit der Armut. In: Will Vesper, Paul Fechter: Lob der Armut.<br />

Berl<strong>in</strong> 1921, S. 17 f. Zit. <strong>in</strong> Wolfgang Voigt: Vom Ur-Haus zum Typ (Anm. 1).<br />

S. 247.<br />

28 Walter Gropius: Grundlagen für Neues Bauen. In: Oesterreichs Bau- und Werkkunst<br />

2 (Januar 1926), S. 136.


76 wolfgang pehnt<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er publizistischen Laufbahn war das <strong>Gartenhaus</strong> noch nicht<br />

e<strong>in</strong>er der antagonistischen Parteiungen im architekturästhetischen Streit zuzuordnen<br />

gewesen. Wo wäre die Front <strong>in</strong> den ersten anderthalb Jahrzehnten<br />

des 20. Jahrhunderts auch verlaufen? E<strong>in</strong>en vorsichtigen Reduktionismus empfanden<br />

viele Reformer als diszipl<strong>in</strong>ierende Befreiung vom Überschwang des<br />

Jugendstils, ob Joseph Maria Olbrich <strong>in</strong> den letzten Jahren se<strong>in</strong>es Schaffens, ob<br />

Peter Behrens nach den Darmstädter Anfängen, ob Autoren wie Friedrich<br />

Osten dorf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>flussreichen Büchern vom Bauen (1913): »Entwerfen<br />

heißt: die <strong>e<strong>in</strong>fachste</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsform für e<strong>in</strong> Bauprogramm f<strong>in</strong>den«. 29<br />

Den <strong>von</strong> Paul Mebes herausgegebenen Band Um 1800. Architektur und<br />

Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung, dessen<br />

1. Auf lage 1908 im zweiten Band e<strong>in</strong>e Abbildung <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong><br />

enthielt und <strong>in</strong> beiden Bänden zahlreiche Bauten des Weimarer Klassizismus<br />

zeigte, 30 kannte jeder <strong>in</strong>formierte Architekt jener Zeit. Der Band erlebte 1918<br />

und 1920 weitere Auflagen, allerd<strong>in</strong>gs ohne <strong>Gartenhaus</strong>. Auch Schultze-Naumburgs<br />

Kulturarbeiten wurden damals, lange vor den späteren rasse-ideologischen<br />

Ausfällen dieses Autors, als das gelesen, was diese Kampagnen zu ihrer Entstehungszeit<br />

tatsächlich waren, nämlich Versuche, dem eklektizistischen Stilchaos<br />

mit e<strong>in</strong>em an der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts geschulten<br />

Purismus entgegenzuwirken. Adel der Armut sollte dem plebejischen Reichtum<br />

der Gründerzeit E<strong>in</strong>halt gebieten.<br />

E<strong>in</strong>en Aufruf, den Typus zu beherzigen, hätten damals viele unterschrieben.<br />

Und was, wenn nicht e<strong>in</strong>en Typus, sichtbar auch <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dividuellen Überformung,<br />

verkörperte das Haus an der Ilm? Sogar der traditionsbewusste<br />

Schmitthenner erwies sich als e<strong>in</strong> Schrittmacher zeitgemäßer Rationalisierung.<br />

Zusammen mit anderen Vorbildern nahm er das <strong>Gartenhaus</strong> als Ausgangspunkt<br />

für Typenbildung, Normung und Vorfertigung. In se<strong>in</strong>em postum veröffentlichten<br />

Material für e<strong>in</strong> weiteres Buch dekl<strong>in</strong>ierte er e<strong>in</strong>e Vielzahl <strong>von</strong><br />

Variationen des dreiachsigen, zweistöckigen Hauses durch und wandelte sie<br />

nach Bauart, Material und Lage ab. 31<br />

Ob Walter Gropius und se<strong>in</strong> Partner Adolf Meyer (Abb. 3) 32 , Hans Scharoun,<br />

Bruno Taut, der zweite Bauhaus-Direktor Hannes Meyer oder dessen Nachfolger<br />

Ludwig Mies van der Rohe, sie alle haben noch nach dem Ersten Weltkrieg<br />

29 Friedrich Ostendorf: Sechs Bücher vom Bauen. Karlsruhe 1913, 4 1922 (Bd. 1), 1914<br />

(Bd. 2), 1920 (Bd. 3). Nur die ersten drei Bücher s<strong>in</strong>d erschienen. Zit. <strong>in</strong> Bd. 1,<br />

4 1922, S. 5.<br />

30 Paul Mebes (Hrsg.): Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert<br />

ihrer traditionellen Entwicklung. Bd. 2. München 1908, S. 115.<br />

31 Elisabeth Schmitthenner (Hrsg.): Gebaute Form. Le<strong>in</strong>felden-Echterd<strong>in</strong>gen 1984.<br />

Vgl. Wolfgang Voigt. Vom Ur-Haus zum Typ (Anm. 1), vor allem S. 255 ff.<br />

32 E<strong>in</strong>e Fotografie des <strong>Gartenhaus</strong>es, im Vordergrund Adolf Meyer im weißen Sommeranzug,<br />

bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der Staatlichen Bildstelle Berl<strong>in</strong>, Brandenburgisches Landesamt<br />

für Denkmalpflege, Zossen. H<strong>in</strong>weis <strong>von</strong> Annemarie Jaeggi.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

77<br />

Abb. 3: Adolf Meyer vor <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>


78 wolfgang pehnt<br />

blockhafte, klassizistisch diszipl<strong>in</strong>ierte, sparsam mit Pilastern und Gesimsen,<br />

Sattel- und Walmdächern, Schlagläden und Gauben gegliederte Wohnhäuser<br />

gebaut – Mies noch bis zum Haus Mosler <strong>in</strong> Neubabelsberg (1924/26). Gropius<br />

gab sich nach dem Ersten Weltkrieg alle erdenkliche Mühe, die skeptischen<br />

Weimarer Handwerker zu überzeugen, »wie vernünftig und wie schlicht e<strong>in</strong><br />

solches Haus« des frisch ernannten Bauhaus-Direktors se<strong>in</strong> werde. 33 Das Haus<br />

Stöckle <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Zehlendorf (1921) aus dem Gropius-Atelier – Mauerwerk,<br />

holzverschalter Giebel, Satteldach – belegt es. Es hätte, wie Gropius-Mit arbeiter<br />

Fred Forbat formulierte, fast <strong>von</strong> Tessenow se<strong>in</strong> können. 34<br />

He<strong>in</strong>rich Tessenow, der »Holz-Goethe«, hat publizistisch viel für e<strong>in</strong>e Bauund<br />

Wohnkultur im Geiste der Goethezeit getan, auch dort, wo er sich nicht<br />

ausdrücklich auf sie bezog. Und Tessenow war e<strong>in</strong>e Figur, die Autorität <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />

Lagern genoss, früh schon bei den Boden- und Wohnreformern<br />

verschiedener Couleur und erst recht, nachdem sich die Gegensätze zwischen<br />

Traditionalisten und Modernen ausdifferenziert hatten. In der radikalen Berl<strong>in</strong>er<br />

Künstlergruppe Arbeitsrat für Kunst war er 1918 Mitglied, ebenso <strong>in</strong> der<br />

Berl<strong>in</strong>er Modernistengruppen Zehnerr<strong>in</strong>g (ab 1924) und Der R<strong>in</strong>g (ab 1926).<br />

Er baute und entwarf bis <strong>in</strong> die 40er Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Häuser, <strong>von</strong> denen manche<br />

bis h<strong>in</strong> zu den knapp unter der Traufe sitzenden Obergeschossfenstern wie Kopien<br />

des <strong>Gartenhaus</strong>es wirken – so die Zwill<strong>in</strong>gshäuser am Heideweg <strong>in</strong> Dresden-Hellerau<br />

(1910 / Abb. 4). In e<strong>in</strong>em da<strong>von</strong> wohnte er für kurze Zeit selbst.<br />

Doch Tessenow baute und entwarf auch großstädtische Bauten wie das Hochhaus<br />

für den Dresdner Anzeiger (1925), das Hallenbad <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte oder die<br />

Malwida <strong>von</strong> Meysenbug-Schule <strong>in</strong> Kassel (beide 1927/30), die <strong>in</strong> ihrer Rationalität,<br />

Klarheit und Härte jeder modernen Anforderung <strong>in</strong> Programm wie<br />

Ästhetik gerecht wurden.<br />

Vermutlich während der Zeit, <strong>in</strong> der Tessenow bei Schultze-Naumburg <strong>in</strong><br />

Saaleck arbeitete, 1904/05, zeichnete er e<strong>in</strong>e Reihe <strong>von</strong> Ansichten Alt-Weimars,<br />

<strong>von</strong> denen der Schriftsteller Wilhelm Bode e<strong>in</strong>ige für die Illustrierung se<strong>in</strong>er<br />

zahlreichen populären Schriften zur Weimarer Klassik nutzte. 35 Zwei Zeich-<br />

33 Walter Gropius. Manuskript. Bauhaus-Archiv, Berl<strong>in</strong>.<br />

34 Fred Forbat an Wolfgang Pehnt, 27. August 1969.<br />

35 Wilhelm Bode, der Weimarer Bode, nicht zu verwechseln mit dem großen Berl<strong>in</strong>er<br />

Kunsthistoriker Wilhelm <strong>von</strong> Bode. Tessenow-Zeichnungen s<strong>in</strong>d enthalten <strong>in</strong> den<br />

Büchern Bodes: <strong>Goethes</strong> Lebenskunst. Berl<strong>in</strong> 5 1908; Amalie Herzog<strong>in</strong> <strong>von</strong> Weimar.<br />

Bd. 1-3. Berl<strong>in</strong> 1908; <strong>Goethes</strong> Leben im Garten am Stern. Berl<strong>in</strong> 1909; Damals <strong>in</strong><br />

Weimar. Weimar 1910; Das Leben <strong>in</strong> Alt-Weimar. Weimar 1912; sowie <strong>in</strong> Heften der<br />

ebenfalls <strong>von</strong> Bode herausgegebenen Reihe: Stunden mit Goethe. Berl<strong>in</strong> 1905 ff. – Drei<br />

der Tessenowschen Zeichnungen, darunter e<strong>in</strong>e mit dem <strong>Gartenhaus</strong>, abgebildet <strong>in</strong>:<br />

Marco De Michelis: He<strong>in</strong>rich Tessenow (Anm. 6), S. 60, 101. Die Zeichnungen begründeten<br />

Tessenows Ruf als Goethe-Kenner, der ihm 1931 zur Umbau- und Erweiterungsplanung<br />

des Goethe-Nationalmuseums am Frauenplan verhalf. Tessenows Projekt<br />

scheiterte jedoch an f<strong>in</strong>anziellen und politischen Umständen. Vgl. ebd. S. 313-315.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

79<br />

Abb. 4: He<strong>in</strong>rich Tessenow, E<strong>in</strong>familienhaus Heideweg 4-6,<br />

Dresden-Hellerau, Federzeichnung, 1910<br />

nungen vom <strong>Gartenhaus</strong> selbst bef<strong>in</strong>den sich unter den vier Federzeichnungen,<br />

die <strong>von</strong> der Kunstbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz <strong>in</strong> den 1980er<br />

Jahren angekauft wurden (Abb. 5). 36 In ihrer dichten Textur präludierten die<br />

liebevollen Darstellungen den sehr viel sparsameren Illustrationen, die Kenner<br />

und Laien <strong>in</strong> Tessenows Buch Hausbau und dergleichen (1916) entzückten.<br />

Doch man sah <strong>in</strong> Tessenows Häusern auch das »über alle Orig<strong>in</strong>alität h<strong>in</strong>auswachsende<br />

Allgeme<strong>in</strong>gültige«, »Qu<strong>in</strong>tessenzhafte«, »die sehr positive Tugend,<br />

Urzellen e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>gültigen Baustils zu se<strong>in</strong>«, »e<strong>in</strong>e neue Art <strong>von</strong> künstlerischer<br />

Ehrlichkeit«. »Er verfährt so, wie jene bedeutenden Baumeister um<br />

1800 verfahren würden, wenn sie heute lebten«, me<strong>in</strong>te der Architekturkritiker<br />

Karl Scheffler. 37 So wurde das <strong>Gartenhaus</strong> auch <strong>in</strong> jenen Kreisen geschätzt, die<br />

auf e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen den Parteien bedacht waren.<br />

36 Mitteilung <strong>von</strong> Theodor Böll, Kunstbibliothek <strong>in</strong> der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />

Berl<strong>in</strong>. Die Außenansicht abgebildet <strong>in</strong>: Marco De Michelis: He<strong>in</strong>rich Tessenow<br />

(Anm. 9), S. 60.<br />

37 Karl Scheffler: Die Architektur der Großstadt. Berl<strong>in</strong> 1913, S. 167-169.


80 wolfgang pehnt<br />

Abb. 5: He<strong>in</strong>rich Tessenow, <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>, Federzeichnung, um 1904<br />

Auch Anhänger oder Pioniere des ›Neuen Bauens‹ ließen sich ihren Goethe<br />

(und dessen <strong>Gartenhaus</strong>) nicht nehmen. Gropius hat se<strong>in</strong>e Schriften gern mit<br />

Goethe-Zitaten geschmückt, vor allem als er selbst das Greisenalter des Dichterfürsten<br />

erreicht und sich zweimal für die Auszeichnung mit e<strong>in</strong>em Goethe-Preis<br />

zu bedanken hatte. 38 <strong>Goethes</strong> Farbenlehre gehörte am Bauhaus, vor allem bei<br />

Itten, Hirschfeld-Mack, Klee und Kand<strong>in</strong>sky, zur Pflichtlektüre. Aufmaßzeichnungen<br />

des <strong>Gartenhaus</strong>es wurden nicht nur an der Stuttgarter Hochschule bei<br />

Schmitthenner verwendet (Abb. 6), sondern auch <strong>von</strong> Bauhäuslern angefertigt.<br />

1920/21 sollten Bauhausschüler Möbel im Schloss, im Wittumspalais und im<br />

<strong>Gartenhaus</strong> aufmessen. Später gab Wilhelm Wagenfeld, Bauhäusler und <strong>von</strong><br />

1928 bis 1930 Leiter der Metallwerkstatt am Weimarer Nachfolge<strong>in</strong>stitut des<br />

Bauhauses, der Staatlichen Bauhochschule, e<strong>in</strong> Aufmaß des Hauses <strong>in</strong> Auftrag. 39<br />

38 Hansischer Goethe-Preis Hamburg 1956, Frankfurter Goethe-Preis 1961. Die Dankesreden<br />

<strong>von</strong> Gropius veröffentlicht <strong>in</strong>: Apollo <strong>in</strong> der Demokratie. Ma<strong>in</strong>z 1967,<br />

S. 11-19, 34-42.<br />

39 Abgebildet <strong>in</strong>: Wolfgang Voigt, Hartmut Frank (Hrsg.): Paul Schmitthenner 1884-<br />

1972 (Anm. 20), S. 48; Dagmar Blaha, Frank Boblenz, Volker Wahl (Bearbeiter):<br />

Repertorien des Thür<strong>in</strong>gischen Hauptstaatsarchivs Weimar. Bd. 4. Weimar 2008,<br />

S. 332. (Thür<strong>in</strong>gisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Akten Staatliches Bauhaus Weimar,<br />

Nr. 170. Dort auch e<strong>in</strong>e Anfrage der Deutschen Werkstätten München, die


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

81<br />

Abb. 6: Erich Petzold, Aufmaßzeichnung <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>, um 1925<br />

Man gew<strong>in</strong>nt den E<strong>in</strong>druck, irgendjemand war <strong>in</strong> den Zimmerchen des <strong>Gartenhaus</strong>es<br />

immer mit dem Zollstock unterwegs. Die Blätter aus dem Schmitthenner-<br />

und die aus dem Wagenfeld-Unterricht unterscheiden sich übrigens<br />

markant <strong>in</strong> der Darstellungstechnik: die Stuttgarter Zeichnung <strong>in</strong> Sütterl<strong>in</strong> beschriftet<br />

und mit atmosphärischem Sfumato, die bei Wagenfeld entstandene e<strong>in</strong>e<br />

präzise Federzeichnung, die jede e<strong>in</strong>zelne Holzsch<strong>in</strong>del des Daches wiedergibt.<br />

Aufmaße für Kopien <strong>von</strong> Möbeln aus <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong> herstellen wollten.) –<br />

Marco De Michelis: He<strong>in</strong>rich Tessenow (Anm. 6), S. 60, dort wohl falsch auf 1934<br />

datiert. Wagenfeld war <strong>in</strong> Weimar bereits zum 31. März 1930 gekündigt worden.<br />

Auskunft <strong>von</strong> Beate Manske, Wilhelm-Wagenfeld-Stiftung, Bremen.


82 wolfgang pehnt<br />

E<strong>in</strong>e Figur des Schachspiels, das Josef Hartwig 1923 am Bauhaus entwarf,<br />

die Dame-Figur (Abb. 7), wirkt, Zufall oder nicht, wie e<strong>in</strong>e verkle<strong>in</strong>erte Kopie<br />

jenes »Ste<strong>in</strong>s des Guten Glücks«, der Agathe Tyche, den Goethe 1777 <strong>in</strong> Sandste<strong>in</strong><br />

ausführen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Garten aufstellen ließ (Abb. 8): Kugel auf Kubus.<br />

Im Schachspiel symbolisieren diese »<strong>e<strong>in</strong>fachste</strong>n Körperformen der Stereometrie«<br />

(Gropius) die allseitige Beweglichkeit der Dame-Figur, im Garten den<br />

Augenblick des Glücks, <strong>in</strong> dem die wetterwendische Kugel auf ihrem standfesten<br />

Sockel zum Stillstand gekommen ist und das Wandel bare auf dem Beharrenden<br />

gründet. 40 Aus dem Me<strong>in</strong>ungsaustausch zwischen Goethe und<br />

se<strong>in</strong>em Leipziger Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser geht hervor, wie ungewöhnlich<br />

der ältere Künstler dieses frühe nichtfigürliche Denkmal und se<strong>in</strong>e<br />

harte Konfrontation zweier stereometrischer Körper empfand. Oeser empfahl<br />

vermittelnde Wolken- und Flügelformen und für den Übergang zwischen Kubus<br />

und Boden e<strong>in</strong>en geböschten Sockel. Dass Goethe auf den »strengen mathematischen<br />

Formen« (Oeser) <strong>in</strong> ihrer Re<strong>in</strong>heit und Klarheit bestand, hätte ihm<br />

die Billigung der Bauhäusler e<strong>in</strong>tragen können, so wie es ihm das Unverständnis<br />

des Lehrers e<strong>in</strong>brachte. 41<br />

Im 18. Jahrhundert war es ke<strong>in</strong>e Seltenheit, Ste<strong>in</strong>kugeln auf flankierende<br />

Torpfeiler zu setzen, auch wenn die Übergänge abgemildert waren wie <strong>in</strong> Oesers<br />

Korrekturvorschlag. 42 Neu s<strong>in</strong>d Größe, Härte und Isolation des <strong>Goethes</strong>chen<br />

Denkmals. E<strong>in</strong> Vorbild, zumal e<strong>in</strong> ikonografisch bedeutsames, hatte M<strong>in</strong>ister<br />

Goethe bei se<strong>in</strong>en Amtsbesuchen <strong>in</strong> Jena f<strong>in</strong>den können. Dort flankierte e<strong>in</strong><br />

Kugelpaar auf Rechteckpfeilern, das den Himmels- und den Erdglobus darstellte,<br />

die Freitreppe des Alten Stadtschlosses. Es war <strong>von</strong> dem Astronomen<br />

Erhard Weigel ursprünglich am E<strong>in</strong>gang zum Collegium Jenense aufgestellt und<br />

im 18. Jahrhundert vor das Stadtschloss verpflanzt worden. Als Theodor Fischer<br />

1903/08 se<strong>in</strong>en Universitätsbau an die Stelle des Schlosses setzte, übernahm er<br />

die Kugeln für den kle<strong>in</strong>en Innenhof se<strong>in</strong>er Baugruppe und setzte sie auf gemauerte<br />

Kuben ohne Deckplatte, als habe er sich dabei des <strong>Goethes</strong>chen Denkmals<br />

er<strong>in</strong>nert und die barocke auf die klassische Form reduzieren wollen. 43<br />

40 <strong>Zur</strong> Interpretation des Denkmals vgl. Werner Weiland: Der »Ste<strong>in</strong> des guten Glücks«<br />

im Garten am Stern. In: Goethe-Jahrbuch 103 (1986), S. 344 ff.<br />

41 Timo John: Adam Friedrich Oeser 1717-1799. Stuttgart 2001, S. 154 ff. John veröffentlichte<br />

erstmals e<strong>in</strong> Briefkonzept Oesers vom 10. Januar 1777, aus dem Oesers<br />

Kritik an <strong>Goethes</strong> Wünschen hervorgeht.<br />

42 Vgl. Paul Mebes (Hrsg.): Um 1800 (Anm. 30).<br />

43 Vgl. W<strong>in</strong>fried Nerd<strong>in</strong>ger: Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer 1862-1938.<br />

Berl<strong>in</strong> 1988, S. 82 f. – H<strong>in</strong>weise <strong>von</strong> Hans-Dieter Nägelke und Wolfgang Voigt. – In<br />

den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren Kugeln auf Pfeilern beliebte<br />

Motive für Tore<strong>in</strong>fahrten, Gartenmauern und Balkonbrüstungen. Joseph Maria Olbrich<br />

setzte bei se<strong>in</strong>en Villen van Geleen, Kurska, Banzhaf und Fe<strong>in</strong>hals <strong>in</strong> Köln,<br />

Clarenbach <strong>in</strong> Wittlaer (1907-08) und auf der Darmstädter Mathildenhöhe ganze<br />

Kugellager e<strong>in</strong>.


zur rezeption <strong>von</strong> goethes gartenhaus<br />

83<br />

Abb. 7: Josef Hartwig,<br />

Bauhaus-Schachspiel, Dame-Figur,<br />

1923<br />

Abb. 8: Ste<strong>in</strong> des guten Glücks<br />

im Garten <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong>,<br />

Weimar 1777, Foto 2000<br />

Auch Zeitschriften, die dem ›Neuen Bauen‹ nahestanden, erwiesen dem Weimarer<br />

Olympier ihre Reverenz. Der Chefredakteur der modernefreundlichen<br />

Bauwelt, Friedrich Paulsen, wusste zwar 1932, zum hundertsten Todestag<br />

<strong>Goethes</strong>, nicht sonderlich viel zum Lobe des Architekturschriftstellers und Bauherrn<br />

Goethe zu sagen. Dem Klassizismus habe der Dichter e<strong>in</strong>e längere Lebensdauer<br />

verschafft, als dieser Stil sie sonst erlebt hätte. <strong>Goethes</strong> Interesse für »den<br />

uns Heutigen faden Palladio« konnte Paulsen nichts abgew<strong>in</strong>nen. Immerh<strong>in</strong><br />

erschien ihm die Position des älteren Goethe als »Verständnis für die damals<br />

neue Sachlichkeit«. 44 Goethe als Protagonist der Neuen Sachlichkeit <strong>von</strong> 1800!<br />

Sieben Jahre zuvor hatte die Bauwelt – nach eigener Behauptung zum ersten<br />

Mal – die beiden eigenhändigen Sepia-Zeichnungen <strong>Goethes</strong> für den Umbau<br />

des Treppenhauses <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus am Frauenplan veröffentlicht, »weil sie<br />

se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung zu unserer Kunst scharf zeichnen«. Mit den geschlossenen<br />

Treppenwangen, dem fast völligen Verzicht auf Ornament und sogar Handläufe<br />

und den ohne Fensterkreuze wiedergegebenen Öffnungen folgen sie e<strong>in</strong>em<br />

für se<strong>in</strong>e Zeit – 1792 – erstaunlichen M<strong>in</strong>imalismus (S. 52, Taf. 5). Der Bauwelt-Bearbeiter<br />

entdeckte »e<strong>in</strong> architektonisches Formengefühl, das sich nicht<br />

im E<strong>in</strong>zelnen verliert, sondern e<strong>in</strong> straffes Ganzes gibt. E<strong>in</strong>fach und <strong>in</strong> un-<br />

44 P[aulsen]: Goethe. Was verdankt die Baukunst Goethe. Zu se<strong>in</strong>em hundertsten<br />

Todes tag am 22. März 1932. In: Bauwelt 23 (1932), H. 11, S. 285-288.


84 wolfgang pehnt<br />

verfälschtem zeitgenössischem Stil«. 45 Die karge Monumentalität, der glattflächige<br />

Reduk tionismus etwa des Umbaus für das Jenaer Theater durch Gropius<br />

und Adolf Meyer (1921/22) sche<strong>in</strong>t <strong>von</strong> diesen Zeichnungen her gesehen<br />

<strong>in</strong> der Tat nicht mehr fern.<br />

Nicht zuletzt hatten gerade die Parteigänger e<strong>in</strong>er radikaleren Moderne <strong>in</strong><br />

ihrer Kritik am Musterhaus <strong>von</strong> 1923 e<strong>in</strong>en subkutanen Klassizismus gewittert,<br />

der ihnen Muches Schöpfung verdächtig machte. Der bauhistorisch versierte<br />

Adolf Behne vermutete <strong>in</strong> der »Reißbrettarchitektur« des Hauses Am Horn, <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Regelmäßigkeit und Symmetrie, das Vorbild des antiken Hauses. Was im<br />

klassischen Rom das Atrium gewesen war, stellt hier, <strong>in</strong> den bescheidenen Maßen<br />

des Musterhauses, der zentrierende, überhöhte Mittelraum dar. Giedion,<br />

gleichfalls gelernter Kunsthistoriker, sah <strong>in</strong> dieser Innenorientierung – »wie es<br />

beim antiken Haus geschah« – das eigentlich Unmoderne, Rückwärtsgewandte<br />

der Lösung. 46 Den Vergleich mit »dem römischen Atrium« hatte Gropius selbst<br />

gezogen. 47<br />

Dass die Weimarer Klassik <strong>in</strong> ihren künstlerischen und baukünstlerischen<br />

Hervorbr<strong>in</strong>gungen und nicht zuletzt mit dem vor ihrer Zeit entstandenen, aber<br />

untrennbar mit ihr verbundenen <strong>Gartenhaus</strong> an den Ilmwiesen so andauernd<br />

und unterschiedlich rezipiert und <strong>in</strong>terpretiert werden konnte, hatte mehrere<br />

Gründe. Sie lagen nicht zuletzt an jenem Zufall, dass e<strong>in</strong>e Hochburg der Moderne<br />

am Zentralort der deutschen Klassik entstand und dass diese Schulgründung<br />

<strong>in</strong> der deutschen Prov<strong>in</strong>z sich zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternational renommierten<br />

Institution entwickelte. Im Falle des <strong>Goethes</strong>chen <strong>Gartenhaus</strong>es lagen sie auch<br />

an der Vere<strong>in</strong>igung weniger, aber starker Eigenschaften, die dieses kle<strong>in</strong>e Gebäude<br />

auszeichnete. In se<strong>in</strong>er fast über<strong>in</strong>dividuellen Ersche<strong>in</strong>ungsform, die sich<br />

als Modell e<strong>in</strong>es Hauses schlechth<strong>in</strong>, als Ur-Haus analog zur Ur-Pflanze <strong>in</strong>terpretieren<br />

ließ, konnten sich die unterschiedlichsten Ambitionen, Anschauungen<br />

und Ideologien spiegeln.<br />

Se<strong>in</strong> prom<strong>in</strong>enter Bewohner war »Weltbewohner« und »Weimaraner« 48 .<br />

Das galt auch für die Bauhäusler der Jahre 1919 bis 1925: Weltbewohner und<br />

Weimaraner auch sie.<br />

45 Josef Beitscher: Beziehungen <strong>Goethes</strong> zur Baukunst. In: Bauwelt 16 (1925). H. 49.<br />

Archiv für Baukunst, S. 5-8.<br />

46 Adolf Behne: Das Musterwohnhaus der Bauhaus-Ausstellung (Anm. 14), S. 591;<br />

Sigfried Giedion: Bauhaus und Bauhauswoche zu Weimar (Anm. 14), S. 23. Christian<br />

Wolsdorffs Me<strong>in</strong>ung, <strong>in</strong> den zeitgenössischen Besprechun gen f<strong>in</strong>de sich ke<strong>in</strong><br />

H<strong>in</strong>weis auf die traditionellen Momente des Musterhauses – Christian Wolsdorff:<br />

Georg Muche als Architekt. In: Georg Muche (Anm. 7), S. 27 – wäre daher e<strong>in</strong>zuschränken:<br />

Behne und Giedion haben sie sehr wohl gesehen.<br />

47 Walter Gropius: Grundlagen für Neues Bauen (Anm. 28), S. 141. H<strong>in</strong>weis <strong>von</strong><br />

Anne marie Jaeggi.<br />

48 Johann Wolfgang Goethe: Gott grüß’ euch, Brüder. Zahme Xenien V. In: WA, I, 3,<br />

S. 314.


Bildnachweis<br />

Bauhaus-Archiv Berl<strong>in</strong>: S. 19, 71, 107 (Taf. 9), 107 (Taf. 10) © VG Bild-Kunst Bonn<br />

2008, 108 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 171 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 177<br />

© VG Bild-Kunst Bonn 2008, 178 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 180 © VG Bild-<br />

Kunst Bonn 2008, 182 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 229, 328, 348, 363 © VG Bild-<br />

Kunst Bonn 2008<br />

Bauhaus-Universität Weimar: S. 207, 209 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 238 © VG<br />

Bild-Kunst Bonn 2008, 239 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 272 und 279<br />

bpk, Nationalgalerie, Museum Berggruen, SMB, Jens Ziehe: S. 257 © VG Bild-Kunst<br />

Bonn 2008<br />

bpk, Nationalgalerie, SMB, Jörg P. Anders: S. 258 (Taf. 13) © VG Bild-Kunst Bonn<br />

2008<br />

Deutsches Literaturarchiv Marbach: S. 327<br />

Klassik Stiftung Weimar: Frontispiz © VG Bild-Kunst Bonn 2008, S. 52, 69, 81,<br />

106 (Taf. 8), 189 (Abb. 4), 205, 217, 226, 240, 389, 393, 396<br />

Kunstbibliothek, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berl<strong>in</strong>: S. 79, 80<br />

Lenbach-Haus München: S. 91 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 105 © VG Bild-Kunst<br />

Bonn 2008, 106 (Taf. 7) © VG Bild-Kunst Bonn 2008<br />

Privatbesitz: S. 49 (Taf. 1) © VG Bild-Kunst Bonn 2008<br />

Sammlung M<strong>in</strong>nie Bechtler, Zollikon: S. 254 (Taf. 14) © VG Bild-Kunst Bonn 2008<br />

Staatliche Bildstelle Berl<strong>in</strong>, Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege: S. 77<br />

Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung: S. 259 © VG Bild-Kunst Bonn 2008<br />

Thür<strong>in</strong>gisches Hauptstaatsarchiv Weimar: S. 255<br />

Wenzel-Hablick-Museum, Itzehoe: S. 260<br />

Zentrum Paul Klee, Bern: S. 35, 49 (Taf. 2) © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 50 © VG<br />

Bild-Kunst Bonn 2008, 51 © VG Bild-Kunst Bonn 2008, 59 © VG Bild-Kunst Bonn<br />

2008<br />

Sollte trotz sorgfältiger Recherche e<strong>in</strong> Rechte<strong>in</strong>haber nicht genannt se<strong>in</strong>, werden<br />

berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vere<strong>in</strong>barungen abgegolten.<br />

Bildzitate s<strong>in</strong>d nicht gesondert ausgewiesen.


Erstpublikation<br />

Wolfgang Pehnt: Blutwarmes Leben – <strong>e<strong>in</strong>fachste</strong> Körperform. <strong>Zur</strong> <strong>Rezeption</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong> <strong>in</strong> Zeiten des Bauhauses.<br />

In: Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Klassik und Avantgarde.<br />

Das Bauhaus <strong>in</strong> Weimar 1919-1925. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2009.<br />

Gött<strong>in</strong>gen: Wallste<strong>in</strong> Verlag 2009, S. 68–84.<br />

Klassik Stiftung Weimar | Pehnt: <strong>Zur</strong> <strong>Rezeption</strong> <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> <strong>Gartenhaus</strong> | 06.2011

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