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NACHTBLIND - Theater Ulm

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SPIELZEIT 2009/2010<br />

Produktionsmaterialien<br />

<strong>NACHTBLIND</strong><br />

Stück von Darja Stocker<br />

Premiere am 21.11.2009 im Podium<br />

Materialmappe von Michael Hanisch<br />

Dramaturgie Schauspiel<br />

Tel. 0731/161 4419<br />

m.hanisch@ulm.de<br />

INHALT:<br />

Zum Stück, Zur Autorin, Zur Inszenierung<br />

Luftschloß und Extraschloß<br />

Darja Stocker. Das Tabuthema<br />

Tiefe sehnsucht nach Intimität - Im Gespräch mit Regisseur Avishai Milstein<br />

Flucht ins Farbige - Graffiti<br />

Ich bin nach der benannt - Leila Khaled<br />

Camera Obscura<br />

Seite<br />

2<br />

4<br />

5<br />

6<br />

8<br />

9<br />

10


Zum Stück;<br />

Leyla lebt in bedrückenden Verhältnissen. Zu Hause<br />

gibt es ständig Stress, sei es mit der Mutter, die sich in<br />

ihre Arbeit vergräbt statt sich um die eigene Familie zu<br />

kümmern oder dem kleinen, aggressiven Bruder, der<br />

mal wieder von der Schule verwiesen worden ist. Leylas<br />

Freund, den sie nur den „Großen“ nennt, scheint auch<br />

nicht gerade friedliebend, schlägt seine Freundin. Dennoch<br />

ist sie nicht bereit mit ihm zu brechen, ist geradezu<br />

süchtig nach ihm. Diese Spannungen bestimmen ihr<br />

Leben. Leylas große Leidenschaft sind Graffitis, die sie<br />

Nachts sprüht. In diese Situation tritt der verständnisvolle<br />

Moe. Er ist ein Außenseiter, der Probleme mit seiner<br />

Umwelt hat, in der Werkstatt des Vaters unglücklich ist<br />

und eigentlich lieber Physiker wäre.. Mit ihm kann sich<br />

Leyla unterhalten. Und sie kann ihm ihre Graffitis zeigen. Besonders stolz ist sie auf den<br />

Schriftzug „Luftschl“. Eigentlich sollte es Luftschloss heißen, doch sie hat es nicht mehr<br />

geschafft ihn zu vollenden. So aber kann sie wenigstens davon träumen. Vielleicht findet sie<br />

mit Moe eine Möglichkeit ihrem Leben zu entkommen.<br />

Darja Stocker hat ein einfühlsames Stück über zwei Jugendliche und ihre Nöte geschrieben.<br />

Ihre Figuren müssen erst gegen Widerstände ankämpfen, um zueinander zu finden. Verletzungen<br />

und Enttäuschungen haben sie geprägt, aber am Ende scheint ein Schritt Richtung<br />

Zukunft möglich.<br />

Darja Stocker schreibt in einer einfachen, verknappten Sprache, die aber auch poetische<br />

und lyrische Züge enthält. Das Geschehen wird immer wieder von monologischen Szenen<br />

Leylas unterbrochen, die ebenso in die Kategorie Lyrik fallen könnten.<br />

Zur Autorin:<br />

Darja Stocker wird 1983 in Zürich geboren. Mit elf Jahren beginnt sie zu schreiben und verfasst<br />

eine 600 Seiten starke Geschichte, die sie allerdings nicht veröffentlicht. während ihrer<br />

Jugendzeit nahm sie an Produktionen des Jugendspielclubs des <strong>Theater</strong>s an der Sihl teil<br />

und beginnt szenisch zu schreiben. Im Rahmen des Dramenprozessors des <strong>Theater</strong>s an der<br />

Winkelwiese in Zürich entsteht 2003/2004 ihr stück <strong>NACHTBLIND</strong>, das 2006 uraufgeführt<br />

wurde und beim Heidelberger Stückemarkt mit dem ersten Preis ausgezeichnet.<br />

Momentan ist sie Teilnehmerin der Masterclass im szenischen Schreiben unter Leitung von<br />

John von Düffel an der Universität der Künste in Berlin. Am Maxim-Gorki-<strong>Theater</strong> Berlin<br />

wird am 24 September 2009 ihr aktuelles Stück ZORNIG GEBOREN uraufgeführt.<br />

Zur Inszenierung:<br />

Avishai Milstein setzt in seiner Inszenierung auf die Kraft der Emotionen. er beginnt den<br />

Abend mit einer <strong>Theater</strong>situation: Die Figuren sind zunächst Zuschauer, die in ihre eigene<br />

Geschichte hineingeraten. Das zentrale Thema des Abends sind zwischenmenschliche Beziehungen:<br />

die Figuren haben Angst vor der eigenen Körperlichkeit und der des Partners.<br />

Intimität wird dadurch zur Bedrohung, aber auch als Herausforderung. Leyla hat Intimität<br />

bisher nur über Gewalt erfahren. Als sie Moe trifft, muss sie erst lernen ihn als Alternative


wahrzunehmen. Umgekehrt muss Moe erst lernen sich auf ein Gegenüber einzulassen, bisher<br />

hat er ohne Bezug zur Außenwelt gelebt, seine einzige Freundin war die alte Nachbarin.<br />

Für beide Figuren erzählt der Abend die Erfahrung Muster zu erkennen und zu durchbrechen.<br />

Aber auch die anderen Figuren stecken in dieser Intimitätsklemme. Die Mutter versteckt<br />

sich vor den eigenen Problemen, insbesondere in ihrer Ehe und verkriecht sich in die Arbeit.<br />

Und Rico steckt mitten in der Pubertät, also dem Alter, in dem Intimität die größte Bedrohung<br />

darstellt.<br />

Szenisch verdeutlicht sich dieser Vorgang in den Verwandlungen Leylas. Leyla steckt in unterschiedlichen<br />

Verkleidungen, die sie im Laufe des Abends ablegt, bis am Ende wohl das zu<br />

sehen ist, was der „echten Leyla“ am nächsten kommt.<br />

Der Raum, den Mona Hapke für <strong>NACHTBLIND</strong> entworfen hat, orientiert sich an drei Stationen.<br />

In der Mitte der Arena wird ein abgefahrenes Podest, das mit Matratze und Kuscheltieren<br />

dekoriert ist und Leylas Kinderzimmer vertritt. Ein Tisch auf Rollen schafft Raum für<br />

Familienszenen, wobei immer ein Platz für den abwesenden Vater leer bleibt. Und eine wackelige,<br />

von der Decke hängende Ebene symbolisiert den Ort über den Gleisen, dem Rückzugsort<br />

für Leyla und Moe, auf dem sie einander kennen lernen können.


LUFTSCHLOSS UND EXTRASCHLOSS<br />

Leylas große Leidenschaft sind Graffitis.<br />

Leidenschaft? Graffitis sind für Leyla<br />

eher eine Möglichkeit der tristen Welt des<br />

Alltags zu entkommen. Farbenfroh sollen<br />

sie sein. Und eine Botschaft haben. Doch<br />

das Graffiti, das Leyla am meisten bedeutet,<br />

konnte sie nicht vollenden. Ein Teil<br />

fehlt. Und so, sagt sie, muss sich jeder<br />

vier Buchstaben dazudenken: LOSS. Erst<br />

dann kann man die ganze Aussagekraft<br />

des Graffitis verstehen: LUFTSCHLOSS -<br />

ein unerreichbarer Ort, der aber Wärme<br />

und Geborgenheit verspricht.<br />

Auch Moes Welt ist grau. Nicht nur,<br />

dass er mit seinem Leben unzufrieden<br />

ist und in der Werkstatt seines Vaters<br />

nicht glücklich werden kann, sondern grau im wahrsten Sinn des Wortes. Denn Moe ist<br />

farbenblind, seine Welt ist schwarz-weiß, wie ein Fernseher vor fünfzig Jahren. Moe hat<br />

sich ebenfalls ein Schloss gebaut, keine unerreichbare Utopie, sondern ein ganz reales: ein<br />

EXTRASCHLOSS, mit dem er sein Zimmer abschließen kann und sich so vor der Außenwelt<br />

verbarrikadiert.<br />

Leyla träumt sich eine schönere Welt, Moe baut sich seine Welt. Zwei weltfremde Träumer?<br />

Können sich beide ändern, wenn sie zusammen treffen? Nachtblindheit bedeutet zunächst<br />

ganz konkret, dass man im Dunkeln nichts sehen kann. Besonders gefährlich wird es dann,<br />

wenn sich Leyla und Moe nachts auf dem Gerüst über den Gleisen treffen. Hier brauchen<br />

sie einander, um sich Halt zu geben und vor dem Absturz zu beschützen. Sie kommen sich<br />

näher, beginnen einander von den schlimmen und schönen Dingen des Alltags zu erzählen.<br />

So helfen sie sich gegenseitig.<br />

Doch Leyla verschweigt Moe die Gewaltattacken, die sie erfährt.<br />

Aus Scham? Aus Verzweiflung? Aus Sucht nach dem ‚Großen‘?<br />

Leyla sucht Nähe und Geborgenheit und kann doch niemanden<br />

an sich heran lassen. Zu groß ist die Furcht, wieder eine Enttäuschung<br />

zu erfahren. Auf der anderen Seite weiß sie, dass ihr die<br />

Beziehung mit dem ‚Großen‘ nicht gut tut. Doch wie mit ihm brechen,<br />

wenn sie befürchten muss, wieder von ihm verprügelt zu<br />

werden?<br />

Moe kann Leyla helfen. Der schüchterne junge Mann erkennt,<br />

dass es Leyla nicht gut geht. Anfangs ist er noch unerfahren,<br />

weiß nicht, wie er sich der jungen Frau und ihren Problemen gegenüber<br />

verhalten soll. Kurzzeitig denkt er sogar daran, einfach<br />

weg zu sehen. Doch dann tut er instinktiv das Richtige: Er bietet<br />

ihr Geborgenheit und Nähe. Und er kann sie vor dem Großen beschützen.<br />

Leyla und Moe können gemeinsam einen neuen Weg<br />

einschlagen. LUFTSCHLOSS und EXTRASCHLOSS ergänzen sich:<br />

ein perfekter Ort, der Sicherheit und Raum zu Träumen bietet -<br />

die Zukunft als farbenfrohe Welt.


Darja Stocker DAS TABUTHEMA<br />

Zu Beginn stehen persönliche Erlebnisse, etwas oder mehrere Dinge geben mir zu denken<br />

und ich verfolge sie mit erhöhter Aufmerksamkeit. Manchmal ergeben sich daraus Erkenntnisse,<br />

die mich sehr beschäftigen, ich möchte unbedingt wissen, ob sie etwas mit der Wirklichkeit<br />

zu tun haben oder nur persönliche Hirngespinste sind. Wenn ich über die Recherche<br />

(ich recherchiere die ganze Zeit irgendwas) herausfinde, dass bei einer der Sachen tatsächlich<br />

etwas dahinter steckt, bekomme ich den Drang, darüber ein Stück zu schreiben. Bei<br />

Nachtblind begann das, als mir immer mehr jungen Frauen zugaben, in (zum Teil lebensgefährdenden)<br />

Abhängigkeitsverhältnissen zu leben oder gelebt zu haben, obwohl sie sich absolut<br />

emanzipiert gaben. (...) Da Gewalt in gebildeten Schichten tatsächlich ein Tabuthema<br />

ist, fand ich es als „Mitwisserin“ besonders wichtig, etwas darüber zu schreiben. Den Opfern<br />

selbst fällt es schwer, in ihrem Umfeld darüber zu sprechen, da die Ächtung in diesen<br />

Kreisen besonders groß ist. (...) Leylas Mutter hat ihrer Tochter Emanzipation und Selbstbestimmung<br />

beigebracht. Nun erlebt sie, dass ihre Mutter diese Werte, die Leyla als selbstverständlich<br />

ansieht, nicht verteidigt. Sie lässt sich von ihrem Sohn tyrannisieren und von ihrem<br />

Mann betrügen, ohne etwas gegen diese Verletzungen zu unternehmen. Dies ist eine große<br />

Enttäuschung für Leyla, zumal die Mutter dadurch immer mehr an Persönlichkeit verliert.<br />

Dass sie so lange mit einem Gleichaltrigen zusammen bleibt, der sie schlägt, kann also<br />

auch der Versuch sein, der Mutter (und sich selbst) zu beweisen, dass sie es schafft, eine<br />

solch schwierige Beziehung „im Griff“ zu haben. Oder sie versucht, die Mutter zu verletzen,<br />

in dem sie sich selbst Leid zufügt, ihr die Augen zu öffnen – für sich und für die Situation, in<br />

der sich die Familie befindet. Die Mutter ihrerseits ist befremdet von ihrer Tochter, ebenfalls<br />

enttäuscht von ihrem Verhalten und machtlos vor ihrer Verschlossenheit. Ausserdem muss<br />

sie sich ständig als Erziehungsperson beweisen, die die gesamte Verantwortung trägt. In<br />

einem Punkt gleichen sich Mutter und Tochter: Mit ihnen werden Dinge gemacht, gegen die<br />

sie sich durch Konsequenzen im Verhalten schützen / wehren müssten. Der Mutter fehlt<br />

dazu sowohl die Substanz als auch die Kraft. Intellektuell hat sie den Durchblick, doch sie ist<br />

gelähmt in der Umsetzung. Leyla hingegen gelingt der Befreiungsakt. Vielleicht ein Resultat<br />

eben jener Emanzipation, die der Mutter selbst noch nicht mitgegeben wurde?


TIEFE SEHNSUCHT NACH INTIMITÄT<br />

Im Gespräch mit Regisseur Avishai Milstein<br />

Michael Hanisch: Was hat dich bei der Arbeit besonders beschäftigt?<br />

Avishai Milstein: Ich konnte versuchen, mich in die Psyche eines jungen Mädchen zu versetzen.<br />

So eine Erfahrung hatte ich bisher nicht. Ich glaube, dass das Stück das Leben, die<br />

Gefühle, die Erfahrungen und Beziehungserfahrungen Leylas sehr gut und intim vermittelt.<br />

Du hast mit Darja Stocker an der Universität der Künste in Berlin gearbeitet. In einem Interview<br />

betont die Autorin, wie sehr Recherche für sie von Bedeutung ist.<br />

Als ich mit der Klasse der Universität der Künste in Berlin arbeitete, da habe ich die Schüler<br />

immer zur Recherche motiviert. Es gibt das objektive Recherchieren, also das Fakten sammeln,<br />

aber daneben gibt es auch das subjektive Recherchieren. Im Verlauf des subjektiven<br />

Recherchierens muss der Autor oder Regisseur bei sich selbst weiterrecherchieren und sich<br />

fragen, ob er sich mit der Figur, die er erschafft, identfizieren kann. Gefühle und Gedanken,<br />

das ist es, was Figuren ausmacht. Wir wollen ja keinen journalistischen Essay verfassen. Die<br />

Kunst des Schaffenden ist es sich mit seiner eigenen, subjektiven Biographie auszumalen,<br />

wie er selbst unter diesen Umständen gelebt hätte.<br />

Leyla ist der klare Mittelpunkt, und Moe ihr Ankerplatz und Haltepunkt. Was treibt die Figuren<br />

an?<br />

Leyla wird in ihrer Beziehung mit dem Großen heimgesucht. Es ist eine mitreißende, immer<br />

wieder im Enthusiasmus ausufernde Beziehung, die sie mit dem Großen führt. Sie hat etwas<br />

Phantastisches, erkennt aber keine Grenzen an. Leyla weiß zunächst nicht, dass diese Beziehung<br />

ihr auch schadet. Sie wächst ja in einer Familie auf, in der man über Beziehungen<br />

nicht spricht und deshalb fehlt ihr die Erfahrung. An der grenzenlosen, fantastischen Beziehung<br />

droht sie zugrunde zu gehen.<br />

Moe ist anders als sie und kommt aus ganz anderen Verhältnissen. Dass Leyla mit Moe<br />

nicht so verschmelzen kann, wie sie es mit dem Großen getan hat, ist zunächst ihr größtes<br />

Problem. Sie muss sich die Frage stellen: wie gestalte ich Beziehungen? Das hat sie bisher<br />

nicht getan. Aber auch für Moe sind Beziehungen ein neues Terrain. Er ist sehr isoliert aufgewachsen,<br />

in einer auf andere Weise defekten Familie. Er ist sehr schüchtern und kann<br />

sich der Sprache des Verliebtseins gar nicht bedienen.<br />

Und was führt beide Figuren zusammen?<br />

Leyla kann nicht nach Hilfe suchen und Moe ist jemand, der immer helfen möchte. Er will<br />

Leyla helfen, kann aber die Situation zunächst noch nicht einschätzen und die Fakten nicht<br />

sortieren. Am Ende aber kann Leyla ihre Masken fallen lassen und sich helfen lassen. Nur<br />

so kann die Beziehung zwischen Leyla und Moe überhaupt zustande kommen.<br />

Du hast den Konflikt zwischen Leyla und ihrer Mutter noch etwas verdichtet. Was macht diesen<br />

Konflikt aus?<br />

In ihrem großen Monolog am Ende erfahren wir, was sie von ihrer Tochter hält oder erwar-


tet. Sie will komischerweise ihre Tochter nicht als Kind sehen, sondern als ihre beste Freundin.<br />

Darauf hat die Mutter ihr ganzes Leben hingearbeitet. Die Jahre der Kindheit hat sie<br />

verdrängt und verschwendet. Sie hat Leylas gesamte Entwicklung übersprungen, vielleicht<br />

weil sie Leyla nicht gewachsen ist oder weil sie selbst ihre emotionalen Schwierigkeiten und<br />

große Probleme mit Intimität hat. Die große Frage dabei ist, wie kann man noch miteinander<br />

leben, wenn man sich gegen die Entwicklung des Kindes sperrt. Leyla sucht bei der Mutter<br />

nach Anhaltspunkten, wie man eine gesunde Beziehung führen kann. Aber die Mutter<br />

drückt sich vor klaren Antworten. Fast würde ich sagen, die Mutter ist emotional behindert.<br />

Ihre Geschichte ist von Versäumnissen geprägt.<br />

In der Familienkonstellation fehlt der Vater. Sein Platz bleibt leer. Der Tisch ist für jemanden<br />

gedeckt, der nie da ist. Wie gehen die Figuren damit um?<br />

Die Abwesenheit des Vaters ist für die Kinder ein Rätsel. Die Lösung dieses Rätsels würde<br />

natürlich auch ein neues Licht auf die Mutter werfen, aber sie will vor den Kindern keine<br />

Rechenschaft über die Beziehung mit dem Vater ablegen. Vielleicht hat sie Angst, auf ihr<br />

eigenes Versagen hingewiesen zu werden. Leyla und Rico bringt dieses Schweigen dazu,<br />

anderweitig nach Lösungen zu suchen.<br />

Wird dadurch der Große für Leyla zum Ersatzvater?<br />

So sehen wir das nicht, wobei es ganz lustig ist, weil wir tatsächlich zu Beginn der Proben<br />

darüber gesprochen haben, in wie weit Vater und Großer identisch sein könnten.<br />

Aber ich glaube, der Große ist Leylas Wunsch nach einer Liebe, die nicht wahr ist, und die<br />

Tiefe Sehnsucht nach Intimität.


FLUCHT INS FARBIGE – GRAFFITI<br />

Graffiti, in der Einzahl spricht man von einem Graffito, ist ein Oberbegriff für visuell wahrnehmbare<br />

Elemente, die anonym oder ungefragt auf Oberflächen angebracht werden. Das<br />

Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich kratzen. Man bezeichnete<br />

damit zunächst die Kratzputztechnik, bei der in den Putz Motive eingeritzt wurde. Ab ca.<br />

1850 verwendeten auch Archäologen den Begriff, um damit in Wände und Scherben eingeritzte<br />

Botschaften zu bezeichnen. Schon in der Antike war es üblich, an wichtigen Orten,<br />

Sehenswürdigkeiten oder Tempeln seinen Namen in die Wände einzuritzen und somit auf<br />

seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Auch heute kann man solche Graffiti noch an<br />

vielen Sehenswürdigkeiten beobachten, z.B. im Treppenhaus des <strong>Ulm</strong>er Münsters - wenn<br />

auch der Filzstift das Messer abgelöst hat.<br />

Heute dominiert der Charakter der inoffiziellen Botschaft über die technische Ausführung,<br />

denn in den letzten Jahrzehnten hat der Begriff eine erneute Wandlung erfahren. Auch hat<br />

sich die Jugendkultur mittlerweile auch legale Flächen erobert, an denen sie ihre Botschaften<br />

und Bilder mit Hilfe von Spraydosen und Filzstiften hinterlassen kann. Diese Auftragsarbeit<br />

bzw. Duldung steht im Widerspruch zur eigentlichen Graffiti-Definition, denn Klassifikationsmerkmal<br />

des Graffitis ist, dass die Botschaft ungefragt bzw. illegal angebracht wird.<br />

In der Regel ist ein Graffito ein Einzelstück, d.h. in seiner Form gibt es nur an einer Stelle.<br />

Das heißt aber nicht, dass es spontan entstanden sein muss. Graffiti-Künstler planen ihre<br />

Werke in der Regel, suchen sich dann eine passende Wand oder das richtige Objekt aus, um<br />

dort der Umwelt ihre Botschaft zu hinterlassen. Ziel der Sprayer ist es eine persönliche oder<br />

politische Botschaft zum Ausdruck zu bringen. Das geht vom Liebesgeständnis, über politische<br />

Parolen bis hin zu Aufrufen zum Widerstand gegen gesellschaftliche und politische<br />

Veränderungen. Oder aber das Graffiti soll über das persönliche Befinden Auskunft geben:<br />

in vielen Graffitis erfährt man vom Seelenleben des Künstlers, von Liebe, Wut, Trauer oder<br />

Träumer. Es handelt sich dabei um den Versuch, sich über das Medium Wand oder andere<br />

Objekte Gehör zu verschaffen oder ein Ventil für seine Gefühle zu finden.<br />

Graffitis erfreuen aber nicht jeden. Von einem Großteil der Bevölkerung werden sie als Vandalismus<br />

und Verbrechen aufgefasst. Das liegt zum einen daran, dass Wände ungefragt gestaltet<br />

werden, zum anderen, dass ein Hausbesitzer ein Graffito als Straftat und Sachbeschädigung<br />

wahrnimmt. Auf der anderen Seite befassen sich mittlerweile auch zahlreiche<br />

Soziologen und Psychologen mit Graffiti.<br />

Sie wollen die Botschaften hinter<br />

den Bildern erkennen, suchen nach den<br />

Gründen und wollen auf diese Weise<br />

Aufschluss über Entwicklungen in der<br />

Gesellschaft erlangen. Und sie betonen,<br />

dass Graffiti egal ob geritzt oder gesprayt<br />

seit den ersten Hochkulturen der<br />

Antike in jeder Epoche zu finden sind.


ICH BIN NACH DER BENANNT - LEILA KHALED:<br />

TERRORISTIN ODER FREIHEITSKÄMPFERIN?<br />

Als sich Leyla und Moe kennenlernen, fällt ein Name,<br />

der heute vielen vielleicht nicht mehr bekannt ist:<br />

Leila Khaled. Von ihren Eltern wurde Leyla nach ihr<br />

benannt - ein deutlicher Hinweis auf das Erbe der<br />

Generation 68. Moe aber bezeichnet Leila Khaled als<br />

Terroristin, während Leyla ihre „Namenspatronin“ als<br />

Freiheits- und Friedenskämpferin lobt. Wer ist diese<br />

Frau, die mit solch unterschiedlichen Meinungen beschrieben<br />

wird?<br />

1969 ging ein Bild um die Welt: Das Foto einer jungen<br />

Frau mit Palästinenserkopftuch auf dunklem Haar<br />

und einer Kalaschnikow in der Hand. Am 29. August<br />

1969 hatte Leila Khaled zusammen mit Komplizen das Flugzeug TWA 840 von Rom nach<br />

Athen entführt. Sie zwang den Piloten über ihre Heimatstadt Haifa zu fliegen, wo sie 1944<br />

als Tochter palästinensischer Eltern zur Welt kam. Das Flugzeug landete schließlich in Damaskus,<br />

alle Passagiere wurden freigelassen und das Flugzeug medienwirksam vor laufenden<br />

Fernsehkameras gesprengt. Leila Khaled wurde zwar festgenommen, aber von den<br />

syrischen Behörden nur fünf Tage später wieder auf freien Fuss gesetzt. Leila Khaled ließ<br />

sich ihr Gesicht operativ verändern, um weitere Aktionen planen zu können. So entführte sie<br />

am 6. September 1970, während des Schwarzen September, den Flug El Al 219 von Amsterdam<br />

nach New York City. Der Versuch schlug fehl, als ein an Bord befindlicher Sicherheitsmann<br />

einen ihrer Begleiter, den Nicaraguaner Joseph Arguello, erschoss. Leila Khaled<br />

wurde überwältigt, nachdem sie eine Handgranate geworfen hatte, die jedoch nicht zündete.<br />

Der flug konnte in London notlanden. Nach 28 Tagen wurde sie von Terroristen freigepresst,<br />

obwohl Israel einen Auslieferungsantrag gestellt hatte.<br />

Bis heute engagiert sich Leila Khaled für diverse Palästinenserorganisationen. Sie bleibt der<br />

ursprünglichen, marxistischen Ausrichtung der palästinesischen Freiheitsbewegung treu<br />

und lehnt islamistischen Terror ab. Dennoch ist sie bis heute umstritten, unter anderem, da<br />

sie das Existenzrecht Israels nicht anerkennt.


CAMERA OBSCURA<br />

Das Prinzip der Camera Obscura ist den Menschen von alters her bekannt. Bereits im 5.<br />

Jahrhundert v. Chr. werden die grundlegenden optischen Prinzipien in chinesischen Texten<br />

niedergeschrieben. Im 9. Jahrhundert wird über ein projiziertes Bild in einer verdunkelten<br />

Pagode berichtet.<br />

Im westlichen Kulturkreis fand die Entdeckung der Bildprojektion durch ein Loch kaum später<br />

statt. Bereits Aristoteles beschrieb im 4. Jahrhundert v. Chr. Erscheinungen, die er allerdings<br />

nicht erklären konnte. Er stellte fest, daß Sonnenlicht, welches durch Flechtwerk<br />

hindurch schien, ein Bild der Öffnungen, durch die es gelangte, auf den Boden projizierte.<br />

Anläßlich einer Sonnenfinsternis entdeckte er, daß die winzigen Öffnungen im Blattwerk<br />

eines Baumes Abbilder der Sonne auf dem Boden erzeugten.<br />

Bis zum Verständnis der Erscheinungen sollten noch viele Jahrhunderte vergehen. Ein erster<br />

Meilenstein auf dem langen Weg war die Entdeckung arabischer Gelehrter im 10. Jahrhundert,<br />

daß sich Licht geradlinig ausbreitet. Sie fanden dies durch Experimente mit der<br />

Projektion des Bildes dreier Kerzen durch ein kleines Loch heraus. Die erzeugten Abbilder<br />

ließen sich durch eine gedachte Gerade durch das Loch mit ihren Originalen verbinden.<br />

In den folgenden Jahrhunderten wurden die bisher erkannten Abbildungsmöglichkeiten mit<br />

Hilfe eines Lochs vor allem von Astronomen zum Studium des Sonnenlichts und von Künstlern<br />

als Zeichenhilfe für Studien der Perspektive genutzt. Bekannte Namen wären hier Leonardo<br />

da Vinci oder Albrecht Dürer.<br />

Da Vinci beschrieb als erster eine richtige Camera Obscura im eigentlichen Wortsinn: „Wenn<br />

die Fassade eines Gebäudes, oder ein Platz, oder eine Landschaft von der Sonne beleuchtet<br />

wird und man bringt auf der gegenüberliegenden Seite in der Wand einer nicht von der Sonne<br />

getroffenen Wohnung ein kleines Löchlein an, so werden alle erleuchteten Gegenstände<br />

ihr Bild durch diese Öffnung senden und werden umgekehrt erscheinen“.<br />

Nunmehr wurde das Prinzip der Camera Obscura in vielfältiger Weise verwendet. So brachte<br />

der italienische Mathematiker und Astronom Toscanelli 1475 einen bronzenen Ring mit einer<br />

kleinen Öffnung in einem Fenster der Kathedrale in Florenz an. An sonnigen Tagen wird<br />

ein Bild der Sonne auf den Boden der Kathedrale geworfen. Eine Mittagsmarke am Boden<br />

gibt die Möglichkeit zur Zeitbestimmung. Dieser Ring kann heute noch besichtigt werden.<br />

Eine ähnliche Vorrichtung wurde 1580 von päpstlichen Astronomen genutzt, um Papst Gregor<br />

XIII. zu beweisen, daß die Frühjahrs-Tag-und-Nacht-Gleiche auf den 11. statt wie eigentlich<br />

korrekt auf den 21. März fiel. Dies führte zur berühmten gregorianischen Kalenderreform.


Im 16. Jahrhundert kamen zwei verschiedene<br />

Arten der Camera Obscura auf. Neben der bekannten<br />

- ein verdunkelter Raum mit einer kleinen<br />

Öffnung in der Wand -, die z.B. von Frisius<br />

zum Studium einer Sonnenfinsternis genutzt<br />

wurde, führte der deutsche Astronom Johannes<br />

Kepler, der auch den Ausdruck „Camera Obscura“<br />

(= „dunkler Raum“) prägte, eine Abart ein,<br />

indem er das Loch durch eine Linse ersetzte.<br />

Diese Linse erzeugte ein helleres Bild, das allerdings<br />

nun nur noch auf eine bestimmte Entfernung<br />

fokussiert werden konnte. Kepler war es auch, der später als erster eine tragbare<br />

Camera Obscura benutzte.<br />

Das 19. Jahrhundert brachte die Erfindung der begehbaren Camera Obscura als Unterhaltungsmittel<br />

für die Bevölkerung. Durch geschickte Drehmechanismen im Dach sowie durch<br />

Verwendung einer Meniskuslinse ist es in diesen Räumen möglich, ein relativ helles Rundumbild<br />

der Umgebung auf eine waagrechte Projektionsfläche zu werfen. Das Bild kann so<br />

von vielen Menschen gleichzeitig betrachtet werden. Solche begehbaren Cameras Obscuras<br />

gibt es auch heute noch.<br />

Mit der Erfindung der Fotografie dauerte es auch nicht lange, bis die ersten Versuche unternommen<br />

wurden, das in der Camera Obscura projezierte Bild auf lichtempfindlichen Materialien<br />

festzuhalten. Damit war die Lochkamera geboren.<br />

Fotografieren mit der Lochkamera ist in vieler Hinsicht vergleichbar mit der „normalen Fotografie“.<br />

Der Hauptunterschied liegt darin, daß die verwendete Kamera bzw. deren Objektiv<br />

keine Linse aufweist. Stattdessen besitzt sie eine sehr kleine Öffnung (das „Pinhole“), welche<br />

das Bild auf die lichtempfindliche Schicht (Film oder Papier) projeziert. Diese Tatsache<br />

erfordert eine andere Arbeitsweise mit der Kamera (hauptsächlich weil die Belichtungszeiten<br />

sehr lang werden) und erzeugt Bilder, die sich von Aufnahmen mit einer üblichen Kamera<br />

in mehrfacher Hinsicht unterscheiden.<br />

Während eine Linse ein Bild dadurch erzeugt, daß sie alle auf sie treffenden Lichtstrahlen<br />

von jedem Punkt des Aufnahmeobjekts in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, erzeugt<br />

das Loch einer Lochkamera überhaupt keinen Brennpunkt. Idealerweise wäre das<br />

Loch ein Punkt, also nur so groß, daß von jedem Punkt des Objekts lediglich ein Lichtstrahl<br />

passieren könnte. Dieser Lichtstrahl träfe den Film natürlich ebenfalls nur in einem Punkt.<br />

Ein Lichtstrahl von einem anderen Punkt des Objekts würde damit auch den Film an einem<br />

anderen Punkt treffen. Die Summe aller durch das Loch einfallenden Strahlen würde so ein<br />

exaktes Abbild des Objekts auf dem Film erzeugen. Würde man die Filmebene vor oder zurück<br />

bewegen, bliebe das Bild unverändert, lediglich seine Größe würde sich abhängig von<br />

der Entfernung zum Loch ändern.<br />

In Wahrheit ist das Loch natürlich niemals nur ein Punkt. Es werden also von jedem Punkt<br />

des Aufnahmeobjekts mehrere Lichtstrahlen ankommen und auf dem Film auftreffen. Ab<br />

hängig von der Größe des Lochs werden diese Lichtstrahlen etwas gestreut. Dies ist ein<br />

Grund, warum Aufnahmen mit der Lochkamera immer etwas weicher (unschärfer) sind als<br />

Aufnahmen durch ein Linsensystem. Ein zweiter Grund liegt darin, daß an den Lochrändern<br />

Beugungserscheinungen auftreten und die unmittelbar am Lochrand passierenden Lichtstrahlen<br />

somit aus ihrer Bahn gelenkt werden.<br />

Da es keinen Brennpunkt gibt, wird eine Lochkameraaufnahme über das gesamte Bildfeld<br />

gleichmäßig scharf (soweit man hier von Schärfe sprechen kann, s.o.). In anderen Worten:


es gibt keine Beschränkung der Tiefenschärfe wie bei der Fotografie mit Hilfe von Linsen.<br />

Sehr nahe Objekte (Entfernung Objekt-Loch kleiner als Entfernung zwischen Loch und Film)<br />

werden allerdings aufgrund der Divergenz der von jedem Punkt des Objekts eintreffenden<br />

Lichtstrahlen unschärfer abgebildet

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