Programmheft - Badisches Staatstheater Karlsruhe
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Briefkapiteln des Romans – Ellen Orford und<br />
Balstrode – als Freunde zur Seite gestellt.<br />
Gleichzeitig wird die Figur des Peter Grimes<br />
in der Opernhandlung neu interpretiert: Der<br />
misanthropische Gewalttäter des Romans<br />
ist in der Oper ein sehr viel empfindsamerer<br />
Charakter, den Britten später nicht – wie<br />
ursprünglich geplant – mit einem Bariton,<br />
sondern mit einer helleren Stimmfarbe,<br />
einem Tenor besetzte. War Crabbes Grimes<br />
ein brutaler Alkoholiker, der als Kind von<br />
seinem Vater misshandelt wurde und als Erwachsener<br />
das Leben von drei Lehrjungen<br />
auf dem Gewissen hatte, ist Brittens Grimes<br />
„weder Held noch Opernschurke. Er ist kein<br />
Sadist und kein Dämon. Das zeigt die Musik<br />
ganz eindeutig. Er hat vieles gemein mit einem<br />
gewöhnlichen, schwachen Menschen,<br />
der mit der Gesellschaft, in der er lebt, nicht<br />
zurechtkommt“ (Peter Pears).<br />
In der Rollenkonzeption treten also die<br />
psychopathologischen Aspekte wie die<br />
problematische Vater-Sohn-Beziehung und<br />
die Trinksucht in den Hintergrund. Im Gegenzug<br />
wird die soziale Dimension von Grimes’<br />
Schicksal hervorgehoben. Im Zentrum steht<br />
hierbei das dialektische Verhältnis von Individuum<br />
und Masse: Der Grund für die Verschrobenheit<br />
der Figur und ihr Fehlverhalten<br />
wird zumindest zu einem gewissen Teil in<br />
der Gesellschaft und in einem gesellschaftlichen<br />
Druck verortet. Dass die Schuld des<br />
Peter Grimes nicht ohne das Mitwirken des<br />
sozialen Umfelds zu denken ist, machte der<br />
Komponist 1948 anlässlich der New Yorker<br />
Erstaufführung explizit deutlich, indem er<br />
sagte: „Je bösartiger eine Gesellschaft,<br />
desto bösartiger das Individuum.“<br />
Brittens Wohlwollen mit der Figur findet<br />
sowohl im Text als auch in der Musik ihren<br />
künstlerischen Ausdruck. Brittens Sympathie,<br />
sein „Mit-Leid“, ist biografisch begründet.<br />
In einem Interview verweist der Komponist<br />
auf ähnliche Erfahrungen, die er und<br />
sein Lebenspartner Pears in den späten<br />
30er und frühen 40er Jahren machten: „Wir<br />
konnten nicht sagen, dass wir körperlich<br />
litten, aber natürlich spürten wir eine ungeheure<br />
Anspannung. […] Ich glaube, dass<br />
es teilweise diese Empfindung war, die uns<br />
dazu brachte, aus Grimes einen Charakter<br />
der Vision und des Konflikts zu machen, den<br />
gepeinigten Idealisten, der er ist, und den<br />
Schurken, der er bei Crabbe war.“<br />
Brittens Erstling Peter Grimes enthält hiermit<br />
eine dramaturgische Grundkonstellation,<br />
die sich in vielen späteren Bühnenwerken<br />
wiederholen sollte. Auch in Billy Budd,<br />
Albert Herring oder Death in Venice stehen<br />
gleichermaßen Außenseiter-Figuren und ihr<br />
Verhältnis zur sozialen Umgebung im Mittelpunkt.<br />
Brittens sozialkritisches Grundmotiv<br />
– die Einsamkeit des Einzelnen inmitten einer<br />
Gesellschaft und die Verfolgung der Unschuldigen<br />
– nimmt bei Peter Grimes ihren Anfang.<br />
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Melanie Spitau, Lydia Leitner & Staatsopernchor<br />
Folgeseiten Heidi Melton & Statisten