Markus Brüderlin (Hg.): ArchiSkulptur. Dialoge ... - Sehepunkte
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<strong>Markus</strong> <strong>Brüderlin</strong> (<strong>Hg</strong>.): <strong>ArchiSkulptur</strong>. <strong>Dialoge</strong> zwischen<br />
Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute (= Katalog<br />
zur Ausstellung in der Fondation Beyeler, Riehen/Basel,<br />
3.10.2004 - 30.1.2005), Ostfildern: Hatje Cantz 2004, 224 S., 221<br />
Farb-, 149 s/w-Abb., ISBN 3-7757-1490-1, EUR 49,80<br />
Rezensiert von:<br />
Stefanie Lieb<br />
Institut für Kunstgeschichte, Universität zu Köln<br />
Versuche, Wechselbeziehungen zwischen Gestaltungsprinzipien moderner<br />
Skulptur und Architektur freizulegen und zu kategorisieren, sind in den<br />
letzten zehn Jahren in der Kunstwissenschaft vermehrt aufgetreten. [1]<br />
Das mag damit zusammenhängen, dass man im Rückblick des 21.<br />
Jahrhunderts auf die "Moderne" verbindliche Raum- und Körperbilder zu<br />
rekonstruieren anstrebt, die, jede Gattungshürde überspringend, wirksam<br />
gewesen sein sollen.<br />
Dieser post-moderne Ansatz ist jedoch nicht ganz neu: Bereits ab den<br />
1950er-Jahren prognostizierte man für Architektur und Skulptur ein<br />
"Plastisches Zeitalter" [2], und Albert Erich Brinkmann beschäftigte sich<br />
schon 1922 mit dem Thema "Plastik und Raum als Grundformen<br />
künstlerischer Gestaltung". [3] Es geht, um es ganz vereinfacht auf den<br />
Punkt zu bringen, um die beiden inzwischen wieder aktuell hoch im<br />
kulturwissenschaftlichen Diskurs stehenden Komplementärgeneralia<br />
"Körper" und "Raum" und ihre Umsetzung sowie Kommentierung durch<br />
skulpturale bzw. architektonische Konzepte.<br />
Der vorliegende Ausstellungskatalog der Fondation Beyeler beschränkt<br />
sich in der Dokumentation einer Dialoggeschichte zwischen Architektur<br />
und Skulptur auf die Zeitspanne von der Moderne bis heute. Das im Titel<br />
angekündigte 18. Jahrhundert bezieht sich lediglich auf die utopischen<br />
Entwürfe Louis Etienne Boullées und Claude-Nicolas Ledoux', deren<br />
Kaufmannsche Deutung als Vorboten einer autonomen Moderne à la<br />
Corbusier inzwischen durch die Forschungen zur Revolutionsarchitektur<br />
relativiert worden sind. Im Übrigen hat man das 19. Jahrhundert fast<br />
vollständig ausgeblendet, obwohl gerade in dieser Zeitphase<br />
wirtschaftlicher und kultureller Revolutionen die Grundlagen neuartiger<br />
Körper-Raum-Bilder gelegt worden sind.<br />
So ist die Gliederung denn auch als eine lückenhafte chronologische<br />
Entwicklungsgeschichte einer langen Beziehung zwischen Architektur und<br />
Skulptur in zehn Kapiteln konzipiert: von der Vorgeschichte des Newton-<br />
Kenotaphs über Brancusis tektonische Ansätze, den konstruktivistischen<br />
und expressionistischen Raumentwürfen der 1920er-Jahre, dem
"beseelten" Raum eines Rudolf Steiner und Ludwig Wittgenstein, den<br />
Körperfantasien der Architektur und den Raumexperimenten der Skulptur<br />
in den 1950er und 60er-Jahren, den Stadtutopien und ihrer Nähe zur<br />
informellen Megaplastik, der Minimal Art und Architecture bis schließlich<br />
hin zu zeitgenössischen Blob- und Box-Modellen und Morphemen des<br />
programmierten Raums.<br />
Vorangestellt ist erstens ein Kapitel, in dem spannende Einzelaspekte der<br />
Form- und Raumgestaltung wie z. B. der Shifter-Effekt oder das<br />
Atmosphärische von Archiskulpturen behandelt werden. Zweitens folgt<br />
eine virtuelle Gesprächsrunde mit Praktikern und Theoretikern beider<br />
Disziplinen, die trotz der verfehlten Fragestellung "Will Architektur<br />
Skulptur werden?" aktuelle und überraschende Diskursergebnisse<br />
aufzeigt. Illustriert ist das Buch mit zahlreichen aussagekräftigen<br />
Abbildungen, die die ausgestellten Skulpturen und Architekturmodelle<br />
zeigen. Wünschenswert wäre eine Bildunterschrift direkt unter der<br />
jeweiligen Abbildung gewesen, da das betrachtende Leserauge so oft allzu<br />
sehr mit Zuordnungen beschäftigt ist.<br />
Kommen wir noch einmal zur zentralen Fragestellung des Herausgebers<br />
<strong>Markus</strong> <strong>Brüderlin</strong> zurück, der den beiden Kunstgattungen eine allzu starke<br />
Annäherung unterstellt, sodass Werke von Per Kirkeby eher als<br />
Architektur und Bauten von Frank O. Gehry eher als Skulptur zu<br />
bezeichnen wären (15). Die davon ausgehenden Diskussionsthesen, ob<br />
man die Architekturgeschichte der Moderne nicht eher skulptural und<br />
umgekehrt die Geschichte der autonomen Plastik unter dem Vorzeichen<br />
des Architektonischen zu deuten habe (48), greifen nicht ganz den Kern<br />
der eigentlichen Thematik. Die wesentliche Frage formuliert <strong>Brüderlin</strong> in<br />
der Einleitung - eher am Rande in Verbindung mit August Schmarsows<br />
Kategorien der Skulptur als Körper- und der Architektur als<br />
Raumbildnerin [4]: "Wie wird Körper Raum, und wie verkörpert sich<br />
umgekehrt Raum?" (19). Wäre diese Überlegung stärker Leitmotiv in der<br />
Gesprächsrunde und auch in den zehn Themenkapiteln gewesen, hätten<br />
sich vielleicht grundlegendere Prinzipien einer Unterscheidbarkeit sowie<br />
einer Verbindlichkeit von Architektur und Skulptur herausarbeiten lassen.<br />
Aber dies war wahrscheinlich nicht in erster Linie die Ambition des<br />
Ausstellungsprojekts. Vielmehr sollte die Vielfalt der Bezüge präsentiert<br />
und die Möglichkeit des assoziativen Vergleichs geboten werden. Dies ist<br />
auf jeden Fall gelungen; die dabei auftretenden Wiederholungen und<br />
Indifferenzen nahm man dafür wohl in Kauf.<br />
Die Beteiligten der Gesprächsrunde legen dann Grundsätzliches offen: Für<br />
Mario Botta ist das Hauptunterscheidungskriterium zwischen Architektur<br />
und Skulptur der Ortsbezug, d. h., dass das Ziel der Architektur in den<br />
räumlichen Bezügen zwischen Bau und Umgebung liegt (49). Vittorio<br />
Magnago Lampugnani verweist auf die vitruvianischen Qualitätsmerkmale<br />
von Architektur und darauf, dass sie vor allem gut benutzbar und gut<br />
gebaut sein muss (49). Einen neuartigen Ansatz liefern Stanislaus von<br />
Moos und Andreas Ruby, indem sie für die aktuelle Annäherung der<br />
Architektur an skulpturale Effekte als eine Neutralisierung der Kunst die
Design- und Lifestyle-Szene und allgemein die Welt des allgegenwärtigen<br />
Konsums verantwortlich machen (50). Die "Signature Buildings" der<br />
zeitgenössischen Architektur werden zu Logos oder Markenartikeln, mit<br />
denen sich jede Stadt und Gemeinde gerne schmückt, um ihren<br />
Marktwert zu erhöhen. Die gesellschaftliche Dimension von Architektur<br />
ginge in diesem Kontext allerdings verloren (53).<br />
Auf die zehn Themenkapitel, die von unterschiedlichen Autoren und<br />
Autorinnen erstellt wurden, soll hier nicht im Einzelnen eingegangen<br />
werden. Es sei jedoch auf die hervorragenden historischen und die extra<br />
für die Ausstellung neu angefertigten Architekturmodelle verwiesen, die<br />
das jeweilige Baukörper- und Raumkonzept sehr gut veranschaulichen.<br />
So z. B. Boullées Kugelbau des Newton-Kenotaphs aus der Sammlung<br />
von Oswald Mathias Ungers, das Modell von Le Corbusiers<br />
Wallfahrtskirche in Ronchamp, 2004 hergestellt in der Werkstatt der<br />
Bauhaus Universität Weimar oder Walter Jonas' Modell einer Trichterstadt<br />
"Intrapolis" aus den 1960er-Jahren, heute im Besitz des Deutschen<br />
Architekturmuseums in Frankfurt am Main. Der Ausblick auf die aktuelle<br />
Architekturszene konfrontiert mit den kontrahierenden Prinzipien "Box"<br />
und "Blob", für die auch teilweise digitale Modelle zur Verfügung gestellt<br />
wurden. "Box" steht für ein Raumschema, das der Geometrie und<br />
Rechtwinkligkeit sowie der Übereinstimmung von Innen und Außen<br />
verpflichtet ist. "Blob" ist eine Abkürzung für "Binary Large Objects" und<br />
bezeichnet in der Architektur digital konzipierte Körper- und<br />
Raumentwürfe, die biomorphe Strukturen aufweisen. Exemplarisch<br />
werden hier Jean Nouvels "Monolith" im Murtener See auf der Schweizer<br />
expo 02 und Greg Lynns "Embryological House" gegenüber gestellt<br />
(192/193).<br />
Am Schluss des Ausstellungskatalogs stehen zwei Raumprojekte von<br />
Architekten, die diese speziell für die Fragestellung der Ausstellung<br />
konzipiert haben. Jean Nouvel inszeniert seinen inzwischen in Murten<br />
wieder abgebauten "Monolithen" (ein großer rostiger Stahlwürfel) mithilfe<br />
eines Lichtkastens, der den ehemaligen genius loci in der Murtener<br />
Landschaft demonstriert und erläutert dazu: "Die Szenerie stellt den Sinn<br />
der realen Architektur wieder her: das Erleben einer mysteriösen<br />
Raumerfahrung, in einer vergänglichen Arbeit, im Herzen einer<br />
einmaligen Landschaft" (205). Herzog & de Meurons "Jinhua-Structure II-<br />
Pavillon", der als begehbare Holzskulptur im Park der Fondation Beyeler<br />
aufgestellt wurde, entstand als digital konzipierte, dreidimensionale<br />
Umsetzung eines zweidimensionalen urbanen Masterplans. Die Idee war<br />
hier die Umstülpung eines geometrischen Musters in den Raum (208).<br />
Wenn auch bei diesem letzten Beispiel die vermeintliche Nähe zur<br />
Skulptur wieder gegeben sein mag, wird gleichzeitig deutlich, dass die<br />
zeitgenössischen Raumentwürfe sich bereits längst von der veralteten<br />
kunstwissenschaftlichen Diskussionsplattform verabschiedet haben.<br />
Immerhin vermag der Katalog sich diesen Ausblick auch einzugestehen.<br />
Anmerkungen:
[1] Vgl. <strong>Markus</strong> Stegmann: Architektonische Skulptur im 20. Jahrhundert:<br />
historische Aspekte und Werkstrukturen, Tübingen 1995; Ute Müller:<br />
Zwischen Skulptur und Architektur, eine Untersuchung zur<br />
architektonischen Skulptur im 20. Jahrhundert, Aachen 1998; Klaus Jan<br />
Philipp: ArchitekturSkulptur: die Geschichte einer fruchtbaren Beziehung,<br />
Stuttgart 2002; Werner Sewing: Architecture. Sculpture, München 2004.<br />
[2] Carola Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts. Volumen- und<br />
Raumgestaltung, Stuttgart 1955; Siegfried Giedion: Raum, Zeit,<br />
Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, 1964, 6.<br />
unveränderter Nachdruck Basel 2000; Ule Lammert: Architektur und<br />
Plastik - ein Beitrag zu ihrer Synthese, Berlin 1962.<br />
[3] Albert Erich Brinkmann: Plastik und Raum als Grundformen<br />
künstlerischer Gestaltung, München 1922.<br />
[4] August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung.<br />
Leipzig 1894.<br />
Redaktionelle Betreuung: Stephan Hoppe<br />
Empfohlene Zitierweise:<br />
Stefanie Lieb: Rezension von: <strong>Markus</strong> <strong>Brüderlin</strong> (<strong>Hg</strong>.): <strong>ArchiSkulptur</strong>. <strong>Dialoge</strong><br />
zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ostfildern: Hatje<br />
Cantz 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: <br />
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden<br />
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.