Klinische Bewertung - Medizin-EDV
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Ausgabe 6/2012<br />
Wie funktioniert eigentlich ...<br />
<strong>Klinische</strong> <strong>Bewertung</strong><br />
Ein Beitrag von Christian Johner in der Serie „Wie funktioniert eigentlich...?“<br />
Mein Telefon klingelt häufiger in letzter<br />
Zeit. Hersteller von PDMS oder Therapieplanungssystemen<br />
melden sich – aufgeschreckt<br />
durch benannte Stellen, die von<br />
ihnen eine klinische <strong>Bewertung</strong> fordern.<br />
Wie soll eine klinische <strong>Bewertung</strong> für eine<br />
Stand-alone-Software gehen, fragen mich<br />
die Hersteller. In diesem Artikel gebe ich<br />
Ihnen einige Tipps dazu.<br />
Regulatorisches Umfeld<br />
Spätestens mit dem Brustimplantate-Skandal<br />
sind die Behörden und Gesetzgeber<br />
aktiv geworden. Verordnungen und Gesetze<br />
wurden verschärft, Normen wie die<br />
ISO 14971 zum Risikomanagement überarbeitet<br />
und Audits aufpoliert. Selbst die<br />
bewährte <strong>Medizin</strong>produkterichtlinie steht<br />
vor ihrer Ablösung.<br />
Dabei fordert bereits heute das <strong>Medizin</strong>produktegesetz,<br />
dass jedes <strong>Medizin</strong>produkt<br />
einer klinischen <strong>Bewertung</strong> unterzogen wird.<br />
Nur was bedeutet das für die Hersteller? Sind<br />
auch die Betreiber betroffen?<br />
Sammeln klinischer Daten<br />
Ein Gerät klinisch zu bewerten, bedeutet<br />
nicht in jedem Fall, es in der Klinik zu<br />
bewerten. Vielmehr muss der Hersteller<br />
anhand klinischer Daten zwei Fragen beantworten:<br />
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Abbildung 1: <strong>Klinische</strong> Daten können aus mehreren Quellen stammen.<br />
Fragen an Prof. Dr. Christian Johner, Institut für IT im Gesundheitswesen, über www.johner-institut.de und<br />
www.institutsclub.de, weil es dort Videotrainings zur klinischen <strong>Bewertung</strong> gibt.<br />
1. Erfüllt das <strong>Medizin</strong>produkt den beabsichtigten<br />
Zweck? Können damit Patienten<br />
wie erhofft diagnostiziert, therapiert<br />
oder überwacht werden?<br />
2. Welche Nebenwirkungen hat das<br />
<strong>Medizin</strong>produkt? Welche Risiken gehen<br />
damit einher?<br />
Die klinischen Daten können aus mehreren<br />
Quellen stammen, wie Abbildung 1 zeigt.<br />
Zuerst wird der Hersteller versuchen, in der<br />
wissenschaftlichen Fach -<br />
literatur Informationen zu<br />
finden, um diese Fragen zu<br />
beantworten. Auch andere<br />
Quellen darf und soll er<br />
nutzen:<br />
● Datenbanken der Behörden<br />
zu Fehlern, Risiken,<br />
Warnungen<br />
● Daten von Vorgängerprodukten,<br />
beispielsweise aus<br />
dem „Post Market Clinical<br />
Follow-up“<br />
● „Graue“ Literatur, d.h. Literatur<br />
mit eingeschränkter<br />
Zitierfähigkeit wie<br />
Dissertationen, sonstige<br />
Unterlagen dieses oder eines<br />
anderen Herstellers<br />
● Bücher<br />
● Expertenmeinungen<br />
● usw.<br />
Die Hersteller müssen ihre Auditoren überzeugen,<br />
dass ihre (Literatur-)Suche vollständig<br />
war. Das wird nur gelingen, wenn<br />
die Suchstrategie mit der Liste durchsuchter<br />
Quellen, mit Suchbegriffen und deren logischen<br />
Verknüpfungen und Ausschlusskriterien<br />
für offensichtlich irrelevante Treffer<br />
nachvollziehbar dokumentiert sind.<br />
Aber auch die beste und am besten dokumentierte<br />
Suche kann zum Ergebnis führen,<br />
dass klinische Daten nicht in ausreichender<br />
Menge vorhanden sind, um die beiden<br />
oben genannten Fragen zur Erfüllung der<br />
Zweckbestimmung und zu den Nebenwirkungen<br />
zu beantworten. Das ist für den Hersteller<br />
eine unangenehme Situation: Er muss<br />
klinische Daten selbst erheben – im Rahmen<br />
einer (aufwendigen) klinischen Prüfung. Abbildung<br />
2 gibt einen Überblick.<br />
Wir diskutieren im Folgenden nur die Erhebung<br />
klinischer Daten durch eine Literaturrecherche.<br />
Bewerten klinischer Daten<br />
Das Ergebnis der initialen Suche besteht<br />
aus einer Liste der gefundenen Quellen. Die<br />
Hersteller müssen die Informationen auf<br />
drei Aspekte hin bewerten:
Wie funktioniert eigentlich ...<br />
Ausgabe 6/2012<br />
Abbildung 2: klinische Daten selbst erheben – im Rahmen<br />
einer (aufwendigen) klinischen Prüfung.<br />
1. Sind sie überhaupt relevant für das zu<br />
bewertende <strong>Medizin</strong>produkt? Sind sie<br />
mit einem ausreichend äquivalenten<br />
Produkt erhoben worden?<br />
2. Sind sie ausreichend evident?<br />
3. Sind die Ergebnisse statistisch relevant?<br />
Zu allen Punkten noch Anmerkungen:<br />
Die MEDDEV 2.7.1., das ist ein Dokument<br />
der EU, das sich an Hersteller und benannte<br />
Stellen wendet, versteht zwei Produkte dann<br />
als äquivalent, wenn sie sowohl klinisch,<br />
technisch als auch biologisch äquivalent sind.<br />
<strong>Klinische</strong> Äquivalenz wiederum kann angenommen<br />
werden, wenn das Produkt<br />
● für den gleichen oder einen ähnlichen<br />
Zweck,<br />
● bei einer gleichen oder ähnlichen Population,<br />
● an der gleichen oder einer ähnlichen anatomischen<br />
Position,<br />
● unter gleichen oder ähnlichen Umständen<br />
und<br />
● von den gleichen oder ähnlichen Anwendern<br />
eingesetzt wird.<br />
Zur technischen Äquivalenz zählen u.a.<br />
das physikalische Prinzip und die Materialeigenschaften.<br />
Die biologische Äquivalenz<br />
dürfte für Software nicht von Belang sein.<br />
Der zweite Aspekt, die Evidenz, hat etwas<br />
mit der Glaubwürdigkeit der Quelle zu<br />
tun. Die Expertenmeinung steht ebenso wie<br />
ein Buch auf der untersten Ebene der<br />
„Glaubwürdigkeitsskala“. Auf den oberen<br />
Ebenen finden sich randomisierte, doppelverblindete,<br />
prospektive, multizentrische internationale<br />
Studien an großen vergleichbaren<br />
Populationen. Erst im letzten<br />
<strong>Bewertung</strong>sschritt geht es darum, was die<br />
(möglichst hochwertigen) Studien<br />
aussagen, ob sie den Nutzen belegen<br />
oder eben nicht, ob (unerwartete)<br />
Nebenwirkungen auftreten<br />
oder eben nicht. Wie Sie<br />
sehen, ist die klinische <strong>Bewertung</strong><br />
anhand Literaturdaten ein aufwendiger<br />
Prozess, der für einen<br />
Hersteller gerne zwei bis drei<br />
Wochen an Aufwand bedeutet.<br />
<strong>Klinische</strong> <strong>Bewertung</strong><br />
von Software<br />
Wie lassen sich diese Forderungen<br />
nun auf Software, speziell<br />
Stand-alone-Software wie PDMS übertragen?<br />
Wie lässt sich beispielsweise die Äquivalenz<br />
nachweisen? Was sind geeignete<br />
Suchbegriffe? Wie jede klinische <strong>Bewertung</strong><br />
beginnt auch die von stand-alone Software mit<br />
der Literatursuche. Dabei sollten Sie Suchbegriffe<br />
aus folgenden Themengebieten nutzen:<br />
1. Begriffe, die mit Software, dem verwendeten<br />
Betriebssystem, der Datenbank,<br />
Middleware und der zugrundeliegenden<br />
Hardware ganz allgemein zu<br />
tun haben. Bei einer SmartPhone-App<br />
könnten das Begriffe wie iPhone, iOS,<br />
SmartPhone, Android, mobile Phone,<br />
Appcelerator oder Tablet sein.<br />
2. Da Sie auch nach Risiken suchen, sind<br />
Ihnen Suchbegriffe hilfreich wie Computer,<br />
Computer-Virus, Malware, Hack,<br />
Vertraulichkeit, Datenschutz, Verfügbarkeit,<br />
Exploit, Sabotage und deren<br />
englische Übersetzungen.<br />
3. Ihre Software wurde deshalb zum <strong>Medizin</strong>produkt,<br />
weil sie Einfluss auf die Diagnose,<br />
Therapie oder Überwachung<br />
nimmt. Weitere produktspezifische Begriffe<br />
können Sie daher aus der Zweckbestimmung<br />
ableiten. Für eine Software zur Berechnung<br />
von Anästhetika für Kinder<br />
könnten das folgende Suchbegriffe sein:<br />
Anästhesie, Narkose, Operation, Schmerz,<br />
Medikamente (hier ggf. die Wirkstoffe<br />
oder Wirkstoffklassen), Dosisberechnung,<br />
Kind(er), Pädiatrie, Neugeborene usw. usw.<br />
Die Äquivalenz des Produkts umfasst für unser<br />
Beispiel einer Software zur Dosisberechnung<br />
von Anästhetika bei Kindern vor allem<br />
● die Algorithmen,<br />
● die Plattform, beispielsweise das iOS und<br />
das zugehörige SmartPhone,<br />
● die Population und<br />
● die Anwender (z.B. Anästhesisten) und<br />
Anwendungsbedingungen (z.B. im OP).<br />
Typische Fallen<br />
Oft beobachte ich in Audits oder bei der<br />
Vorbereitung, dass die Hersteller die klinische<br />
<strong>Bewertung</strong> völlig unterschätzen und<br />
im Rahmen der Risikoanalyse nur wenige<br />
Quellen nennen. Selbstverständlich Quellen,<br />
die den Nutzen des Produkts belegen. Wenn<br />
wir uns dann auf eine systematische Suche<br />
begeben, fällt auf, wie unvollständig und<br />
einseitig diese Auswahl ist. Man fürchtet<br />
sich davor, dass Ergebnisse den Schluss nahelegen,<br />
das Produkt lieber nicht – zumindest<br />
nicht in der gegenwärtigen Form – zu<br />
vermarkten. Diese Furcht, vielleicht ein wenig<br />
gepaart mit mangelnder Bereitschaft für<br />
eine systematische Untersuchung, führt dann<br />
zu folgenden typischen Abweichungen:<br />
● Die Suche ist unvollständig. Es kann nicht<br />
plausibel gemacht werden, weshalb die<br />
durchsuchten Quellen ausreichend und<br />
die Suchbegriffe geeignet sind, um die relevante<br />
Literatur zu finden. Relevant sind<br />
Quellen, wenn Sie Aussagen zu Nutzen<br />
und zu Risiken des Produkts machen.<br />
● Die Suche ist nicht ausreichend nachvollziehbar<br />
dokumentiert. Ausschlüsse erfolgen<br />
nicht nach klaren Kriterien.<br />
● Die Äquivalenz der Vergleichsprodukte und<br />
die Evidenz der Quellen diskutieren die Hersteller<br />
nicht adäquat, was zu einer ungeeigneten<br />
Gewichtung der Quellen führt.<br />
● Die abschließende <strong>Bewertung</strong> deckt sich<br />
nicht mit den Aussagen der Literatur, ist<br />
insbesondere tendenziös.<br />
Die Betreiber<br />
Gibt es auch Forderungen in Bezug auf die<br />
klinische <strong>Bewertung</strong>, die die Betreiber betreffen?<br />
Die (vor-)schnelle Antwort lautet<br />
„nein“. Die klinische <strong>Bewertung</strong> liegt alleine<br />
im Verantwortungsbereich des Herstellers.<br />
Die Betreiber sind – ganz im Sinn einer IEC<br />
80001 – jedoch verpflichtet, ein Risikomanagement<br />
für ihre medizinischen IT-Netzwerke<br />
zu betreiben. Woher können diese<br />
Informationen stammen, um die Risiken<br />
abschätzen zu können? Sie werden es ahnen:<br />
Letztlich aus der klinischen <strong>Bewertung</strong>.<br />
Die Betreiber sind also indirekt betroffen.<br />
Wenn mein Telefon das nächste Mal klingelt,<br />
wird daher wahrscheinlich wieder ein<br />
Hersteller am anderen Ende sein, zumindest<br />
wenn es um die klinische <strong>Bewertung</strong> geht.<br />
Ich freue mich jedenfalls darauf, denn bei<br />
diesem Thema kommen Technologie, Risikomanagement<br />
und <strong>Medizin</strong> zusammen wie bei<br />
kaum einem anderen.<br />
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