fließende' Rede und der ‚gefrorene' Text. Metaphern ... - metaphorik.de
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„daz si ez alle muosen lesen<br />
die gotes chint wellen wesen,<br />
unt ouch mugen schouwen<br />
laien <strong>und</strong>e frouwen,<br />
smecken <strong>und</strong> ergr<strong>und</strong>en<br />
von <strong>de</strong>m frônen chin<strong>de</strong>“<br />
(Pr. W., v. 141 ff.)[21]<br />
daß alle, die Gottes Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n wollen, Laien <strong>und</strong> auch Frauen, lesen<br />
(hören) mögen <strong>und</strong> schauen, schmecken <strong>und</strong> ergrün<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Sohn.<br />
Die Metaphorik <strong><strong>de</strong>r</strong> Einspeisung <strong>und</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gabe geistlicher Worte korrespondiert mit<br />
<strong>de</strong>n <strong>Metaphern</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung. Als Vorgang <strong><strong>de</strong>r</strong> Meditation war das Lesen geistlicher<br />
<strong>Text</strong>e zugleich ein Akt <strong><strong>de</strong>r</strong> ‚ruminatio‘, ein körperlicher, motorisch gestützter Prozeß<br />
<strong>de</strong>s Memorierens, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrnehmungen reaktivierte <strong>und</strong> vertiefte. ‚Ruminatio‘ als<br />
Terminus, <strong><strong>de</strong>r</strong> primär die Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Nahrungsaufnahme <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verdauung von<br />
Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>käuern kennzeichnet, besetzt im großen Feld <strong><strong>de</strong>r</strong> Speise<strong>metaphorik</strong> <strong>de</strong>n<br />
Aspekt <strong><strong>de</strong>r</strong> mentalen Betrachtung <strong>und</strong> Verarbeitung <strong>de</strong>s geistlichen <strong>und</strong> weltlichen<br />
Wortes.<br />
Augustinus bezeichnet das Gedächtnis als Magen <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele (‚venter memoriae‘), in<br />
<strong>de</strong>m die geistlichen Worte verarbeitet wer<strong>de</strong>n müssen, damit sie ihren Geschmack<br />
vollständig entfalten, <strong>und</strong> schon Quintilian (30-96 n. Chr.) sieht die Vorzüge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Lektüre gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> wörtlichen <strong>Re<strong>de</strong></strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>s Zurückgreifens, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holung, <strong>de</strong>s sorgfältigen Auskostens <strong>und</strong> Einverleibens:<br />
„lectio libera est nec actionis impetu transcurrit, sed repetere saepius licet,<br />
sive dubites sive memoriae penitus adfigere velis. repetamus autem et<br />
tractemus et, ut cibos mansos ac prope liquefactos <strong>de</strong>mittimus, quo<br />
facilius digerantur, ita lectio non cruda, sed multa iteratione mollita et velut<br />
confecta memoriae imitationique tradatur.“[22]<br />
(Die Lektüre ist unabhängig <strong>und</strong> läuft nicht mit <strong>de</strong>m Ungestüm <strong><strong>de</strong>r</strong> vorgetragenen<br />
<strong>Re<strong>de</strong></strong> ab, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sie kann immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurückgreifen, falls man Zweifel hat o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
man es <strong>de</strong>m Gedächtnis fest einprägen will. Zurückgreifen aber wollen wir <strong>und</strong><br />
gr<strong>und</strong>sätzlich es immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> neu vornehmen, <strong>und</strong> wie wir die Speisen zerkaut <strong>und</strong><br />
fast flüssig hinunterschlucken, damit sie leichter verdaut wer<strong>de</strong>n, so soll unsere<br />
Lektüre nicht roh, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n durch vieles Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen mürbe <strong>und</strong> gleichsam<br />
zerkleinert unserem Gedächtnis <strong>und</strong> Vorrat an Mustern (zur Nachahmung) einverleibt<br />
wer<strong>de</strong>n.)<br />
Es könnte durchaus sein, daß Quintilian sich bereits auf die allegorische Auslegung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> mosaischen Speisegesetze stützt, wie sie im Brief <strong>de</strong>s Pseudoaristeas (um 125<br />
v. Chr.) bezeugt wird. Die Bestimmung, man dürfe nur die Tiere essen, die<br />
gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind <strong>und</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>käuen (Lv. 11,3), wird<br />
ausdrücklich auf die Memoria bezogen: