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lesen... - Oberhessischer Geschichtsverein Gießen eV

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übertragbar seien. Errichtet wurde um 75<br />

nach Christus zunächst ein Kastell auf<br />

einer hochwasserfreien Sanddüne, an<br />

dessen Bau sich unmittelbar der eines<br />

Lagerdorfes („vicus“) anschloss. Verkehrsgünstig<br />

am damals noch befahrbaren<br />

Altneckar und der Straße zwischen<br />

der Provinzhauptstadt Mainz und Frankfurt-Nida<br />

gelegen, handelte es sich bei<br />

einer Fläche von 20 Hektar um eine der<br />

größten unüberbauten Siedlungen dieser<br />

Zeit in Deutschland.<br />

Gegraben wurde von der Frankfurter<br />

Universität 1997 bis 2000 in mehreren<br />

Kampagnen. Erste Grabungen des Landesamts<br />

für Denkmalpflege fanden 1989<br />

bis 1992 statt. Wenzel hob hervor, dass<br />

von der Gesamtfläche gerade zwei Hektar<br />

untersucht wurden, was trotzdem „ungewöhnlich<br />

viel“ sei. Das unter Vespasian<br />

errichtete Holz-Erde-Lager wurde unter<br />

Domitian um 90 nach Christus in Stein<br />

ausgebaut, geräumt wurde das Lager um<br />

115/120, vermutlich durch Verlegung an<br />

den Odenwald-Limes. Die Anlage des<br />

Lagerdorfes begann mit dem Ausmessen<br />

der Fläche und dem Abstecken von<br />

Straßen durch die Armee, auch die Parzellierung<br />

für Wohnbauten erfolgte nach<br />

bekanntem Schema. Dem entspricht auch<br />

die Anlage des Gräberfeldes, das in 98<br />

Prozent der Fälle außerhalb der Siedlungsgrenzen<br />

angelegt wurde. In der<br />

Frühphase wurden zweimal zwei Parzellen<br />

zusammengefasst, die nach ihrer<br />

Anlage als Streifenhäuser bezeichneten<br />

Wohngebäude waren in der Frühzeit wie<br />

bei den Kelten Fachwerkbauten, allerdings<br />

nach mediterraner Art zur Straße<br />

ausgerichtet. Wenzel legte anhand der<br />

Entwicklung des Lagers dar, dass von der<br />

Existenz eines Grundbuchs ausgegangen<br />

werden könne.<br />

Der Nachweis vieler holzverschalter<br />

Gruben könne sowohl auf Vorratslager<br />

als auch auf Latrinen hinweisen. Schlimm<br />

muss es nach unseren Vorstellungen um<br />

die Hygiene bestellt gewesen sein, denn<br />

Hausmüll und Nahrungsreste wie Tierknochen<br />

wurden im Brunnen entsorgt,<br />

die besonders fetten Fische aus den Abwassergräben<br />

gern verzehrt. Keineswegs<br />

sei die römische Kultur „eine Welt voller<br />

WCs mit Wasserspülungen“ gewesen.<br />

Vom Vorhandensein einer mediterranen<br />

Badekultur zeuge die Existenz eines<br />

Bades. Hier wurde 30 Jahre nach Räumung<br />

des Bades privat gebaut, wobei<br />

auch dies klar geregelt war und die These<br />

vom Grundbuch bestätigt.<br />

Nach dem Ende der römischen<br />

Siedlung um 260/70 herrschten 30 Jahre<br />

Ruhe, danach siedelten Germanen, wohl<br />

Alemannen (etwa 310 bis 350). So entstand<br />

auch hier eine Mischbevölkerung<br />

römischer, keltischer und germanischer<br />

Menschen wie im gesamten Nordwesten<br />

des Reiches.<br />

Faszinierend auch die Ergebnisse, die<br />

von den seit Grabungsbeginn mit einbezogenen<br />

Archäozoologen und -botanikern,<br />

deren Arbeit „weit mehr als nur<br />

Knochen zählen“ bedeutete. Am Ende<br />

der Ausführungen entstand tatsächlich<br />

ein aufschlussreiches Bild der Menschen<br />

dieser Zeit. Diese hatten durchaus Probleme<br />

wie wir heute auch, wie die Geschichte<br />

vom Fluchtäfelchen eines geprellten<br />

Liebhabers, der an seiner Ex-<br />

Geliebten Priscilla kein gutes Haar lässt,<br />

beweist.<br />

Hans-Wolfgang Steffek (hw); erschienen am 30.<br />

Jan. 2010 in der Gießener Allgemeinen Zeitung<br />

Dokument tiefer Freundschaft<br />

Im <strong>Geschichtsverein</strong> sprach Ulrike Enke über Robert Sommers Wanderbuch<br />

Mit einem Vortrag von Dr. Ulrike Enke des Winterhalbjahres 2009/10 ab. Für<br />

schloss der Oberhessische <strong>Geschichtsverein</strong><br />

am Mittwochabend im Netanya- Felschow die Besucher und die vielen<br />

den Vorstand begrüßte Dr. Eva-Marie<br />

Saal des Alten Schlosses die Vortragsreihe bereits von früheren Vorträgen bekannte<br />

Referentin Dr. Ulrike Enke. Sie teilte dem<br />

Publikum mit, dass sich Enke derzeit an<br />

der benachbarten Universität Marburg<br />

mit der Auswertung des Nachlasses von<br />

Nobelpreisträger Emil von Behring befasst.<br />

Für diesen Abend habe sie das<br />

Wanderbuch des Gießener Psychiatrieprofessors<br />

Robert Sommer ausgewertet<br />

und werde es in einer Power-Point-Präsentation<br />

vorstellen. Die Abbildung zeigt<br />

eine Wandergruppe aus dem Buch, das<br />

im Universitätsarchiv aufbewahrt wird.<br />

Enke verwies zunächst darauf, dass<br />

der 1864 geborene Sommer von 1896 bis<br />

1934 den Lehrstuhl für Psychiatrie an der<br />

Justus-Liebig-Universität innehatte und<br />

zudem von 1911 bis 1922 Mitglied des<br />

Stadtparlaments war. Er habe nicht zuletzt<br />

durch die Initiative für das Liebig-<br />

Museum die Stadtgeschichte mitgestaltet,<br />

während seine für das Militär gedachte<br />

Erfindung der Wasserschuhe eher ins<br />

Reich der Kuriositäten gehöre. Sommer<br />

habe als „herzensgut“ gegolten, habe viel<br />

auf sein Äußeres gehalten und sei von<br />

seinen Studenten als väterlicher Freund<br />

und guter Kamerad geschätzt worden.<br />

Sein kleines, in gemustertem Stoff gefasstes<br />

Wanderbuch belege Aktivitäten<br />

vom 1. Januar 1909 bis zum 26. Juli 1919<br />

und dokumentiere mit zahlreichen Dingen<br />

wie Teilnehmerlisten, Postkarten,<br />

Informationen über Proviant, Getränke,<br />

Einkehrstätten oder Fahrplänen Freizeitaktivitäten<br />

der hiesigen Professorenschaft<br />

in der Zeit vor und während des Ersten<br />

Weltkriegs. Nicht zuletzt aber sei dieses<br />

Wanderbuch ein Dokument tiefer<br />

Freundschaft der Mitglieder des Wanderbundes.<br />

Enke hob zudem hervor, dass den<br />

Frauen eine bedeutende Rolle zukam: Sie<br />

könnten als Initiatoren dieser Gemeinschaft<br />

gelten und seien bei den Aktivitäten<br />

meist in der Überzahl gewesen. Unter<br />

den Mitgliedern befanden sich nicht nur<br />

Mediziner mit ihren Frauen, sondern<br />

auch Vertreter verschiedener anderer<br />

Fachrichtungen. Da viele der Professorenfrauen<br />

von weit her stammten, konnte<br />

über die Gemeinschaft beim Wandern<br />

auch eine gewisse Integration erreicht<br />

werden. Das Wanderbuch biete mit seiner<br />

Materialfülle eine reizvolle Quelle für<br />

verschiedene historische Fachrichtungen<br />

wie etwa Wissenschafts-, Lokal-, Zeit-,<br />

Alters-, Erinnerungs- oder Medizinhistoriker,<br />

aber auch für Literaturwissenschaftler<br />

oder Freunde zeitgenössischen<br />

Fotomaterials.<br />

Die Wanderungen selbst führten<br />

meist zu Zielen in der näheren Umgebung,<br />

wobei Sommer eine besondere<br />

Liebe zum Limes gezeigt habe, die sich an<br />

dem von ihm bei Grüningen gesetzten<br />

Limesstein heute noch dokumentiere.<br />

Wanderungen führten auch zum Schiffenberg,<br />

wo Sommer im „Läuszipfel“ eine<br />

Waldhütte hatte, nach Ehringshausen und<br />

Greifenstein, zur Dianaburg, in die Rabenau<br />

oder nach Friedberg und zur Saalburg.<br />

Größere Fahrten wurden zur Wartburg<br />

und zum Rennsteig, in den Frankfurter<br />

Zoo oder ins Waldecker Land<br />

unternommen. Der Weltkrieg brachte<br />

gerade den Medizinern der Gemeinschaft<br />

unendlich viel Arbeit, führte aber trotzdem<br />

nicht zur Einstellung der Aktivitäten.<br />

Nach Luthers Lied „Ein feste Burg“<br />

verfasste Sommer sogar patriotische Lyrik<br />

nach dem Motto „Frisch auf zu kühnen<br />

Taten“.<br />

Gelegenheitslyrik ist im Wanderbuch<br />

recht oft vertreten, nicht zuletzt beim<br />

Blick vom Gleiberg auf das „holde Nest<br />

Gießen“, wie überhaupt der Stil der Aufzeichnungen<br />

mal ausgelassen-heiter, mal<br />

wehmütig-heimatverbunden ist. Auf<br />

jeden Fall sei Sommer zu Recht als der<br />

„poetische Psychiater“ eingestuft worden,<br />

der die Erkenntnisse seiner „Psycho-<br />

Hygiene“ auch bei den Eigenaktivitäten<br />

berücksichtigt habe. Mehr als 170 Treffen<br />

in zehn Jahren zeigten, dass der Wanderbund<br />

vor allem auch ein fester Freundschaftsbund<br />

gewesen sei.<br />

306<br />

MOHG 95 (2010)<br />

MOHG 95 (2010) 307

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