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oora eBook 42

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12. Jahrgang • 4/2011 • Nr. <strong>42</strong> (Dezember)<br />

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THE RACE heißt jetzt <strong>oora</strong><br />

und erscheint viermal pro Jahr<br />

Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken<br />

Anfang<br />

Es geht los<br />

Startup-Power im Doppelpack<br />

Interview mit Claudia Hoppe und Claudia Pelz<br />

Seite 4<br />

Ein magisches Gebet<br />

Ist das Übergabegebet biblisch?<br />

Seite 19<br />

Kann ein Kind denn Sünde sein?<br />

Wenn der Anfang eines Lebens aus Ehebruch entsteht<br />

Seite 12


Urlaub 2012<br />

Rund 250 Freizeiten<br />

<strong>42</strong><br />

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Inhalt<br />

Editorial<br />

<strong>oora</strong><br />

Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind, gibt es<br />

als Audioversion in iTunes und auf www.<strong>oora</strong>.de/audio.<br />

Schwerpunkt: Anfang<br />

Flitterwochen<br />

4 Startup-Power im Doppelpack<br />

Interview mit Claudia Hoppe und Claudia Pelz<br />

Interview: Johanna WeiSS<br />

8 Im Rhythmus<br />

Das Kirchenjahr – ein verborgener Schatz<br />

Sandra Bils<br />

12 Kann ein Kind denn Sünde sein?<br />

Wenn der Anfang eines Lebens aus Ehebruch<br />

entsteht<br />

Anneke Reinecker<br />

15 Anfang<br />

Lyrik: Daniel Sailer<br />

16 Ohne Anfang und Ende<br />

Zeit als geschaffenes Element begreifen<br />

Robert Pelzer<br />

19 Ein magisches Gebet<br />

Ist das Übergabegebet biblisch?<br />

Jim Gettmann<br />

24 Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne<br />

Unter der Oberfläche<br />

Kolumne: Linda Zimmermann<br />

Details<br />

21 Impressum<br />

22 <strong>oora</strong> braucht dich<br />

Geschenkabo + Fehlerkorrektur<br />

23 Buchrezensionen<br />

Covermotiv: Das künstlerische Motiv auf den Covern dieses<br />

Flipover-Heftes stammt aus den Händen unseres Grafikers<br />

Johannes Schermuly. Es stellt die Lebenswege dar, die wir<br />

Menschen gehen. Umwege, Sackgassen und Wachstumsphasen.<br />

Unsere Wege kreuzen sich dabei unaufhörlich<br />

mit denen anderer Menschen.<br />

// Zieht jemand für einen längeren Zeitraum in ein anderes Land,<br />

so erlebt er dort oft eine emotionale Achterbahnfahrt. Zunächst<br />

ist man von allem fasziniert: Das Essen schmeckt exotisch anders,<br />

der Verkehr ist möglicherweise chaotisch und funktioniert<br />

trotzdem irgendwie und die Menschen haben einen ganz anderen<br />

Lebensrhythmus. Spannend! Doch schon bald – meist nach<br />

etwa drei Monaten – geht einem dieses »andere« zunehmend auf<br />

die Nerven und man fällt in ein Loch. Jetzt bemerkt man, was<br />

einem alles nicht gefällt und es treten alle möglichen Probleme<br />

auf, die damit zu tun haben, dass alles so unglaublich anders<br />

ist. Dieses Phänomen bezeichnet man als »Kulturschock«. Doch<br />

nach einigen Monaten erholt man sich von dieser Krise und beginnt,<br />

die von der Heimatkultur abweichenden Handlungsweisen<br />

zu verstehen und zu akzeptieren. Schließlich folgt die Phase<br />

der Anpassung, in der man sich in die Kultur integriert und anfängt<br />

sich in ihr Zuhause zu fühlen.<br />

Das Wissen um diese Dynamik kann dabei helfen, die zauberhafte<br />

mit »Honeymoonphase« bezeichnete Anfangszeit so richtig<br />

auszukosten. Denn Neues zu entdecken macht lebendig und so<br />

lohnt es sich, Augen, Ohren und Herz zu öffnen und das Neue,<br />

Andere zu umarmen. Ist man dann nach einem langen Tag in<br />

der neuen Kultur einmal reizüberflutet und genervt, so hilft es,<br />

sich erstmal zurückzuziehen und das Erlebte zu verarbeiten. So<br />

kann die Euphorie der Anfangsphase möglichst lange anhalten.<br />

Über diesen Zauber des Anfangs schreibt auch unsere Kolumnistin<br />

Linda auf Seite 24. Sie liebt Neuanfänge und inspiriert<br />

dazu, unbeschriebene Seiten im eigenen Lebensbuch munter zu<br />

gestalten. Auch die Lyrik auf Seite 15 trägt diese Gedanken in<br />

sich. Man lese und staune.<br />

Viele wertvolle Inspirationen beim Lesen wünscht dir<br />

Dein <strong>oora</strong> Redaktionsteam<br />

<strong>oora</strong>.de 3


iszeit<br />

Anfang | Im Rythmus<br />

ewigkeitssonntag<br />

bu - und bettag<br />

reformationsfest<br />

itat<br />

trin<br />

michaelistag<br />

erntedank<br />

sonntage nach<br />

trinitatis<br />

adventszeit<br />

weihnachtskreis<br />

weihnachten<br />

epiphanias<br />

epiphaniaszeit<br />

letzter sonntag nach epiphanias<br />

sonntage vor der<br />

passionszeit<br />

passionszeit<br />

johannis<br />

trinitatis<br />

pf ingsten<br />

himmelfahrt<br />

sterliche<br />

freudenzeit<br />

gr ndonnerstag<br />

karfreitag<br />

ostern<br />

osterkreis<br />

Der evangelische Jahreskreis beginnt mit dem 1. Advent.<br />

8 <strong>oora</strong> 04/11


Im Rythmus | Anfang<br />

Im Rhythmus<br />

Das Kirchenjahr – ein verborgener Schatz<br />

Text: Sandra Bils<br />

Für freikirchliche Christen ist das Kirchenjahr meistens<br />

entweder unbekannt oder unwichtig. Dabei steckt dieser<br />

gottesdienstliche Jahresrhythmus voller Kostbarkeiten.<br />

// Ein beruflich viel beschäftigter Mann erzählte mir diese Woche<br />

von einer Rehamaßnahme, der er sich nach einer Operation<br />

unterziehen musste. Als ich ihn nach der Gestaltung dieser<br />

Auszeit fragte, antwortete er, dass das Schönste nicht die arbeitsfreie<br />

Zeit an sich war, die ihm auf einmal im Überfluss zur<br />

Verfügung stand, sondern die Strukturierung dieser Zeit. Die<br />

festgelegten Tagesabläufe, die für ihn durch die geregelte Abfolge<br />

der Behandlungen und Massagen entstand. »Zu wissen,<br />

wann man was am sinnvollsten machen kann, war enorm entlastend.<br />

Darin lag die größte Stärkung«, sagte er noch immer<br />

sichtlich begeistert.<br />

Rhythmen des Lebens<br />

Vorgeschrieben zu bekommen, was wann zu tun ist, gehört in<br />

unserer individualisierten Zeit nicht zu unseren vordergründigen<br />

Wunschvorstellungen. Andererseits sind wir von Rhythmen<br />

des Lebens umgeben und mitunter auch sehr dankbar dafür.<br />

Rhythmen geben unserem Alltag Struktur und verhindern, dass<br />

wir in ewiger Gleichförmigkeit verloren gehen. Unserem Zeitempfinden<br />

ab und an ein paar Ankerpunkte zu liefern, hilft, das<br />

Gleichgewicht zwischen creatio und recreatio herzustellen. Und<br />

vor allem: im Hamsterrad des Alltags die wirklich wichtigen<br />

Dinge nicht aus dem Blick zu verlieren.<br />

Räume sind wahrzunehmen zwischen den Schlägen unseres<br />

Herzens, zwischen zwei Atemzügen, Rhythmen von Wachen<br />

und Schlafen, von Hungergefühl und Sättigung. Neben diesen<br />

biologischen Rhythmen sind wir auch von kosmischen Rhythmen<br />

umgeben: Helligkeit und Dunkelheit, Tag und Nacht, Ebbe<br />

und Flut und natürlich dem Wechsel der Jahreszeiten.<br />

Die Zeiterfahrung in der Wahrnehmung kosmischer sowie biologischen<br />

Rhythmen führte schon früh zur Entwicklung von<br />

Traditionen und Brauchtum. Eng an das Naturjahr gekoppelt<br />

entstanden Feste, um die hervorgehobenen Ankerpunkte im<br />

Alltag zu begehen und zu feiern.<br />

Jüdische Wurzeln<br />

Im frühen Israel wurden diese Feste im Naturjahr mit der Heilsgeschichte<br />

Israels verbunden. So wurde sichergestellt, dass eben<br />

diese Heilsgeschichte dem Volk Israel alljährlich vor Augen<br />

stand. Diese »Vergeschichtlichung« bildete die Basis für das, was<br />

wir heute Kirchenjahr nennen.<br />

An zwei Stellen berührt das christliche Festjahr eng den jüdischen<br />

Festkalender, auf dem es gründet: Das jüdische Passafest,<br />

durch neutestamentliche Deutungen ohnehin eng mit Tod und<br />

Auferstehung Jesu verbunden, wurde zum Ansatzpunkt des<br />

christlichen Osterfestes. Das sieben Wochen später stattfindende<br />

jüdische Wochenfest wurde, verknüpft mit der Sendung des<br />

Heiligen Geistes und der Gründung der ersten Gemeinde, zum<br />

Hintergrund für das christliche Pfingstfest.<br />

Unserem Zeitempfinden ab und an<br />

ein paar Ankerpunkte zu liefern,<br />

hilft, das Gleichgewicht zwischen<br />

creatio und recreatio herzustellen.<br />

In Anlehnung an den jüdischen Sabbat hat sich im Christentum<br />

der Sonntag als Versammlungstag herausgebildet, der den Akzent<br />

auf die Gemeinschaft legt. Über die Jahrhunderte wurden<br />

die einzelnen Sonntage und herausragenden Feiertage im Jahr<br />

dann in eine feste Abfolge gebracht – das Kirchenjahr, wie wir<br />

es heute kennen. Ähnlich den Jahreszeiten Frühling, Sommer,<br />

Herbst und Winter bietet das Kirchenjahr einen Rahmen, der<br />

sicherstellt, dass alle wichtigen heilsgeschichtlichen Elemente<br />

jedes Jahr ihren Platz finden.<br />

Kirchenjahreskreis<br />

Da wohlmöglich nicht jeder in gleicher Weise mit dem Kirchenjahr<br />

vertraut ist, stelle ich nun einmal die wichtigsten Elemente<br />

<strong>oora</strong>.de 9


Anfang | Im Rythmus<br />

trinitatis<br />

passionszeit<br />

Ähnlich den Jahreszeiten<br />

Frühling, Sommer, Herbst und Winter<br />

bietet das Kirchenjahr einen Rahmen,<br />

johannis<br />

trinitatis<br />

pf ingsten<br />

der sicherstellt, dass alle wichtigen heilsgeschichtlichen Elemente<br />

jedes Jahr ihren Platz finden.<br />

himmelfahrt<br />

sterliche<br />

freudenzeit<br />

gr ndonnerstag<br />

karfreitag<br />

ostern<br />

reis<br />

Innerevangelisch-ökumenische Perspektiven<br />

Im Hinblick auf das Kirchenjahr aus freikirchlicher Perspektive<br />

könnte nun gefragt werden, ob jene kirchenjahreszeitlich geprägten<br />

Ordnungen ein zu enges und beschränkendes Korsett<br />

darstellen. Ob sie die Verkündigung einengen und zu wenig<br />

Raum für das Wirken des Geistes und das Eingehen auf aktuvor.<br />

Seinen Anfang nimmt das Kirchenjahr mit der Adventszeit<br />

und dem ersten Adventssonntag, als Vorbereitung auf das Zur-<br />

Welt-Kommen Gottes an Weihnachten in der Ankunft Jesu. Die<br />

Adventszeit geht am Heiligen Abend, dem Vorabend zum eigentlichen<br />

Festtag am 25. Dezember, in die Weihnachtszeit über.<br />

Die Menschwerdung Gottes steht im Mittelpunkt. In der darauf<br />

folgenden Epiphaniaszeit (epiphaínein, griech. erscheinen) steht<br />

die Erscheinung und Göttlichkeit Jesu im Vordergrund.<br />

Der daran anschließende Osterfestkreis bildet das Herzstück<br />

des Kirchenjahres. Er beginnt am Aschermittwoch mit der<br />

40-tägigen Fasten- bzw. Passionszeit, in der dem Leiden und<br />

Sterben Jesu gedacht wird, und findet den Höhepunkt in der<br />

Osterwoche mit Gründonnerstag als Erinnerungstag an die<br />

Einsetzung des Abendmahls, Karfreitag in Gedenken an den<br />

Tod Jesu am Kreuz sowie Ostersonntag als Jubeltag der Auferstehung<br />

Jesu. Die Osterzeit erstreckt sich bis in die Feier von<br />

Himmelfahrt als Abschiedsfest der Jünger von Jesus vierzig<br />

Tage nach seiner Auferstehung sowie Pfingsten, dem die Ausgießung<br />

des Heiligen Geistes und die Gründung der ersten Gemeinde<br />

zugrunde liegt.<br />

Nun beginnt die Trinitatiszeit, in der die Dreieinigkeit Gottes<br />

gefeiert wird (trinitas, lat. Dreifaltigkeit). Die Trinitatiszeit erstreckt<br />

sich über die gesamten Sommermonate und mündet im<br />

Herbst in das Ende des Kirchenjahres mit der Feier des Erntedankfestes,<br />

des Reformationsfestes (Erinnerung an den Thesenanschlag<br />

Luthers und die damit begründete Reformation), des<br />

Buß- und Bettages, des Volkstrauertages (Gedenken an die in<br />

Kriegen Verstorbenen) sowie des Ewigkeitssonntages (Gedenktag<br />

der Verstorbenen) als Abschluss des Kirchenjahres.<br />

Die liturgische Ausgestaltung des Gottesdienstes<br />

Dieser Kirchenjahreskreis wird sowohl in der katholischen Kirche<br />

als auch in den evangelischen Landeskirchen in den Gottesdiensten<br />

liturgisch gestaltet. Im 19. Jahrhundert fanden in<br />

den amtlichen Agenden, den »Drehbüchern« der Gottesdienste<br />

dieser Landeskirchen, erstmals kirchenjahreszeitlich geprägte<br />

Vorschläge Einzug. So wurde den stets gleichbleibenden Teilen<br />

des Gottesdienstes, dem sogenannten Ordinarium (lat. das Wiederkehrende),<br />

ein spezifisches Proprium (lat. das Wesentliche)<br />

zugeordnet und dadurch jedem einzelnen Gottesdienst ein individuelles<br />

Gepräge gegeben.<br />

Die Profilierung eines Sonn- und Festtages geschieht konkret<br />

durch die Ausgestaltung der Proprien und darin zuallererst<br />

durch die Auswahl der Schriftlesungen. Von der bisherigen Praxis<br />

der Bahnlesungen (fortlaufende Lesungen) wurde damals<br />

abgewichen, hin zu einer Auswahl eines biblischen Textes mit<br />

Festtagsbezug. Seit 1978 schließlich haben die gottesdienstlichen<br />

Bibelleseausgaben stärkere inhaltliche Zusammenhänge.<br />

Ausgehend vom Evangeliumstext wurden eine inhaltlich dazu<br />

passende Lesung aus den neutestamentlichen Briefen (Epistel)<br />

und dem Alten Testament gewählt. Der Predigttext ergibt sich<br />

aus einer Ordnung, die sechs Jahresreihen umfasst. Die Basistexte<br />

sind somit alle sechs Jahre wiederkehrend.<br />

Weiter nennt das Proprium des Sonntags einen Wochenspruch<br />

sowie ein Wochenlied, das sogenannte Graduallied, weil es oftmals<br />

zwischen den Lesungen gesungen wird. Außerdem wird<br />

ein Wochenpsalm und eine bestimmte kirchenjahreszeitlich bestimmte<br />

liturgische Farbe vorgeschlagen, die zum Beispiel für die<br />

Wahl der Paramente (Altar- und Kanzelbekleidung) und der farblichen<br />

Gestaltung des Gottesdienstraumes Hilfestellungen gibt,<br />

weil sie den farblichen Charakter des Sonntags sichtbar macht. So<br />

ist beispielsweise Weiß als »Christusfarbe« für die Weihnachtsund<br />

Epiphaniaszeit, Rot als Farbe des Feuers an Pfingsten, Violett<br />

als »Bußfarbe« für die Advents- und Passionszeit, Schwarz für<br />

den Karfreitag und Grün als Farbe der Hoffnung für die übrigen<br />

Sonntage in der allgemeinen Kirchenjahreszeit gedacht.<br />

Neben diesem spezifischen Profil als Branding des Sonntags<br />

in Text, Musik und Farbe, wird zum Teil auch die reguläre Liturgie<br />

(Ordinarium) dem Kirchenjahr angepasst. An Karfreitag<br />

als traurigem Tiefpunkt des Kirchenjahres etwa werden die<br />

sonst klassischen liturgischen Lobgesänge Gloria Patri (Ehre sei<br />

dem Vater und dem Sohn), Gloria in excelsis (Ehre sei Gott in<br />

der Höhe) und das Halleluja nach der Epistellesung weggelassen.<br />

Vielerorts schweigen auch Glocken und Orgel, der Altar ist<br />

schmucklos ohne Blumen, Kerzen und Paramente.<br />

10<br />

<strong>oora</strong> 04/11


osterk<br />

Womit möchtest<br />

du nächstes Jahr<br />

anfangen?<br />

elle Themen und Bedürfnisse lassen. Man könnte fragen, ob innerhalb<br />

der Vorgaben durch das kirchenjahreszeitliche Gepräge<br />

Themen, wie zum Beispiel das Kreuz, Vergebung, Mission oder<br />

andere wichtige Fragestellungen zu kurz kommen, weil sie nur<br />

nebenbei in den Ablauf des Jahres eingewoben sind? Ob man<br />

sich daher doch eher die Vorteile einer relativ ungebundenen<br />

und kreativeren Art, Gottesdienste zu planen, lobt?<br />

Der wiederkehrende Rahmen des Kirchenjahres ist die Grundlage<br />

meines liturgischen Berufsalltags als lutherische Gemeindepastorin.<br />

Ich traue dem Heiligen Geist durchaus zu, durch die<br />

Jahrhunderte alte Kultur von Liturgie und Kirchenjahr wirken zu<br />

können. Ich schätze, dass Wiederkehrendes den Gottesdienstbesuchern<br />

vertraut wird und so geistliche Heimat und Verwurzelung<br />

darstellen kann. Für mich ist diese traditionell gewachsene<br />

und biblisch basierte Leseordnung ein großer Schatz des christlichen<br />

Glaubens, die dem Evangelium innerhalb unserer menschlichen<br />

Zeiterfahrung eine kulturelle Gestalt zu geben vermag.<br />

Das Kirchenjahr – für viele, die nicht stark kirchenjahresspezifisch<br />

gebunden sind, ist und bleibt es das große Unbekannte<br />

oder gar Einengung der Freiheit des Geistes. Und für andere<br />

die Gewähr, dass genau dieser Geist auch wirklich zur Sprache<br />

kommt – und nicht nur die aktuellen Lieblingsthemen seiner<br />

Verkündigerinnen und Verkündiger. ///<br />

Zum Weiterforschen:<br />

› Impulse für das Leben nach dem Kirchenjahr findet man hinten in jedem<br />

Evangelischen Gesangbuch und im Internet unter de.wikipedia.org/wiki/Kirchenjahr<br />

› Das Buch »Das Kirchenjahr« von Karl-Heinrich Bieritz, dem dieser Artikel viele<br />

Informationen verdankt, entfaltet das Themenfeld noch tiefgehender und eignet sich<br />

gut für eine umfangreichere Einarbeitung.<br />

Dany, 30<br />

Ansbach<br />

»Ich möchte mich nächstes Jahr konkret damit beschäftigen<br />

in welcher Form ich mich beruflich weiter qualifizieren<br />

werde und das dann auch umsetzen. Das war schwer<br />

– ich bin nämlich eigentlich niemand, der sich Vorsätze<br />

für ein neues Jahr macht, dass passiert eher kontinuierlich,<br />

dass ich Ideen habe, mit was ich anfangen könnte.«<br />

Martin, 33<br />

Pfedelbach<br />

»Nach über sechs Jahren berufs- und familienbegleitendem<br />

Fernstudium, möchte ich gerne mit meiner Bachelorarbeit<br />

beginnen und somit das Ende meines Studiums<br />

einläuten.«<br />

Sandra Bils (34) ist evangelische Theologin und arbeitet als Pastorin in der<br />

Kirchengemeinde St. Nicolai in Gifhorn. Sie schätzt das liturgische Erbe ihrer<br />

Kirche und mag ihre Gottesdienste kreativ und vielseitig gestalten. Sandra engagiert<br />

sich im Koordinationskreis von Emergent Deutschland und bloggt unter<br />

www.pastorsandy.de<br />

Svenja, 35<br />

Berlin<br />

»Ich werde im nächsten Jahr nach dann sieben Jahren<br />

Elternzeit einen Neuanfang ins Berufsleben wagen. Freude<br />

und Furcht halten sich bei dem Gedanken daran momentan<br />

noch die Waage …«<br />

<strong>oora</strong>.de 11


Anfang | Ohne Anfang und Ende<br />

Ohne Anfang und Ende<br />

Zeit als geschaffenes Element begreifen<br />

Text: Robert Pelzer<br />

Der Gedanke an die Ewigkeit kann uns verrückt machen,<br />

weil wir so sehr auf Anfang und Ende gepolt sind, dass<br />

wir uns ein Leben ohne Ende kaum vorstellen können.<br />

Beobachtungen aus der Quantenphysik bieten dabei<br />

einen alternativen Blickwinkel.<br />

// Das Leben ist kurz. Diese Aussage haben wir mit Sicherheit<br />

schon oft gehört. Sie will uns wohl dazu auffordern, möglichst<br />

viele tolle Erfahrungen in der uns zur Verfügung stehenden Zeit<br />

mitzunehmen und das scheinbar so kurze Leben bis zum Maximum<br />

auszukosten. Und auch zu bedenken, dass es irgendwann<br />

zu spät dafür sein kann. Zu spät, weil dann etwas vorbei ist – die<br />

Lebensuhr ist dann abgelaufen. Finito.<br />

Ohne Zweifel ist unser irdisches Dasein zeitlich stark begrenzt<br />

– wir leben einen winzigen Abschnitt auf einem sehr langen<br />

Zeitstrahl. In einem Schulbuch für Geschichte hätten wir wahrscheinlich<br />

selbst mit einer Lupe Mühe, die kurze Weile, die unserem<br />

Leben entspricht, auf diesem Zeitstrahl zu finden. Ob dieser<br />

Abschnitt tatsächlich so winzig ist oder nicht, sei einmal dahingestellt.<br />

Das ist ja irgendwie auch Wahrnehmungssache. Empfindet<br />

eine Alltagsfliege ihr Leben als kurz? U2-Sänger Bono sagt in<br />

einem Lied treffend: »Das Leben ist kurz, aber es ist das längste,<br />

was du jemals tun wirst« 1 . Fakt ist, dass wir gerade jetzt am Leben<br />

sind. Die Uhr tickt, und alles bewegt sich nach vorn. Die Mühle<br />

dreht sich beständig, und niemand kann sie anhalten.<br />

Doch im krassen Gegensatz zu der Beerdigungsformel »Asche zu<br />

Asche und Staub zu Staub«, welche die Endlichkeit unseres irdischen<br />

Seins ausdrückt, steht das göttliche »von Ewigkeit zu Ewigkeit«.<br />

Ein Ausdruck, mit dem die Bibel wenig geizt. Der gläubige<br />

Mensch, der das ewige Leben empfängt, welches Jesus anbietet,<br />

bekommt eine neue Sichtweise: Er wird sein irdisches Leben immer<br />

noch als zeitlich begrenzt wahrnehmen, aber er glaubt hoffnungsvoll<br />

an eine Fortsetzung. Nicht jedoch in Form einer Zugabe,<br />

die nur gegeben wird, weil alle Engel rufen »One more song«,<br />

sondern vielmehr als ein nicht endendes Dasein, eine ewige Existenz.<br />

Bei dieser Vorstellung wird uns, wenn wir wirklich einmal<br />

versuchen uns das vorzustellen, schwindelig, weil wir nichts dergleichen<br />

kennen. Bei uns hat alles einen Anfang und ein Ende.<br />

Mit dem Urknall fing alles an, irgendwann explodiert die Sonne<br />

und dann macht auch der Letzte das Licht aus. Ewigkeit hingegen<br />

bringt eine neue Perspektive mit sich. Diese Perspektive lässt uns<br />

rauszoomen, lässt unsere Sorgen und die vermeintliche Wichtigkeit<br />

unserer Probleme kleiner erscheinen. Vor allem jedoch erhebt<br />

uns das Bewusstsein der eigenen, uns von Gott geschenkten<br />

Ewigkeit, über den Staub und die Asche hinweg.<br />

Gott drückt diese Ewigkeit sogar in seinem Namen aus: Ich bin.<br />

Punkt. Als Jesus eben diese Worte benutzt, um sich den römischen<br />

Soldaten vorzustellen, fallen diese schier zu Boden. 2 Eine<br />

eindrückliche Demonstration der Kraft hinter diesem einfachen<br />

»Ich bin«. Mose, der am Berg Sinai live dabei ist als Gott sagt »Ich<br />

16<br />

<strong>oora</strong> 04/11


Ohne Anfang und Ende | Anfang<br />

Was, wenn Zeit ein geschaffenes<br />

Element ist, das in der Ewigkeit<br />

irrelevant ist, nicht deshalb, weil<br />

enorm viel Zeit zur Verfügung steht,<br />

sondern weil das Konzept Zeit<br />

nicht mehr greift?<br />

bin«, schreibt später in einem Psalm an Gott: »Du bist von Ewigkeit<br />

zu Ewigkeit.« 3 Eine andere Übersetzung lautet hier sehr treffend:<br />

»Du bist ohne Anfang und ohne Ende.«<br />

Nun stellen wir uns also die Ewigkeit als einen Zeitstrahl ohne<br />

Anfang und ohne Ende vor. Doch anscheinend kann sich Gott<br />

auf diesem Strahl beliebig bewegen, zumindest weiß er, was in<br />

drei Tagen sein wird und sowieso, was gestern war. Tausend<br />

Jahre sind für ihn wie ein Tag und doch bekommt er jeden der<br />

50 Flügelschläge pro Sekunde beim Flug des Kolibris mit.<br />

Was ist jedoch, wenn wir Ewigkeit nicht als endlosen Zeitstrahl<br />

definieren, sondern vielmehr als die Abwesenheit von Zeit, als<br />

einen Zustand, in dem Zeit keine Rolle spielt? Was, wenn Zeit<br />

ein geschaffenes Element ist, das in der Ewigkeit irrelevant ist,<br />

nicht deshalb, weil enorm viel Zeit zur Verfügung steht, sondern<br />

weil das Konzept Zeit nicht mehr greift?<br />

Quantenphysik<br />

Dass dieser Gedanke nicht völlig irrwitzig ist, begreifen wir,<br />

wenn wir uns einmal der Physik zuwenden. Mag diese uns im<br />

Alltag eher selten tangieren, so katapultiert uns die bewusste<br />

Beschäftigung vor allem mit der Quantenphysik gedanklich gewaltig<br />

über den Tellerrand des Erfahrbaren hinaus.<br />

Vielleicht haben wir schon einmal vom Zwillingsparadoxon<br />

gehört, einem Gedankenexperiment, das veranschaulichen<br />

soll, was passieren würde, wenn man das Experiment genauso<br />

durchführen könnte. Es geht bei diesem Experiment um ein<br />

Zwillingspaar, von denen einer der beiden in eine Raumkapsel<br />

steigt und mit nahezu Lichtgeschwindigkeit in Richtung eines<br />

weit entfernten Sterns davonfliegt. Nach einem Monat kehrt er<br />

zurück und stellt fest, dass sein Zwillingsbruder bereits ein alter<br />

Mann ist – auf der Erde sind viele Jahre vergangen.<br />

In der »speziellen Relativitätstheorie« beschreibt Albert Einstein,<br />

dass Raum und Zeit relativ sind – sie hängen von der Bewegung<br />

des Betrachters ab. Für jemanden, der sich nicht bewegt, herrscht<br />

eine andere Realität bezüglich Raum und Zeit als für jemanden,<br />

der sich bewegt. Anhand von hochpräzisen Atomuhren kann der<br />

Effekt des Zwillingsparadoxons sogar auf Atlantikflügen nachgewiesen<br />

werden. Die anschließend festgestellte Zeitdifferenz<br />

der Uhren ist jedoch verschwindend gering, da die Flugzeuggeschwindigkeit<br />

gegenüber der Lichtgeschwindigkeit von über einer<br />

Milliarde Kilometer pro Stunde kaum ins Gewicht fällt.<br />

Mit der Relativität des Raumes und der Zeit ist also nicht die<br />

bloße Wahrnehmung gemeint, wie wenn beispielsweise ein<br />

Rennfahrer durch eine Allee heizt, die Bäume nur so an ihm<br />

vorbeifliegen und ihm die Strecke kürzer vorkommt als sie eigentlich<br />

ist. Sehr schnell bewegte Objekte erleben eine tatsächliche<br />

Stauchung des Raumes, die sogenannte Lorentzkontraktion.<br />

Und sie erleben eine Dehnung der Zeit, die Zeitdilatation. Im<br />

Grunde genommen sind Lorentzkontraktion und Zeitdilatation<br />

verwandt, weswegen man in der Quantenphysik Zeit und Raum<br />

zur Raumzeit zusammenfasst.<br />

Einsteins Theorie wurde mittlerweile mehrfach bewiesen. Mit ihr<br />

lassen sich auch Phänomene verstehen, die mit »gesundem Menschenverstand«<br />

und der klassischen Physik nicht erklärbar sind.<br />

Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Myonen, kosmische Teilchen,<br />

die mit annähernder Lichtgeschwindigkeit in die Erdatmosphäre<br />

eintreten. Nach Eintritt in die Atmosphäre haben diese<br />

Teilchen bis zu ihrem Verfall nur eine sehr geringe Lebensdauer.<br />

Da man ihre Geschwindigkeit und die Lebensdauer innerhalb<br />

unserer Atmosphäre kennt, kann man mit einfacher, klassischer<br />

Physik die Strecke bestimmen, die die Myonen bis zum Zerfall<br />

zurücklegen können. Man kommt auf nur wenige hundert Meter.<br />

Tatsächlich jedoch herrscht für diese rasend schnellen Teilchen<br />

eine andere Realität. Sie befinden sich in einem anderen sogenannten<br />

Inertialsystem – die Zeit in ihrer Realität ist gedehnt,<br />

vergeht also langsamer, so dass sie tatsächlich bis zur Erdober-<br />

<strong>oora</strong>.de 17


Anfang | Ohne Anfang und Ende<br />

Wenn selbst Geschwindigkeit und<br />

übrigens auch Gravitation verschiedene<br />

Realitäten für das Vergehen von Zeit<br />

bewirken, erkennen wir Zeit als<br />

geschaffenes Element in der Hand<br />

des Schöpfers.<br />

fläche kommen. Und das, obwohl auf unserer Stoppuhr der Zeitpunkt<br />

ihres Zerfalls schon längst verstrichen ist.<br />

Alles relativ<br />

Phänomene wie diese stellen den Absolutheitsanspruch unserer<br />

Wahrnehmung in Frage. Wir sind uns hundertprozentig sicher,<br />

dass das Licht der Sonne die Erde nach etwa 8 ½ Minuten erreicht<br />

und dass Photonen von diesem bis zu jenem Stern soundso viele<br />

Jahre brauchen. Damit haben wir absolut relativ Recht. Aus der<br />

Perspektive von Licht vergeht nämlich keine einzige Sekunde, um<br />

von hier nach dort zu kommen. Im Inertialsystem des Lichts ist<br />

Licht überall gleichzeitig, es vergeht gar keine Zeit. Für Licht existiert<br />

Zeit nicht – die Uhren, die mit Lichtgeschwindigkeit durchs<br />

All flögen, blieben stehen. Doch Uhren sind auch nur periodische<br />

Systeme, wie auch die Zerfallsstrukturen unseres Körpers.<br />

Elektronen kreisen um Atomkerne, Atome gehen verschiedene<br />

Verbünde ein, wobei es wiederum zu chemischen Reaktionen<br />

kommt. Wir altern. Aber wer hat denn nun Recht? Derjenige, der<br />

sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt und keine Zeit kennt, oder<br />

der ruhende Beobachter, für den Zeit sehr wohl real ist?<br />

Selbst der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Feynman<br />

sagte einmal von sich, dass er die Quantenphysik nicht mit Sicherheit<br />

verstünde. 4 Wir müssen uns also nicht wundern, wenn<br />

wir in Anbetracht dieser Dinge Gehirnfasching bekommen.<br />

Wir können uns lediglich herantasten und zulassen, dass die<br />

Absolutheit unseres Modells für Zeit zu bröckeln beginnt. Obwohl<br />

sich dieses »So-verläuft-die-Zeit-nun-mal-Modell« durch<br />

Erfahrungen immer wieder bestätigt und für unser Leben hier<br />

nicht fortzudenken ist, können die quantenphysikalischen Aspekte<br />

uns helfen, das Konzept »Zeit« als das wahrzunehmen,<br />

was es ist: als relativ. Wenn selbst Geschwindigkeit und übrigens<br />

auch Gravitation verschiedene Realitäten für das Vergehen von<br />

Zeit bewirken, erkennen wir Zeit als geschaffenes Element in der<br />

Hand des Schöpfers. Dieser Schöpfer wird ja nicht einmal durch<br />

dieses, sein eigenes, Universum begrenzt und ist erst Recht nicht<br />

an die Gesetzmäßigkeiten und Naturgesetze darin gebunden.<br />

Gott hält die Unendlichkeit des Raums in seiner Hand. Und er<br />

hält Zeit in seiner Hand. Diese Erkenntnis vermag es vielleicht<br />

nicht, unser irdisches Leben auch nur um einen einzigen Tag zu<br />

verlängern, aber sie lässt uns ein wenig über den stumpfen Tellerrand<br />

des Alltags hinwegschauen und erkennen, dass da mehr ist,<br />

als nur der straff gespannte Bogen zwischen Staub und Staub, auf<br />

dem wir uns gerade bewegen. Immerhin ist ein essentieller Teil<br />

von uns zeitlos. Der weise König Salomo schreibt bereits, dass uns<br />

Ewigkeit ins Herz gelegt worden ist. 5 Von Ewigkeit zu Ewigkeit.<br />

Ohne Anfang und ohne Ende, einfach nur: Ich bin. ///<br />

Fußnoten:<br />

1 U2 – »Moment of Surrender«, Live at the Rose Bowl<br />

2 Johannes 18,6<br />

3 Psalm 90,2<br />

4 Original engl.: »[…] I think I can safely say nobody understands Quantummechanics« –<br />

The Character of Physical Law. MIT Press, 1967, Kapitel 6, zitiert nach Anthony J. G. Hey et. al.:<br />

The new Quantum Universe. Cambridge University Press, 2003, Seite 335<br />

5 Prediger 3,11<br />

Robert Pelzer (29) lebt mit seiner Frau Tirza und dem Töchterchen Timea in<br />

Berlin. Er arbeitet als Ingenieur in einem Medizintechnikunternehmen, am<br />

liebsten jedoch spielt er Gitarre und philosophiert über das Leben mit Gott<br />

und dessen Reich.<br />

18<br />

<strong>oora</strong> 04/11


Ein magisches Gebet | Anfang<br />

Ein magisches Gebet<br />

Ist das Übergabegebet biblisch?<br />

Text: Jim Gettmann<br />

Allgemein gilt es als der offizielle Anfang eines Lebens als<br />

Christ – das Lebensübergabegebet. Doch ist es wirklich<br />

biblisch begründet? Eine kritische Betrachtung.<br />

// Wie wird man Christ? Die Antwort auf diese Frage ist für die<br />

meisten von uns kein Geheimnis. »Gott hat keine Enkelkinder«<br />

wurde uns von klein auf beigebracht – und deshalb muss jeder<br />

Mensch selbst Gott kennenlernen und sich für ihn entscheiden.<br />

Dies geschieht typischerweise folgendermaßen: Irgendwann ist<br />

man soweit, dass man sagen kann »Ich glaube an Jesus Christus<br />

als Gottes Sohn und Heiland.« Jetzt betet man ein Übergabegebet.<br />

Und schon ist man Christ geworden.<br />

Das Übergabegebet kann unterschiedlich formuliert werden,<br />

meist klingt es aber in etwa so: »Vater im Himmel, ich bekenne,<br />

dass ich ein Sünder bin und dass ich einen Heiland brauche. Ich<br />

glaube, dass Jesus Christus für mich gekreuzigt wurde und von<br />

den Toten auferstanden ist, damit ich ewig leben darf. Ich nehme<br />

ihn heute als meinen Heiland und Herrn an. Danke, dass ich<br />

dein Kind sein darf. Amen.«<br />

Eine sichere Fahrkarte in den Himmel?<br />

Ist man nach dem Sprechen dieses Gebetes wirklich gerettet<br />

und automatisch ein Himmelsbürger? Aufgrund meiner Erfahrungen<br />

halte ich das für fragwürdig.<br />

Im Laufe der Jahre war ich bei vielen evangelistischen Veranstaltungen<br />

dabei. Ich habe dabei oft beobachtet, dass die Mehrheit<br />

derer, die auf einen Aufruf reagieren, so gut wie keine Ahnung<br />

davon hat, was sie gerade machen. Sie wissen meist wenig<br />

von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu und sind selten<br />

wirklich bereit, ihr Leben vor ihm hinzulegen. Von Buße und<br />

Umkehr gibt es kaum Zeichen. Man könnte höchstens behaupten,<br />

dass diese Menschen von den Aussagen des Predigers angetan<br />

sind und nun Gott ein Signal schicken wollen, dass sie ihn<br />

kennenlernen möchten. Und das ist toll! Für viele Menschen<br />

ist so ein Signal-Abgeben ein echtes Schlüsselerlebnis auf ihren<br />

Weg zu Gott.<br />

Wenn ich Gelegenheit hatte, solche Menschen in den darauf folgenden<br />

Monaten zu begleiten, stellte ich oft fest, dass ihre wahre<br />

Bekehrung viel später stattfand. »Na gut«, könnte man sagen,<br />

<strong>oora</strong>.de 19


Anfang | Ein magisches Gebet<br />

Die Mehrheit derer,<br />

die auf einem Aufruf reagieren,<br />

hat so gut wie keine Ahnung davon,<br />

was sie gerade machen.<br />

»zumindest haben sie sich am Ende doch bekehrt.« Aber was<br />

ist mit den vielen, die niemanden haben, der sie weiterführen<br />

kann? Viele von ihnen sind wahrscheinlich trotzdem der Meinung,<br />

einen Platz im Himmel sicher zu haben, nur weil sie ein<br />

Gebet gesprochen haben und ihnen danach ein Mitarbeiter oder<br />

Pastor bestätigt hat, dass sie nun Christ geworden sind.<br />

Wenn jedoch keine tatsächliche Lebensumkehr stattfindet und<br />

keine Beziehung zum lebendigen Gott erkennbar ist, kann man<br />

dann noch behaupten, dass eine Person sich bekehrt hat? Was<br />

ist mit den Worten Johannes des Täufers: »So bringt nun Früchte,<br />

die der Buße würdig sind«?<br />

Die Bibel kennt kein übergabegebet<br />

Erstaunlicherweise findet man in der Bibel weder eine Anweisung<br />

noch ein Beispiel für ein Lebensübergabegebet. Am nächsten<br />

kommt dem Jesu Geschichte von den zwei Betern: Der eine<br />

ist sehr religiös und stolz auf seine Frömmigkeit. Dem anderen<br />

ist klar, dass er Gott nichts zu bieten hat und betet einfach: »Gott,<br />

sei mir Sünder gnädig!« Jesus will uns mit dieser Geschichte jedoch<br />

nicht zeigen, wie wir gerettet werden, sondern verdeutlichen,<br />

dass Demut besser ist als eine heuchlerische Frömmigkeit.<br />

Statt uns eine Vorlage für ein Übergabegebet zu liefern, verpasst<br />

Jesus sogar eine superevangelistische Gelegenheit, als ein Mann<br />

zu ihm kommt und ihn fragt, wie er gerettet werden könne. Was<br />

macht Jesus? Er stellt ihm dermaßen unmögliche Forderungen,<br />

dass der Mann traurig weggeht. Jesus hat die Frechheit, von dem<br />

Mann zu verlangen, dass er zuerst sein Geld verschenken und<br />

ihm erst dann nachfolgen soll.<br />

Da stellt sich die Frage, ob wir es den Menschen zu leicht machen,<br />

sei es, weil wir hoffen, dass möglichst viele errettet werden<br />

oder weil wir unter einem missionarischen Erfolgsdruck stehen?!<br />

Wir tun den Leuten keinen Gefallen, wenn wir sie überreden,<br />

uns ein Gebet nachzusprechen, in der Hoffnung, dadurch ihr<br />

Leben vor der Hölle zu retten. Stattdessen sollten wir ihnen Unterstützung<br />

und Freiraum geben, um in den Glauben hinein zu<br />

wachsen. Jeder muss die Kosten überschlagen, weil das Leben<br />

sich völlig ändert, wenn man anfängt Jesus nachzufolgen.<br />

Ursprünge des Übergabegebets<br />

Trotz fehlender biblischer Belege gilt Vielen das Übergabegebet<br />

wie selbstverständlich als »der offizielle Weg«, um ein Leben mit<br />

Gott zu beginnen. Deshalb ist es mir wichtig, die historischen<br />

Hintergründe dafür zu erforschen. Wann hat dieser Brauch begonnen?<br />

Und was war der Grund für seine Entstehung?<br />

Das Übergabegebet war eine Erfindung der Erweckungsprediger<br />

des 18. und 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel John Wesley,<br />

George Whitefield, Charles Finney und Dwight Moody.<br />

Diese Prediger standen vor folgenden Fragen: Wie bringen wir<br />

Suchende dazu, zu erkennen, dass eine Entscheidung für Gott<br />

notwendig ist, obwohl sie bereits einer christlichen Kultur angehören?<br />

Wie soll dieser neue Anfang gestaltet werden, so dass<br />

für sie deutlich wird, »vorher war ich von Gott getrennt, ab jetzt<br />

gehöre ich ihm«?<br />

Eine Methode, die Mitte des 18. Jahrhunderts aufkam, nannte<br />

Charles Finney den »Sitz der Bestrebten«. Er reservierte die erste<br />

Reihe der Kirchenbänke für Suchende, so dass diejenigen, die<br />

auf den Altarruf reagierten, nach vorne kommen und sich dort<br />

hinsetzen konnten, während der Prediger sie weiter ermahnte<br />

»in die Errettung durchzubrechen«. Diese Methode wurde<br />

bald als emotional manipulativ erkannt. Moody veränderte<br />

sie deshalb etwas, so dass die Suchenden nach dem Altarruf<br />

einen separaten Raum aufsuchen konnten. Dort wurde ihnen<br />

von geschulten Beratern noch einmal das Evangelium erklärt.<br />

Hauptsache war, dass die Suchenden danach zum Sprechen eines<br />

Gebets gebracht wurden. Seitdem ist es weit verbreitet, den<br />

Prozess der Errettung mit einem Gebet zu vollenden, und bereits<br />

vor dem Ende des 19. Jahrhunderts galt dieses Gebet in<br />

Amerika und Großbritannien allgemein als die Standardtechnik,<br />

um »Jesus im Herzen zu empfangen«.<br />

Billy Graham und Bill Bright trugen diese Ideen im 20. Jahrhundert<br />

weiter. Sie versuchten, die Not der Suchenden und Gottes<br />

Antwort darauf, kurz und prägnant darzustellen. Ihre Erklärung<br />

von Gottes Heilsplan fand in einer Broschüre namens »Die<br />

vier geistlichen Gesetze« weite Verbreitung und endete mit dem<br />

Gebet, das uns heute als Übergabegebet bekannt ist.<br />

20<br />

<strong>oora</strong> 04/11


Impressum<br />

Das Übergabegebet als Ersatz<br />

Könnte es sein, dass dieses Gebet ein Ersatz für die Glaubenstaufe<br />

geworden ist? Finney gab das selbst zu. Er meinte, die Apostel hätten<br />

im ersten Jahrhundert die Taufe als Zeichen der Lebensübergabe<br />

angeboten, er hingegen nutze dafür den Sitz der Bestrebten.<br />

Nirgendwo in der Bibel findet man ein Gebet, das man bei der<br />

Bekehrung sprechen kann, und in der Apostelgeschichte gibt es<br />

keine Beispiele von Menschen, die sich allein durch ein Gebet<br />

bekehrt hätten. Stattdessen berichtet uns die Bibel immer wieder<br />

davon, wie Menschen sofort getauft wurden, sobald sie die<br />

Wahrheit der Botschaft von Christus erkannt hatten:<br />

»Als sie aber das hörten, ging es ihnen durchs Herz, und sie sprachen<br />

zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, ihr<br />

Männer und Brüder? Petrus aber sprach zu ihnen: Tut Buße, und<br />

ein jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi<br />

zur Vergebung eurer Sünden; so werdet ihr die Gabe des heiligen<br />

Geistes empfangen.« (Apostelgeschichte 2,37-38)<br />

»Und nun, was zögerst du? Steh auf, lass dich taufen und deine<br />

Sünden abwaschen, indem du seinen Namen anrufst!« (Apostelgeschichte<br />

22,16)<br />

Daran kann man erkennen, dass die Taufe mit einer bewussten<br />

Lebensumkehr in direktem Zusammenhang steht. Das biblische<br />

Modell der Errettung besteht demzufolge aus Glauben, Umkehr<br />

von Sünden und der Taufe als Zeichen der Entscheidung. Es ist<br />

nicht die Taufe, die rettet, aber sie setzt ein klares Zeichen, dass<br />

das alte Leben nun endgültig vorbei ist.<br />

Ist das Übergabegebet nicht auch ein Symptom unserer oft theoretischen<br />

Glaubensgewohnheiten? Wir bringen die Leute dazu,<br />

eine Lehre über Jesus und das Kreuz als wahr anzunehmen.<br />

Dann sollen sie diese neue Überzeugung durch ein Gebet über<br />

die Lippen bringen. Was bleibt, ist oft nur Kopfsalat und wird<br />

nicht Teil des eigenen Lebens. Jesus, die Apostel und die ganze<br />

hebräische Prägung der Bibel sprechen von der Rettung als einer<br />

kompletten Neustrukturierung des Lebens. Sie bleibt nicht<br />

nur theoretisch im Kopf, sondern wird jeden Tag gelebt, mit<br />

einer völligen Umkehr und im Gehorsam Christus gegenüber.<br />

Ich finde es folglich passend, dass das Zeichen des neuen Lebens<br />

den ganzen Körper in Anspruch nimmt. Der Körper wird untergetaucht<br />

im Sinne eines Theaterstückes: Ich gehe mit Christus<br />

ins Grab, stehe mit ihm wieder zum neuen Leben auf und<br />

lasse mein altes Leben mit allen Sünden hinter mir. Es ist nicht<br />

theoretisch, sondern umfasst mein ganzes Leben.<br />

Wie wird man Christ? Durch eine das ganze Leben umfassende<br />

Umkehr und einen Glauben, der alles auf Jesus setzt. Nicht<br />

durch ein magisches Gebet. ///<br />

<strong>oora</strong><br />

Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken<br />

Nummer <strong>42</strong> • 4/2011<br />

ISSN 2191-7892<br />

Herausgeber: <strong>oora</strong> verlag GbR, Jörg Schellenberger und<br />

Michael Zimmermann, Dollmannstr. 104, 91522 Ansbach<br />

Redaktionsleitung: Jörg Schellenberger,<br />

Michael Zimmermann (info@<strong>oora</strong>.de)<br />

Redaktionsteam: Anne Coronel, Matthias Lehmann,<br />

Anneke Reinecker, Jörg Schellenberger, Johanna Weiß,<br />

Michael Zimmermann<br />

Anzeigen: Johanna Weiß (johanna@<strong>oora</strong>.de)<br />

Redaktionsbeirat: Klaus-Peter Foßhag, Gernot Rettig<br />

Gestaltung: Johannes Schermuly, www.ideenundmedien.de<br />

Druck: Müller Fotosatz & Druck GmbH, Selbitz,<br />

www.druckerei-gmbh.de<br />

Abonnement: <strong>oora</strong> erscheint viermal im Jahr (März,<br />

Juni, September, Dezember) und kostet 18,50 EUR in<br />

Deutschland bzw. 24,50 EUR in anderen europäischen<br />

Ländern. Darin sind Mehrwertsteuer und Versandkosten<br />

bereits enthalten! Das Abo kann immer bis sechs Wochen<br />

vor Bezugsjahresende gekündigt werden. Eine E-Mail an<br />

service@<strong>oora</strong>.de genügt. Das gilt nicht für Geschenk-Abos,<br />

die automatisch nach einem Bezugsjahr enden.<br />

Einzelpreis: 5,50 EUR/7,50 SFr. Preisänderungen und<br />

Irrtümer vorbehalten.<br />

Mengenrabatt: Ab 10 Hefte: 5,00 EUR pro Heft, ab 20<br />

Hefte: 4,50 EUR pro Heft (inkl. Versand)<br />

Bankverbindung: <strong>oora</strong> verlag GbR, Konto-Nr. 836 89 38,<br />

BLZ 765 500 00, Sparkasse Ansbach • IBAN: DE18<br />

76550000 0008 3689 38, BIC: BYL ADEM1ANS<br />

Leserservice: <strong>oora</strong> Leserservice, Postfach 1363,<br />

82034 Deisenhofen, Telefon: 089/858 53 - 552,<br />

Fax: 089/858 53 - 62 552, service@<strong>oora</strong>.de<br />

© 2011 <strong>oora</strong> verlag GbR • www.<strong>oora</strong>.de<br />

Teil Anfang<br />

Bilder: Wenn nicht anders vermerkt: photocase.com<br />

Titelbild: Johannes Schermuly; S.12: vandalay; S.24: jöni;<br />

S.26: Flickr-SFB579, istock<br />

Teil Ende<br />

Bilder: Wenn nicht anders vermerkt: photocase.com<br />

Titelbild: Johannes Schermuly; S.4: view7; S.7-8: Flickrmikebaird;<br />

S.14: daniel.schoenen; S.16-18: complize;<br />

S.20: willma...; S.22: Bratscher; S.26: Flickr-catmachine<br />

Alle weiteren von <strong>oora</strong> oder von privat.<br />

Jim Gettmann (49) lebt mit seiner Familie in der Nähe von Rostock. Er ist seit<br />

über 20 Jahren in verschiedenen Ländern im Gemeindebau tätig. Dabei ist es<br />

sein Anliegen, organische statt organisatorische Gemeinden aufzubauen.<br />

Zertifikat: Hiermit bestätigt natureOffice, dass <strong>oora</strong><br />

verlag GbR einen nachhaltigen Beitrag zum freiwilligen<br />

Klimaschutz geleistet hat, indem dieses Druckerzeugnis<br />

durch die Kompensation der entstandenen Emissionen<br />

durch anerkannte Klimaschutzprojekte klimaneutral<br />

gestellt wurde.<br />

Menge CO2e: 712 kg<br />

ID-Nummer: DE-245-736715 (Über die ID-Nummer<br />

können Sie unter www.natureOffice.com die Echtheit<br />

des Zertifikates überprüfen.)<br />

Klimaschutzprojekt: Abwasseraufbereitung und<br />

Biogasnutzung Thailand<br />

<strong>oora</strong>.de 21


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Das erste Heft bekommst du als Schenker direkt von uns<br />

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Und hier kannst du bestellen: www.<strong>oora</strong>.de/shop oder (089) 85853-552<br />

Fehlerkorrektur »Zahlen der Macht«<br />

Ausgabe 41 (3/2011), Seite 17<br />

Bei der Recherche der Militärausgaben sind uns ein paar Kommas verrutscht, weshalb die Infografik leider falsche Angaben enthält.<br />

Richtig sind folgende Zahlen:<br />

Militärausgaben 2010<br />

• weltweit: 1.611 Mrd. $<br />

• der fünf Länder mit höchsten Ausgaben (USA, China, Großbritannien, Frankreich, Russland): 995 Mrd. $<br />

• der USA: 698 Mrd. $<br />

Die restlichen drei Angaben waren korrekt. Wir bitten euch, diesen Fehler zu entschuldigen.<br />

22<br />

<strong>oora</strong> 04/11


ücher, die wir gelesen haben<br />

Buchrezensionen | Anfang<br />

Eric Metaxas<br />

Bonhoeffer<br />

Der Heldenstatus von Bonhoeffer steht außer<br />

Frage. Gerne unterstreicht man eine Aussage<br />

mit einem Bonhoeffer-Zitat oder verweist auf<br />

seinen Mut gegenüber dem Naziregime. Er ist<br />

der Gute und die Nazis die Bösen. Die Biographie<br />

von Eric Metaxas über Bonhoeffer geht<br />

über dieses Duell hinaus. Sie führt hinein in<br />

das Leben von Dietrich Bonhoeffer. Ein deutscher<br />

Intellektueller, der mit seinem scharfen<br />

Denken und seinem tief verwurzelten Gehorsam<br />

gegenüber Jesus ein Fels in einer unruhigen<br />

Zeit der Geschichte war. Er wuchs in<br />

einer Professorenfamilie auf und entwickelte<br />

dort sein freies Denken. Er ließ sich weder<br />

von Menschen noch der Kirche vereinnahmen,<br />

sondern behielt sich selbst in der von<br />

ihm mit aufgebauten Widerstandskirche eine<br />

kritische Stimme.<br />

Seine bedeutenden Bücher »Ethik«, »Nachfolge«<br />

oder »Gemeinsames Leben« liest man<br />

nach der Biographie anders als zuvor. Man<br />

begreift, wie Bonhoeffer Begriffe füllt, oder<br />

warum er bestimmte Aussagen tätigte. Eine<br />

absolute Empfehlung für jeden, der sich mit<br />

Bonhoeffers Büchern oder Leben auseinandersetzen<br />

möchte. /// Jörg Schellenberger<br />

Gebundene Ausgabe, 752 Seiten, SCM Hänssler 2011<br />

ISBN 978-3775152716, € 29,95<br />

Michael Ende<br />

Momo<br />

Wenn sich ein Kinderbuch auch für Erwachsene<br />

eignet, ist es meist postmodern. Es hat<br />

nämlich ziemlich sicher mehrere Bedeutungsebenen:<br />

eine für Kinder und mindestens eine<br />

weitere, meist tiefere Ebene für den erwachsenen<br />

Leser. So auch der 1973 erschienene Jugendbuchklassiker<br />

Momo von Michael Ende,<br />

der in 27 Sprachen übersetzt ist. Der Märchen-Roman<br />

spielt in einer Phantasie-Welt, in<br />

der die Erwachsenen zunehmend auf all das<br />

verzichten, was Menschsein ausmacht – Zeit<br />

füreinander haben, Zuhören, Spielen – nur,<br />

um Zeit einzusparen. Schuld daran ist die gespenstische<br />

Gesellschaft der grauen Herren,<br />

die den Menschen die scheinbar eingesparte<br />

Zeit stiehlt. Das hilfsbereite Mädchen Momo<br />

und ihre Freunde leiden darunter bis der geheimnisvolle<br />

Zeit-Verwalter »Meister Hora«<br />

eingreift und mit Hilfe der Romanheldin den<br />

Kampf mit den Zeit-Dieben aufnimmt.<br />

Der Autor zeichnet ein eindrucksvolles Bild der<br />

Verödung des hektischen Erwachsenenlebens<br />

und was dagegen hilft: kindliche Offenheit und<br />

hin und wieder auch einmal Zeit zu verschwenden.<br />

Da das die Lebendigkeit fördert, finde ich<br />

das Buch hilfreich. /// Michael Zimmermann<br />

Gebundene Ausgabe, 304 Seiten, Thienemann 2005<br />

ISBN 978-3522177504, € 14,90<br />

Jens Soentgen<br />

Selbstdenken!:<br />

20 Praktiken<br />

der Philosophie<br />

Philosophie – das klingt zunächst abstrakt<br />

und trocken. Es klingt nach alten Männern,<br />

die verschrobene Theorien über alles und<br />

nichts entwickeln. Doch diesem Buch geht es<br />

ums Denken und darum, den Dingen auf den<br />

Grund zu gehen. Der Autor stellt auf unterhaltsame<br />

Weise verschiedene Techniken vor,<br />

die bei dieser Art von Gedankenspielen eingesetzt<br />

werden können. Von der Provokation<br />

über die Logik bis zum Gedankenexperiment<br />

erklärt er in verständlicher Sprache und mit<br />

vielen Anekdoten und Beispielen, wie Gedanken<br />

entwickelt, Argumente überprüft und<br />

Ideen vermittelt werden können. Viele dieser<br />

Praktiken kann man selbst anwenden – sei es<br />

beim Sinnieren über die großen Fragen des Lebens<br />

oder beim Meinungsaustausch über die<br />

Gestaltung des Abendprogramms.<br />

Nicht jede vorgestellte Technik ist gleichermaßen<br />

nützlich und nicht jede skizzierte Idee<br />

klingt vernünftig, aber insgesamt war das<br />

Buch für mich eine interessante Lektüre. Wer<br />

das eigenständige Denken schätzt und ein Interesse<br />

an philosophischen Fragestellungen<br />

besitzt, dem kann dieses Buch als lesenswert<br />

empfohlen werden. /// Matthias Lehmann<br />

Taschenbuch, 240 Seiten, Verlagsgruppe Beltz 2010<br />

ISBN 978-3407755261, € 8,95<br />

Anzeige<br />

www.christkindclothing.de


Dieser Ausgabe ist ein Wendeheft.<br />

Auf beiden Außenseiten findest du ein<br />

Cover: eins mit dem Thema Anfang,<br />

eins mit dem Thema Ende.<br />

Der Ende-Auszug beginnt hier.


12. Jahrgang • 4/2011 • Nr. <strong>42</strong> (Dezember)<br />

5,50 EUR/7,50 SFr (Einzelpreis)<br />

www.<strong>oora</strong>.de<br />

THE RACE heißt jetzt <strong>oora</strong><br />

und erscheint viermal pro Jahr<br />

Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken<br />

Ende<br />

Es ist vollbracht<br />

Rauch oder Schall<br />

Über die Unmöglichkeit, Nichtraucher zu werden<br />

Seite 4<br />

Vier Geschichten vom Glück<br />

Rückblicke auf mein Leben<br />

Seite 10<br />

Wenn der Staat zur Strafe tötet<br />

Interview zur Todesstrafe mit Professor Dieter Hermann<br />

Seite 16


Foto: Mikael Damkier - Fotolia.com<br />

Bewerbung<br />

Sommersemester bis:<br />

15. Januar 2012<br />

BRINGT DICH WEITER !<br />

Eine Initiative unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung<br />

Wir bieten finanzielle Unterstützung, Seminare, Beratung und Netzwerke.<br />

Die Förderung richtet sich an alle leistungsstarken, engagierten Studierenden –<br />

unabhängig vom Studienfach. Bewerber mit ausländischen Wurzeln<br />

und Studierende, deren Eltern selbst nicht<br />

studiert haben, sind herzlich willkommen.<br />

Bewerbungsunterlagen unter:<br />

www.kas.de/stipendium


Inhalt<br />

Editorial<br />

<strong>oora</strong><br />

Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind, gibt es<br />

als Audioversion in iTunes und auf www.<strong>oora</strong>.de/audio.<br />

Schwerpunkt: Ende<br />

Finale, oh-oh<br />

4 Rauch oder Schall<br />

Über die Unmöglichkeit, Nichtraucher<br />

zu werden<br />

Axel Brandhorst<br />

7 Ich dachte, du bist tot<br />

Was die Taufe alles kann<br />

Rüdiger Halder<br />

10 Vier Geschichten vom Glück<br />

Rückblicke auf mein Leben<br />

Anne Coronel<br />

13 Ende<br />

Lyrik: Franziska Arnold<br />

14 Die Bilanz meines Scheiterns<br />

Sind Niederlagen eine Idee Gottes?<br />

Damaris Bittner<br />

16 Wenn der Staat zur Strafe tötet<br />

Interview zur Todesstrafe mit Professor<br />

Dieter Hermann<br />

Konzept: Michael Zimmermann<br />

Interview: Cosima Strawenow<br />

20 Du sollst Vater und Mutter pflegen<br />

Im Konflikt der Fürsorge<br />

Dr. Torsten Lange<br />

22 Die Kunst des Trauerns<br />

Nach jedem Ende kommt ein neuer Anfang<br />

Kerstin Hack<br />

24 Vom Mut, Dinge sterben zu lassen<br />

Mein Freund Gott und ich<br />

Kolumne: Mickey Wiese<br />

// Das Ende ist überall: Ein Land nach dem anderen erreicht das<br />

Ende seiner Zahlungsfähigkeit. Occupy-Aktivisten weltweit fordern<br />

ein Ende des hemmungslosen Finanzsystems. Regime, die<br />

Jahrzehnte überdauert haben, werden von wütenden Demonstranten<br />

zum Ende gebracht. Und auch unsere Regierung ist in<br />

den Augen der Opposition schon längst am Ende – trotz Atomkraftausstieg<br />

und Ende der Wehrpflicht. Glaubt man den Maya,<br />

ist das alles sowieso egal, denn Ende des nächsten Jahres ist ihrer<br />

alten Vorhersage zufolge auch das endgültige Ende der Welt.<br />

Das alles klingt irgendwie bedrohlich und unberechenbar. Denn<br />

das Wort Ende bedeutet, dass wir die Sicherheit des uns Bekannten<br />

aufgeben müssen, dass die Dinge, die wir kennen und<br />

lieben, nicht für immer bestehen. Und es erinnert uns daran,<br />

dass auch unser eigenes Leben irgendwann einen Schlusspunkt<br />

finden wird. Diese Vorstellung finden wir meist nicht sonderlich<br />

attraktiv. Aber es könnte dennoch ein bedeutender Gedanke sein.<br />

Der kürzlich verstorbene Steve Jobs hat 2005 vor Studenten der<br />

Stanford Universität gesagt: »Remembering that you are going<br />

to die is the best way I know to avoid the trap of thinking you<br />

have something to lose. You are already naked. There is no reason<br />

not to follow your heart.« Das Ende wirkt demnach wie eine relativierende<br />

Größe, das Bewusstsein der Endlichkeit unseres Lebens<br />

kann uns aktivieren und freisetzen. Das sind natürlich keine<br />

neuen Erkenntnisse der iPad-Zeit, denn schon Mose betete ganz<br />

ähnlich: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass<br />

wir klug werden.« (Psalm 90,12) Es könnte sich also lohnen, die<br />

Furcht vor dem Ende einmal abzuschütteln und sich etwas mehr<br />

mit seinen Bedeutungen für unser Leben zu beschäftigen. Dafür<br />

wollen wir euch mit diesem Heft ein paar Anstöße geben:<br />

Früher als wir selber gehen unsere Eltern ihrem Lebensende entgegen<br />

und sind dann vielleicht auf Hilfe angewiesen. Was das für<br />

uns bedeutet, damit beschäftigt sich der Artikel »Du sollst Vater<br />

und Mutter pflegen« auf Seite 20. Im krassen Gegensatz zum<br />

Pflegen steht es, wenn das Lebensende vorzeitig herbeigeführt<br />

wird. In »Wenn der Staat zur Strafe tötet« auf Seite 16 befragen<br />

wir einen Experten zu Sinn und Wirksamkeit der Todesstrafe.<br />

Viele wertvolle Inspirationen beim Lesen wünscht dir<br />

Dein <strong>oora</strong> Redaktionsteam<br />

<strong>oora</strong>.de 3


Ende | Wenn der Staat zur Strafe tötet<br />

Wenn der Staat zur Strafe tötet<br />

Interview zur Todesstrafe mit Professor Dieter Hermann<br />

Konzept: Michael Zimmermann<br />

Interview: Cosima Strawenow<br />

Amnesty International registrierte 2008<br />

mindestens 2.390 Hinrichtungen in<br />

25 Staaten sowie 8.864 Todes urteile<br />

in 52 Staaten. Wir befragen den<br />

Kriminal soziologen Dieter Hermann zum<br />

Thema Todesstrafe. Er hat 52 Studien zur<br />

Abschreckungswirkung der Todesstrafe<br />

einer Analyse unterzogen. Die einzelnen<br />

Studien kommen zu völlig unterschiedlichen<br />

Ergebnissen.<br />

// Ich entdecke die Arbeit von Professor<br />

Hermann in der Sommer-Ausgabe der Zeitschrift<br />

Chrismon. Aufmerksam lese ich die kurzen,<br />

prägnanten Aussagen, die der Sozialforscher<br />

zur Wirksamkeit der Todesstrafe macht.<br />

Schon bin ich dabei, seine Kontaktdaten im<br />

Netz zu recherchieren und ihn für ein Interview<br />

anzufragen. Kurze Zeit später trifft ihn unsere<br />

Mitarbeiterin Cosima in seinem Büro am Institut<br />

für Kriminologie an der Uni Heidelberg.<br />

16 <strong>oora</strong> 04/11


Wenn der Staat zur Strafe tötet | Ende<br />

Herr Hermann, haben Sie Angst vor dem Tod?<br />

(überlegt) Ja. Tod bedeutet Trennung. Der Tod ist ein Feind<br />

Gottes. Das ist alles nichts Positives.<br />

Was, glauben Sie, passiert nach dem Tod?<br />

Ich werde bei Christus sein. Das betrifft nicht jede Person, aber<br />

gläubige Personen schon.<br />

Trotzdem haben Sie Angst davor, die Erde zu verlassen?<br />

Ja, denn diese negativen Begleiteffekte, wie die Trennung vom<br />

Partner, sind schließlich trotzdem da.<br />

Sie haben 52 verschiedene Studien zur Wirksamkeit der<br />

Todesstrafe miteinander verglichen. Was hat Sie dazu<br />

bewogen?<br />

Die Studie ist eingebunden in eine größere Untersuchung, eine<br />

sogenannte Metaanalyse, in der wir insgesamt 700 Abschreckungsstudien<br />

untersucht haben. Metaanalyse heißt, dass wir<br />

nicht Personen, Länder oder Regionen untersucht haben, sondern<br />

bereits vorhandene Studien. Wir haben uns gefragt, wie<br />

es zu den Ergebnissen einzelner Studien gekommen ist und wie<br />

man diese Ergebnisse so zusammenfassen kann, dass die Resultate<br />

insgesamt sicherer werden.<br />

Es ging also um Ergebnissicherung?<br />

Nicht nur. Die Studien kommen zu sehr unterschiedlichen Resultaten.<br />

Einige kommen zu dem Ergebnis, dass Abschreckung<br />

funktioniere, andere kommen zu dem gegenteiligen Ergebnis,<br />

nämlich, dass Abschreckung Kriminalität produzieren würde.<br />

Unsere Frage war deshalb: Wie kommen diese Unterschiede zustande?<br />

Im Rahmen unserer Untersuchung haben wir natürlich<br />

auch solche Studien berücksichtigt, die sich speziell mit der Todesstrafe<br />

befassen. Eine Studie von Ehrlich beispielsweise, die in<br />

der Frühzeit der Forschungen zur Todesstrafe entstanden ist,<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass jede Exekution sieben bis acht<br />

Morde verhindere. Es gab später dann Replikationen dieser Studie,<br />

die zu dem Ergebnis kamen, dass die Todesstrafe keine einzige<br />

Tötung verhindert.<br />

In Ländern, in denen die Todesstrafe abgeschafft wird, ist<br />

oft sogar ein Rückgang von Tötungsdelikten zu beobachten.<br />

Woher kommt das?<br />

Es gibt Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die Abschaffung<br />

der Todesstrafe zu einem Rückgang der Tötungsdelikte<br />

führt, und es gibt Studien, die in der Einführung der Todesstrafe<br />

diesen Effekt sehen. Der Grund für diese Diskrepanzen, so jedenfalls<br />

das Ergebnis der Metaanalyse, ist das Menschenbild des<br />

Forschers und die Theorie, die seiner Studie zugrunde liegt. Nehmen<br />

wir zum Beispiel einen Forscher mit einem utilitaristischen<br />

Ansatz, der postuliert, dass der Mensch Vor- und Nachteile verschiedener<br />

Handlungsalternativen abwägt und dann immer die<br />

wählt, die ihm den größten Nutzen bringt. Ein Forscher, der so<br />

vorgeht, nimmt an, dass die Todesstrafe zwangsläufig verhaltensrelevant<br />

ist. Der eigene Tod wäre in einer solchen Kosten-Nutzen-<br />

Rechnung immer der größte Kostenfaktor.<br />

Wenn man die Todesstrafe<br />

rechtfertigen will, findet man<br />

immer eine Studie, die das belegt.<br />

Wenn man der Todesstrafe gegenüber<br />

jedoch eher kritisch eingestellt ist,<br />

findet man genauso eine Studie,<br />

die das unterstützt.<br />

In diesem Menschenbild wäre kein Platz für eine Affekthandlung.<br />

Eine einseitige, rein ökonomische Sicht, die man auch<br />

anzweifeln kann.<br />

Richtig. Wenn man den Alltag beobachtet, gibt es ausgesprochen<br />

viele irrationale Handlungen.<br />

Ihr Ansatz ist offenbar kein rein ökonomischer. Welchen Ansatz<br />

verfolgen Sie?<br />

Ich verfolge eher eine Handlungstheorie, die auf den Arbeiten von<br />

Weber und Parsons basiert. Ich gehe davon aus, dass der Mensch<br />

einen freien Willen hat, in dem Sinne, dass er sich zwar zwischen<br />

mehreren Handlungsalternativen entscheiden, aber seine Entscheidung<br />

nicht unbedingt auch praktisch umsetzen kann. Bei der<br />

Wahl der Handlungsalternative spielen seine Werte eine größere<br />

Rolle. Welche Präferenzen hat er? Welche Ziele hat er für sein Leben?<br />

Dabei spielen sein Normverständnis und auch seine strukturelle<br />

Einbindung und seine Sozialisation eine Rolle.<br />

Prof. Dr. Dieter Hermann (60) ist Soziologe und Diplommathematiker. Er<br />

lehrt und forscht am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg. Seine<br />

Schwerpunkte liegen in den Bereichen Kriminalsoziologie (Kriminalitätstheorien,<br />

Präventions- und Evaluationsforschung), Kultursoziologie (Werte-, Lebensstil-<br />

und Sozialkapitalforschung), Methoden empirischer Sozialforschung und<br />

Statistik sowie Ethik.<br />

<strong>oora</strong>.de<br />

17


Ende | Wenn der Staat zur Strafe tötet<br />

Unter anderem auch die religiöse Prägung?<br />

Ja. Es scheint so zu sein, dass gewisse Werte eine Art Plattform<br />

bilden, auf deren Grundlage der Mensch weitere Werte ausbildet.<br />

Diese Basiswerte sind religiöser Natur. Die daraus abgeleiteten<br />

Werte sind beispielsweise Materialismus, Egoismus, Altruismus<br />

und eine subkulturelle Orientierung.<br />

Nehmen Sie dabei Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />

Religionen wahr?<br />

Das habe ich nicht untersucht. Aber es ist schon wahrscheinlich,<br />

dass es Unterschiede gibt, denn Religionen postulieren nun<br />

einmal ein bestimmtes Wertefundament. Und die Werte unterscheiden<br />

sich durchaus religionsspezifisch. Vergleichen Sie<br />

einmal Christentum und Islam. Die Forderung nach Nächstenliebe,<br />

der im Christentum eine große Bedeutung zukommt, ist<br />

auch im Islam vorhanden; im Sinne des Gebots, Almosen zu geben,<br />

hat sie aber nicht denselben hohen Stellenwert. Ein anderes<br />

Beispiel ist die Leistungsorientierung. Das, was man unter dem<br />

Begriff der »protestantischen Ethik« subsumiert, ist im Islam<br />

meines Wissens in der Form nicht von Bedeutung.<br />

Der Leistungsgedanke spielt in unserer Gesellschaft eine<br />

große Rolle. Dazu zählt, dass man Haltung bewahrt und sich<br />

selbst und sein Leben immer unter dem Gesichtspunkt des<br />

Fortschritts betrachtet. Hat sich da nicht etwas vom Christentum<br />

abgekoppelt?<br />

Leistung ist kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Religion,<br />

das ist richtig. Aber gerade die Reformatoren, insbesondere<br />

Calvin, haben den Gedanken betont, dass Leistung für Christen<br />

außerordentlich wichtig ist. Er hat dies etwas kompliziert mit der<br />

Prädestinationslehre begründet, aber der Gedanke, dass Christen<br />

zu Leistung verpflichtet sind, dass sie der Stadt Bestes suchen und<br />

sich gesellschaftlich engagieren sollen, ist schon ein Gedanke, der<br />

dem Christentum entspringt.<br />

Die Annahme, dass religiöse Prägung Mord verhindert, ist<br />

momentan höchst unpopulär. Dem Islam wird ja seit geraumer<br />

Zeit gerade das Gegenteil vorgeworfen.<br />

Nein, das kann man so nicht sagen. Der Islam ist eine Religion,<br />

der ein anderes Werteprofil hervorbringt als das Christentum.<br />

Aber deshalb ist der Islam noch lange keine Religion, die notwendigerweise<br />

Gewalt hervorbringt. In manchen Fällen hängt<br />

das sicher von der Interpretation des Korans ab, aber in der Regel<br />

dürfte das nicht der Fall sein.<br />

Die Todesstrafe besteht unter anderem noch in den USA, die<br />

uns als westliches Land näher steht als viele andere Länder.<br />

Diesen Monat wurde in Texas die Hinrichtung des 234.<br />

Todeskandidaten unter dem amtierenden Gouverneur Rick<br />

Perry vollzogen. Weshalb findet die Todesstrafe in einem<br />

Staat wie Texas so viele Anhänger?<br />

Der Abschreckungsgedanke spielt in den USA eine viel größere<br />

Rolle als in Europa – übrigens im gesamten Strafrecht. Nahezu<br />

alle staatlichen Sanktionen in den USA sind im Vergleich zu<br />

Deutschland relativ hoch.<br />

18 <strong>oora</strong> 04/11


Wenn der Staat zur Strafe tötet | Ende<br />

Wichtig ist, dass gestraft wird.<br />

Dass deutlich gemacht wird,<br />

eine Norm hat Gültigkeit und keiner<br />

kann sie so ohne Weiteres übertreten.<br />

Die Höhe der Strafe ist dann gar<br />

nicht mehr so entscheidend.<br />

Warum ist das so?<br />

Das kann ich mir auch nicht so richtig erklären. Vielleicht spielt<br />

hier die Kultur eine Rolle. Womöglich kommt dem Mensch an<br />

sich in Europa kulturbedingt ein höherer Stellenwert zu. Vielleicht<br />

liegt es auch an der niedrigeren Kriminalitätsrate in Europa.<br />

Nach Ihren Forschungen würde aber ein milderes Strafmaß<br />

auch zu weniger Kriminalität führen.<br />

Wichtig ist, dass gestraft wird. Dass deutlich gemacht wird, dass<br />

eine Norm Gültigkeit hat und keiner sie so ohne Weiteres übertreten<br />

kann. Die Höhe der Strafe ist dann gar nicht mehr so entscheidend.<br />

Wichtig ist auch, dass schnell gestraft wird.<br />

Wäre das auch ein Kostenfaktor? Je länger der Mensch in<br />

Untersuchungshaft sitzt, umso mehr kostet er den Staat.<br />

Bei neueren Forschungen zu diesem Thema, die ökonomisch<br />

orientiert sind, spielt das tatsächlich eine Rolle. Sie kommen zu<br />

dem Ergebnis, dass der Zeitraum zwischen Tat und Sanktion<br />

möglichst kurz sein sollte, um Effizienz im rational-utilitaristischen<br />

Sinne zu erreichen.<br />

Ist es dann nicht billiger, eine Exekution durchzuführen, als<br />

einen Mörder lebenslang hinter Gittern zu beherbergen?<br />

Nein, das ist sogar noch teurer. Die Freiheitsstrafe, die vor der<br />

Exekution abgesessen wird, ist in der Regel ausgesprochen lang,<br />

bis zu 20 Jahren, und dann kommt am Ende doch noch die Exekution.<br />

Das heißt, der Unterschied der Haftdauer einer Person,<br />

die zum Tode verurteilt wurde und einer Person, die »lebenslänglich«<br />

bekommen hat, ist gar nicht so gravierend.<br />

Weshalb sitzen Todeskandidaten so lange ein?<br />

Weil man Fehlurteile vermeiden will. Bei der Todesstrafe gibt es<br />

viel mehr Einspruchsmöglichkeiten als bei anderen Strafmaßnahmen.<br />

Der juristische Aufwand ist für das Gericht wesentlich<br />

höher, wenn eine Todesstrafe zur Diskussion steht.<br />

Was empfehlen Sie den 60 Staaten, die nach wie vor die<br />

Todesstrafe anwenden?<br />

Sie sollen meine Studie lesen. Wir haben herausgefunden, dass<br />

es in allererster Linie an der Institutionenzugehörigkeit eines<br />

Forschers liegt, zu welchem Ergebnis er bezüglich der Abschreckungswirksamkeit<br />

der Todesstrafe kommt. Es kommt auf das<br />

Menschenbild an, das der Forscher hat, und auf seine handlungstheoretischen<br />

Vorstellungen. Somit fehlt der Todesstrafe<br />

die generalpräventive Legitimation.<br />

Sie sagen, Forscher sind gar nicht objektiv?<br />

Alle Forscher forschen subjektiv, vermutlich ist Objektivität gar<br />

nicht möglich. Allerdings wirkt sich diese subjektive Sichtweise<br />

bei anderen Forschungen nicht so gravierend aus wie bei den<br />

Studien zur Todesstrafe. Nur bei diesem Thema findet man einen<br />

engen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer<br />

Institution und dem Forschungsergebnis.<br />

Die Todesstrafe wird also politischer bewertet als andere<br />

Strafmaßnahmen?<br />

Ja. Wahrscheinlich liegt das auch an der emotionalen Position<br />

des Forschenden zu dem Thema. Wenn er Anhänger einer Rational-Choice-Theorie<br />

ist, wenn er also davon ausgeht, dass Menschen<br />

nach Kosten-Nutzen-Aspekten handeln, wenn er an einer<br />

ökonomischen Institution angestellt ist, wenn er in einer ökonomischen<br />

Zeitschrift veröffentlicht, dann ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass seine Studie die Todesstrafe befürwortet, viel größer,<br />

als wenn er eine andere Handlungstheorie präferiert, beispielsweise<br />

als Soziologe oder Kriminologe. Das sind die Weichenstellungen,<br />

die zu unterschiedlichen Studienergebnissen führen.<br />

Der Unterschied der Haftdauer<br />

einer Person, die zum Tode<br />

verurteilt wurde und einer Person,<br />

die »lebenslänglich« bekommen hat,<br />

ist gar nicht so gravierend.<br />

Würden Sie also den Politikern dieser 60 Länder, wenn sie<br />

denn darüber nachdächten, die Todesstrafe abzuschaffen,<br />

dazu raten, mehrere Studien zu Rate zu ziehen?<br />

So ist es. Wenn man die Todesstrafe rechtfertigen will, findet<br />

man immer eine Studie, die das belegt. Wenn man der Todesstrafe<br />

gegenüber jedoch eher kritisch eingestellt ist, findet man<br />

genauso eine Studie, die das unterstützt. In einer solchen Situation<br />

braucht man einen größeren Überblick, um halbwegs sicher<br />

zu sein, wie die verschiedenen Ergebnisse einzuordnen sind.<br />

Das heißt, dass Ihre Forschungsergebnisse im besten Fall<br />

dazu beitragen können, dass die Todesstrafe geächtet wird?<br />

… und dass man eine kritische Distanz zur Todesstrafe bekommt<br />

und einer einzelnen Studie nicht einfach so glaubt.<br />

Herr Hermann, vielen Dank für das Gespräch. ///<br />

<strong>oora</strong>.de 19


Ende | Die Kunst des Trauerns<br />

Die Kunst des Trauerns<br />

Nach jedem Ende kommt ein neuer Anfang<br />

Text: Kerstin Hack<br />

Der Verlust eines geliebten Menschen oder der lieb<br />

gewonnenen Arbeitsstelle trifft einen plötzlich und<br />

unerwartet. Eine Ära geht zu Ende. Tiefe Trauer breitet<br />

sich aus. Was dann? Wie kann man diese Phase für<br />

sich sortieren und nutzen? Wie kann man andere darin<br />

unterstützen? Hilfestellung dazu gibt es hier.<br />

// Passt dieser Artikel überhaupt zu mir? Das hatte ich mich<br />

schon bald nach meiner Zusage gefragt. Ich mag praktische<br />

Ideen, die man gleich umsetzen kann. Gebe leidenschaftlich gerne<br />

Besser-Leben-Tipps und freue mich, wenn ich höre, dass sie<br />

das Leben anderer Menschen erleichtern und bereichern. Erlebt<br />

jemand jedoch einen Verlust und betrauert diesen, sind konkrete,<br />

praktische Tipps meist fehl am Platz und greifen zu kurz.<br />

Trauer kommt wie ein ungebetener Gast – und bleibt auf unbestimmte<br />

Zeit. Und weil sie irgendwie zur Familie gehört, kann<br />

man sie nicht einfach rauswerfen. Billige Ratschläge im Sinne<br />

von »Kopf hoch« helfen nun gar nicht. Sie führen eher dazu,<br />

dass man sich noch mehr zurückzieht, weil man sich unverstanden<br />

und allein gelassen fühlt.<br />

Was hilft bei Trauer?<br />

Wenn man selbst trauert, hilft es zu verstehen, woher die Trauer<br />

kommt. Trauer entsteht immer aufgrund eines Verlustes. Das<br />

kann ein geliebter Mensch sein, der plötzlich nicht mehr da ist.<br />

Oder auch der Verlust von körperlicher Kraft. So wie bei einer<br />

Frau, die nach einer – gut verlaufenen – Krebserkrankung nicht<br />

mehr zu ihrer früheren Kraft zurückfand und nun über diesen<br />

Verlust trauerte. Es kann auch der Verlust von Beziehungen<br />

sein. Oder auch der Verlust einer Arbeitsstelle.<br />

Manches verliert man im Leben und kann es relativ gelassen<br />

hinnehmen – doch in der Regel verliert man mit dem Verlust<br />

auch die Sicherheit. Bisher dachte man, die Ehe wäre stabil, der<br />

geliebte Mensch würde bis ans Ende seiner Tage bei einem blei-<br />

22<br />

<strong>oora</strong> 04/11


Die Kunst des Trauerns | Ende<br />

ben, der Körper würde weitgehend leistungsfähig bleiben, man<br />

würde immer einen Job haben. Und plötzlich erlebt man: Das,<br />

was vermeintlich sicher war, stürzt ein. Nichts ist mehr sicher.<br />

Das verunsichert. Man muss jetzt neue Sicherheit finden.<br />

Erstmal sortieren<br />

Hier hilft es, das Trauern bewusst als Sortieren zu begreifen.<br />

Wer trauert, kann und muss neu sortieren: Was hat in meinem<br />

Leben Bestand? Was nicht? Oder auch: Was bleibt von diesem<br />

Lebensabschnitt? Was muss ich für immer loslassen?<br />

Mir hat es in einer Trauerphase geholfen, mich ganz bewusst<br />

von Hunderten kleinen Dingen einzeln zu verabschieden, die<br />

nun nicht mehr möglich waren. Ich habe Gott für jedes Einzelne<br />

gedankt. Und dann gesagt, dass ich akzeptiere, dass es nun<br />

nicht mehr ist. Akzeptieren heißt nicht »gut finden«. Es heißt<br />

lediglich »annehmen«. Ich nehme an, dass es ist, wie es ist. Ich<br />

kämpfe nicht mehr dagegen an. Das kann insbesondere dann<br />

hilfreich sein, wenn Selbstanklage im Spiel ist und man sich ausmalt,<br />

dass der Verlust vielleicht hätte vermieden werden können,<br />

hätte man nur dieses oder jenes getan. Damit kann man Tage,<br />

Wochen, Monate und Jahre verbringen. Oder zum Annehmen<br />

finden. Und sagen: Es war, wie es war. Und ich gehe jetzt weiter.<br />

Im Trauern entdeckt man, was Bestand hat. Was trotz allem<br />

bleibt. Manche Menschen, Beziehungen, eigene Stärken, Erfahrungen,<br />

Schätze, Erinnerungen an schöne Zeiten und gelebtes<br />

Leben. Das kann – nach einer Phase, in der man den Blick nach<br />

hinten richtet – wieder Kraft für das geben, was vor einem liegt.<br />

Mit dem Verlust ist nicht alles vorbei.<br />

Ins Leben zurückkehren<br />

Ich habe einem Freund nach dem Krebstod seiner Frau geschrieben,<br />

dass ich ihm wünsche, dass er gut trauern kann, aber dann<br />

auch wieder ins Leben zurückkehrt. »Es ist schlimm genug, dass<br />

der Krebs ihr Leben zerstört hat. Es wäre noch schlimmer, wenn<br />

er jetzt auch deines zerstören würde.« Ich wagte es, ihm folgenden<br />

Satz zu schreiben: »Ein gutes Leben ist die beste Rache.« Einige<br />

Zeit später schrieb er mir, dass er eine neue Partnerin gefunden<br />

hat und wieder heiraten wird – und dass ihn dieser Satz<br />

ermutigt hat, nicht in der Vergangenheit und dem Verlust stecken<br />

zu bleiben, sondern die neuen Möglichkeiten zu sehen. Er<br />

hat sich für den Verlust »gerächt«, indem er neu begann und das<br />

Beste aus der Situation machte.<br />

Anderen helfen<br />

Wer Menschen unterstützen will, die gerade einen Verlust betrauern,<br />

tut gut daran, zu wissen, dass Trauer in verschiedenen<br />

Phasen kommt. 1 In der Anfangsphase ist man oft nur geschockt.<br />

Man leugnet, was geschehen ist. »Das kann doch nicht wahr<br />

sein.« Man ist geschockt, erstarrt, hält alles für einen bösen<br />

Traum. In dieser Phase braucht man vor allem praktische Unterstützung.<br />

Man ist wie gelähmt, und es tut gut, wenn Menschen<br />

da sind und helfen, indem sie Essen kochen, Einkäufe erledigen,<br />

praktische Aufgaben übernehmen.<br />

Löst sich die Starre, kommen in einer zweiten Phase die Emotionen<br />

hoch: Angst, Wut, Zorn, Unruhe. Auch Anklage gegen die<br />

vermeintlich Schuldigen: den früheren Partner, die Ärzte, Gott,<br />

das Leben selbst. Hier ist Beschwichtigen fehl am Platz. Auch<br />

Erklärungen sind wenig hilfreich, selbst wenn sie inhaltlich<br />

stimmen, wie beispielsweise »Gott meint es trotz allem gut mit<br />

dir.« Was wirklich hilft, ist, dem Trauernden Raum zu geben,<br />

seine Gefühle ungeschminkt zu äußern. Man kann ihn unterstützen,<br />

indem man Resonanz gibt: »Du fühlst dich gerade so<br />

und so.« oder »Es klingt, als ob du gerade …«<br />

In der dritten Trauerphase versucht man, das Verlorengegangene<br />

irgendwie wiederzufinden. Man hält innerlich Zwiesprache,<br />

träumt, phantasiert. In dieser Phase kommt häufig auch nicht<br />

Gelöstes an die Oberfläche »Ich wünschte, ich hätte ihm das<br />

noch gesagt.« In dieser Phase kann es hilfreich sein, nachzufragen:<br />

»Welche Erinnerungen sind denn besonders schön? Was<br />

kannst oder möchtest du aus dieser Phase behalten?«<br />

In der vierten Phase hat man den Verlust schließlich akzeptiert<br />

und entdeckt neue Lebensmöglichkeiten. Wenn man<br />

ahnt, dass der andere sich wieder dem Leben zuwenden möchte,<br />

kann man ihn einladen – zu Aktivitäten und gemeinsamen<br />

Unternehmungen.<br />

Das, was hier so ordentlich klingt, ist im echten Leben ein weitaus<br />

größeres Chaos. Menschen, die trauern, durchlaufen diese<br />

Phasen in der einen oder anderen Form. Doch nicht immer geradlinig<br />

und chronologisch, sondern häufig mit Sprüngen hin<br />

und her. Wer Trauernde begleitet, darf sich auf Überraschungen<br />

gefasst machen. Mal ist Akzeptanz und Gelassenheit spürbar,<br />

dann wieder wütendes Aufbegehren. Manchmal im Minutentakt<br />

wechselnd.<br />

Wer sich darauf einlässt, einem Menschen hierbei zur Seite zu<br />

stehen und sensibel auf die jeweilige Phase zu reagieren, kann<br />

dabei Schätze entdecken. Denn jedes geteilte Leben ist wunderbar<br />

und hat seine eigene Schönheit. Das macht ja auch den Verlust<br />

oft so hart. Doch in der Trauer mit dem anderen zu entdecken,<br />

was von dieser Phase behalten werden kann – und was<br />

jetzt immer noch möglich ist, eröffnet wunderbare Möglichkeiten<br />

des Mitleidens, Mitliebens und Mitlebens. ///<br />

Fußnote:<br />

1 Nach der Trauerforscherin Verena Kast – sehr verkürzt – dargestellt. Ausführlicher zu finden unter<br />

de.wikipedia.org/wiki/Trauer#Trauerprozess_in_vier_Phasen_nach_Kast<br />

Kerstin Hack (44) ist Berlinerin, liebt das Leben, Schoko- und echte Küsse,<br />

Liegeräder, Fotografie und Go-Kart-Fahren. Die ist Verlegerin des »Down to Earth<br />

Verlages«, der auf kompakte Lebenshilfe spezialisiert ist. Sie bloggt unter<br />

www.kerstinpur.de<br />

<strong>oora</strong>.de 23


Ende | Vom Mut, Dinge sterben zu lassen<br />

Vom Mut,<br />

Dinge sterben zu lassen<br />

Mein Freund Gott und ich<br />

Text: Mickey Wiese // Kolumne<br />

Audioversion unter www.<strong>oora</strong>.de/audio<br />

Mickey denkt über das Sterben und<br />

Sterben-lassen nach und gesteht<br />

seinem Freund Gott, dass er damit<br />

gar nicht gut klar kommt. Der jedoch<br />

eröffnet ihm ganz neue Perspektiven.<br />

// Als mein Freund Gott und ich über<br />

das Thema dieses Artikels nachdachten,<br />

saßen wir im Kellerfoyer des Langener<br />

Glaskunstmuseums zwischen Toiletten<br />

und verschlossenen Türen. »Das stimmt<br />

schon mal so richtig auf das Thema ein«,<br />

schmunzelten wir beide unwillkürlich.<br />

Eigentlich hatten wir uns die abstrakten<br />

Glasfenster unseres Freundes Johannes<br />

Schreiter anschauen wollen, dem wohl<br />

international bedeutendsten abstrakten<br />

Glasmaler unserer Zeit. 1 Schließlich mussten<br />

wir diesen Gedanken aufgrund neuer<br />

Öffnungszeiten jedoch sterben lassen.<br />

Das fiel uns in diesem Fall nicht ganz so<br />

schwer, weil es im Kellerfoyer ein Glasfenster<br />

von Schreiter als Appetizer zur<br />

Ausstellung gibt, dem wir nun gegenüber<br />

saßen. 2 Auf weißem Grund durchzieht<br />

unter anderem ein Bündel energischer<br />

freier schwarzer Handzeichnungen das<br />

Bild. »Da siehst du mein Problem in Bezug<br />

auf das Sterben«, sagte ich zu meinem<br />

Freund Gott. »Ich lebe viel zu oft<br />

nach dem Motto: Lieber ein bekanntes<br />

Leid, als ein unbekanntes Glück. Und<br />

dann verharre ich gefühlte Ewigkeiten in<br />

Situationen, die mir vielleicht gar nicht<br />

gut tun oder die sogar schon längst ihr<br />

Leben eingebüßt haben. Aber ich habe<br />

einfach Angst, mich in den verwirrenden<br />

Lebenslinien, die sich in neuen Lebenssituationen,<br />

wie auf dem Glasfenster hier,<br />

ergeben können, nicht zurecht zu finden.<br />

Zum Tot-sein brauche ich keinen Mut,<br />

weil ich ja bei dir sein will, aber zum<br />

Sterben schon, denn das kann hässlich<br />

und gemein werden.«<br />

Mein Freund Gott schaute mich mit<br />

ernstem Blick an: »Wie hättest du eigentlich<br />

damals anstelle der Jünger reagiert,<br />

als ich ihnen sagte, dass ich unsere gemeinsame<br />

Zeit auf der Erde zunächst<br />

einmal sterben lassen würde?« »Ich<br />

wäre auch traurig gewesen«, antwortete<br />

ich. »Auch deine Ankündigung, dass<br />

der Heilige Geist nun bei uns bleiben<br />

werde, hätte mich nicht froh gestimmt.<br />

Ich will nicht verlieren. Ich habe Angst,<br />

dass dann doch nichts kommt oder wenn<br />

doch, dass ich mich darin nicht orientieren<br />

kann.«<br />

»Sterben heißt, die Schmerzen des Verlusts<br />

zu ertragen mit der Perspektive,<br />

etwas loszulassen, aber doch nur in der<br />

Hoffnung, Neues zu empfangen«, schlaumeierte<br />

mein Freund Gott. Aber auch<br />

solche klugen Sätze konnten mich nicht<br />

restlos überzeugen. Man kennt das Neue<br />

ja noch nicht, es ist einem nicht vertraut,<br />

und sicher ist es auch nicht.<br />

Mein Freund Gott nahm mich bei der<br />

Hand: »Spürst du mich?« »Ja.« »Hättest<br />

du Angst, an meiner Hand in unbekanntes<br />

Land zu gehen?«<br />

»So lange ich deinen Stecken und<br />

deinen Stab spüren kann, fürchte<br />

ich kein Unheil, auch wenn’s<br />

mal durch eine Schattenwelt<br />

geht«, kam ich meinem Freund<br />

Gott jetzt mal ganz biblisch.<br />

Das nahm er natürlich gleich<br />

zum Anlass auf derselben Ebene<br />

zu kontern: »Es ist ein Problem<br />

des Vertrauens in das Leben.<br />

Hast du dir einmal überlegt,<br />

warum ich meine Freunde<br />

ihr Manna jeden Tag neu<br />

einsammeln ließ? Weil<br />

das Leben hier in dieser<br />

Dimension der linearen<br />

24<br />

<strong>oora</strong> 04/11


Vom Mut, Dinge sterben zu lassen | Ende<br />

Sterben heißt, die Schmerzen des Verlusts<br />

zu ertragen mit der Perspektive, etwas loszulassen,<br />

aber doch nur in der Hoffnung,<br />

Neues zu empfangen.<br />

Zeitausbreitung ständig voranschreitet<br />

und sich beständig verändert. Kein Herzschlag<br />

gleicht dem Vorigen. Solange ihr<br />

noch auf der Wanderung seid und nicht<br />

am Ziel, wandelt sich alles beständig,<br />

und du musst Abschied nehmen in jeder<br />

Sekunde. Das Manna, das dich heute<br />

noch am Leben erhält, ist morgen schon<br />

dein totes Gestern. Und selbst die Toten<br />

werden noch einmal eine Änderung<br />

erfahren, sie werden Abschied nehmen<br />

müssen vom Hades, dem Totenreich, in<br />

dem alle Seelen bis zum jüngsten Gericht<br />

zwischengelagert sind, und sie werden<br />

auferstehen müssen, um dann endgültig<br />

an ihr anvisiertes Ziel zu kommen, entweder<br />

zu mir in die ewige Heimat oder<br />

eben in den zweiten, den endgültigen<br />

Tod, das ewige Verwehen im Nichts. Beides<br />

ist dann endgültig. Meine Ewigkeit<br />

beendet das Sterben-lassen-müssen, die<br />

ständigen Abschiede und Neubeginne.<br />

Nur wenn meine Freunde das Ziel nicht<br />

sehen können und ihre Leben nicht als<br />

Wanderung begreifen, dann machen ihnen<br />

die Abschiede Angst, weil sie sie aus<br />

der Wärme des Vertrauten herausreißen<br />

und so schockieren. Verstehst du das,<br />

Mickey? Folge mir nach …«<br />

Nach diesem langen Vortrag war ich<br />

jetzt etwas platt. Das muss man ja auch<br />

erst einmal verdauen. Zum Glück kam<br />

in diesem Moment gerade unser Freund<br />

Johannes Schreiter durch die Tür und<br />

lud uns zum Essen ein. Dankbar beendete<br />

ich vorerst das herausfordernde Gespräch<br />

mit meinem Freund Gott. Aber<br />

ich konnte ihn die ganze Zeit auf dem<br />

Weg zum Restaurant hinter uns spüren,<br />

und ich wusste genau, dass er fröhlich<br />

schmunzelte, weil er wieder einmal einen<br />

Samen des Lebens in meine Erde versenkt<br />

hatte, damit er dort stirbt …<br />

Seitdem bitte ich meinen Freund Gott<br />

nicht nur um den Mut, Dinge sterben<br />

zu lassen, sondern um die Weisheit, Anfang<br />

und Ende in einen Zusammenhang<br />

bringen zu können und die Gnade, mein<br />

Leben immer mehr aus einer Hubschrauber-<br />

oder besser Gipfelperspektive betrachten<br />

zu können. Und dann schnalle<br />

ich mir den Rucksack wieder auf den Rücken<br />

und mache mich daran, das nächste<br />

Tal zu durchwandern und zu genießen<br />

bis hin zum nächsten Gipfelkreuz. ///<br />

Fußnoten:<br />

1 www.neue-stadthalle-langen.de/lang-de/GlasWerke/c151<br />

2 Kurzvideo von und mit Mickey im Kellerfoyer des<br />

Glasmuseums: youtu.be/6Y76GKsSzrc<br />

Mickey Wiese (51), länger als er lebt mit Jesus<br />

befreundet, ist als Event-Pastor, systemischer<br />

Berater für störende Schüler und in einigen anderen<br />

Rollen unterwegs. Er hat Sehnsüchte nach<br />

Glauben im Alltag, wird gerne gegooglet und findet<br />

Beerdigungen fast besser als Hochzeiten, feiert<br />

letztere aber ausgiebiger.<br />

<strong>oora</strong>.de 25

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