AuÃenseiter - oora
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13. Jahrgang • 3/2012 • Nr. 45 (September)<br />
5,50 EUR/7,50 SFr (Einzelpreis)<br />
www.<strong>oora</strong>.de<br />
Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken<br />
Außenseiter<br />
Gehörst du dazu?<br />
Marginal Men<br />
Wie überzeuge ich meine Gemeinde?<br />
Seite 10<br />
Seit 200 Jahren Außenseiter<br />
Søren Kierkegaard<br />
Seite 20<br />
Überzeugt<br />
Seinen Unglauben an die eigenen Kinder weitergeben<br />
Seite 30
Personen aus Apples 1997 gelaunchter Think-different-Werbekampagne<br />
Joan Baez und Bob Dylan (*1941) beim Marsch auf Washington am 28. August 1963<br />
Alfred Hitchcock (1899-1980)<br />
britischer Filmregisseur und Filmproduzent<br />
Covermotiv: Martin Luther King (USamerikanischer<br />
Theologe und Bürgerrechtler)<br />
auf einer Presse konferenz im<br />
März 1964<br />
Mahatma Gandhi (1869-1948)<br />
indischer Rechtsanwalt, Publizist,<br />
Morallehrer, Asket und Pazifist<br />
Albert Einstein (1879-1955) – theoretischer Physiker
Aus dem<br />
<strong>oora</strong>versum<br />
Editorial<br />
Das Team von links nach rechts: Michael, Jörg, Anne, Matthias, Johanna, Daniel<br />
An alle, die anders denken:<br />
Freakstock<br />
Anfang August waren wir mit einem Stand auf<br />
dem Freakstock in Borgentreich bei Kassel. Mit<br />
von der Partie war auch wieder unser braunes<br />
Sitzsofa, auf dem wir viele nette Menschen kennenlernen<br />
konnten. Natürlich wurde auch viel<br />
<strong>oora</strong> gelesen. Das beliebteste <strong>oora</strong>-Cover auf<br />
dem Freakstock war übrigens die Ausgabe »Gemeinschaft«,<br />
was wir daran festmachen, das die<br />
meisten zuerst zu dieser Ausgabe griffen.<br />
ledig<br />
in einer Beziehung<br />
verlobt<br />
verheiratet<br />
es ist kompliziert<br />
Leserumfrage<br />
Bei der Ende Juli durchgeführten Leserumfrage<br />
haben 25 Prozent der Abonnenten teilgenommen<br />
– ein Wert, der sich sehen lässt! Dabei<br />
gab fast die Hälfte an, verheiratet zu sein<br />
(46%). Ein Drittel kreuzte »ledig« als Familienstand<br />
an (31%). In einer Beziehung (16%)<br />
oder verlobt (4%) waren zusammen noch<br />
20 Prozent. Dass es kompliziert sei, gab nur<br />
1 Prozent der Befragten an. Danke, dass ihr<br />
mitgemacht habt. So können wir <strong>oora</strong> noch<br />
besser auf eure Bedürfnisse abstimmen.<br />
<strong>oora</strong>-Audio<br />
Unser Sprecher Daniel Schneider wohnt mit seiner<br />
Familie ab sofort in einem ehema ligen Pfarrhaus.<br />
Ob seine Sprachmelodie jetzt ländlichentspannter<br />
klingt? Unter www.<strong>oora</strong>.de/audio<br />
findest du alle Audio-Versionen der aktuellen<br />
Ausgabe, die Daniels Kollegin Mechthild Puhlmann<br />
und er für dich eingesprochen haben.<br />
Die Rebellen, die Idealisten, die Visionäre, die Querdenker,<br />
die, die sich in kein Schema pressen lassen, die, die Dinge anders sehen.<br />
Sie beugen sich keinen Regeln und sie haben keinen Respekt vor dem Status Quo.<br />
Wir können sie zitieren, ihnen widersprechen, sie bewundern oder ablehnen.<br />
Das Einzige, was wir nicht können, ist, sie zu ignorieren,<br />
weil sie Dinge verändern, weil sie die Menschheit weiterbringen.<br />
Und während einige sie für verrückt halten, sehen wir in ihnen Genies.<br />
Denn die, die verrückt genug sind zu denken, sie könnten die Welt verändern,<br />
sind die, die es tun.<br />
—Apple in der »Think different«-Werbekampagne<br />
(Craig Tanimoto, Konzepter bei der Werbeagentur TBWA\Chiat\Day)<br />
// Als Steve Jobs im Dezember 1996 nach 11 Jahren zu Apple zurückkehrte, ging es der<br />
Firma nicht gut. Sie hatte mehrere Millionen Dollar für die Entwicklung von Produkten<br />
ausgegeben, die keiner haben wollte und dabei ihren einstigen Kultstatus eingebüßt. Der<br />
Gründervater erklärte nach seiner Rückkehr die Kommunikation von Apple zur Chefsache.<br />
Ein Schlüssel war dabei die »Think different«-Kampagne, deren Kern der oben abgedruckte<br />
Text bildete. Der Aufbau war höchst unklassisch, da keine eigenen Produkte<br />
gezeigt wurden, sondern lediglich Schwarz-Weiß-Portraits von Denkern wie Albert Einstein,<br />
Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Dazu der mit tiefer Stimme gesprochene<br />
lyrische Text und am Ende der Slogan »Think different.« mit dem Logo der Firma.<br />
Die Aussage war klar: Diejenigen, die anders sind als der Durchschnitt, die Außenseiter<br />
also, haben das Potenzial, die Welt zu verändern, weil sie außerhalb von Gewohntem<br />
denken und handeln. Durch die Verknüpfung der Marke »Apple« mit dieser Botschaft<br />
wurde die Außenseiter-Rolle der Firma hervorgehoben und schuf so die Basis für das<br />
Hipster-Image, mit dem sich Apple schließlich dauerhaft gegenüber anderen Marken positionieren<br />
konnte.<br />
Dass der Slogan »Think different« im Englischen grammatikalisch falsch ist – es müsste<br />
eigentlich »Think differently« heißen – wird von Muttersprachlern unterschwellig wahrgenommen<br />
und erhöht die Aufmerksamkeit für die Aussage. Langweilige Korrektheit<br />
weicht chaotischem Genius, das sich um Banalitäten wie korrekte Rechtschreibung wenig<br />
schert. Die Kampagne war für den Image-Aufbau von Apple höchst effektiv. Sie gewann<br />
mehrere Auszeichnungen und wurde bis 2002 verwendet. Aktuell ist Apple mit<br />
über 600 Milliarden Dollar Börsenwert das teuerste Unternehmen der Welt.<br />
Außenseitertum, das in Apples Kampagne als positiv und hip dargestellt wird, ist für<br />
den Einzelnen allerdings oft Not oder zumindest Kunst. Not dann, wenn das Anderssein<br />
herausfordert, weil es leichter ist, in der Masse mitzuschwimmen als hervorzustechen.<br />
Kunst dann, wenn man es trotzdem schafft, seinen Weg zu finden als einzigartige Persönlichkeit,<br />
wie beispielsweise Schwester Esther, die mit 50 Jahren zweitjüngste Diakonisse<br />
ihrer Gemeinschaft ist (Seite 6), oder Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph<br />
(Seite 20). Oder auch Bezieher von Hartz IV, die von der Gesellschaft zu Außenseitern<br />
stigmatisiert werden (Seite 22).<br />
Wir wünschen dir, dass du deinen ganz eigenen Weg als Außenseiter findest.<br />
In Freundschaft,<br />
Dein <strong>oora</strong>-Redaktionsteam<br />
Außenseiter <strong>oora</strong>.de 3
Inhalt<br />
<strong>oora</strong><br />
Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind,<br />
gibt es als Audioversion in iTunes und auf www.<strong>oora</strong>.de/audio.<br />
Schwerpunkt: Außenseiter<br />
Quergedacht<br />
6 Als Exotin mitten im Geschehen<br />
Fragen an eine Diakonisse<br />
Interview: Kathinka Hertlein<br />
10 Marginal Men<br />
Wie überzeuge ich meine Gemeinde?<br />
Daniel Hufeisen<br />
12 Der Roma-König<br />
Ein Gespräch mit Pastor Emil Adam<br />
Paul Neustupny + Tomáš Korčák<br />
16 Kontrast-Christ<br />
So geht es: Salz und Licht sein<br />
Daniel Hufeisen<br />
19 Schwimme doch gegen den Strom<br />
So war’s bei mir<br />
Matthias Lehmann<br />
20 Seit 200 Jahren Außenseiter<br />
Søren Kierkegaard<br />
Fred Ritzhaupt<br />
22 Abgestempelt<br />
Meine Erfahrungen mit Hartz IV<br />
Jörg Schellenberger<br />
25 Obdachlosen helfen<br />
Was man für Menschen ohne festen Wohnsitz<br />
tun kann<br />
Michael Zimmermann<br />
26 Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit<br />
Panne im System<br />
Kolumne: Axel Brandhorst<br />
29 Die Ethikfrage<br />
30 <strong>oora</strong>-Herzschlag: Überzeugt<br />
Seinen Unglauben an die eigenen Kinder weitergeben<br />
Michael Zimmermann<br />
32 Bitte Zweifeln<br />
Interview mit dem Fotograf und Blogger<br />
Martin Gommel<br />
Interview: Johanna WeiSS<br />
36 Angst vorm Frauenarzt<br />
Warum es trotzdem Sinn macht, hinzugehen<br />
Sonja Küster<br />
40 Unter der Oberfläche<br />
Auf der Suche nach Begrenzung<br />
Kolumne: Linda Zimmermann<br />
42 Gefangen<br />
Lyrik: Daniel Sailer<br />
43 Buchrezensionen<br />
44 Zum Seerosen-Pflücken nach Somaliland<br />
Über Antworten, die ich nicht gefunden habe<br />
Johanna WeiSS<br />
48 Mein Freund Gott und ich<br />
Wie Gott mir das ABC neu erklärte<br />
Kolumne: Mickey Wiese<br />
4<br />
<strong>oora</strong> 03/12
<strong>oora</strong> fragt:<br />
In welcher Gruppe<br />
wärst du gern Insider?<br />
<br />
In dem 400-Seelen-Dorf, in das ich<br />
mit meiner Frau vor Kurzem gezogen<br />
bin, würde ich manchmal gern<br />
richtig dazugehören und wie ein<br />
echter Einheimischer sein.<br />
Simon Osthof (27) aus Wölmersen<br />
Als Sozialpädagogin wäre ich oftmals<br />
wirklich gerne Insider in der<br />
ein oder anderen Jugendgruppe.<br />
Und privat habe ich den Wunsch, eines<br />
Tages zu den Muttis zu gehören.<br />
<br />
Elisabeth Bell (29) aus Ottenbach<br />
Während meiner Arbeit als HiWi<br />
in einem Schulforschungsprojekt<br />
wünsche ich mir oft, zum Kreise<br />
der Wissenschaftler zu gehören und<br />
nicht »nur« als Lehramtsstudentin<br />
daneben zu stehen.<br />
Johanna Woitschig (21) aus Halle<br />
Bei mir ist es eher andersrum – dass<br />
andere mich gern bei verschiedenen<br />
Dingen dabei hätten. Doch ich habe <br />
meist keine Zeit und manches will<br />
ich einfach nicht mehr machen.<br />
Wolfgang Süpke (49) aus Schloßvippach<br />
Impressum<br />
Nummer 45 • 3/2012<br />
ISSN 2191-7892<br />
Herausgeber: <strong>oora</strong> verlag GbR, Jörg Schellenberger und<br />
Michael Zimmermann, Dollmannstraße 104, 91522 Ansbach<br />
Redaktionsleitung: Jörg Schellenberger, Michael Zimmermann<br />
(info@<strong>oora</strong>.de)<br />
Redaktionsteam: Anne Coronel, Daniel Hufeisen,<br />
Matthias Lehmann, Jörg Schellenberger, Johanna Weiß,<br />
Michael Zimmermann<br />
Lektorat: Ina Taggeselle<br />
Anzeigen: Jörg Schellenberger (joerg@<strong>oora</strong>.de)<br />
Gestaltung: Johannes Schermuly, www.ideenundmedien.de<br />
Druck: Onlineprinters GmbH, Neustadt a. d. Aisch<br />
Abonnement: <strong>oora</strong> erscheint viermal im Jahr (März, Juni,<br />
September, Dezember) und kostet 18,50 EUR in Deutschland<br />
bzw. 24,50 EUR in anderen europäischen Ländern. Darin<br />
sind Mehrwertsteuer und Versandkosten bereits enthalten!<br />
Das Abo kann immer bis sechs Wochen vor Bezugsjahres ende<br />
gekündigt werden. Eine E-Mail an service@<strong>oora</strong>.de genügt.<br />
Das gilt nicht für Geschenk-Abos, die automatisch nach<br />
einem Bezugsjahr enden.<br />
Einzelpreis: 5,50 EUR/7,50 SFr. Bei allen Preisangaben innerhalb<br />
dieser Ausgabe von <strong>oora</strong> gilt: Änderung und Irrtum<br />
vorbehalten.<br />
Mengenrabatt: Ab 10 Hefte: 5,00 EUR pro Heft, ab 20 Hefte:<br />
4,50 EUR pro Heft (inkl. Versand)<br />
Bankverbindung: <strong>oora</strong> verlag GbR, Konto-Nr. 836 89 38,<br />
BLZ 765 500 00, Sparkasse Ansbach<br />
IBAN: DE18 76550000 0008 3689 38, BIC: BYL ADEM1ANS<br />
Leserservice: <strong>oora</strong> Leserservice, Postfach 1363,<br />
82034 Deisenhofen, Telefon: 089/858 53 - 552,<br />
Fax: 089/858 53 - 62 552, service@<strong>oora</strong>.de<br />
© 2012 <strong>oora</strong> verlag GbR • www.<strong>oora</strong>.de<br />
Bilder: S.2: Alfred Hitchcock: Jack Mitchell; S.10: photocase<br />
- sto.E; S.16: photocase - frau Becker; S.18: photocase<br />
- dommy.de; S.20: wikipedia; 25: Flickr - Ivan Walsh/Tony Fischer;<br />
S.26: photo case - David Dieschburg; S.30: photocase -<br />
nonuniform; S.40: photocase - mem-film.de<br />
Alle weiteren von <strong>oora</strong> oder von privat.<br />
<strong>oora</strong>.de 5
Marginal Men<br />
Wie überzeuge ich meine Gemeinde?<br />
Text: Daniel Hufeisen<br />
Viele träumen davon, als Außenseiter ihre Gemeinde zu<br />
verändern. Auf der Suche nach Erfahrungsberichten von<br />
erfolgreichen Reformern erlebten wir eine Überraschung.<br />
// Außenseiter gibt es überall. Auch in christlichen Gemeinden.<br />
Wenn eine Person eine andere Meinung hat als die Mehrheit der<br />
Gemeinde, führt das schnell zu Konflikten und dazu, dass der<br />
»Abweichler« ein Außenseiter wird. Besonders Jugendliche und<br />
junge Erwachsene erleben das häufig: Entweder ist ihnen ihre<br />
Heimatgemeinde zu eng oder zu altmodisch oder sie kommen<br />
in eine neue Stadt und finden dort eine Gemeinde, die in vielen<br />
Punkten nicht ihrer ehemaligen Gemeinde und den dort vertretenen<br />
Vorstellungen entspricht. Aber was kann ich machen,<br />
wenn ich als Einzelner anderer Meinung bin? Wie überzeuge ich<br />
meine Gemeinde? Wie gewinne ich sie für eine neue Idee?<br />
Die Suche nach Reformern<br />
Die Suche nach Erfahrungsberichten von Außenseitern, die versucht<br />
hatten, ihre Gemeinde zu überzeugen und zu verändern,<br />
gestaltete sich unerwartet schwierig. Beispiele für Gemeindemitglieder,<br />
die auf Unverständnis gestoßen sind und daraufhin<br />
ihre Gemeinde verlassen haben, waren uns bekannt. Aber wir<br />
10<br />
<strong>oora</strong> 03/12
Gemeinden werden nicht durch Außenseiter, sondern vor allem<br />
durch ›Marginal Men‹ verändert – also durch Leute, die sowohl integriert<br />
als auch abweichend sind, die gleichzeitig Bewahrer und Vordenker sind.<br />
konnten niemanden finden, der es geschafft hatte, als Einzelner<br />
seine Gemeinde zu überzeugen.<br />
So fragten wir den Gemeindeberater Harald Sommerfeld aus<br />
Berlin, ob er jemanden mit einer solchen Geschichte kenne.<br />
Seine Antwort auf diese Anfrage überraschte uns, brachte uns<br />
aber auch weiter auf der Suche nach der Antwort auf die Frage,<br />
wie man als Außenseiter seine Gemeinde überzeugen kann.<br />
Harald schrieb: »Ich bin skeptisch, ob das der thematisch richtige<br />
Ansatz ist. Organisationen können meines Erachtens in der<br />
Regel nicht von Außenseitern verändert werden. Außerdem haben<br />
Außenseiter keinen Anspruch darauf, dass man ihnen folgt,<br />
nicht einmal, wenn sie Recht haben. Das legitime Ziel von Außenseitern<br />
in einer Organisation besteht vor allem darin, dass<br />
man ihnen Freiräume einräumt, innerhalb derer sie ihre Vorstellungen<br />
praktizieren können. Wenn daraus dann eine beeinflussende<br />
Wirkung hervorgeht, umso besser.<br />
In einer traditionellen Gemeinde sollte der progressive Einzelne<br />
sich zunächst keine ehrgeizigeren Ziele stecken, als einvernehmlich<br />
seine persönliche Nische bewilligt zu bekommen. Beispiele:<br />
Statt eine Gottesdienstreform zu bewirken, führt der gangbare<br />
Weg zunächst eher über zusätzliche ›Sparten‹-Gottesdienste.<br />
Organisationen – also auch Gemeinden – werden nicht durch<br />
Außenseiter, sondern vor allem durch ›Marginal Men‹ verändert<br />
– also durch Leute, die sowohl integriert als auch abweichend<br />
sind, die gleichzeitig Bewahrer und Vordenker sind.<br />
Außenseiter werden neue Sichtweisen immer als Herausforderung<br />
präsentieren (oder so verstanden werden) und haben damit<br />
angesichts des Sicherheitsdenkens der Mehrheit wenig Chancen.<br />
Nur wer der Mehrheit die Sicherheit vermittelt, einer von ihnen<br />
zu sein, kann sie für Neues aufschließen.<br />
Ein Indiz dafür, dass es so ist, könnte die Tatsache sein, dass<br />
euch selbst kein passender Reformer eingefallen ist. Die scheint<br />
es also nicht zahlreich zu geben.«<br />
Gehen oder Freiraum finden?<br />
Es scheint zu stimmen, dass es nicht viele Außenseiter gibt, die<br />
ihre Gemeinde verändert haben. Wir mussten auch feststellen,<br />
dass es so viel mehr unseren Erfahrungen entsprach: Wir kennen<br />
viele, die davon träumen, als Außenseiter ihre Gemeinde<br />
zu verändern, die sich dann aber irgendwann aufreiben. Immer<br />
mehr Menschen setzen sich damit auseinander, ob und wie sie<br />
ihre Gemeinde reformieren können oder ob sie alternativ den<br />
Weg wählen, aus der Gruppierung auszutreten und woanders<br />
ihr Glück zu versuchen.<br />
So ging es auch einem unserer Redakteure, der zunächst in einer<br />
traditionellen Gemeinde war, die aber irgendwann nicht<br />
mehr seinem Glauben und Denken entsprach. Der vergebliche<br />
Versuch, etwas zu verändern, zehrte so sehr an ihm, dass er<br />
schließlich beschloss, diese Gemeinde zu verlassen. Die Alternative,<br />
Kompromisse einzugehen und sein anderes, der Gemeinde<br />
nicht mehr entsprechendes, Denken zu unterbinden, war für<br />
ihn keine Option.<br />
Harald Sommerfeld schreibt, dass Außenseiter sich als Ziel setzen<br />
sollten, eine Nische in der Gemeinde zu finden, in der sie<br />
den Freiraum haben, ihren Vorstellungen entsprechend aktiv zu<br />
werden. Dabei sollten sie nicht den Anspruch haben, dass dies<br />
zu einer Gemeindereform führt. Wenn so etwas in einer Gemeinde<br />
nicht möglich ist, gibt es wohl nur die Optionen sich<br />
entweder vollkommen anzupassen oder eben auszutreten.<br />
Meine Erfahrung<br />
Eine Nische gefunden habe ich als Jugendlicher in meiner Gemeinde.<br />
Da wir unseren Glauben nicht auf einer uns entsprechenden<br />
Art und Weise in der Gemeinde leben konnten, gründete<br />
ich zusammen mit meinem Bruder und ein paar Freunden<br />
eine Jesus-Freaks-Gruppe. In dieser Gruppe hatten wir alle<br />
Freiheiten und bekamen durch den Kontakt zu anderen Jesus<br />
Freaks wertvolle Inspirationen. Auch wenn es keine offizielle<br />
Anbindung gab, blieben wir auch in der Gemeinde als Mitarbeiter<br />
aktiv und verknüpften häufig die Aktionen der Jesus-Freaks-<br />
Gruppe mit der Gemeindearbeit. Dies führte zu keinen großen<br />
Reformen, es ermöglichte uns aber gleichzeitig in der Gemeinde<br />
zu bleiben und unsere Vorstellungen auszuleben.<br />
Ich wage also die These: Wenn du deine Gemeinde wirklich verändern<br />
willst, darfst du kein Außenseiter bleiben. Du musst zu<br />
einem ›Marginal Man‹ werden, jemand der voll dazugehört und<br />
trotzdem nach vorne denkt und Alternativen sieht. Jemand, der<br />
in beidem zuhause ist: im Alten und im Neuen. Dieser Spagat ist<br />
unheimlich schwer, und das nicht nur als einfaches Gemeindemitglied,<br />
sondern auch als Leiter oder Pastor. Und du wirst dabei<br />
immer feststellen, dass Veränderung Zeit braucht. Aber wenn du<br />
behutsam vorgehst und dabei auch für Kompromisse bereit bist,<br />
wachsen deine Chancen auf Veränderung um ein Vielfaches. ///<br />
Daniel Hufeisen (30) engagiert sich bei Emergent Deutschland, einem Netzwerk,<br />
das danach fragt, wie Glauben und Gemeinde heute gedacht und gelebt<br />
werden können. Außerdem bloggt er auf einAugenblick.de<br />
Außenseiter <strong>oora</strong>.de 11
Wer ständig nur Rollen spielt<br />
und spielen muss,<br />
beginnt irgendwann unweigerlich<br />
an dieser Selbstentfremdung zu leiden.<br />
Seit 200 Jahren Außenseiter<br />
Søren Kierkegaard<br />
Text: Fred Ritzhaupt<br />
Audioversion unter www.<strong>oora</strong>.de/audio<br />
// Wahrscheinlich wäre der gute Søren (* 5. Mai 1813) nicht einmal<br />
sauer, wenn er diesen Titel lesen könnte. Gibt es doch kaum<br />
einen Denker der letzten zwei Jahrhunderte, der sich so bewusst<br />
ins Aus gesetzt hat wie dieser Däne. (Übrigens hat er nur einmal<br />
seine Geburtsstadt Kopenhagen verlassen, um in Berlin einen<br />
berühmten Philosophen zu hören.)<br />
Nach seinem Tod mit 42 Jahren wurde es prompt sehr still um<br />
ihn, wie wenn alle zunächst einmal tief Luft holen müssten.<br />
Denn er war ein höchst unbequemer Zeitgenosse, vor allem für<br />
die dänische Staatskirche. Ja, er hätte am liebsten gehabt, dass er<br />
von ihr zum Märtyrer gemacht würde, nur um ihr zu Verstehen<br />
zu geben, wie weit sie sich vom Eigentlichen des Christentums<br />
entfernt hatte.<br />
Mittlerweile wird Kierkegaard zu den ganz Großen unter den<br />
Denkern gerechnet. Der Historiker Hans Joachim Störig sagt<br />
von ihm: »Die Welt nach Kierkegaard sieht unwiderruflich anders<br />
aus als vor ihm. Dies kann nur von ganz wenigen Großen<br />
wie Sokrates oder Kant gesagt werden.«<br />
Keine Kindheit<br />
Søren Kierkegaard hatte das Glück, Sohn eines wohlhabenden<br />
Kaufmanns zu sein – er konnte Zeit seines Lebens von seinem<br />
Erbe leben und bevor es restlos aufgebraucht war, starb er. Er<br />
hatte aber auch das Pech, in diese Familie hineingeboren zu sein,<br />
denn die Mutter und fünf seiner Geschwister starben schon sehr<br />
früh. Sein tiefreligiöser Vater sah darin eine Strafe Gottes, weil<br />
er eine Zeit lang Gott den Rücken zugekehrt hatte – er wurde<br />
depressiv. Sein Glaube hielt diesen Schicksalsschlägen nicht<br />
stand. Søren konnte später über seine Kindheit nur sagen, dass<br />
er eigentlich gar keine hatte. Mit 17 begann er sein Studium der<br />
20<br />
<strong>oora</strong> 03/12
Theologie, das er erst nach zehn Jahren zum Abschluss brachte.<br />
Zwei Jahre zuvor war sein Vater gestorben und hatte ihm neben<br />
einem stattlichen Haus auch ein Vermögen hinterlassen, das es<br />
ihm erlaubte, nicht nur seinen Lebensunterhalt zu finanzieren,<br />
sondern auch seine Schriften und Bücher, die er selber – meistens<br />
unter einem Pseudonym – herausbrachte.<br />
Mein Gott und ich<br />
Kierkegaard hatte eine völlig eigene Sicht der Dinge: Alle großen<br />
Philosophen vor ihm bauten gewaltige Gedankengebäude<br />
auf, die für alles und jeden und alle Zeiten gelten sollten.<br />
Sie legten aber wenig Wert auf das, was der Einzelne dachte,<br />
fürchtete und – vor allem – tat. Søren verglich es mit einem<br />
wunderbaren Schloss, das sie in ihren Gedanken aufbauten,<br />
während sie selber in einer Hütte nebenan wohnten. So sein<br />
Fast-Zeitgenosse Arthur Schopenhauer, der auf die Frage seiner<br />
Studenten, warum man nichts von dem, was er lehrte, in<br />
seinem Leben finden könne, antwortete »Geht etwa der Wegweiser<br />
in die Richtung, in die er zeigt?« Solche Aussagen hätten<br />
Kierkegaard auf die Palme gebracht. Ihm ging es um das<br />
Leben des Einzelnen, wie es sich in Freiheit entfaltet – für Søren<br />
allerdings nur vorstellbar unter der Führung Gottes. Viele<br />
haben nach ihm diesen Aspekt aufgenommen und daraus eine<br />
ganze Philosophie gemacht (Existenzphilosophie, u. a. Camus<br />
und Sartre), ließen aber den für Kierkegaard wichtigsten Aspekt<br />
aus: den ganz persönlichen Bezug zu Gott. Da er diesen<br />
so stark betonte, war es klar, dass er allem Institutionalisierten<br />
äußerst skeptisch gegenüberstand. Kirche, wie er sie kennengelernt<br />
hatte, hielt nicht nur den Einzelnen klein und unmündig,<br />
sie verhinderte seiner Meinung nach geradezu die Nachfolge<br />
Jesu im biblischen Sinne.<br />
Wahrscheinlich sind sich die Wenigsten bewusst, dass vieles,<br />
was heute lebendige Christen bewegt – man denke nur an<br />
Bestseller wie »Der Schrei der Wildgänse« oder »Die Hütte« –,<br />
schon vor 150 Jahren von diesem Dänen mit unglaublicher Konsequenz<br />
vertreten wurde. Woher aber kommt bei ihm diese radikale<br />
Sicht auf Institution, Nachfolge und auf die persönliche<br />
Beziehung zu Gott?<br />
Kierkegaards Bekehrung<br />
Wir entdecken in seinem Leben eine Phase, die ihn wohl außerordentlich<br />
geprägt haben muss: das Ergriffensein von einer Erweckungsbewegung.<br />
Eine solche Bewegung hatte um die 40er<br />
Jahre des 19. Jahrhunderts ganz Nordeuropa erfasst. Es gab neue<br />
Glaubensgemeinschaften, Bibelkreise, Sondergruppen mit einem<br />
Hang zum Urchristentum, kurz: Diese Erweckung verlief<br />
fast ausschließlich außerhalb der etablierten Kirchen. Hier hatte<br />
Kierkegaard mit Sicherheit die Prägung seines Lebens erhalten,<br />
die ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losließ. Ja, man kann ihn<br />
als einen Denker beschreiben, der aus der ganz persönlichen Erfahrung<br />
der »Bekehrung« heraus, welche für ihn nur denkbar<br />
war als Zusammenwirken von Mensch und Jesus, mit äußerstem<br />
Scharfsinn eine ganze Philosophie entwickelt hat. In ihr ist<br />
letztlich der einzelne Mensch in seiner Beziehung zu Gott, aber<br />
auch in seinen alltäglichen Fragen »Was soll, was kann, was darf<br />
ich tun?« der Dreh- und Angelpunkt allen Denkens.<br />
Kierkegaard zum Weiterlesen:<br />
Als »Die Krankheit zum Tode« bezeichnet Kierkegaard die Verzweiflung<br />
eines jeden Menschen und er unterscheidet hier drei<br />
Arten: das »verzweifelt nicht sich bewusst sein, ein Selbst zu<br />
haben«, das »verzweifelt man selbst sein wollen« (Trotz) und<br />
»verzweifelt nicht man selbst sein wollen« (Schwäche). Ein sehr<br />
bereicherndes Büchlein, das eine wichtige und grundlegende<br />
Existenzfrage an den Leser stellt, jedoch aufgrund des schwierigen<br />
Schreibstils für Einsteiger weniger geeignet ist. Leichter<br />
zu lesen ist die gekürzte Bearbeitung dieses Textes von Hanne<br />
Baar: »Kierkegaard für Volljährige«.<br />
Auch von Hanne Baar aufbereitet gibt es Kierke gaards »Entweder<br />
– Oder«, bei ihr heißt es »Kierkegaard zum 18ten«. Hier geht<br />
es darum, ob man ein Leben als Ästhetiker führt, der sich seiner<br />
Identität (noch) nicht bewusst ist und damit abhängig ist von<br />
den äußeren Umständen oder ob man als Ethiker lebt, der sich<br />
selbst gefunden hat und seine von Gott gegebene Identität unabhängig<br />
von äußeren Gegebenheiten macht. /// Ina Taggeselle<br />
› Die Krankheit zum Tode, Søren Kierkegaard<br />
Reclam, ISBN 978-3150096345, 5,00 €<br />
› Entweder – Oder, Søren Kierkegaard<br />
dtv, ISBN 978-3423133821, 13,90 €<br />
› Kierkegaard für Volljährige, Hanne Baar<br />
Hymnus-Verlag, ISBN 978-3933959010, 10,00 €<br />
› Kierkegaard zum 18ten, Hanne Baar<br />
Hymnus-Verlag, ISBN 978-3980380164, 10,00 €<br />
Rollenspiel<br />
Wie sehr wir uns auch heute noch mit seinen Gedanken beschäftigen<br />
müssen, kann folgendes Beispiel zeigen: In der Antike<br />
trugen Schauspieler, um auch noch von Weitem erkannt und<br />
gehört zu werden, große, der jeweiligen Rolle angepasste Masken<br />
(mit Schalltrichter! Daher: personare = durchtönen). Manche<br />
spielten sogar verschiedene Rollen. Kierkegaard nimmt nun<br />
dieses Bild wieder auf und zeigt, dass wir durch die Welt, die<br />
uns umgibt, ständig Personen sind, wie sie von unserer Umgebung<br />
gewünscht werden. Das eigentliche »Selbst« eines Menschen<br />
wird dabei sich selbst entfremdet. Anders ausgedrückt:<br />
Wer ständig nur Rollen spielt und spielen muss, beginnt irgendwann<br />
unweigerlich an dieser Selbstentfremdung zu leiden. Alle<br />
Objektivität, alle Sachzwänge und Ideologien – womit er auch<br />
ein Christentum meinte, das in Wirklichkeit keines ist – bringen<br />
den Menschen nur dazu, nicht mehr zu wissen, wer er eigentlich<br />
ist. Erst die Selbstreflexion, die zur Umkehr führt, lässt<br />
ihn seine Existenz annehmen und befähigt ihn zum Handeln –<br />
zum echten Handeln, das kein Spiel mehr ist. ///<br />
Fred Ritzhaupt (68) wollte ursprünglich Bergführer werden. Daraus wurde jedoch<br />
nichts, weil das »geistliche Gewerbe« dazwischen kam. So trat er in den<br />
Jesuitenorden ein und studierte Philosophie und Theologie in München und<br />
Innsbruck. Von 1979-92 war er Jugendseelsorger in Ravensburg. Mit seiner Frau<br />
Erika ist er seit 1992 verheiratet, zusammen haben sie drei Söhnen und eine<br />
Pflegetochter. Seit 11 Jahren arbeitet er als freikirchlicher Pastor bei Göppingen.<br />
Außenseiter <strong>oora</strong>.de 21
Die »Airport Road« verbindet den Flughafen mit dem Stadtkern Hargeisas, der Hauptstadt Somalilands<br />
HaRgeisa<br />
http://goo.gl/maps/UHg7I<br />
Johanna mit ihrem Kollegen Eisa auf dem Weg zu einem Dorfprojekt<br />
44<br />
<strong>oora</strong> 03/12
Zum Seerosen-Pflücken<br />
nach Somaliland<br />
Über Antworten, die ich nicht gefunden habe<br />
Text: Johanna Weiß<br />
Audioversion unter www.<strong>oora</strong>.de/audio<br />
Unsere Redakteurin ist in einem Land, in dem sie nicht<br />
sein sollte, für ein Praktikum, das nicht zu ihrem Studium<br />
passt. Auszüge ihrer Erlebnisse.<br />
// Dass ich hier im vom Krieg gezeichneten Somalia in der nördlich<br />
gelegenen Region Somaliland bin, ist in vielerlei Hinsicht<br />
verrückt. Bei Hitze bin ich die Erste, die in den Schatten flüchtet,<br />
ich habe kein besonderes Afrika-Herz und es hat mich noch<br />
nie in die Entwicklungshilfe gezogen. Was hat mich also hierher<br />
gebracht? Nicht zuletzt meine Fragen zu den Themen Armut<br />
und Reichtum. Ich erinnere mich an eine billige Fernsehsendung,<br />
in der Millionärsehefrauen ihre Villen vorgeführt und<br />
Einblicke in ihren Luxus zelebrierenden Lebensstil gegeben haben.<br />
Ich denke an eine Dokumentation über gigantische Preisentwicklungen<br />
am Kunstmarkt, die ich in einer Univorlesung<br />
gesehen hatte. Zur Geldanlage werden Milliarden für mit Farbklecksen<br />
verzierte Leinwände ausgegeben. Selbst viele Künstler<br />
schütteln über diese Dimensionen den Kopf. Ich will all das<br />
weder verurteilen, noch abstreiten, dass Reichtum auch seinen<br />
Reiz auf mich ausübt. Doch musste ich dabei immer wieder an<br />
die unzählbar vielen Armen auf der südlichen Erdhalbkugel<br />
denken. Denen bin ich zwar bis dato noch nicht begegnet, ich<br />
wusste aber, dass es sie gibt.<br />
Anfang Juli mache ich mich tatsächlich auf den Weg zu einem<br />
sechswöchigen Praktikum bei einer Entwicklungsorganisation.<br />
Kopfschütteln über mich selbst wechselt sich seitdem ab mit<br />
Abenteuerlust und Spannung bzw. Anspannung – je nachdem<br />
wie ungewohnt die Situation ist, in der ich gerade stecke.<br />
Brot von Nimco<br />
Ein Beispiel dafür ist meine Begegnung mit Nimco (die Namen<br />
sind geändert). Die zahnlose alte Dame ist Besitzerin eines Dukans,<br />
einem der zahllosen kleinen Ein-Raum-Lädchen hier. Oft<br />
liegt sie auf einer Matte hinter der Theke. Wenn sie allein ist, erhebt<br />
sie sich selbstverständlich für eintretende Kundschaft. Ist<br />
ihre Tochter auch im Laden, bleibt sie genauso selbstverständlich<br />
liegen und überlässt die Geschäfte ihrem Nachwuchs. Bei meinem<br />
ersten Besuch brauche ich Brot. Ich deute auf den großen mit<br />
Baguette gefüllten Plastikbeutel. Während sie darin herumwühlt<br />
und die Leibe betastet, um den besten zu finden, nehme ich den<br />
strengen Ladengeruch immer deutlicher wahr. Viele Menschen<br />
hier benutzen weder Toilettenpapier noch Seife. Ich blicke auf<br />
ihre Hände, das Brot – mir wird mulmig. Ich begreife zum ersten<br />
Mal, warum wir Gott um seinen Segen für unser Essen bitten.<br />
Im Vergleich zum westlichen Lebensstandard lebt sie unter extrem<br />
einfachen Bedingungen. Auf den ersten Blick mag sie arm<br />
erscheinen. Doch erlebt man sie, passt dieses Attribut nicht<br />
mehr. Nimco scheint absolut zufrieden, freut sich über ihre Kunden,<br />
schäkert mit deren Kindern und steckt ihnen Bonbons zu.<br />
Wenn ich ihren Dukan verlasse, bin ich nicht bestürzt, sondern<br />
fasziniert, dass Leben so anders und trotzdem so gut sein kann.<br />
Wenn ich Nimcos Dukan verlasse,<br />
bin ich fasziniert, dass Leben so anders<br />
und trotzdem so gut sein kann.<br />
Kunstmarktpreise und Hügelzelte<br />
Das Gegenteil war nach meinem Besuch in Camp B der Fall.<br />
In dem Flüchtlingslager leben 1.400 Menschen. Als ich ankomme,<br />
bin ich überrascht von der Stille. Statt der erwarteten<br />
Menschenmassen stehen mit Stofffetzen bespannte Hügelzelte<br />
auf der Erde. Nach einer Weile stellen sich ein paar Frauen zu<br />
mir und meinem Kollegen Axmed. Eine davon hat ein Baby auf<br />
dem Arm. Sie ist mit ihren drei Kindern vor einem Jahr aus Mogadischu<br />
geflohen. Eine andere hat ihr Dorf hinter sich gelassen,<br />
nachdem sie in der Dürre ihr gesamtes Vieh verloren hatte.<br />
Ohne Vieh hat sie auf dem Land keine Chance zu überleben.<br />
Ich frage mich, wie die beiden hier überleben. Auf der Rückfahrt<br />
deutet Axmed auf Menschengruppen, die sich über das trockene<br />
Land vor dem Camp beugen. »Diese Leute begraben gerade ein<br />
Familienmitglied.«<br />
Hier sind sie also endlich, die Armen, an die ich während der<br />
Dokumentation über Kunstmarktpreise gedacht hatte. Vor ein<br />
paar Wochen hatte ich mich gefragt, wie an wenigen Orten der<br />
Erde unglaublicher Reichtum herrschen kann, während an anderen<br />
das Nötigste fehlt. Auf diese Frage habe ich noch immer<br />
keine Antwort, möchte das Geld aber auch nicht mehr bedingungslos<br />
für Orte wie Camp B einfordern. Denn – so erfahre ich<br />
hier – Hilfe ist nicht gleich Hilfe.<br />
Glücklose und Hilflose<br />
Könnte eine Notsituation auch aus eigener Kraft überwunden<br />
werden? Würden dauerhaft negative Folgen bei Unterlassen der<br />
Hilfeleistung eintreten? Ist die Situation selbst verschuldet? Ist<br />
Quergedacht<br />
<strong>oora</strong>.de 45
Wasser und Essen kann schließlich<br />
nicht schaden; der Zehnte wäre<br />
dann auch vom Konto.<br />
bereits wiederholt Hilfe geleistet worden? Diese Fragen bestimmen,<br />
ob unmittelbare Fürsorge nötig ist. Sie ist zum Beispiel direkt<br />
nach Unfällen oder Naturkatastrophen nötig. Es geht dann<br />
konkret darum, Blutungen zu stoppen, Wunden zu verbinden<br />
und Grundbedürfnisse zu stillen. Zu oft wird Fürsorge geleistet,<br />
wenn die Betroffenen schon eine aktive Rolle in Wiederaufbau<br />
oder Entwicklung leisten könnten.<br />
Doch auch wenn sich ein Mensch selbst nicht helfen kann, braucht<br />
es noch einen Blick in sein Umfeld. Denn zunächst steht die Familie<br />
des Notleidenden in der Verantwortung. Kann diese nicht<br />
einspringen, ist die Gemeinschaft dran, dann der jeweilige Staat<br />
und erst in letzter Instanz ist internationale Hilfe gerechtfertigt.<br />
Nun möchte ich für diese Fragen und Prinzipien weder Vollständigkeit<br />
beanspruchen, noch behaupten, dass sie leicht zu beantworten<br />
sind. Aber das ändert nichts daran, dass viele Gebergelder<br />
bereits einigen Schaden angerichtet haben.<br />
Ein Mensch, der unnötig befürsorgt wird, wird auf Dauer lebensunfähig.<br />
Er geht nicht mehr davon aus, dass er Gaben und<br />
Fähigkeiten hat und sein Leben in die Hand nehmen kann. Er<br />
wird außerdem seiner Beziehungen beraubt bzw. dazu ermutigt,<br />
sich vorschnell aus ihnen zurückzuziehen. Viele Dürreflüchtlinge<br />
in Camp B zum Beispiel sind die Glücklosen aus ihren Dörfern,<br />
kaum verliert ein ganzes Dorf seinen kompletten Viehbestand.<br />
Zwei bis drei Flüchtlinge aus jedem Dorf füllen aber schon<br />
ein ganzes Camp. Würden dort keine Lebensmittel verteilt, hätten<br />
die Unglücklichen zunächst in ihren Dorfgemeinschaften<br />
Hilfe gesucht und die Gemeinschaften sich verantwortlich gefühlt.<br />
Wenn man so will, entstehen solche Flüchtlingscamps erst<br />
durch das Einwirken ausländischer NGOs (Non-Governmental<br />
Organization). Brechen sie aber nach einiger Zeit ihre Zelte ab,<br />
stehen abhängig gewordene Menschen plötzlich alleine da und<br />
haben verlernt, sich selbst zu helfen. Dazu kommt, dass NGOs<br />
Eigeninteressen haben. Gesund aussehende Menschen, die in<br />
Wiederaufbau und Entwicklung unterstützt werden, erregen<br />
weniger Mitleid, als halb verhungerte Kinder. Wo es gelingt,<br />
Mitleid zu bewirken, ist auch die Spende nah. Und mit Spendengeldern<br />
halten sich NGOs nicht zuletzt selbst am Leben.<br />
Wasser und Essen kann doch nicht schaden<br />
Also keine Spenden mehr, um der Abhängigkeit produzierenden<br />
NGO-Industrie das Wasser abzugraben? Ganz so einfach ist es<br />
nicht. Zum einen trägt das Spendenverhalten privater Spender<br />
mit zu dem Problem bei. Haben wir nicht alle bereits von Hilfsorganisationen<br />
gehört, bei denen zu viel Geld in der Verwaltung<br />
versickert? So denken offenbar viele Spender und unterstützen<br />
am liebsten solche Projekte, die einen hohen Materialverbrauch<br />
bei minimalen Personalkosten aufweisen. Wunderbar, wenn<br />
möglichst viele Lebensmittel verteilt und Häuser gebaut werden.<br />
Nicht schlimm, wenn ein wenig daneben geht, sprich: bei Leuten<br />
ankommt, die solche Hilfe nicht brauchen. Projekte, die in Aufklärung,<br />
Bildung und Entwicklung von Gemeinschaften investieren,<br />
haben natürlicherweise hohe Personalkosten und wesentlich<br />
geringere Materialkosten. Für sie ist es aber schwer, an Gebergelder<br />
zu kommen, weil eben die Tendenz dazu besteht, an Organisationen<br />
zu spenden, die möglichst viel »Masse« produzieren.<br />
Weiterhin kann man bei Training und Entwicklung Erfolge<br />
nicht so leicht und schnell messen und nachweisen, wie bei<br />
Fürsorgeprojekten. Und welcher Spender will sich schon tief<br />
mit dem unterstützten Projekt auseinandersetzen? Wasser und<br />
Essen kann schließlich nicht schaden; der Zehnte wäre dann<br />
auch vom Konto.<br />
Erst in letzter Instanz<br />
ist internationale Hilfe gerechtfertigt.<br />
Zum anderen gibt es eben doch Menschen wie die Frau aus Mogadischu,<br />
die mitsamt ihrem ganzen Beziehungsumfeld aus dem<br />
Krieg fliehen. Und es gibt ganze Dörfer, die in der Dürre ihren<br />
vollständigen Viehbestand verlieren und eingreifende Fürsorge<br />
brauchen. Und manchmal leben sie in Staaten, die hier nicht<br />
einspringen können. Und dafür wiederum gibt es Organisationen,<br />
die sich der geschilderten Probleme bewusst sind und professionell<br />
helfen können.<br />
Es ist zum Davonlaufen. Ich fühle mich wie beim Seerosenpflücken.<br />
Ich glaube eine schöne pflückbare Erkenntnis gefunden<br />
zu haben. Kaum will ich sie herausgreifen, kommen die vielen<br />
Stränge zum Vorschein, an denen sie hängt. Doch eines haben<br />
die vielen Abenteuer meiner Reise einschließlich der Erlebnisse<br />
bei Nimco und Camp B für mich gemeinsam: Gleichzeitig mit<br />
ihren unvorhersehbaren Auswirkungen auf mich selbst und ihrer<br />
allgemeinen Unkontrollierbarkeit wurde mir die absolute<br />
Abhängigkeit von Gott bewusst. Auf überwältigend beruhigende<br />
Art bewusster als je zuvor. ///<br />
Zum Weiterlesen:<br />
› Steve Corbett et al: »When Helping Hurts – How To Alleviate Poverty Without Hurting<br />
The Poor … And Yourself«, 274 Seiten, 12,10 € (Noch nicht auf Deutsch erhältlich.)<br />
www.whenhelpinghurts.org<br />
Johanna Weiß (26) genießt ihre Freunde, gute Musik und den Bodensee.<br />
An dem studiert sie Kommunikation- und Kulturmanagement. Sie mag<br />
schreiben, lesen, kreatives Arbeiten und geht gerne auf Reisen.<br />
46<br />
<strong>oora</strong> 03/12
»Camp B« in Hargeisa – 1.200 Flüchtlinge wohnen in diesen Hütten. Das Gerüst innen ist aus Ästen und Sträuchern gebogen, die Außenseiten<br />
werden aus Blech, auseinandergebogenen Dosen und gesammelten Stofffetzen hergestellt<br />
Johanna im »Camp B« mit somalischen Frauen<br />
Der Markt von Hargeisa: Hier kauft man alles – von offenem Fleisch<br />
und Gemüse über Küchenausstattung und Klamotten bis hin zu<br />
Möbeln und Teppichen<br />
Quergedacht<br />
<strong>oora</strong>.de<br />
47
C<br />
B<br />
CC<br />
B<br />
B<br />
AA<br />
A<br />
Wie Gott mir das ABC<br />
neu erklärte<br />
von Mickey Wiese<br />
Audioversion unter www.<strong>oora</strong>.de/audio<br />
// Als mich mein Freund Gott wieder<br />
einmal eindrücklich an den therapeutischen<br />
Nutzen von Dankbarkeit erinnerte,<br />
fiel mir die ABC-Listen-Technik von<br />
Vera Birkenbihl 1 ein. Ich schenkte uns<br />
einen Kaffee ein, setzte mich hin und<br />
schrieb auf, was mir so alles zu jedem<br />
Buchstaben des Alphabets durch den<br />
Kopf und das Herz ging, wofür ich alles<br />
dankbar sein kann. Dankbarkeits-ABC-<br />
Listen sind eine gute Methode, um aus<br />
dem reichhaltigen Inneren, Dinge geordnet<br />
zu Tage zu fördern, gerade wenn man<br />
vielleicht mal wieder sagt: »Ach, da weiß<br />
ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll.«<br />
Das führt nämlich in vielen Fällen dazu,<br />
dass man auch gar nicht erst anfängt und<br />
die Dankbarkeit wieder einmal auf der<br />
Strecke bleibt. Und so sah sie aus, meine<br />
ABC-Liste der Dankbarkeit:<br />
A wie Abendmahl, bei dem ich mich immer<br />
wieder meiner Erlösung vergewissern<br />
kann.<br />
B wie Benediktinerinnenabtei Engelthal,<br />
wo ich meinem Freund Gott an<br />
Fasching 1976 zum ersten Mal bewusst<br />
begegnet bin.<br />
C wie Christliches Zentrum Frankfurt,<br />
wo ich viele wunderbare Erfahrungen<br />
gemacht habe und zu der Person gereift<br />
bin, die heute das Leben mit der Freiheit<br />
und der bedingungslosen Liebe meines<br />
Freundes Gott gestaltet.<br />
D wie meine Frau Dany, die jetzt schon<br />
seit mehr als 20 Jahren mit mir durchs<br />
Leben tanzt.<br />
E wie das Elterndasein für meine Söhne<br />
Lion Philip Sebulon, Julian Merlin Lando<br />
und Connor Ethan Leander.<br />
F wie Forsythe, William und seine fantastischen<br />
Modern Dance Choreographien.<br />
48<br />
<strong>oora</strong> 03/12
So viele neuronale Verbindungen<br />
in meinem Gehirn waren neu geschaffen<br />
oder anders verbunden worden,<br />
dass ich die nahe Zukunft mit ganz anderen<br />
Augen sehen konnte.<br />
G wie Glasfenster meines lieben Freundes<br />
Johannes Schreiter, die mir immer<br />
wieder Membranen zur Ewigkeit sind.<br />
H wie die Heilige Geistin, die sich mein<br />
Leben lang so liebevoll um mich gekümmert<br />
hat und die Güte hatte, sich mir zu<br />
offenbaren.<br />
I wie Inkarnation, die mir gezeigt hat,<br />
dass auch all meine hehren Gedanken<br />
über das Reich meines Freundes Gott<br />
Fleisch werden müssen, um wirksam zu<br />
werden.<br />
J wie Jugendkirche Subzone, in die ich<br />
mein Herzblut gegossen habe und in der<br />
ich so viele herzerhebende Momente genossen<br />
habe.<br />
K wie Klinik Hohemark, in der ich 1985<br />
mitten in einer tiefen Depression eine<br />
neue Lebenschance geschenkt bekam.<br />
L wie Leidenschaft, die mir immer wieder<br />
die Energie für meine Arbeit zur Verfügung<br />
stellt.<br />
M wie Musik von Jazz über House bis<br />
Metal, die meiner Seele immer wieder<br />
neue Nahrung verschafft.<br />
N wie Nürnberger Lebkuchen, deren<br />
Duft allein mich schon zum seligen Kind<br />
mutieren lässt.<br />
O wie Ökumenische Dogmatik von Edmund<br />
Schlink, die meinen Blick auf das<br />
Wesen des christlichen Glaubens erdet<br />
und weitet.<br />
P wie Perry Rhodan, der mich Woche<br />
für Woche in die Weiten des Universums<br />
mitnimmt.<br />
Q wie Querdenken zu dürfen in der Gegenwart<br />
meines Freundes Gott, auch<br />
wenn es von vornherein offensichtlich<br />
falsch erscheint.<br />
R wie Rücken, der mir im Jahr 2004 zerbrach<br />
und den mein Freund Gott durch<br />
das Gebet von einigen lieben Christen<br />
aus einem Healing-Room heilte.<br />
S wie Salzburger Nockerln, die ich als<br />
Diabetiker zwar nicht mehr so gut essen<br />
kann, die aber immer noch zu meinen<br />
absoluten Lieblingsgerichten gehören<br />
und bei denen allein schon die Erinnerung<br />
daran, sie einmal gegessen zu haben,<br />
glücklich macht.<br />
T wie Theologiestudium, das ich 27 Semester<br />
lang berufsbegleitend genossen<br />
habe und das mich bei manchem geistlichen<br />
Höhenflug mit Treibstoff versorgt<br />
hat.<br />
U wie Überraschungen der Liebe und der<br />
Gnade meines Freundes Gott, die mir<br />
täglich widerfahren, auch wenn ich mich<br />
nicht immer daran erinnern kann.<br />
V wie Vollmer, Max, mein alter Religionslehrer<br />
und Pfarrer, der die Freundlichkeit,<br />
Liebe und Geduld hatte, mich mit seinem<br />
Freund Gott bekannt zu machen.<br />
W wie Wendelsteinregion, wo ich schon<br />
viele schöne Urlaube verbracht und mit<br />
meinem Freund Gott auf Gipfeln gesessen<br />
habe und die Seele freigeblasen<br />
bekam.<br />
X wie das x-te Mal, dass ich zu meinem<br />
Freund Gott kommen darf, um ihm die<br />
gleiche Sünde zum x-ten Mal zu beichten<br />
und er sie mir zum x-ten Mal vergibt.<br />
Y wie Yabba Dabba Du, was mich an die<br />
Lebenslust und die Freund schaft von<br />
Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer<br />
erinnert.<br />
Z wie Zwischenraum (www.zwischenraum.net),<br />
die mir erst letztens wieder<br />
gezeigt haben, dass mein Freund Gott<br />
noch viel größer und weiter liebt, als ich<br />
mich zu denken traue.<br />
Nachdem mein Freund Gott und ich uns<br />
solcherart mindestens 26 Minuten mit<br />
den guten Dingen unserer Vergangenheit<br />
beschäftigt hatten, geschahen zwei Dinge.<br />
Zum einen waren so viele neuronale<br />
Verbindungen in meinem Gehirn neu<br />
geschaffen oder anders verbunden worden,<br />
dass ich die nahe Zukunft mit ganz<br />
anderen Augen sehen konnte. Zum anderen<br />
erfüllte mich eine unbändige Lust,<br />
diese Erfahrung mit anderen Freunden<br />
zu teilen. So machten mein Freund Gott<br />
und ich uns auch sogleich auf, nahmen<br />
ein Video auf und luden es bei YouTube<br />
hoch 2 . Vera Birkenbihl, die Erfinderin<br />
der ABC-Listen, hat einmal gesagt,<br />
dass eigentlich jeder Mensch 3x am Tag<br />
eine Dankes-ABC-Liste schreiben sollte,<br />
dann würde unsere ganze Gesellschaft<br />
sehr bald ganz anders aussehen. Dem<br />
können mein Freund Gott und ich nur<br />
von ganzem Herzen zustimmen.<br />
Und dann schlürften mein Freund Gott<br />
und ich genüsslich unseren letzten<br />
Schluck Kaffee, tunkten unsere Seelenhörnchen<br />
in die ersten Sonnenstrahlen<br />
und schlenderten fröhlich dem neuen<br />
Tag entgegen. ///<br />
Fußnoten:<br />
1 bit.ly/abc-listen<br />
2 bit.ly/ressourcen-abc<br />
Mickey Wiese (52), länger als er lebt mit Jesus<br />
befreundet, ist als Event-Pastor, systemischer<br />
Berater für störende Schüler und in einigen anderen<br />
Rollen unterwegs. Er hat Sehnsüchte nach<br />
Glauben im Alltag, wird gerne gegooglet und findet<br />
Beerdigungen fast besser als Hochzeiten, feiert<br />
letztere aber ausgiebiger.<br />
Quergedacht<br />
<strong>oora</strong>.de 49
Nachgefragt<br />
: Gofi Müller<br />
Fragen: Jörg Schellenberger<br />
Gottfried ›Gofi‹ Müller (41) ist Künstler und Publizist<br />
und lebt mit seiner Familie in Marburg an<br />
der Lahn. Er studierte Literaturwissenschaft, Geschichte<br />
und Philosophie in Bielefeld. Seit mehr<br />
als zehn Jahren wird Gofi als Redner zu unterschiedlichsten<br />
Veranstaltungen in Deutschland<br />
und dem europäischen Ausland eingeladen. Er<br />
hat mehrere Bücher veröffentlicht. Im Sommer<br />
2012 erschien sein Gedichtband »Dickicht«.<br />
Viele engagierte Christen aus unserer<br />
Generation kämpfen mit dem<br />
Begriff »evangelikal«. Bezeichnest du<br />
dich als Evangelikaler?<br />
Ich habe viel über den Begriff nachgedacht<br />
und bin zu dem Schluss gekommen,<br />
dass ich kein Evangelikaler bin und<br />
es auch nicht sein möchte.<br />
Wie bist du dazu gekommen?<br />
Dafür habe ich mehrere Gründe, von<br />
denen ich zwei nennen will. Zum einen<br />
glaube ich, dass dieser Begriff vor allem<br />
als Abgrenzung gegenüber anderen<br />
Christen funktioniert: »Ich bin Evangelikaler,<br />
weil ich kein Charismatiker,<br />
Landeskirchler, Katholik, Orthodoxer,<br />
Zeuge Jehovas … bin.« Dieses Selbstverständnis<br />
aus einer Abgrenzung gegenüber<br />
anderen heraus behagt mir nicht.<br />
Das ist mir zu wenig, um mich geistlich<br />
zu positionieren.<br />
Man kann natürlich versuchen, den<br />
Begriff »evangelikal« positiv zu füllen.<br />
Aber das finde ich schwierig. Mir wurde<br />
gesagt, evangelikal zu sein bedeute,<br />
dass man »intensiv evangelisch« sei. Das<br />
setzt voraus, dass evangelikale Christen<br />
intensiver evangelisch gläubig sind, als<br />
»herkömmliche« evangelische Christen,<br />
sonst müssten sie sich nicht durch<br />
den Begriff von ihnen absetzen. Erstens<br />
glaube ich das nicht. Und zweitens gefällt<br />
mir nicht, dass »evangelikal« eine<br />
Steigerung von »evangelisch« sein soll.<br />
Ich bin nicht evangelischer als andere<br />
evangelische Christen und will es auch<br />
nicht sein. Es reicht mir völlig, ein evangelischer<br />
Christ zu sein. Und so bezeichne<br />
ich mich mittlerweile auch.<br />
Kannst du nachvollziehen, dass sich<br />
andere weiterhin als evangelikal<br />
bezeichnen?<br />
Ja, natürlich! Ich respektiere total, dass<br />
andere sich zur evangelikalen Bewegung<br />
bekennen und hinterfrage das auch nicht.<br />
Viele meiner besten Freunde sind überzeugte<br />
Evangelikale. Ich denke nicht im<br />
Traum daran, sie deshalb zu kritisieren.<br />
Du hast dich mal als links-evangelikaler<br />
Christ bezeichnet. Ist das dann<br />
auch nicht mehr aktuell?<br />
Stimmt, ich habe mich mal als linksevangelikaler<br />
Christ bezeichnet, tue das<br />
jetzt aber nicht mehr. Das war eine Art<br />
Protest zu einem Zeitpunkt, an dem eine<br />
Mehrheit unter den Evangelikalen davon<br />
ausging, dass ein Evangelikaler nur<br />
eine bestimmte politische Position haben<br />
kann. Obwohl ich mich selbst als evangelikalen<br />
Christen sah, teilte ich diese politische<br />
Position nicht und tue das noch<br />
immer nicht. Ich finde den Begriff »linksevangelikal«<br />
mittlerweile deshalb schwierig,<br />
weil er denselben Fehler wiederholt,<br />
gegen den er sich eigentlich richtet: Er<br />
verknüpft einen geistlichen Standpunkt<br />
mit einer politischen Position, so als würde<br />
das eine zwangsläufig aus dem anderen<br />
folgen. Das sehe ich nicht mehr so. ///<br />
Das Thema der nächsten Ausgabe,<br />
die im Dezember 2012 erscheint:<br />
Erwachsen<br />
50<br />
<strong>oora</strong> 03/12
WASSER<br />
EIN SEGEN<br />
Ohne sauberes Wasser kann kein Mensch leben<br />
1.000.000.000 Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.<br />
2.600.000.000 Menschen haben keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen.<br />
Hilf mit, so dass mehr Menschen Wasser als Segen erleben!<br />
Informationen zu unseren Wasser-Projekten unter www.partneraid.org<br />
emergent-deutschland.de/ef12
Nackt bist du gekommen,<br />
nackt wirst du gehen,<br />
aber dazwischen solltest du<br />
besser ein t-shirt tragen.<br />
www.christkindclothing.de