Verbum 14
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Priorität der Identität entstammt. Der Mensch aber lebt nach wie vor in<br />
der ganzheitlichen Welt. Die Welt ist immer ganz, sei ihre Ganzheit auch<br />
so problematisch.<br />
Ich glaube, daß die Zuwendung zur klassischen Philosophie,<br />
inbesondere zur Philosophie von Kues und Schelling, uns helfen könnte,<br />
wenn nicht die Lösung, so doch zumindest die richtige Frage nach<br />
der Ganzheit unserer heutigen, solch unganzen Welt zu finden, in der<br />
Zuwendung zur Geschichte eines wichtigen Begriffspaars, Denken und<br />
Anschauen, und zur Wandlung ihrer Bedeutungen in verschiedenen<br />
Konzeptionen.<br />
Gleich zu Anfang der „De visione dei” schreibt Kues, dass er mit diesem<br />
Werk seinen Klosterbrüdern eine „Übung in Gottseligkeit” anbietet.<br />
Darüber sprach ich bei unserem letzten Treffen. Die „Übung” ist Ausführung<br />
einer Reihe von Handlungen, um das Ziel zu erreichen. In diesem<br />
Fall ist das Ziel die Einsicht in die göttliche Anwesenheit in jeder Sache<br />
und die Einsicht, dass man selbst Mit-Arbeiter Gottes ist: Ich sehe Gott<br />
„innerhalb” göttlichen Anschauens von mir und von allem Anderen, also<br />
in seinem Werk, und nur so bin ich wahr. Eine Übung ist eine der Bedingungen<br />
der Einsicht im wahren Zusammenhang der Welt.<br />
Wenn man Foucault („Hermeneutik des Subjekts”) Glauben schenken<br />
sollte, dann wurden früher solche Übungen als „meditatio” (gr.<br />
Μελετη) bezeichnet, und die Ziele oder Ergebnisse als „contemplatio”<br />
(gr. Υεωρια), als Anschauung. Beide zusammen bilden die Kernstruktur<br />
davon, was als „Technik des Selbst” bezeichnet wird.<br />
Im § 25 der „Kritik der reinen Vernunft” lesen wir: „In der<br />
transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen<br />
überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der<br />
Apperzeption, werde ich mir meiner selbst bewusst, nicht wie ich mir<br />
erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin. Diese<br />
Vorstellung ist ein Denken nicht ein Anschauen”. 1 Denken ist meditatio,<br />
Anschauung ist contemplatio.<br />
1<br />
Kant I. Gesammelte Werke in 6 Bänden. Bd. III. M., 1964. S. 208. Im Unterschied<br />
zum griechischen θεωρια bedeutet das Eidos-Schauen bei Kant «Wahrnehmung»,<br />
doch diese Sinnverschiebungen lassen sich erklären. Kant schafft eine neue<br />
Metaphysik, die Metaphysik der Vorstellungen, im Unterschied zur Metaphysik<br />
Im Rahmen der von ihm herausgearbeiteten Ontologie der<br />
Vorstellungen verändert Kant radikal den Sinn der traditionellen<br />
Termini. Die Spur des alten Sinns bleibt aber. Die Platonische „Kunst der<br />
Zuwendung” nimmt bei Kant die Gestalt der „Vorstellung, die sich selbst<br />
sich selbst vorstellt” (das Cartesische cogito) an, und diese ursprüngliche<br />
Vorstellung ist keine „Vorstellung im Kopf”, sondern Denken, also nicht<br />
Anschauen. Das heisst Kant spricht über die Vorstellung wie über ein<br />
Ereignis der Selbstüberwindung, in dem ich mich selbst vorstelle als<br />
jemanden, der sich all das vorstellt.<br />
Die deutschen Idealisten, die allzusehr von der Kritik des<br />
Kantschen Kritizismus mitgerissen worden sind, haben diese Wende<br />
im Gedankengang Kants nicht bemerkt. Hegel musste die Substanz<br />
„gleichermaßen als ein Subjekt” (Phänomenologie, Einleitung) begreifen;<br />
Schelling, als Philosoph der Identität, war um die eigene Version der<br />
Überwindung des Dualismus von Ich und Natur bemüht. „Ich” wird<br />
aber auch hier, d.h. im System des transzendentalen Idealismus, als<br />
„Tätigkeit” und nur „Tätigkeit” begriffen, und dabei als „unendliche<br />
Tätigkeit”, die für sich selbst zum Objekt wird, das heisst zur begrenzten<br />
und endlichen Tätigkeit. Ich ist die Überwindung aller Grenzen, eine<br />
Schrankenlosigkeit, die, indem sie ihre eigene Grenzen hinter sich lässt,<br />
sich selbst begrenzt!<br />
In diesem Kontext begegnen wir — durchaus nicht unerwartet —<br />
demjenigen Begriffspaar, das uns interessiert: „Die Einheit des idealen<br />
und des realen Grundes” wird im Dialog „Bruno” als „Einheit von<br />
Denken und Anschauen” erklärt. 2<br />
Das Paradox von dem, der alles ist, oder die Frage nach dem Sein (in<br />
der Ganzheit der Welt) nimmt zu verschiedenen Epochen verschiedene<br />
Gestalten an. Das begründet ja geradezu epochale Unterschiede. Der<br />
Idealismus ist es (er ist nämlich unsere philosophische Heimat) der uns<br />
der Wesenheiten, und deutet dabei nicht bloß die aristotelischen Kategorien um,<br />
sondern erbaut ein neues Kategoriensystem, indem er von den Urteilsfunktionen<br />
ausgeht. In diesem neuen Kontext kann und muss das (transzendentale) ego als<br />
Substanz gedacht werden, was jedoch nicht bedeutet, dass es Substanz ist.<br />
2<br />
Bruno oder Über den göttlichen und natürlichen Ursprung von Dingen //<br />
Schelling F. W. Werke in 2 Bänden, Bd. 1. M., 1987. S. 509.