08.05.2014 Aufrufe

Verbum 14

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

130 131<br />

Priorität der Identität entstammt. Der Mensch aber lebt nach wie vor in<br />

der ganzheitlichen Welt. Die Welt ist immer ganz, sei ihre Ganzheit auch<br />

so problematisch.<br />

Ich glaube, daß die Zuwendung zur klassischen Philosophie,<br />

inbesondere zur Philosophie von Kues und Schelling, uns helfen könnte,<br />

wenn nicht die Lösung, so doch zumindest die richtige Frage nach<br />

der Ganzheit unserer heutigen, solch unganzen Welt zu finden, in der<br />

Zuwendung zur Geschichte eines wichtigen Begriffspaars, Denken und<br />

Anschauen, und zur Wandlung ihrer Bedeutungen in verschiedenen<br />

Konzeptionen.<br />

Gleich zu Anfang der „De visione dei” schreibt Kues, dass er mit diesem<br />

Werk seinen Klosterbrüdern eine „Übung in Gottseligkeit” anbietet.<br />

Darüber sprach ich bei unserem letzten Treffen. Die „Übung” ist Ausführung<br />

einer Reihe von Handlungen, um das Ziel zu erreichen. In diesem<br />

Fall ist das Ziel die Einsicht in die göttliche Anwesenheit in jeder Sache<br />

und die Einsicht, dass man selbst Mit-Arbeiter Gottes ist: Ich sehe Gott<br />

„innerhalb” göttlichen Anschauens von mir und von allem Anderen, also<br />

in seinem Werk, und nur so bin ich wahr. Eine Übung ist eine der Bedingungen<br />

der Einsicht im wahren Zusammenhang der Welt.<br />

Wenn man Foucault („Hermeneutik des Subjekts”) Glauben schenken<br />

sollte, dann wurden früher solche Übungen als „meditatio” (gr.<br />

Μελετη) bezeichnet, und die Ziele oder Ergebnisse als „contemplatio”<br />

(gr. Υεωρια), als Anschauung. Beide zusammen bilden die Kernstruktur<br />

davon, was als „Technik des Selbst” bezeichnet wird.<br />

Im § 25 der „Kritik der reinen Vernunft” lesen wir: „In der<br />

transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen<br />

überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der<br />

Apperzeption, werde ich mir meiner selbst bewusst, nicht wie ich mir<br />

erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin. Diese<br />

Vorstellung ist ein Denken nicht ein Anschauen”. 1 Denken ist meditatio,<br />

Anschauung ist contemplatio.<br />

1<br />

Kant I. Gesammelte Werke in 6 Bänden. Bd. III. M., 1964. S. 208. Im Unterschied<br />

zum griechischen θεωρια bedeutet das Eidos-Schauen bei Kant «Wahrnehmung»,<br />

doch diese Sinnverschiebungen lassen sich erklären. Kant schafft eine neue<br />

Metaphysik, die Metaphysik der Vorstellungen, im Unterschied zur Metaphysik<br />

Im Rahmen der von ihm herausgearbeiteten Ontologie der<br />

Vorstellungen verändert Kant radikal den Sinn der traditionellen<br />

Termini. Die Spur des alten Sinns bleibt aber. Die Platonische „Kunst der<br />

Zuwendung” nimmt bei Kant die Gestalt der „Vorstellung, die sich selbst<br />

sich selbst vorstellt” (das Cartesische cogito) an, und diese ursprüngliche<br />

Vorstellung ist keine „Vorstellung im Kopf”, sondern Denken, also nicht<br />

Anschauen. Das heisst Kant spricht über die Vorstellung wie über ein<br />

Ereignis der Selbstüberwindung, in dem ich mich selbst vorstelle als<br />

jemanden, der sich all das vorstellt.<br />

Die deutschen Idealisten, die allzusehr von der Kritik des<br />

Kantschen Kritizismus mitgerissen worden sind, haben diese Wende<br />

im Gedankengang Kants nicht bemerkt. Hegel musste die Substanz<br />

„gleichermaßen als ein Subjekt” (Phänomenologie, Einleitung) begreifen;<br />

Schelling, als Philosoph der Identität, war um die eigene Version der<br />

Überwindung des Dualismus von Ich und Natur bemüht. „Ich” wird<br />

aber auch hier, d.h. im System des transzendentalen Idealismus, als<br />

„Tätigkeit” und nur „Tätigkeit” begriffen, und dabei als „unendliche<br />

Tätigkeit”, die für sich selbst zum Objekt wird, das heisst zur begrenzten<br />

und endlichen Tätigkeit. Ich ist die Überwindung aller Grenzen, eine<br />

Schrankenlosigkeit, die, indem sie ihre eigene Grenzen hinter sich lässt,<br />

sich selbst begrenzt!<br />

In diesem Kontext begegnen wir — durchaus nicht unerwartet —<br />

demjenigen Begriffspaar, das uns interessiert: „Die Einheit des idealen<br />

und des realen Grundes” wird im Dialog „Bruno” als „Einheit von<br />

Denken und Anschauen” erklärt. 2<br />

Das Paradox von dem, der alles ist, oder die Frage nach dem Sein (in<br />

der Ganzheit der Welt) nimmt zu verschiedenen Epochen verschiedene<br />

Gestalten an. Das begründet ja geradezu epochale Unterschiede. Der<br />

Idealismus ist es (er ist nämlich unsere philosophische Heimat) der uns<br />

der Wesenheiten, und deutet dabei nicht bloß die aristotelischen Kategorien um,<br />

sondern erbaut ein neues Kategoriensystem, indem er von den Urteilsfunktionen<br />

ausgeht. In diesem neuen Kontext kann und muss das (transzendentale) ego als<br />

Substanz gedacht werden, was jedoch nicht bedeutet, dass es Substanz ist.<br />

2<br />

Bruno oder Über den göttlichen und natürlichen Ursprung von Dingen //<br />

Schelling F. W. Werke in 2 Bänden, Bd. 1. M., 1987. S. 509.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!