Verbum 14
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Auf der anderen Seite ist der transzendente göttliche Geist doch in allem<br />
intellektualen Leben anwesend, und so werden konjekturale Aussagen<br />
möglich, die vom Abbild zum Urbild emporsteigen.<br />
Zu den Grundlagen einer solchen konjekturalen Erkenntnis gehört<br />
die Erfahrung, dass der menschliche Geist mit aller Macht danach strebt,<br />
seine Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Das Streben nach Anerkennung<br />
und Ruhm ist konstitutiv für den Intellekt.<br />
„Wir erfahren in uns, dass unsere einsichshafte Natur mit allem Eifer<br />
versucht, ihre Herrlichkeit kundzutun, die sie durch das Einsehen hat.<br />
Deshalb verlangen diejenigen, die sich freuen, nach solchen, die ihre<br />
Freude teilen, wie Christus am Beispiel der Freude über das Finden des<br />
verlorenen Sohnes, des verlorenen Schafes und der verlorenen Drachme<br />
zeigt. Und ganz allgemein wird der Besitz eines Gutes nicht als angenehm<br />
empfunden, wenn er nicht mit einem anderen geteilt wird, weil so unser<br />
Ruhm und unsere Freude kund werden”. 15<br />
Der Gedanke taucht bei Cusanus mehrmals auf. In der Predigt CLIV<br />
(<strong>14</strong>54) findet er eine Bestätigung dafür in der Tatsache, dass die Menschen<br />
gerne Bücher schreiben, um ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen. 16<br />
In einer seiner letzten Schriften, der Reformatio generalis, greift er den<br />
Gedanken nochmals auf:<br />
„Wir sehen nämlich, dass die denkende Natur, die an Gottes Güte<br />
teilhat, eine Neigung hat zu sich mitteilender Darstellung ihrer selbst, wie<br />
15<br />
Sermo CLXXXVII, n. 6, lin. 1–9: Experimur autem in nobis, quod intellectualis<br />
nostra natura quaerit omni diligentia gloriam suam, quam habet intelligendo,<br />
notam facere. Et propterea gaudentes congaudentes desiderant et quaerunt, ut de<br />
gaudio inventionis perditi filii, perditae ovis et perdidae dragmae Christus exemplificat.<br />
Et generaliter ob hoc, ut gloria et laetitia nostra nota fiant, nullis boni sine socio<br />
iucunda est possessio.<br />
16<br />
Sermo CLIV, n. 21: Si consideramus, quomodo intellectus se communicat<br />
cum gaudio, ut experimur per scripturas: nisi sunt scribentes suum communicare<br />
intellectum, Deus autem qui est purissimus intellectus, voluit divitias suas communicare<br />
et notas facere, et in hoc homo est finis creaturarum, quia habet intellectum,<br />
qui est capax notitiae, quem Deus ut noscatur creavit. Die deutsche Übersetzung in:<br />
Nikolaus von Kues. Predigten in deutscher Übersetzung. B. 3, Münster, 2007. S. 191<br />
hat fälschlicher Weise ‚nisi’ mit ‚wenn nicht’ übersetzt; richtig muss es heißen: Die<br />
Schreibenden haben sich bemüht (nisi von niti), ihr Verständnis mitzuteilen…<br />
es uns die Bücher der Weisen zeigen, die deswegen herausgegeben sind,<br />
dass ein jeder darin sein Denken zeigt und diejenigen, die aufnahmewillig<br />
sind, zur Teilhabe daran aufruft”. 17<br />
Dieser soziale, kommunikative Aspekt des Denkens ist nach Nikolaus<br />
in Gott selbst grundgelegt.<br />
„Wie der einsichthafte Geist seine Herrlichkeit nur kundtun kann,<br />
indem er andere zur Teilhabe ruft, denen er sich mitzuteilen versucht, so<br />
erschafft nach unserem Urteil auch der allmächtige Gott alles, damit die<br />
Reichtümer seiner Herrlichkeit bekannt und anerkannt werden”. 18<br />
Greift man auf die Metapher von der Welt als Buch zurück, so<br />
bedeutet das, dass Gott nicht nur das Buch der Schöpfung schaffen<br />
musste, sondern zugleich auch einen Leser, der dieses Buch als Ausdruck<br />
der göttlichen Herrlichkeit entziffern kann, eben den vernunftbegabten<br />
Menschen.<br />
In der vorliegenden Predigt fasst Cusanus diesen Sachverhalt in<br />
dem Satz zusammen: „Vult igitur Deus cognosci. Gott will erkannt<br />
werden”, 19 einem Satz, den er auch sonst zitiert. 20 Gottes Güte drängt<br />
17<br />
Reformatio generalis (h XV,2: Opuscula ecclesiastica. Р. 17–57), n. 1 (Р. 20):<br />
Videmus enim naturam intellectualem dei bonitatem participantem inclinari ad sui<br />
ostensionem et participationem, quemadmodum nos docent libri sapientum, qui<br />
propter hoc editi suntut quisque suum intellectum ostendat et ad eius participationem<br />
dociles vocet.<br />
18<br />
Sermo CLXXXVII n. 6, lin. 8–16: Et sicut intellectus gloriam suam non potest<br />
notificare, nisi ad participationem vocet alios, quibus se notitur communicare,<br />
ut sic alii in suis intellectibus degustent gloriam suam, quam intelligendo in se habet,<br />
sic iudicamus Deum omnipotentem omnia facere, ut divitiae gloriae suae notae fiant<br />
et cognoscantur, ut Apostolus in multis locis dicit.<br />
19<br />
Sermo CLXXXVII, n. 7: Vult igitur Deus cognosci. Unde propter hoc sunt<br />
omnia, et ideo homo creatus, ut ait Paulus Actuum 17.<br />
20<br />
Sermo CCXC, n. 12: intellectus vult intelligi et cognosci. De beryllo enthält<br />
den Satz zwar nicht wörtlich, aber dem Sinne nach, n. 4, n. 6 u.ö.. In der Schrift<br />
De aequalitate (h X,1, n. 3) kommt er auf De beryllo zurück und präzisiert: Legisti<br />
in Beryllo nostro, quomodo intellectus vult cognosci. Dico nunc hoc verum a se et<br />
aliis; et hoc non est aliud nisi quod se et alia vult cognoscere, cum in cognoscendo<br />
sit vita eius et laetitia. Vgl. zu dieser Stelle: Schwaetzer H. Aequalitas. Erkenntnistheoretische<br />
und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus<br />
von Kues: Eine Studie zu seiner Schrift De aequalitate. 2. durchgs. Aufl. Hildesheim,