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Rolle nach rechts- Spìegel 19/2014 - Autorin: Helene Zuber

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Provinz Idlib<br />

SYRIEN<br />

Damaskus<br />

Latakia<br />

Provinz Hama<br />

TÜRKEI<br />

SYRIEN<br />

Chlorgas-<br />

Angriffe<br />

Maarat al-Numan<br />

Talminis<br />

25 km Tamana<br />

Kafr Sita<br />

Zylinder mit dem eingravierten Kürzel<br />

„CL ²<br />

“ sowie dem Namen des mutmaß -<br />

lichen chinesischen Herstellers: Norinco.<br />

Cl ²<br />

ist die Formel für Chlorgas. Identische<br />

Zylinder mit Gravur sind in den Resten einer<br />

ebenfalls nicht detonierten Fassbombe<br />

in Talminis enthalten sowie in der zwar<br />

explodierten, aber nicht vollständig zerstörten<br />

Bombe, die nahe dem Haus des<br />

Bauern Abu Abdu niederging.<br />

Angriffe mit Chlorgas sind nicht leicht<br />

<strong>nach</strong>zuweisen. Bodenproben eines syrischen<br />

Arztes, analysiert von einem Kampfstoffexperten<br />

im Auftrag der britischen<br />

Tageszeitung „Telegraph“, die vergangene<br />

Woche dessen Ergebnisse veröffentlichte,<br />

ergaben zwar eine hohe Chlorkonzentration<br />

an den Einschlagstellen. Aber Chlor<br />

wird auch zum Bleichen oder Desinfizieren<br />

genutzt, Chlorgas hinterlässt keine eindeutigen<br />

Spuren wie etwa die Abbauprodukte<br />

des Nervengases Sarin. Doch um<br />

halbtonnenschwere Bomben aus großer<br />

Höhe abzuwerfen, braucht man Hubschrauber<br />

– und über die verfügt keine<br />

Rebellengruppe in Syrien.<br />

Es gibt weitere Hinweise für die Täterschaft<br />

des Regimes, allerdings lassen sie<br />

sich nicht überprüfen. Da die Rebellen keine<br />

Waffen haben, mit denen sie hoch fliegende<br />

Jets und Hubschrauber bekämpfen<br />

können, hören die Techniker der „Islamischen<br />

Front“, der größten Rebellenallianz<br />

im Norden, den Funkverkehr von Piloten<br />

und Armee ab. Alle paar Kilometer, in Zelten,<br />

Bauernhöfen, unter Olivenbäumen,<br />

sitzt eine kleine Lauschstation, die Männer<br />

verfolgen Flugrouten und Ansagen. Über<br />

Funk geben sie Warnungen vor möglichen<br />

Angriffen durch.<br />

Auch Wadi Daif, das riesige Militärlager<br />

nahe Talminis, belauschen sie routinemäßig<br />

– auch an jenem 21. April, an dem die<br />

beiden Gasbomben auf den Ort nieder -<br />

gehen. An diesem Tag, so erzählen es die<br />

Rebellen, wurde eine Warnung gesendet,<br />

dass die Soldaten ihre Gasmasken bereithalten<br />

sollten. Stunden später dann sollen<br />

sich Regimesoldaten via Funk gefreut<br />

haben, dass die „Terroristen“ in Talminis<br />

gerade „viele Krankenwagen“ gebraucht<br />

hätten.<br />

Die Staatssender aus Damaskus verbreiten<br />

weiterhin, dass die Nusra-Front hinter<br />

den Gasangriffen stecke. Und auch in einem<br />

Statement des Außenministeriums in<br />

Moskau heißt es, man besitze „authentische<br />

Informationen“, dass die Vorwürfe gegen<br />

die syrische Regierung falsch seien,<br />

alles sei lediglich „antisyrische Chemie-<br />

Hysterie“. Die USA, Frankreich und Großbritannien<br />

sprechen jedoch von Hinweisen<br />

auf einen Gaseinsatz. Eine Untersuchung<br />

durch die Organisation für das Verbot chemischer<br />

Waffen soll nun Klarheit bringen.<br />

Damaskus stimmte ihr vergangene Woche<br />

formell zu – in Gebieten unter Regime -<br />

kontrolle. Nur: Sämtliche Orte der bisherigen<br />

Chlorangriffe zählen nicht dazu.<br />

Militärisch siegt das Regime derzeit im<br />

Zentrum – und verliert an den Rändern,<br />

in Idlib und Hama im Norden, in Daraa<br />

im Süden. Der Osten ist ohnehin fast gänzlich<br />

außerhalb der Kontrolle von Damaskus.<br />

Hoffnungen auf ein schnelles Ende<br />

des Kriegs hat im vierten Jahr keiner mehr.<br />

Stattdessen macht jede Seite einfach weiter.<br />

Der Arzt Abdallah Darwisch setzt darauf,<br />

dass auch die nächste Bombe ihn verfehlt.<br />

Und Baschar al-Assad hat für den<br />

3. Juni Wahlen angekündigt, um sich für<br />

weitere sieben Jahre als Präsident bestätigen<br />

zu lassen – in einem Land, in dem die<br />

Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht ist.<br />

Auch die Rebellen kämpfen weiter, und<br />

die religiösen Gruppen gewinnen dabei<br />

immer mehr Einfluss.<br />

In Idlib ist die Nusra-Front militärisch<br />

stärker geworden, aber auch zurückhaltender.<br />

Denn die Glaubensherrschaft wird weiter<br />

östlich bereits eingelöst: von der Dschihadistengruppe<br />

„Islamischer Staat im Irak<br />

und in Syrien“. Deren Mitglieder köpfen<br />

Gegner, entführen Ausländer, aber auch<br />

Syrer, die sich ihrem Terrorregime entgegenstellen.<br />

Kaum etwas macht die Lehre<br />

vom Gottesstaat unpopulärer als ihre praktische<br />

Umsetzung. „Hör mir doch auf mit<br />

deinem Handabhacken“, sagt ein Nusra-<br />

Kämpfer in kleiner Runde, als sein Anführer<br />

von der radikalen Auslegung der Scharia<br />

schwärmt. „Dafür kämpfen wir nicht.“<br />

In Talminis haben sich zwei Ärzte auf<br />

praktische Hilfe verlegt. Mit Projektor und<br />

Folien ziehen sie von Moschee zu Moschee,<br />

um Tipps für das Verhalten bei Giftgas-<br />

Angriffen zu geben: Kleidung ausziehen,<br />

höher gelegene Orte aufsuchen, gegen die<br />

Windrichtung laufen. „Bei Chlorgas gibt<br />

es eine gelbe Wolke, Sarin hingegen ist unsichtbar.“<br />

Kleine Hinweise zum Alltag.<br />

Christoph Reuter<br />

Video: Christoph Reuter über<br />

Assads neue Bomben<br />

spiegel.de/app<strong>19</strong><strong>2014</strong>syrien<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

<strong>Rolle</strong> <strong>nach</strong><br />

<strong>rechts</strong><br />

Spanien Mit einer Reihe autoritärer<br />

Gesetzesreformen versucht<br />

die konservative Regierung, von<br />

der Krise abzulenken.<br />

Berlin ab 2180 Euro, London ab<br />

2614 Euro, Paris ab <strong>19</strong>42 Euro, steht<br />

auf den Schildern im Schaufenster<br />

der Agentur „Abortiontravel“ in Madrid.<br />

Erst vor einem Monat wurde die Agentur<br />

eröffnet, sie informiert, was Flug, Aufenthalt<br />

und Abtreibung in den jeweiligen<br />

Städten kosten. Denn in Spanien werden<br />

Frauen wohl bald nicht mehr abtreiben<br />

dürfen: Die konservative Regierung will<br />

ein neues „Gesetz zum Schutz des empfangenen<br />

Lebens“ verabschieden.<br />

Tickets werden hier nicht verkauft, sondern<br />

Aktivistinnen verteilen Prospekte mit<br />

Details zur Gesetzeslage im europäischen<br />

Ausland und informieren über die Umstände<br />

des Eingriffs – in den Räumen des<br />

Laden lokals und im Internet. Mit einer<br />

Petition wollen sie an Ministerpräsident<br />

Mariano Rajoy appellieren, er möge die<br />

Gesetzesänderung zurückziehen.<br />

„Spain rocks!“, titelte einst „Time“, das<br />

war vor zehn Jahren. Damals trat der<br />

Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero an,<br />

in dem von Katholizismus und vier Jahrzehnten<br />

Diktatur geprägten Land eine<br />

neue Bürgerkultur zu begründen.<br />

Spanien sollte eine Art Schweden im Süden<br />

Europas werden. Gegen das Geschrei<br />

der Bischöfe setzte Regierungschef Zapatero<br />

<strong>nach</strong> und <strong>nach</strong> die Homo-Ehe, ein beschleunigtes<br />

Scheidungsverfahren und eine<br />

Fristenregelung bei der Abtreibung durch.<br />

Nun rockt Spanien nicht mehr. Ministerpräsident<br />

Rajoy, dessen konservative<br />

Volkspartei seit Dezember 2011 mit absoluter<br />

Mehrheit das Parlament dominiert,<br />

verordnet dem Land die <strong>Rolle</strong> rückwärts<br />

und führt es <strong>nach</strong> <strong>rechts</strong>. Rajoy nimmt die<br />

Wirtschaftskrise zum Vorwand, die gesellschaftspolitischen<br />

Reformen seines Vorgängers<br />

zu kassieren. Es gibt kein Geld mehr,<br />

damit Frauen Beruf und Familie besser vereinen<br />

können; kein Geld, damit auch Kinder<br />

mittelloser Eltern studieren können.<br />

Rajoys jüngste Gesetzesvorhaben zu Abtreibung<br />

und öffentlicher Ordnung wecken<br />

bei vielen Spaniern unliebsame Erinnerungen:<br />

„Unbestreitbar franquistisch inspiriert“<br />

nennt der Schriftsteller Javier Marías<br />

die vom Ministerrat gebilligten Regelungen.<br />

Den Bürgern werde „der Schutz entzogen“,<br />

die Freiheit der Meinungsäußerung<br />

beschnitten.<br />

82 DER SPIEGEL <strong>19</strong>/ <strong>2014</strong>


Abtreibungsgesetz-Gegner in Madrid: „Nie da gewesene Einschränkung der Freiheit der Bürger“<br />

FOTO: RODRIGO GARCIA / NURPHOTO / SIPA USA / DDP IMAGES<br />

Rajoys Volkspartei, der Nachfolgerin der<br />

von einem Franco-Minister gegründeten<br />

Alianza Popular, werden bei der Europawahl<br />

im Mai empfindliche Verluste vorausgesagt.<br />

Die Spanier sorgen sich um die<br />

hohe Arbeitslosigkeit, die <strong>nach</strong> Prognosen<br />

des Internationalen Währungsfonds auch<br />

in diesem Jahr nicht unter 26,5 Prozent<br />

sinken wird. Zudem belasten Korruptionsaffären<br />

die Regierungspartei. Die sozialistischen<br />

Rivalen könnten gar am Partido<br />

Popular vorbeiziehen. Abtrünnige der beiden<br />

großen Parteien haben in den vergangenen<br />

Monaten neue Gruppierungen gegründet,<br />

mit denen sie ins Europaparlament<br />

kommen wollen. Wohl auch deshalb<br />

umwirbt Rajoy die Ultrakonservativen und<br />

Katholiken.<br />

Mit Blick auf die Frommen hat Justizminister<br />

Alberto Ruiz-Gallardón das Gesetzesprojekt<br />

„zum Schutz des empfangenen<br />

Lebens und zu den Rechten der<br />

Schwangeren“ ausgearbeitet, <strong>nach</strong> dem<br />

Wunsch der Bischofskonferenz.<br />

Die erst 2010 in Kraft getretene Fristenregelung,<br />

<strong>nach</strong> der Abtreibung bis zur<br />

14. Woche straffrei bleibt, wird ersetzt durch<br />

eine strikte Bestimmung: In Zukunft sollen<br />

Frauen nur noch <strong>nach</strong> einer Vergewal -<br />

tigung bis zur 12. Woche und, wenn ihre<br />

Gesundheit dauerhaft bedroht ist, bis zur<br />

22. Woche abtreiben dürfen. Selbst schwere<br />

Behinderungen des Fötus berechtigen<br />

nicht zur Abtreibung. Es sei denn, zwei<br />

Psychiater bestätigten der Schwangeren ein<br />

Risiko, dauerhaft seelisch zu erkranken.<br />

Tausende Ärzte, Juristen und Politiker<br />

aller Oppositionsparteien äußerten Bedenken<br />

gegen das restriktive Gesetz. Die Zahl<br />

der Abtreibungen von gegenwärtig über<br />

110 000 jährlich werde nicht sinken.<br />

Die Kürzungen der Sozialleistungen hätten<br />

zu einer „Feminisierung der Armut“<br />

geführt, so die fortschrittliche Richtervereinigung<br />

„Jueces para la democracia“. Frauen<br />

würden, wie unter Franco, wieder gezwungen,<br />

ins Ausland zu reisen oder sich<br />

in die Hände von Engelmacherinnen zu begeben.<br />

Sogar innerhalb der Volkspartei gibt<br />

es Kritiker. Deshalb will Rajoy die Reform<br />

dann lieber doch erst <strong>nach</strong> der Europawahl<br />

dem Parlament zur Abstimmung vorlegen.<br />

So lange hält er auch die umstrittene<br />

Novelle des „Gesetzes zur Sicherheit der<br />

Bürger“ zurück. Denn Innenminister Jorge<br />

Fernández Díaz hat sich zum Ziel gesetzt,<br />

das gesamte System der öffentlichen Ordnung<br />

neu auszurichten. So sollen Beschuldigte<br />

künftig selbst beweisen, dass sie die<br />

ihnen zur Last gelegten Taten nicht begangen<br />

haben.<br />

Strafen werden deutlich erhöht. Bis zu<br />

600 000 Euro soll beispielsweise zahlen,<br />

wer am Tag vor einer Wahl demonstriert.<br />

Auf öffentliche Ruhestörung stehen bis zu<br />

sechs Jahre Freiheitsstrafe. Wer zum Protest<br />

aufruft oder auch nur darüber informiert,<br />

muss ein Jahr Gefängnis fürchten.<br />

Personal privater Sicherheitsdienste ohne<br />

Polizeiausbildung soll Personen kontrollieren<br />

und festhalten, wenn sie ihren Ausweis<br />

nicht vorzeigen. Es soll verboten sein,<br />

Sicher heitskräfte im Einsatz zu filmen oder<br />

zu fotografieren.<br />

Eine „nie da gewesene Einschränkung<br />

der Freiheit der Bürger, zu demonstrieren,<br />

zu streiken und ihre Meinung zu äußern“<br />

sei das, protestierte die fortschrittliche<br />

Richtervereinigung. Unter dem Vorwand,<br />

Sicherheit zu garantieren, würden gesellschaftliche<br />

Konflikte kriminalisiert und<br />

sanktioniert.<br />

Am liebsten möchte Fernández genauso<br />

wie seine Parteifreundin, die Bürgermeisterin<br />

von Madrid, Demonstrationen vollkommen<br />

von staatlichen Institutionen fernhalten<br />

und in eigens eingerichtete Zonen<br />

abseits des Zentrums verbannen. Denn die<br />

Konservativen sahen sich in den vergangenen<br />

Monaten bedrängt von Protesten<br />

des Krankenhauspersonals, der Lehrer,<br />

Studenten, Zwangsgeräumten und Arbeitslosen.<br />

Doch selbst der Polizeichef der<br />

Hauptstadt musste einräumen, dass im vergangenen<br />

Jahr 99 Prozent aller Kundgebungen<br />

friedlich verlaufen sind.<br />

Richtergremien und Experten des Staatsrats<br />

warnen, entscheidende Punkte des<br />

neuen Straf<strong>rechts</strong> und des Sicherheits -<br />

gesetzes seien nicht verfassungskonform.<br />

Rajoy beeindruckt das nicht. Anfang April<br />

ließ er weitere Einschränkungen für die<br />

Presse verabschieden. Wer versuche, Prozessbeteiligte,<br />

ob Ermittler, Richter oder<br />

Verteidigung, einzuschüchtern oder zu beeinflussen,<br />

müsse mit bis zu vier Jahren<br />

Gefängnis rechnen. Die Pressevereinigung<br />

von Madrid wehrte sich umgehend dagegen,<br />

Berichterstattern auf diese Weise einen<br />

Maulkorb zu verpassen.<br />

Dazu passt, dass bei den drei wichtigsten<br />

Zeitungen Spaniens, bei „El País“, „El<br />

Mundo“ und „La Vanguardia“, vor Kurzem<br />

die Chefredakteure ausgetauscht wurden.<br />

Und dass die Neuen als Sympathisanten<br />

von Ministerpräsident Rajoy gelten.<br />

<strong>Helene</strong> <strong>Zuber</strong><br />

DER SPIEGEL <strong>19</strong>/ <strong>2014</strong><br />

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