Antidepressiva - nicht nur bei Depressionen - pharmaSuisse
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PHARMAZIE UND MEDIZIN<br />
PHARMACIE ET MÉDECINE<br />
Wichtige Indikationen der <strong>Antidepressiva</strong><br />
und ihre Dosierung<br />
Antide<br />
Christina Ruob<br />
Fuchs,<br />
Marianne Beutler<br />
Forum<br />
A K A<br />
Täglich werden wir in der Offizin<br />
mit Verordnungen von <strong>Antidepressiva</strong><br />
konfrontiert. Sind wir uns da<strong>bei</strong><br />
bewusst, dass <strong>Antidepressiva</strong><br />
neben ihrer Wirkung gegen <strong>Depressionen</strong><br />
auch für eine Reihe<br />
weiterer Indikationen nützlich<br />
sind? Dieser Artikel gibt eine Übersicht<br />
über die aktuellen Einsatzmöglichkeiten<br />
der <strong>Antidepressiva</strong>.<br />
Ausser gegen <strong>Depressionen</strong> dienen <strong>Antidepressiva</strong><br />
– vorwiegend als adjuvante<br />
Therapie – auch zur Behandlung von<br />
verschiedenen anderen psychischen<br />
Erkrankungen sowie von Krankheiten,<br />
an deren Symptomatik Veränderungen<br />
im ZNS beteiligt sind oder vermutet<br />
werden. Im Folgenden werden solche<br />
Erkrankungen und ihre Behandlung<br />
kurz dargestellt und die Anwendungsmöglichkeiten<br />
der <strong>Antidepressiva</strong> detailliert<br />
beschrieben (vgl. auch Kasten<br />
Anwendungsmöglichkeiten von<br />
<strong>Antidepressiva</strong><br />
Angststörungen<br />
Panikstörung<br />
Soziale Phobie<br />
Generalisierte Angststörung<br />
Spezifische Phobien<br />
Zwangsstörungen<br />
Posttraumatische Belastungsstörungen<br />
Essstörungen<br />
Anorexia nervosa, Bulimie, Binge eating disorder<br />
Prämenstruelles dysphorisches Syndrom<br />
Chronische Schmerzen<br />
Polyneuropathie<br />
Postherpetische Neuralgie<br />
Migräne<br />
Chronische Spannungskopfschmerzen<br />
Reizdarmsyndrom<br />
Aufmerksamkeitsdefizit–Hyperaktivitätsstörung<br />
(ADHS)<br />
und Tabelle). Da<strong>bei</strong> unterscheiden wir<br />
zwischen in der Schweiz zugelassenen<br />
Indikationen sowie Dosierungen und<br />
Verwendungsmöglichkeiten, die zwar<br />
in der Literatur beschrieben, aber im<br />
Arzneimittelkompendium <strong>nicht</strong> aufgeführt,<br />
also von der Swissmedic <strong>nicht</strong><br />
zugelassen sind. Wenn immer möglich<br />
sollten diejenigen <strong>Antidepressiva</strong> Verwendung<br />
finden, die in der Schweiz für<br />
die zu behandelnde Krankheit zugelassen<br />
sind. Ein Off–Label–Use (Einsatz<br />
eines <strong>nicht</strong> zugelassenen Arzneimittels<br />
oder in einer <strong>nicht</strong> zugelassenen Indikation)<br />
ist vom Gesetz her möglich,<br />
aber der verschreibende Arzt trägt da<strong>bei</strong><br />
die volle Verantwortung für die<br />
Therapie.<br />
Angststörungen<br />
Etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen<br />
leiden irgendwann unter einer Angststörung.<br />
Durch eine fachgerechte Behandlung<br />
lassen sich die Ängste in der<br />
Regel günstig beeinflussen und komorboide<br />
Störungen wie <strong>Depressionen</strong> und<br />
Suchterkrankungen können verhindert<br />
werden. Viele Patienten brauchen keine<br />
medikamentöse Behandlung. In leichten<br />
Fällen kann eine Aufklärung über<br />
Ursachen und Wesen der Angst oder<br />
die Umstellung der Lebensweise (z. B.<br />
Reduktion von Stress) zum Ziel führen.<br />
Psychotherapeutische Massnahmen –<br />
in erster Linie verhaltenstherapeutische<br />
Methoden – können alleine oder in<br />
Kombination mit pharmakotherapeutischen<br />
Massnahmen mit grossem Erfolg<br />
eingesetzt werden. Bei der medikamentösen<br />
Therapie sind die Benzodiazepine<br />
die bekanntesten und am häufigsten<br />
eingesetzten angstlösenden Substanzen.<br />
Alle Benzodiazepine sind bereits<br />
in niedriger Dosierung anxiolytisch<br />
wirksam. Wegen ihrer Nebenwirkungen<br />
wie Tagessedation, Gleichgültigkeit,<br />
Muskelschwäche und des Risikos einer<br />
Abhängigkeit sollten sie <strong>nur</strong> zur Behandlung<br />
der akuten Angst, also kurzfristig,<br />
eingesetzt werden. Bevorzugt<br />
zur mittel- bis langfristigen Behandlung<br />
der Angst werden <strong>Antidepressiva</strong> eingesetzt,<br />
da sich in den letzten Jahren gezeigt<br />
hat, dass verschiedene <strong>Antidepressiva</strong><br />
auch ein gutes anxiolytisches<br />
Wirkpotenzial entfalten. Diese angstlösende<br />
Eigenschaft lässt sich <strong>nicht</strong> auf<br />
die sedierende Eigenschaft einiger An-<br />
Journal suisse de pharmacie, 3/2006<br />
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PHARMAZIE UND MEDIZIN<br />
PHARMACIE ET MÉDECINE<br />
Bilder: PhotoCase.com<br />
tidepressiva zurückführen, da auch<br />
<strong>nicht</strong> sedierende <strong>Antidepressiva</strong> wirksam<br />
sind. Ferner ist die Wirkung <strong>nicht</strong><br />
von einer gleichzeitig vorhandenen Depression<br />
abhängig.<br />
Die verwendeten Dosierungen bewegen<br />
sich <strong>bei</strong> den Angststörungen in<br />
einem ähnlichen Rahmen wie <strong>bei</strong> der<br />
Depression. Die Wirkung setzt mit einer<br />
Latenz von 2 bis 4 Wochen ein. Ein<br />
Erfolg der Behandlung ist nach 8 Wochen<br />
Behandlung erst <strong>bei</strong> 40 bis 50<br />
Prozent der Patienten erreicht, die Ansprechrate<br />
steigt nach längerer Therapie.<br />
Nach einer erfolgreichen Akutbehandlung<br />
soll eine 12- bis 24-monatige<br />
Erhaltungstherapie angeschlossen werden,<br />
die über 4 bis 6 Monate ausgeschlichen<br />
wird [1,2].<br />
Panikstörung<br />
Die Wirksamkeit einer Kombinationsbehandlung<br />
von Verhaltens- und Psychopharmakotherapie<br />
ist am besten<br />
belegt. Aufgrund der guten Verträglichkeit<br />
sind die SSRI (selective serotonine<br />
reuptake inhibitors) Sertralin, Paroxetin,<br />
Citalopram, Fluoxetin und Fluvoxamin<br />
Substanzen der ersten Wahl [3],<br />
Bei der Panikstörung, die mit einer<br />
Prävalenz von 2 bis 3 Prozent auftritt,<br />
kommt es zu wiederkehrenden,<br />
unerwarteten und <strong>nicht</strong> durch äussere<br />
Umstände ausgelösten Panikattacken.<br />
Meist erreichen sie innerhalb<br />
von 1 bis 3 Minuten ihr Maximum<br />
und klingen in der Regel nach 10 bis<br />
30 Minuten ab. Typisch ist der plötzliche<br />
Beginn von vegetativen Symptomen<br />
wie Tachykardie, Brustschmerz,<br />
Hitzewallungen, Zittern und Hyperventilation.<br />
Es gibt Anzeichen dafür,<br />
dass <strong>bei</strong> Patienten mit einer Panikstörung<br />
die serotonerge Aktivität<br />
verringert ist, während die noradrenerge<br />
Aktivität erhöht ist.<br />
wo<strong>bei</strong> für diese<br />
Indikation in der<br />
Schweiz <strong>nur</strong> Sertralin,<br />
Paroxetin<br />
und Citalopram<br />
zugelassen sind.<br />
Für den spezifischen<br />
Serotoninund<br />
Noradrena-<br />
lin-Wiederaufnah-<br />
Betroffene der sozialen Phobie<br />
fürchten sich vor Situationen, in denen<br />
sie im Mittelpunkt stehen. Sie haben<br />
Angst, etwas zu sagen oder zu tun, was<br />
demütigend oder peinlich sein könnte.<br />
In den gefürchteten Situationen können<br />
alle psychischen, körperlichen<br />
und vegetativen Symptome der Angst<br />
einschliesslich Panikattacken auftreten.<br />
Die Vermeidung angstauslösender<br />
Situationen führt oft zu Behinderungen<br />
im Alltag bis hin zur sozialen Isolierung.<br />
Die soziale Phobie tritt mit einer<br />
Prävalenz von 13 Prozent auf und ist<br />
in der Regel mit Schüchternheit, niedrigem<br />
Selbstwert gefühl und Furcht vor<br />
Kritik verbunden. Als Ursache wird eine<br />
Störung der noradrenergen, der<br />
serotonergen und eventuell der dopaminergen<br />
Aktivität vermutet.<br />
mehemmer Venlafaxin ist die Zulassung<br />
beantragt. Die trizyklischen<br />
<strong>Antidepressiva</strong> Imipramin und Clomipramin<br />
sind wirksam, werden aber wegen<br />
ihrer Nebenwirkungen seltener<br />
verordnet [2,3]. Der Eintritt der Wirksamkeit<br />
kann <strong>bei</strong> dieser Erkrankung<br />
länger dauern (typischerweise zwischen<br />
4 und 6 Wochen) [3], und die<br />
für die Behandlung der Panikstörung<br />
nötigen Dosierungen sind höher als <strong>bei</strong><br />
der Depression [3].<br />
Soziale Phobie<br />
Die Wirkung der SSRI (insbesondere<br />
Paroxetin und Sertralin) und des reversiblen<br />
MAO-Hemmers Moclobemid<br />
sind gut belegt, die Trizyklika sind wenig<br />
wirksam [2]. Ferner kann Venlafaxin<br />
<strong>bei</strong> dieser Indikation eingesetzt<br />
werden [15]. Wegen des meist <strong>nur</strong><br />
partiellen Ansprechens wird grundsätzlich<br />
versucht, auch den oberen Dosisbereich<br />
auszutesten. Neben der Pharmakotherapie<br />
wird eine Verhaltenstherapie<br />
angewendet.<br />
Generalisierte Angststörung<br />
Benzodiazepine haben sich als effektiv<br />
in der Behandlung der generalisierten<br />
Angststörung erwiesen. Wegen ihrer<br />
unerwünschten Wirkungen werden sie<br />
Die generalisierte Angststörung tritt<br />
mit einer Prävalenz von bis zu 8 Prozent<br />
auf. Sie besteht aus einer andauernden<br />
Angstsymptomatik über mindestens 6<br />
Monate. Den Betroffenen quälen anhaltende,<br />
im Ausmass übertriebene Befürchtungen,<br />
die sich auf alles beziehen<br />
können. Da<strong>bei</strong> ist ihnen das übertriebene<br />
Ausmass der Ängste und Befürchtungen<br />
durchaus bewusst, wodurch die<br />
Sorgen selbst zum Gegenstand der Besorgnis<br />
werden. Die anhaltende Symptomatik<br />
verhindert eine Entspannung, was<br />
zu Konzentrationsstörungen, Nervosität,<br />
Reizbarkeit, Schlafstörungen, Muskelverspannungen<br />
und Kopfschmerzen<br />
führt. Die vegetative Übererregbarkeit<br />
zeigt sich unter anderem in Schwindel,<br />
Schwitzen, Hitzewallungen und Tachykardie.<br />
Üblicherweise wird diese Erkrankung<br />
von einer Depression begleitet.<br />
Es wird vermutet, dass Abnormalitäten<br />
im Benzodiazepin–GABA–Rezeptor<br />
Komplex zur Störung <strong>bei</strong>tragen.<br />
77 Schweizer Apothekerzeitung, 3/2006
PHARMAZIE UND MEDIZIN<br />
PHARMACIE ET MÉDECINE<br />
Wirkung der antidepressiven Substanz<br />
angenommen, da ein Effekt häufig bereits<br />
nach einer Woche eintritt. Zudem<br />
kommt es auch <strong>bei</strong> Patienten ohne depressive<br />
Symptomatik zu einer signifikanten<br />
Reduktion der bulimischen Ataber<br />
heute durch Buspiron (15–60mg/<br />
Tag), Paroxetin und Venlafaxin ersetzt<br />
[1,2]. Zusätzlich wird die Störung psychotherapeutisch<br />
behandelt.<br />
Spezifische Phobien<br />
Spezifische Phobien sind die Domäne<br />
der Verhaltenstherapie. Am wirkungsvollsten<br />
ist ein Expositionstraining<br />
kombiniert mit Entspannungsverfahren.<br />
Es werden allenfalls kurzfristig<br />
Betablocker oder Benzodiazepine eingesetzt<br />
[2].<br />
Spezifische Phobien gehören mit einer Prävalenz von bis zu<br />
11 Prozent zu den häufigsten Angsterkrankungen. Da<strong>bei</strong> wird<br />
Angst ausschliesslich oder überwiegend durch eindeutig<br />
definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder<br />
Objekte hervorgerufen. Sie sind durch Erwartungsangst und<br />
Vermeidungsverhalten gekennzeichnet. Obwohl den Betroffenen<br />
bewusst ist, dass ihre Angst übertrieben ist, können sie<br />
diese <strong>nicht</strong> unterdrücken.<br />
Zwangsstörungen<br />
<strong>Antidepressiva</strong> haben <strong>nur</strong> einen geringen<br />
Einfluss auf die Symptome. Verhaltenstherapeutische<br />
Methoden zeigen<br />
einen besseren Effekt. In der Praxis<br />
werden die <strong>bei</strong>den Methoden häufig<br />
kombiniert. Nur die vorwiegend serotonerg<br />
wirksamen <strong>Antidepressiva</strong>, die<br />
SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin,<br />
Paroxetin, Citalopram) und Clomipramin<br />
haben sich bewährt [4], wo<strong>bei</strong><br />
Fluoxetin in der Schweiz für die Therapie<br />
der Zwangsstörung <strong>nicht</strong> zugelassen<br />
ist. Die Therapie muss über 10 bis<br />
12 Wochen mit der maximal tolerierten<br />
Dosis durchgeführt werden, um einen<br />
Effekt zu erzielen [1,4].<br />
Zwangsstörungen haben eine Prävalenz von 1 bis 2 Prozent.<br />
Die Erkrankung beginnt meist in der Jugend oder im frühen<br />
Erwachsenenalter. Die Betroffenen leiden unter unangenehmen,<br />
übertriebenen und sich häufig wiederholenden Handlungen<br />
oder Gedanken, gegen die sie erfolglos Widerstand zu leisten<br />
versuchen. Die häufigste Form stellen Zwänge dar, alltägliche<br />
Abläufe immer wieder zu kontrollieren, sich zu häufig zu<br />
waschen, zu oft und intensiv zu putzen oder Dinge zu ordnen.<br />
Es wird vermutet, dass Abnormitäten im neurochemischen und<br />
neuroanatomischen System (serotonerg und dopaminerg) zu<br />
der Störung führen könnten.<br />
Über die Hälfte der Menschen machen<br />
im Verlauf des Lebens mindestens einmal<br />
eine traumatische Erfahrung durch.<br />
Etwa 25 Prozent davon entwickeln eine<br />
posttraumatische Belastungsstörung,<br />
die Hälfte davon erholt sich ohne spezielle<br />
Therapie. Die posttraumatische Belastungsstörung<br />
ist eine verzögerte Reaktion<br />
auf ein belastendes Ereignis oder<br />
eine aussergewöhnliche Bedrohung.<br />
Oft treten die Reaktionen erst Monate<br />
bis Jahre nach dem Ereignis auf. Da<strong>bei</strong><br />
kommt es unter anderem zu Konzentrationsschwierigkeiten,<br />
Schlafstörungen,<br />
Flashbacks, <strong>Depressionen</strong>, Angstzuständen,<br />
Vermeidungsverhalten oder erhöhter<br />
Schreckhaftigkeit.<br />
derlich [1]. Da<strong>bei</strong> kommen in erster<br />
Linie die SSRI Sertralin, Paroxetin und<br />
Fluoxetin zum Zuge. Erste Hinweise auf<br />
eine Wirksamkeit werden nach 4 Wochen<br />
Therapie erzielt, der vollständige<br />
Effekt kann aber auch erst nach 6 bis<br />
8 Wochen auftreten [5]. Fluoxetin ist<br />
in der Schweiz für die Behandlung der<br />
posttraumatischen Belastungsstörung<br />
<strong>nicht</strong> zugelassen.<br />
Essstörungen<br />
Bei Essstörungen ist die Therapie der<br />
ersten Wahl die Psychotherapie [6].<br />
Ergänzend haben <strong>bei</strong> der Bulimia nervosa<br />
die <strong>Antidepressiva</strong> einen festen<br />
Platz in der Behandlung. Die Essanfälle<br />
nehmen zwischen 40 und 90 Prozent<br />
ab. Es wird eine direkte antibulimische<br />
Es werden zwei Formen von Essstörungen<br />
unterschieden: Anorexia nervosa,<br />
mit beabsichtigtem, selbst her<strong>bei</strong>geführtem<br />
Gewichtsverlust, und die Bulimia<br />
nervosa, <strong>bei</strong> der exzessive, meist hochkalorische<br />
Nahrungsmengen in kurzer<br />
Zeit zugeführt (Essanfall) und anschliessend<br />
Massnahmen ergriffen werden,<br />
um das Körpergewicht in einem<br />
(sub)normalen Rahmen zu halten. Die<br />
zentralen Symptome <strong>bei</strong> <strong>bei</strong>den Störungen<br />
sind das abnormale Essverhalten<br />
und eine alles beherrschende Angst vor<br />
dem Dickwerden. Da<strong>bei</strong> unterliegen die<br />
Patienten meistens einer falschen Wahrnehmung<br />
ihres Körpers, dessen Umfang<br />
sie in der Regel überschätzen. Sie entwickeln<br />
strenge Essensregeln und –rituale.<br />
Die Störungen treten vorrangig <strong>bei</strong><br />
Frauen (90 bis 95 Prozent) in der Adoleszenz<br />
und im jungen Erwachsenenalter<br />
auf. Die Prävalenz der Anorexia nervosa<br />
liegt in dieser Risikogruppe <strong>bei</strong> 0,5<br />
bis 1 Prozent, die der Bulimie <strong>bei</strong> 1 bis<br />
3 Prozent.<br />
Für das Binge eating disorder typisch<br />
sind subjektiv unkontrollierbare Essanfälle,<br />
die von Schuld- und Schamgefühlen<br />
begleitet sind, ohne dass gegensteuernde<br />
gewichtskontrollierende<br />
Massnahmen ergriffen werden.<br />
Posttraumatische Belastungsstörungen<br />
Posttraumatische Belastungsstörungen<br />
behandelt man primär psychotherapeutisch.<br />
Bei schweren Symptomen,<br />
die länger als 3 Monate andauern, ist<br />
der Einsatz von Psychopharmaka erfor-<br />
Journal suisse de pharmacie, 3/2006<br />
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PHARMAZIE UND MEDIZIN<br />
PHARMACIE ET MÉDECINE<br />
tacken [6]. Als wirksam haben sich trizyklische<br />
<strong>Antidepressiva</strong>, MAO–Hemmer<br />
und SSRI gezeigt [1]. Es gibt keine<br />
Hinweise auf die therapeutische Überlegenheit<br />
eines bestimmten Antidepressivums.<br />
Aufgrund der grossen Erfahrung<br />
und der erwiesenen Wirksamkeit<br />
wird heute jedoch Fluoxetin als Medikament<br />
erster Wahl angesehen [6].<br />
Die zugelassene Dosierung beträgt<br />
60 mg/Tag. Die Dauer der Therapie<br />
sollte 6 bis 12 Monate betragen. Bei<br />
der Binge–Eating–Störung deuten Studien<br />
darauf hin, dass SSRI hilfreich in<br />
der Behandlung sind. Der Effekt über<br />
längere Zeit ist noch <strong>nicht</strong> untersucht<br />
[1]. Eine medikamentöse Therapie<br />
wird <strong>bei</strong> der Anorexia nervosa <strong>nicht</strong><br />
empfohlen. Allerdings scheint sich<br />
Fluoxetin für den Einsatz als Rückfallprophylaktikum<br />
nach erfolgreicher Gewichtsrestitution<br />
bewährt zu haben [1,6].<br />
Prämenstruelles dysphorisches<br />
Syndrom PMDS<br />
SSRI können die physischen und die<br />
emotionalen Symptome innerhalb von<br />
drei Menstruationszyklen reduzieren.<br />
Vom prämenstruellen dysphorischen<br />
Syndrom PMDS sind 3 bis 8 Prozent der<br />
Frauen betroffen. Es handelt sich um<br />
eine Untergruppe und besondere Form<br />
des prämenstruellen Syndroms. Es präsentiert<br />
sich als massive, dysphorischdepressive<br />
Verstimmung, die etwa eine<br />
Woche vor Menstruationsbeginn einsetzt<br />
und mit einem erheblichen Leidensdruck<br />
assoziiert ist. Differenzialdiagnostisch<br />
ist eine Angststörung oder eine<br />
Depression auszuschliessen.<br />
Sowohl die Gabe während der Lutealphase<br />
als auch eine kontinuierliche<br />
Gabe sind erfolgreich. Am besten sind<br />
Fluoxetin und Sertralin untersucht,<br />
verabreicht in einer <strong>bei</strong> <strong>Depressionen</strong><br />
üblichen Dosis [1].<br />
In der Schweiz sind keine <strong>Antidepressiva</strong><br />
für diese Indikation zugelassen.<br />
Chronische Schmerzen<br />
<strong>Antidepressiva</strong> zeigen hier einen analgetischen<br />
Effekt, der unabhängig von<br />
einer Depression eintritt. In der Regel<br />
werden tiefere Dosen als in der Behandlung<br />
der Depression eingesetzt.<br />
Die Wirkung tritt innerhalb einer Woche<br />
ein. Die trizyklischen <strong>Antidepressiva</strong><br />
Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin<br />
sind wirksam <strong>bei</strong> Polyneuropathie<br />
(meist diabetischer Genese). Die<br />
postherpetische Neuralgie kann mit<br />
Amitriptylin behandelt werden. In der<br />
Behandlung der Neuropathien zeigen<br />
die Substanzgruppen trizyklische <strong>Antidepressiva</strong>,<br />
Gabapentin, Pregabalin<br />
und die Opioide Tramadol und Oxycodon<br />
ähnliche Erfolgschancen. Die Wahl<br />
des Arzneimittels und die Dosierung<br />
richten sich nach Schmerzart und -intensität,<br />
Alter, Begleiterkrankungen,<br />
schmerzbedingten Schlafstörungen<br />
und Tagesaktivitäten. Eine Kombination<br />
von Opioiden und trizyklischen <strong>Antidepressiva</strong><br />
kann sinnvoll sein. Analgetika<br />
lassen sich möglicherweise durch den<br />
Einsatz der Trizyklika tiefer dosieren.<br />
Die Wirkung von Amitriptylin in der<br />
prophylaktischen Therapie der Migräne<br />
und <strong>bei</strong> chronischen Spannungskopfschmerzen<br />
ist in Dosierungen von<br />
50–100 mg/Tag gut dokumentiert [8].<br />
Im Gegensatz zu den trizyklischen<br />
<strong>Antidepressiva</strong> sind die SSRI in der<br />
Tabelle: <strong>Antidepressiva</strong> – Indikationen und Dosierungen<br />
(Reizdarm, Prämenstruelles dysphorisches Syndrom und ADHS: vgl. Text)<br />
1. Zeile Initialdosis<br />
2. Zeile mittlere Erhaltungsdosis (Maximaldosis)<br />
In der Schweiz zugelassene Indikationen und Dosierungen (gelb)<br />
Indikationen und Dosierungen aus der Literatur (grün)<br />
Citalopram<br />
Seropram ®<br />
SSRI<br />
Escitalopram<br />
Cipralex ®<br />
SSRI<br />
Fluoxetin<br />
Fluctine ®<br />
SSRI<br />
Fluvoxamin<br />
Floxyfral ®<br />
SSRI<br />
Paroxetin<br />
Deroxat ®<br />
SSRI<br />
Sertralin<br />
Zoloft ®<br />
SSRI<br />
Mirtazapin<br />
Remeron ®<br />
NaSSA<br />
Venlafaxin<br />
Efexor ®<br />
SNRI<br />
Moclobemid<br />
Aurorix ®<br />
RIMA<br />
Amitriptylin<br />
Saroten ®<br />
TCA<br />
Clomipramin<br />
Anafranil ®<br />
TCA<br />
Imipramin<br />
Tofranil ®<br />
TCA<br />
Depression<br />
Panikstörung<br />
Soziale Phobie<br />
Generalisierte<br />
Angststörung<br />
Zwangsstörung<br />
Posttraumatische<br />
Belastungsstörung<br />
Bulimie<br />
Schmerzen<br />
SSRI:<br />
NaSSA:<br />
SNRI:<br />
RIMA:<br />
TCA:<br />
20<br />
20–60<br />
10<br />
10(20)<br />
10<br />
20–30 (60)<br />
10<br />
10(20)<br />
10<br />
20<br />
20<br />
20–60<br />
20<br />
20(80)<br />
5–10<br />
20–80<br />
5–10<br />
20–80<br />
5–10<br />
20–80<br />
–<br />
60<br />
50<br />
100–300<br />
25–50<br />
100–300<br />
50<br />
100–300<br />
20<br />
20–40<br />
10<br />
40(60)<br />
20<br />
20(50)<br />
20<br />
20(50)<br />
20<br />
40(60)<br />
20<br />
20(50)<br />
50<br />
50(200)<br />
25<br />
50(200)<br />
25<br />
50(200)<br />
50<br />
50(200)<br />
25<br />
50(200)<br />
15<br />
15–45<br />
75–150<br />
75–375<br />
37,5<br />
75(225)<br />
75<br />
75–225<br />
–<br />
75<br />
–<br />
18,75–37,5<br />
300<br />
300–600<br />
–<br />
600<br />
50<br />
50–75<br />
50–100 (150) 75(250)<br />
25<br />
50–75 (100)<br />
Spezifischer Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, selective serotonine reuptake inhibitor<br />
Noradrenerges und spezifisches serotoninerges Antidepressivum<br />
Spezifischer Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, selective serotonine and noradrenaline reuptake inhibitor<br />
Reversibler MAO-Hemmer, reversible inhibitor of monoamine oxidase type A<br />
Tricyclisches Antidepressivum. Clomipramin: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.<br />
Amitriptylin, Imipramin: Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer<br />
25–75<br />
50–100 (200)<br />
10<br />
10<br />
25–100 (150) 75–150 (200)<br />
50–75<br />
75(250)<br />
50–75<br />
75(250)<br />
–<br />
10–150<br />
–<br />
25–75 (300)<br />
Journal suisse de pharmacie, 3/2006<br />
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PHARMAZIE UND MEDIZIN<br />
PHARMACIE ET MÉDECINE<br />
Schmerztherapie wenig wirksam [8,9].<br />
Interessante Ergebnisse wurden für<br />
Venlafaxin, ein spezifischer Serotoninund<br />
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer,<br />
gefunden. Es erwies sich unter<br />
anderem als wirksam <strong>bei</strong> neuropathischen<br />
Schmerzen und <strong>bei</strong> Migräne<br />
(in der Schweiz <strong>nicht</strong> zugelassen) [8].<br />
Dies lässt auf eine notwendige Beeinflussung<br />
des noradrenergen Systems<br />
zur Behandlung der Schmerzsymptomatik<br />
schliessen [9,10]. Daher dürfen<br />
wir sicher gespannt sein auf die Ergebnisse<br />
von Studien mit neueren Substanzen<br />
wie Reboxetin (spezifischer Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer<br />
sNA-<br />
RI) und Mirtazapin (noradrenerges<br />
und spezifisch serotonerges Antidepressivum<br />
NaSSA).<br />
Reizdarmsyndrom<br />
(Colon irritabile)<br />
Zur Behandlung des Reizdarm–Syndroms<br />
gibt es keine standardisierte<br />
Therapie. Neben stuhlregulierenden<br />
Massnahmen und Spasmolytika werden<br />
zur Schmerzbehandlung in zunehmendem<br />
Masse psychotherapeutische<br />
Massnahmen und trizyklische <strong>Antidepressiva</strong><br />
wie Imipramin, Amitriptylin,<br />
Nortriptylin und Trimipramin eingesetzt.<br />
Die <strong>Antidepressiva</strong> verbessern <strong>bei</strong><br />
einem grossen Teil der behandelten<br />
Patienten die Symptomatik [11]. Die<br />
verabreichten Dosen zwischen 25 und<br />
125 mg sind zu tief, um einen antidepressiven<br />
Effekt zu erreichen, und die<br />
Wirkung tritt rasch ein. Die trizyklischen<br />
Anti depressiva sollen die Schmerzschwelle<br />
für Dehnungsreize der glatten<br />
Muskulatur anheben. Die Resultate für<br />
die SSRI sind weniger überzeugend.<br />
Noradrenalin–Wiederaufnahmehemmer<br />
scheinen effektiver zu sein als spezifische<br />
Serotonin–Wiederaufnahmehemmer,<br />
was wiederum das Interesse<br />
auf neuere Wirkstoffe wie Venlafaxin,<br />
Reboxetin und Mirtazapin lenkt<br />
[11,12]. In der Schweiz sind keine<br />
<strong>Antidepressiva</strong> für die Behandlung des<br />
Colon irritabile zugelassen.<br />
Das Colon irritabile geht meistens mit einem chronisch<br />
fluktuierenden Symptomenkomplex von Bauchschmerzen/<br />
Missempfindungen und Stuhl unregelmässigkeiten einher.<br />
Die Inzidenz der Erkrankung liegt <strong>bei</strong> 1 bis 2 Prozent. Es<br />
liegt eine grundsätzliche Störung der Schmerzwahrnehmung<br />
und -verar<strong>bei</strong>tung vor.<br />
Aufmerksamkeitsdefizit–<br />
Hyperaktivitätsstörung<br />
ADHS<br />
Neben der bekannten Therapie mit<br />
dem Stimulans Ritalin ® (Methylphenidat),<br />
das <strong>bei</strong> Kindern und Erwachsenen<br />
eingesetzt wird, wurden bisher noradrenerg<br />
wirksame trizyklische <strong>Antidepressiva</strong><br />
als Mittel zweiter Wahl eingesetzt.<br />
Jetzt zeichnen sich neue Wege in<br />
der Behandlung des ADHS ab. Das Antidepressivum<br />
Atomoxetin, das zur<br />
Gruppe der spezifischen Noradrenalin-<br />
Wiederaufnahmehemmer gehört, ist in<br />
den USA zur Behandlung von ADHS <strong>bei</strong><br />
Kindern und Erwachsenen bereits zugelassen.<br />
■<br />
Für die Durchsicht des Manuskriptes<br />
danken wir PD Dr. med. Josef Schöpf,<br />
FMH Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
Zürich.<br />
Dieser Artikel wurde im Auftrag der<br />
AKA geschrieben von:<br />
Dr. Christina Ruob Fuchs, Apothekerin,<br />
Zürich, Dr. Marianne Beutler,<br />
Geschäftsführerin AKA<br />
Korrespondenzadresse:<br />
Arzneimittelkommission der Schweizer<br />
Apotheker AKA<br />
Postfach 5247<br />
3001 Bern<br />
Tel. 044 994 75 63<br />
Fax 044 994 75 64<br />
E-Mail: mail@aka.ch<br />
Literatur auf Anfrage<br />
Bild: PhotoCase.com<br />
ADHS ist gekennzeichnet durch eine<br />
ausgeprägte Störung der Konzentrationsfähigkeit,<br />
der Planungs- und<br />
Handlungskontrolle und der Impulskontrolle<br />
sowie durch motorische<br />
Hyperaktivität. Etwa 5 bis 6 Prozent<br />
der Kinder und 1 bis 4 Prozent der<br />
Erwachsenen sind von ADHS betroffen.<br />
Man geht heute davon aus, dass<br />
eine gestörte Signalübermittlung in<br />
Gehirn die Ursache für die Erkrankung<br />
ist, die genetische Grundlagen<br />
hat. Eine wichtige Rolle spielen Dopamin<br />
und Noradrenalin, deren Stoffwechsel<br />
gestört ist. Neben Lern- und<br />
Verhaltensstörungen kann ADHS auch<br />
<strong>Depressionen</strong>, Angststörungen und<br />
andere psychische Erkrankungen<br />
auslösen.<br />
Alle Publikationen der AKA sind als<br />
pdf-Datei auf der AKA-Homepage<br />
(www.aka.ch) unter der Rubrik<br />
Publikationen zu finden.<br />
La traduction française paraîtra<br />
dans un prochain numéro du JPSh.<br />
81 Schweizer Apothekerzeitung, 3/2006