Raquel J. Palacio - Religion im Kinderbuch
Raquel J. Palacio - Religion im Kinderbuch
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<strong>Raquel</strong> J. <strong>Palacio</strong>:<br />
Wunder.<br />
Aus dem Engl. v. André Mumot.<br />
München: Hanser 2012, 384 S., 17,40 Euro<br />
ISBN 978-3-446-24175-6<br />
Doctors have come from distant cities<br />
just to see me<br />
stand over my bed<br />
disbelieving what they´re seeing<br />
They say I must be one of the wonders<br />
of God´s own creation<br />
and as far as they can see they can offer<br />
no explanation<br />
Mit diesem Auszug aus Natalie Merchants Lied “Wonder” stellt <strong>Raquel</strong> J. <strong>Palacio</strong>, die bislang<br />
zwar in der Buchbranche, vor allem aber als Gestalterin von Buchcovern tätig war, ihrem<br />
Debutroman ein Motto voran, das sich explizit auf Gott und die Vielgestaltigkeit seiner<br />
Schöpfung bezieht. Sich tatsächlich als wunderbarer und so gemeinter Teil dieser Schöpfung<br />
zu begreifen, ist aber nicht leicht, wenn man so aussieht wie der zehnjährige Protagonist<br />
August: Sein Gesicht ist aufgrund eines seltenen Gendefekts entstellt. „Ich werde nicht<br />
beschreiben, wie ich aussehe. Was <strong>im</strong>mer ihr euch vorstellt – es ist schl<strong>im</strong>mer.“ Aufgrund<br />
zahlreicher Operationen und daraus resultierender gesundheitlicher Probleme wurde er bis<br />
zum Einsetzen der Handlung dahe<strong>im</strong> unterrichtet, doch nun, mit Beginn der Middle School,<br />
die ja schließlich für alle Kinder einen neuen Lebensabschnitt darstellt, beschließen seine<br />
Eltern, ihn endlich in eine normale Schule zu schicken. Der Roman folgt August also durch<br />
dieses für ihn erste Schuljahr, umgeben von Gleichaltrigen, in dem sich zeigt, dass nicht erst<br />
(wie aus zahllosen Teenie-Filmen und Serien wohlbekannt) die High School ein Ort von<br />
Intrigen, Missgunst und mehr oder weniger subtilem Mobbing ist. Die Probleme resultieren<br />
allerdings, und hier zeigt sich die Autorin als scharfsichtige Beobachterin gesellschaftlicher<br />
Dynamiken, nicht nur aus Gedankenlosigkeit und Gehässigkeit der anderen Kinder, sondern<br />
auch aus den Vorurteilen und Dünkeln der Eltern, die ihre Kinder vor der vermeintlichen<br />
Belastung, mit jemandem, der anders aussieht, konfrontiert zu sein, bewahren wollen, und<br />
dieses Anliegen auch ungeschminkt und mit drastischen Mitteln betreiben: Eine der stärksten<br />
diesbezüglichen Szenen ist eine, in der die Mutter eines Klassenkameraden August mittels<br />
Photoshop aus dem Klassenfoto wegretuschiert. Erzählerisch wählt <strong>Palacio</strong> eine<br />
multiperspektivische Form: Während die ersten 99 Seiten durchgehend als Ich-Erzählung von<br />
August gestaltet sind, sind die weiteren Kapitel aus Sicht von anderen Figuren, darunter seine<br />
Schwester oder ein Freund erzählt, um dann <strong>im</strong> vorletzten und letzten Kapitel wieder zu
Augusts Perspektive zurückzukehren. Diese Unterteilung macht deutlich, welche Folgen<br />
Augusts Anderssein auch für seine Umwelt hat – und wie sich hier wiederum die Frage<br />
danach stellt, wie das, was <strong>im</strong> Rahmen der Schöpfung eben auch passiert, so angenommen<br />
oder verhindert werden soll: Denn Augusts ältere Schwester Via hat für sich beschlossen,<br />
niemals Kinder zu bekommen, weil auch sie das defekte Gen trägt und eventuell weitergeben<br />
könnte. Neben dem titelgebenden „Wonder“ (das die Autorin kurz nach jener Begegnung mit<br />
einem entstellten Mädchen, die sie zur Handlung ihres Textes inspirierte, zufällig <strong>im</strong> Radio<br />
hörte), sind den Kapiteln zahlreiche andere Zitate aus Liedern, aber auch Büchern und<br />
Theaterstücken vorangestellt, von David Bowies „Space Oddity“ über Christina Aguileras<br />
„Beautiful“ bis hin zu „Hamlet“ und „Der kleine Prinz“. In ihrer (auch sprachlichen) Vielfalt<br />
unterstreichen diese medialen Verweise jedenfalls die Grundaussage, die dem mit<br />
erzählerischem Talent komponierten Roman zugrundeliegt: Ein Leben wie Augusts ist nicht<br />
<strong>im</strong>mer einfach und nicht <strong>im</strong>mer schön – und doch ein Wunder und lebenswert.<br />
Kathrin Wexberg