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war gut?“ – Von wegen! - Religion im Kinderbuch

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1<br />

„Alles <strong>war</strong> <strong>gut</strong>?“ – <strong>Von</strong> <strong>wegen</strong>!<br />

Harry Potter und die Ambivalenz des Bösen <br />

von Birte Platow<br />

1. <strong>Religion</strong>spädagogik und Populärkultur<br />

Warum sollte sich die (Praktische) Theologie mit Texten der Trivialliteratur auseinandersetzen,<br />

wo ihr doch an Inhalt und Form, vor allem aber an Bedeutung reichere Texte zur Genüge<br />

<strong>im</strong> eigenen Bereich zur Verfügung stehen? Ein Argument könnte lauten:<br />

„Unser theologischer Diskurs ist viel zu einseitig auf die elitären Konstrukte hochintelligenter<br />

Problembeschreibungen eingeschworen (…). Aber die Wirklichkeitsbilder des Herrn Jedermann,<br />

der sich nicht intellektuell <strong>im</strong> Leben orientiert, der faktisch vortheoretisch existiert und<br />

mit relativ überschaubaren Stereotypen Lebensorientierung hat, bedürfen ebenfalls unserer<br />

Aufmerksamkeit.“ (Beintker 1991, 247)<br />

Die besagten Wirklichkeitsbilder des Herrn Jedermann sind in der Populärkultur zu finden,<br />

die als „die Kultur „der Leute“, wie sie sich in Filmen, Fernsehen, Videoclips, Werbung, aber<br />

auch best<strong>im</strong>mter Literatur ausdrückt“, zu definieren ist. (Ritter 2003, 165) Weiteres Kennzeichen<br />

der Populärkultur ist, dass<br />

„menschliche Subjekte zunehmend selbst als Nutzer, Verbraucher und Teilnehmer bzw. Teilhaber<br />

von und an Kultur [best<strong>im</strong>men und entscheiden], was sie kulturell für belangvoll halten und<br />

goutieren, [sie] sind also nicht mehr bereit, sich heteronomen Urteilen anderer bezüglich <strong>gut</strong>er<br />

und schlechter Kultur zu unterwerfen. Popularkultur (…) unterliegt den Gesetzen des Marktes –<br />

Angebot und Nachfrage.“ (Ritter 2003, 165)<br />

Einverstanden, die Populärkultur, und als Teil derselben die Trivialliteratur, bietet uns also<br />

Einsichten in die Vorlieben der breiten Massen und Aufschluss darüber, was diese interessiert,<br />

bewegt und in welcher Form relevante Themen vorzugsweise wahrgenommen und vermittelt<br />

werden. Im Kontext von (religiösen) Bildungsprozessen ist es ja durchaus sinnvoll,<br />

sich über die Bedingungen der Vermittlung, zu denen eben auch bevorzugte Inhalte und Darbietungsformen<br />

der Adressaten zählen, zu informieren, um die Inhalte in geeigneter Form zu<br />

präsentieren, so dass die Adressaten Anknüpfungspunkte finden. In der <strong>Religion</strong>sdidaktik<br />

bezeichnet man diesen Vermittlungsprozess zwischen Inhalt und Adressat als Elementarisierung<br />

(vgl. Lämmermann 2001) bzw. in der allgemeinen Pädagogik als die Identifikation von<br />

Schlüsselproblemen (vgl. Klafki 1997)<br />

Neben der oben skizzierten didaktisch-pragmatischen D<strong>im</strong>ension von Trivialliteratur existieren<br />

jedoch noch weitere Möglichkeiten, aktuelle Bestseller der Trivialliteratur oder Werke der<br />

populärkulturellen Medien ganz allgemein für die <strong>Religion</strong>spädagogik fruchtbar zu machen.<br />

In den verschiedenartigen medialen Angeboten der Populärkultur finden sich nämlich funktionale<br />

Äquivalente von <strong>Religion</strong> sowie Fragmente der christlichen <strong>Religion</strong>, die an ihrem neuen<br />

Ort in verfremdeter Form erscheinen. Berufene Helden und Befreier der Menschheit mit<br />

symbolträchtigen Namen 1 , Opfer aus Liebe, verschiedene Formen der Selbsttranszendierung 2<br />

Erstdruck in: Astrid Dinter/Kerstin Söderblom (Hrsg.): Vom Logos zum Mythos. „Herr der Ringe“ und „Harry<br />

Potter“ als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts. Praktisch-theologische und religionspädagogische<br />

Analysen (Berlin: LIT-Verlag 29010), S. 149-183.<br />

1 Vgl. beispielsweise den per Prophezeiung angekündigten „Neo“ in der Filmtrilogie „Matrix“, begleitet und<br />

unterstützt von „Orpheus“ und „Trinity“.<br />

2 Selbsttranszendierung erfolgt in populärkulturellen Motiven meist durch die liebende Beziehung zu einer anderen<br />

Person, mit Hilfe derer es gelingt, die eigene Ansprüche und Selbstbezogenheit zu überkommen und dem<br />

Leben einen höheren Sinn zu verleihen. Vgl. hierzu etwa das Motiv <strong>im</strong> Film: „Und täglich grüßt das Murmel-


2<br />

und die auch in den Filmen und Büchern der Populärkultur omnipräsente Frage nach dem<br />

Sinn des Lebens machen es<br />

„evident, dass seit etlichen Jahrzehnten in der populären Kultur Versprachlichung und Darstellung<br />

lebensbedeutsamer und religiöser Themen stattfinden, welche den Rezipienten als Sinnstiftungselemene<br />

für die je individuell zu vollziehende Lebensdeutung angeboten werden.“ (Ritter<br />

2003, 167)<br />

Was diesen Exodus von Funktionen und Inhalten der christlichen <strong>Religion</strong> aus der <strong>Religion</strong> in<br />

die Populärkultur verursacht, erfasst meines Erachtens Werner Ritter recht treffend (wenn<br />

auch nicht umfassend), wenn er sagt:<br />

„Meine These ist, dass in dem Maß, in dem Kirche(n) und Theologie seit den 50er, 60er Jahren<br />

<strong>Religion</strong> und Religiosität der Leute nicht mehr oder zu wenig <strong>im</strong> Blick hatten, deren Wahrnehmung<br />

und Darstellung in die Popularkultur auswandern.“ (Ritter 2003, 166)<br />

An dieser Stelle ist allerdings vor einer zweifachen vorschnellen (Ab-)Wertung zu <strong>war</strong>nen:<br />

nämlich dass quasi monokausal die Kirchen und die Theologie sich Versäumnisse haben zu<br />

Schulden kommen lassen, die überhaupt erst zu dieser Entfremdung geführt haben. Und zweitens,<br />

dass infolge einer Schuldzuschreibung die Verlagerung von <strong>Religion</strong> und Religiosität in<br />

neue Bereiche der Gesellschaft – hier die Populärkultur – überhaupt negativ zu sehen wäre,<br />

und ggf. umzukehren sei. Mal ganz abgesehen davon, dass dies ohnehin unmöglich wäre,<br />

stellt sich die Frage, ob –rein theoretisch - eine Rückkehr der <strong>Religion</strong> und ihre alleinige Verortung<br />

an genuin religiösen Orten wirklich wünschenswert ist, denn <strong>im</strong>merhin ist „Popularkultur<br />

so gesehen (…) auch sinn- und religionsproduzierend, sinn- und religionskonservierend<br />

zu nennen.“ (Ritter 2003, 169). Meinem Ermessen nach <strong>war</strong> die Abwanderung der christlichen<br />

<strong>Religion</strong> und Religiosität in neue Bereiche nicht nur die Folge davon, dass die institutionalisierten<br />

Formen von Religiosität nicht ausreichend am „Puls der Zeit <strong>war</strong>en“, sondern<br />

vielmehr ein natürlicher Emanzipationsakt des postmodernen Menschen, wie er auch für andere<br />

Bereiche zu beobachten ist.<br />

Zum einen sind die kirchlichen Ausprägungen von Religiosität tatsächlich für breite Adressatengruppen<br />

in Inhalt und Form nicht ansprechend, alltagsrelevant, vielleicht nicht einmal<br />

mehr verständlich. Zum anderen ist es jedoch ein ausgeprägtes Merkmal des postmodernen<br />

Menschen, ein max<strong>im</strong>ales Maß an Autonomie, Individualität sowie Selbständigkeit zu leben.<br />

Insofern erscheint die durch Angebot und Nachfrage regulierte Populärkultur auch für religiöse<br />

Bedürfnisse der passendere Markt zu sein als die konventionalisierten und institutionaliserten<br />

Formen von <strong>Religion</strong>, die sich ihr oft abwertend entgegenstellen. Dabei ist jedoch zu bedenken,<br />

dass <strong>Religion</strong>, wie sie in der Populärkultur dargestellt, vermittelt und gelebt wird,<br />

nicht einfach nur attraktiver ist und „mehr Spaß“ macht, sondern dass die Menschen <strong>im</strong> 21.<br />

Jahrhundert populärkulturelle Vermittlungsmedien wählen, weil sie offensichtlich verständlicher,<br />

intensiver, nachhaltiger und damit für den postmodernen Lebensstil einfach passender<br />

sind. Offen bleibt indes, ob die Aufteilung von <strong>Religion</strong> in institutionalisierte Formen 3 und<br />

die in Darstellung und eventuell sogar Inhalt unterschiedenen populärkulturellen Formen von<br />

<strong>Religion</strong> einander entgegenstehen, sich gegenseitig ergänzen oder vielleicht doch <strong>im</strong> Grunde<br />

sehr ähnlich sind. Dieser Frage nachzugehen, gehört zu den aktuellen Herausforderungen der<br />

(Praktischen) Theologie. Exemplarisch wird dies hier am Beispiel des Bestsellers „Harry Pottier“.<br />

Hier gelingt es dem Protagonisten, aus der quälenden Wiederholungsschleife, in der er ein- und denselben<br />

Tag <strong>im</strong>mer wieder durchlaufen muss, erst dann auszusteigen, als er nicht mehr pr<strong>im</strong>är an sich denkt, sondern<br />

zum Wohl geliebter Personen und selbstlos handelt.<br />

3 Hierzu zähle ich kirchliche Religiosität, aber auch die <strong>im</strong> <strong>Religion</strong>sunterricht vermittelte, explizit an christlichen<br />

Lehren, Kirchengeschichte, christlicher Ethik und der Bibel orientierte Religiosität in Abgrenzung zu einer<br />

Religiosität, die zentrale christliche Themen, wie Nächstenliebe, Tod und Auferstehung uva. mittels anderer,<br />

neuer Inhalte transportiert.


3<br />

ter“ untersucht werden. Zugleich soll ein zureichendes Paradigma zum sachgemäßen Umgang<br />

mit Trivialliteratur in der <strong>Religion</strong>sdidaktik erprobt werden.<br />

In diesem Sinne schlage ich als dritten Weg für den Umgang der <strong>Religion</strong>spädagogik mit der<br />

Populärkultur vor, nicht nur auf der Suche nach (oft verzweifelt wirkender) Selbstbestätigung<br />

christliche Elemente in populärkulturellen Medien zu sezieren und sofort zu ihrem Ursprung<br />

zurückzuführen, sondern intensiver zu prüfen, wie sich diese Fragmente christlicher <strong>Religion</strong><br />

an ihrem neuen Ort darstellen, und wie sie dort vermittelt werden und wirken. Vielleicht wird<br />

man dann feststellen, dass eine Rückführung zum Ursprung gar nicht notwendig ist, weil<br />

christliche <strong>Religion</strong> auch über ganz andere Inhalte transportiert wird. Oder aber wir lernen an<br />

neuen Orten etwas über Darstellungs- und Vermittlungsstrategien, die helfen, die offensichtliche<br />

Marketingkrise der christlichen <strong>Religion</strong> in ihren ursprünglichen Formen und Inhalten zu<br />

beheben. Natürlich kann eine solche Analyse auch offenlegen, dass mit der Abwanderung von<br />

<strong>Religion</strong> in die Populärkultur diese Schaden genommen hat, indem ihre Inhalte verfälscht und<br />

instrumentalisiert wurden. In diesem Fall wäre die Beziehung wohl als komplementär zu best<strong>im</strong>men,<br />

die Begegnung würde entsprechend auf Demaskierung und Korrektur abzielen. Bevor<br />

wir uns unserem exemplarischen Fall „Harry Potter“ zuwenden, gilt es, die Bedingungen<br />

der Vermittlung in den Blick zu nehmen. In diesem Fall muss genauer best<strong>im</strong>mt werden, wie<br />

Lesen funktioniert, also wie die Inhalte vom Rezipienten wahrgenommen, aufgenommen und<br />

verarbeitet werden.<br />

2. Lesen als Interaktionsgeschehen<br />

„N<strong>im</strong>m und lies“ - dieser göttliche Rat an Augustinus suggeriert, dass Lesen die einfachste<br />

Sache der Welt sei, und dass wer liest, auch versteht. Lesen gehört derart selbstverständlich zu<br />

den Grundfesten unserer Kultur und unseres Alltags, dass es überflüssig scheint, den Prozess<br />

des Lesens überhaupt einer eigenen Analyse zu unterziehen. Allzu klar ist doch, wie Lesen<br />

funktioniert, <strong>war</strong>um wir lesen und „was Lesen bringt“. Oft gehörte Antworten in diesem Kontext<br />

sind etwa: Lesen bildet, denn es vermittelt Information und Wissen, es macht Neues und<br />

Unbekanntes erfahrbar, Lesen weitet bzw. prägt sogar den Blick der Leserschaft, oder aber es<br />

entspannt einfach nur und macht Spaß. Scheinbar bedarf es da keiner weiteren Diskussion.<br />

Und so muss es eigentlich nicht verwundern, dass sich diverse wissenschaftliche Disziplinen,<br />

darunter auch die <strong>Religion</strong>spädagogik, viel gelesenen Büchern und Bestsellern widmen, deren<br />

Inhalte und Protagonisten analysieren und Schlüsse für den eigenen Bereich formulieren, ohne<br />

vorab die Voraussetzungen ihrer Hypothesen von Neuem zu klären. Ein Blick auf besagte<br />

Publikationen zeigt, dass hier zwei Sichtweisen vorherrschen, welche Bedeutung populären<br />

Büchern und dem Leseprozess als solchem beizumessen sei:<br />

Zum einen wird davon ausgegangen, dass Bücher ihre Leserschaft prägen, etwa indem sie<br />

Interesse für best<strong>im</strong>mte Themen überhaupt erst wecken und für diesen Bereich sensibilisieren.<br />

Dabei kann die Zielgruppe durchaus in spezifischer Weise manipuliert werden – so die Hypothese<br />

–, denn ein Text gibt Informationen selektiv und wertend, zumindest aber in einer best<strong>im</strong>mten<br />

Art der Darstellung und damit tendenziös an die Leser weiter. In diesem Fall wird<br />

das Forschungsinteresse folglich von der Frage geleitet, welche Inhalte ein Buch vermittelt,<br />

und in welcher Weise es die Leser prägt. Dieser Sicht von Literatur und des Leseprozesses<br />

liegt die Annahme einer quasi linearen Wirkungsbeziehung zwischen Werk und Rezipienten<br />

zugrunde, bei der die Aussagen eines Buches den Leser einseitig beeinflussen. Die Rolle des<br />

Lesers ist hier rein passiv interpretiert und wenig differenziert. In der Folge gilt die Leserschaft<br />

hier oft als potentielles „Opfer“ manipulierender Texte, vor denen sie in extremen Fällen<br />

geschützt werden muss. So klagt etwa die Soziologin Gabriele Kuby die hier noch zu analysierenden<br />

Harry Potter Bücher als „globales Langzeitprojekt zur Veränderung der Kultur“<br />

an, das die „Hemmschwelle gegenüber Magie in der jüngeren Generation zerstört“ (Kuby


4<br />

2003, 156) an. In Frau Kubys Lamento st<strong>im</strong>men zahlreiche Theologen und Pädagogen, vorrangig<br />

aus dem amerikanisch-evangelikalen Bereich, mit ein 4 . Mancherorts wurde mit eben<br />

solchen Begründungen Harry Potter aus nicht wenigen Schulbibliotheken und vielen Kinderz<strong>im</strong>mern<br />

verbannt. Es wird noch zu klären sein, ob die erhobenen Vorwürfe gegen Harry Potter<br />

zutreffend sind, und noch grundlegender, ob der Leseprozess überhaupt in der hier beschriebenen<br />

Weise zu verstehen ist.<br />

Die Illusion einer linearen, monokausalen Wirkung des Buches auf den Leser verkehrt die<br />

zweite in diversen religionspädagogischen Beiträgen anzutreffende Interpretation von Literatur<br />

und Lesen ins Gegenteil. Hier wird den Gesetzen von Angebot und Nachfrage entsprechend<br />

literarischen Bestsellern ein gesteigerter Indikatorenstatus zugesprochen. Nach dem<br />

Motto: Was viele lesen, dokumentiert und veranschaulicht aktuelle Trends, Bedürfnisse und<br />

Sehnsüchte (<strong>im</strong> Idealfall sogar die viel beschriebene „Privatreligiosität“) (vgl. Steck 2000) in<br />

Form und Inhalt, werden Medien der Populärkultur seziert, um daraus eine Diagnose über die<br />

(religiöse) Bedürfnislage der Nation zu formulieren. Besonders beliebt sind Filme und Bücher,<br />

die in mehr oder weniger verfremdeter Form christliche Symbole und Dogmen, spirituelle<br />

Momente und funktionale Äquivalente von Religiosität aufweisen, stärken sie doch das<br />

sonst arg gebeutelte christliche Selbstbewusstsein. Und so wird auch Harry Potter für <strong>Religion</strong>spädagogen<br />

zu einer populär-kulturellen Fundgrube für christlich-religiöse Symbole, Rituale<br />

und Lehren sowie zum Beleg bleibender religiöser Bedürfnisse, nur eben <strong>im</strong> postmodernen<br />

Gewand. Diese maskierte, latente Religiosität ließe sich trefflich anhand des Bestsellers analysieren<br />

– so die Vermutung 5 .<br />

Wie gesagt, dreht sich hier das Verhältnis von Medium und Rezipienten gegenüber dem oben<br />

skizzierten Modell um: Nicht das Buch prägt die Sicht seiner Leserschaft, sondern vielmehr<br />

bringt es zum Ausdruck, was diese ohnehin schon bewegt. Je populärer ein Buch ist, desto<br />

stärker vertritt es die Bedürfnisse und Perspektive der breiten Massen, und umso interessanter<br />

ist es auch für die (religionspädagogische) Forschung. Sicherlich wäre es falsch, dieser Hypothese<br />

eine rein statische, lineare Wirkrichtung zu unterstellen, denn das Verhältnis zwischen<br />

Medium und Rezipienten ist hier deutlich komplexer und differenzierter verstanden als dies<br />

be<strong>im</strong> zuerst skizzierten Modell der Fall ist. Dennoch bleibt die Tendenz, einer Seite ein übergroßes<br />

Gewicht zuzusprechen, um dann vorschnell Aussagekräftiges für den eigenen Bereich<br />

zu extrahieren, wodurch der Prozess der Interaktion zwischen Text und Rezipient grob vereinfacht<br />

und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird. Aber wie sieht sie denn nun aus, die<br />

besagte Interaktion? Was ereignet sich zwischen Text und Adressat desselben während des<br />

Lesens?<br />

4 Bei den vorrangig angeführten Argumenten gegen Rowlings Heptalogie trifft man <strong>im</strong> amerikanischen Raum<br />

vor allem auf den Vorwurf, Harry Potter verherrliche sch<strong>war</strong>z-magische Handlungen sowie das Böse an sich.<br />

Vgl. hierzu: Taub, Deborah J./Servaty-Seib (2003): Critical Perspectives on Harry Potter oder Turner-Vorbeck,<br />

Tammy (2003): Pottermania: Good, clean fun or cultural hegemony?. Allzu deutlich ist bei weiteren Publikationen<br />

aus dem nordamerikanischen Raum eine evangelikale Prägung, die an Fundamentalismus grenzt, und der<br />

daher hier nicht mehr Raum gegeben werden soll als nötig. Neben dem Vorwurf der Verherrlichung magischer<br />

Elemente hört man unter den kritischen St<strong>im</strong>men auch die Befürchtung, die episch anmutenden Erzählungen um<br />

den Held Harry Potter (der durchaus messianische Züge hat) konkurriere mit der christlichen Großerzählung und<br />

könne diese verdrängen. Diese Sicht trifft man übrigens durchaus auch <strong>im</strong> europäischen Raum an. So setzt sich<br />

bspw. Thomas Meurer differenziert mit dieser Fraga auseinander. (Meurer, Thomas (2002): Das Potter-<br />

Phänomen. Konkurrenz für Tora und Evangelium? <strong>Religion</strong>spädagogische Bemerkungen zu Befürchtungen,<br />

Hoffnungen rund um das Phänomen Harry Potter.) Mahnend zitiert Corinna Dahlgrün „Einseitigkeiten und Vereinfachungen<br />

der christlichen Ethik“ sowie ein „unbiblisches Menschen- und Gottesbild“, das Harry Potter der<br />

Jugend vermittle. (Dahlgrün 2001, 87)<br />

5 Vgl. hierzu: Morgenroth, Matthias. (2001): Der Harry Potter Zauber. Ein Bestseller als Spiegel der gegenwärtigen<br />

Privatreligiosität; Peter, Teresa/Drexler, Christoph/Wandinger, Nikolaus (2002): The story of a scar: Harry<br />

Potter als Sinnbild verwundeter Geschöpflichkeit; Ritter, Werner (2003):Wenn Sch<strong>war</strong>zenegger betet und Harry<br />

Potter gegen den Bösen kämpft; u.v.a.


5<br />

Eine Interaktion setzt bekanntlich stets das Gegenüber zweier Größen voraus, die in einen wie<br />

auch <strong>im</strong>mer gearteten Austausch miteinander treten, wobei jede Seite mit den ihr spezifischen<br />

Mitteln und unter speziellen Bedingungen agiert. Der Text teilt sich seiner Leserschaft über<br />

visuelle Impulse, nämlich Schriftzeichen mit, die über einzelne Buchstaben in Lautfolgen,<br />

Wörter, Sätze, Abschnitte und schließlich in sinnhaltige Aussagen vom Rezipienten umgeformt<br />

werden. Der Prozess des Lesens ist also wie Spurenlesen zu verstehen: Feststehende<br />

Zeichen enthalten eine spezifische, festgelegte Information, die jedoch ohne das Wahrnehmen,<br />

Wissen und Deutevermögen des Betrachtenden nicht entschlüsselt werden kann und je<br />

nach individueller (und kultureller) Disposition auch variiert. Die lateinische Wurzel von lesen<br />

„legere“, was so viel wie „sammeln, auswählen, lesen“ bedeutet, legt in ihrer gesamten<br />

Bedeutung eben dies nahe. Noch deutlicher wird die Möglichkeit einer unterschiedlichen individuellen<br />

Interpretation gemeingültiger schriftlicher Impulse in der etymologischen Verwandtschaft<br />

des englischen „read“ (lesen) und dem deutschen „raten“. Der von manchen Forschern<br />

vertretenen linearen, monokausalen Wirkung eines Textes auf sein Publikum ist daher<br />

nachdrücklich die aktive Rolle des Lesenden entgegenzuhalten. Der Illusion eines monolinearen<br />

Verstehens entgegnete bekanntlich auch schon Lichtenberg karikierend: Ein Buch ist ein<br />

Spiegel: Wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel rausschauen.<br />

Aktiv ist die Rolle des Lesers allerdings nicht nur allein deshalb, weil es ihm obliegt, die verschriftlichten<br />

Zeichen in konventionell festgelegter Form wahrzunehmen und sinnstiftend zu<br />

deuten. Darüber hinaus bringt er nämlich in die Interpretation der Zeichen den eigenen Erfahrungshintergrund<br />

und die individuelle Biographie mit ein. Sie bilden sozusagen den Rahmen<br />

der Textinterpretation 6 . Neben der bloßen physischen Wahrnehmung und kognitiven Deutung<br />

der Zeichen rekonstruiert der Leser den Text mittels seiner vorab entstandenen Er<strong>war</strong>tungen<br />

(provoziert etwa durch den Titel des Buches, Genrewissen etc.) und individuellen Anfragen<br />

an den Text. Dies geschieht beispielsweise über die Identifikation mit den literarischen Figuren<br />

- interessant ist dabei insbesondere für den hier noch zu thematisierenden Harry Potter<br />

bzw. seinen Antagonisten Lord Voldemort, dass derartige Identifikationen unbewusst mit<br />

allen Figuren geschehen und nicht nur mit den Handlungstragenden oder den „Guten“. Der<br />

gesamte Text wird so zur Projektionsfläche für den Leser, der via Identifikationen und Übertragungen<br />

mit dem literarischen Werk interagiert. Natürlich gerät dabei auch be<strong>im</strong> Rezipienten<br />

etwas in Bewegung, insofern als er angeregt wird, sich mit der angebotenen Information<br />

auseinanderzusetzen – allerdings eben gerade nicht, indem er sie unverändert aufn<strong>im</strong>mt, sondern<br />

indem er infolge der Text<strong>im</strong>pulse eine innere Entwicklung durchläuft und dabei individuell<br />

gedeutet und selektiv ggf. Neues <strong>im</strong> Sinne einer Weiterentwicklung integriert. Dies kann<br />

beispielsweise „in psychisch offenen und ungewissen Augenblicken, in denen Menschen keine<br />

inneren Bilder, Erfahrungen oder Handlungsmuster zur Verfügung stehen“ von Belang<br />

sein; in solchen Fällen suchen und erfinden Menschen, insbesondere Jugendliche „Helden,<br />

wie Zeugnisse der Weltliteratur, beispielsweise die Odyssee oder andere Epen.“ (Nitzschmann<br />

2000, 62) belegen.<br />

Als Quintessenz für eine sachgemäße religionsdidaktische Dekonstruktion von Trivialliteratur<br />

bleibt festzuhalten, dass der Text keinesfalls linear und manipulierend auf den Rezipienten<br />

wirkt, da dieser eine aktive Rolle <strong>im</strong> Leseprozess einn<strong>im</strong>mt, indem er den Text individuell<br />

deutet. Ebenso wenig fällt allerdings der Text einer beliebigen Interpretation anhe<strong>im</strong>. Konventionell<br />

festgelegte Zeichen und Handlungsmuster der Story aktivieren generalisierte Er<strong>war</strong>tungen<br />

und Interpretationsweisen, die zu einer konstruktiven Interaktion zwischen Text und<br />

6 Innerhalb der Bibeldidaktik existieren bereits Ansätze, insbesondere die erfahrungsorientierten, die dies berücksichtigen<br />

und entsprechend konzipiert sind. Darunter fallen die Korrelative Bibeldidaktik, Dialogische Bibeldidaktik,<br />

Konstruktivistische Bibeldidaktik sowie erlebnisorientierte methodische Ansätze der Bibelarbeit,<br />

wie das Bibliodrama oder der Bibliolog.


6<br />

Leser führen. Das Interaktionsgeschehen hält dabei für den Leser ein Entwicklungspotential<br />

bereit, das meines Erachtens <strong>im</strong> Zentrum der Analyse stehen sollte, statt den Text auf den<br />

oben genannten Indikatorenstatus zu reduzieren. Eine sachgemäße Analyse kann also nicht<br />

vorrangig der Identifizierung und Entschlüsselung expliziter oder <strong>im</strong>pliziter Symboliken eines<br />

Textes liegen. Es muss vielmehr um die Entschlüsselung der Wechselwirkung zwischen Geschriebenem<br />

und Lesendem gehen.<br />

3. Harry Potter – eine res mixta mit großem Potential<br />

„Der moderne Buchhandel kennt zwei Zeitrechnungen: ‚vor Potter„ und ‚nach Potter„. Denn<br />

es gibt wahrscheinlich keinen Verkaufsrekord, den die Harry- Potter- Romane nicht gebrochen<br />

haben.“ (Martenstein 2004, 150). Mit dieser These könnte Harald Martenstein durchaus<br />

Recht haben. Die sieben Bände über den jungen Zauberer Harry Potter und seine Freunde der<br />

Autorin Joanne K. Rowling haben sich bislang über 100 Millionen Mal verkauft. Vom fünften<br />

Band, „Der Orden des Phönix“, wurden binnen der ersten 24 Stunden 12 Millionen Exemplare<br />

verkauft. Der unglaubliche Ansturm und Hype um jeden neu erschienenen Band führte<br />

dazu, dass der Verkaufsstart von Harry Potter Büchern <strong>im</strong>mer auf einen Freitag gelegt wurde,<br />

damit Lesenächte für Tausende Kinder und Jugendliche ermöglicht werden konnten. Aber<br />

nicht nur diese Zielgruppe ist dem jungen Zauberer verfallen, auch Erwachsene schließen sich<br />

zu „Communities“ zusammen, pilgern verkleidet oder auch nur mit enormer Sach- und Detailkenntnis<br />

ausgestattet zu Treffen der „Jünger“ des Zauberlehrlings, wo gemeinsam gelesen,<br />

diskutiert und auf mannigfaltige Art und Weise in die zauberhafte Welt des Harry Potter eingetaucht<br />

wird.<br />

Die Story, die über sieben Bände 7 ein Millionen Publikum begeistert, ist eigentlich schnell<br />

erzählt: Harry Potter ist der verwaiste Sohn eines Zauberers und einer „normalen“, menschlichen<br />

Frau. Als er noch ein Baby ist, wird er von dem abgrundtief bösen, grausamen, tyrannischen<br />

und sehr mächtigen Zauberer Lord Voldemort attackiert, weil dieser infolge einer entsprechenden<br />

Prophezeiung fürchtet, dass Harry seine Gewaltherrschaft über das zu unserer<br />

Welt parallele Zauberuniversum beenden könnte. Genau dies trifft dann auch ein: Harrys<br />

Mutter opfert sich, um ihren Sohn zu schützen. Der von Voldemort ausgesprochene Todesfluch<br />

wendet sich gegen ihn selbst, da der mütterliche Opfertod aus Liebe als uralter Zauber<br />

stärker wirkt. Statt jedoch zu sterben, existiert der grausame Zauberer körperlos und als verstümmeltes,<br />

aber ungebrochen grausames und gefährliches Wesen weiter. Voldemort bleibt<br />

eine ständige Bedrohung für den Frieden und alles Gute, nur Harry als Ursache seines Untergangs<br />

steht einer Rückkehr entgegen. Der Junge wächst währenddessen als Waise ungeliebt<br />

und misshandelt und ohne zu wissen, wer er wirklich ist, bei seinen menschlichen Verwandten<br />

auf. Als 11-jähriger Junge erfährt Harry schließlich von seiner wahren Identität. Fortan<br />

geht er auf die Zauberschule „Hog<strong>war</strong>ts“, wo er unter der Aufsicht eines väterlich zugewandten<br />

Schuldirektors (Professor Albus Dumbledore) und mit Hilfe seiner Freunde (Hermine<br />

Granger und Ron Weasley) zu einem brillanten Zauberer und ebenbürtigen Gegner des ständig<br />

lauernden Lord Voldemort wird. Über sieben Bände begegnen sich die durch ihre erste,<br />

schicksalsträchtige Begegnung verbundenen Vertreter des Guten und des Bösen. Nach etlichen<br />

Verwicklungen auf zahlreichen Haupt- und Nebenschauplätzen und einer <strong>gut</strong>en Portion<br />

Witz und Dramatik besiegt Harry Potter schließlich den „dunklen Lord“ und lebt fortan ein<br />

friedliches und zufriedenes Leben.<br />

Lässt sich die Handlung der sieben Harry Potter Bände – zumindest in groben Zügen – leicht<br />

zusammenfassen, fällt eine eindeutige Zuordnung zu einem best<strong>im</strong>mten Literaturgenre hinge-<br />

7 Band 1-7: Harry Potter und der Stein der Weisen (1), Harry Potter und die Kammer des Schreckens (2), Harry<br />

Potter und der Gefangene von Askaban (3), Harry Potter und der Feuerkelch (4), Harry Potter und der Orden des<br />

Phönix (5), Harry Potter und der Halbblutprinz (6), Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (7).


7<br />

gen schwer. Vor allem <strong>Religion</strong>spädagogen neigen dazu, die Heptalogie ebenso wie die oft <strong>im</strong><br />

selben Atemzug angeführte Trilogie „Der Herr der Ringe“ als Mythos zu verstehen 8 , weil damit<br />

der Transfer zur christlichen Großerzählung leicht fällt und Analogien dazu scheinbar<br />

offensichtlich werden, denn „die Verwendung alter mythischer Erzählmuster schlägt zweifellos<br />

eine Brücke zur <strong>Religion</strong>“ (Mattenklott 2003, 46). Begründet wird die Klassifizierung von<br />

Harry Potter als Mythos unter anderem mit den unbestreitbar zahlreich vertretenen Wesen und<br />

Motiven aus der klassischen Mythologie 9 oder der mythologisch glorifizierten Heldenfigur<br />

Harry Potter. Fast ebenso beliebt ist die Zuordnung der Bücher zum Genre des Fantasyromans<br />

10 . Mit Hilfe dieser Festlegung kann man ohne viel Aufhebens auf die bereits hinreichend<br />

identifizierten Funktionen von Märchen und märchenähnlichen Erzählungen zurückgreifen<br />

und diese dann auf die <strong>Religion</strong> als solche sowie ihre prominenten Themen und Funktionen<br />

beziehen. Der Vorteil liegt ebenso auf der Hand wie die Argumente für eine Klassifizierung<br />

der Harry Potter Romane als Fantasyerzählung – man betrachte nur nochmals die<br />

oben skizzierte Handlung und die bereits genannten Zauberwesen 11 . Weder die eine noch die<br />

andere Zuordnung ist allerdings meines Erachtens zufriedenstellend, weil sie nur am Rande<br />

stehende Eigenschaften des siebenbändigen Werks erfasst, und mit Hansjörg Hemminger<br />

möchte ich daher raten, „sich kundig zu machen, bevor es Ihnen auch passiert, dass Sie von<br />

Mythologie sprechen, wenn in Wirklichkeit leicht idealisierte Heldenknaben Verbrecher jagen.“<br />

(Hemminger 2002, 54)<br />

Hemminger gibt in seiner Äußerung schon offensichtliche Hinweise dahingehend, dass man<br />

Harry Potter auch vor dem Hintergrund der klassischen (ursprünglich) englischen Detektivgeschichte<br />

lesen kann. Die Detektivgeschichte, die sich zunächst in der Nische der damals populären<br />

Kurzgeschichte entwickelte, ist von Beginn an äußerst beliebt und ist bis heute (mit ihrem<br />

Abkömmling, dem Kr<strong>im</strong>inalroman) fester Bestandteil der Trivialliteratur. Edgar Allen<br />

Poe schrieb mit seinem „Murders in Rue Morgue“ die wohl erste Detektivgeschichte. Während<br />

bei ihm noch die Aufklärung des Falls das absolute und alleinige Zentrum der Handlung<br />

bildet – und bis heute ein fundamentales Element der Detektiv-/und Kr<strong>im</strong>inalgeschichte darstellt<br />

12 –, rücken seine literarischen Nachfolger A.C. Doyles, Agatha Christie und Henning<br />

Mankell (um nur einige wenige stellvertretend für viele zu nennen) mit ihren einprägsamen<br />

Protagonisten Sherlock Holmes, Miss Marple bzw. Hercule Poirot und Kurt Wallander zunehmend<br />

auch die Charaktere der Protagonisten in den Fokus. Damit werden nun neben Milieubeschreibungen<br />

und Einsichten in die Kr<strong>im</strong>inaltechnik vor allem die Motive der Tat bedeutsam.<br />

Über die „<strong>gut</strong>en“ Figuren werden gleichsam auch die psychologischen Aspekte der<br />

„Bösen“ erfahrbar, und die Diskussion um Gut und Böse, richtig und falsch, Ethik und Moral<br />

ist – wenn auch in stark elementarisierender Form – eröffnet. Dass diese Diskussion auch in<br />

ihrer elementaren Form keinesfalls nur banal ist, zeigen Kr<strong>im</strong>inalromane, die sehr ausgefeilte<br />

Charakterstudien aufweisen, wie etwa Dürrenmatts oder Dostojewskis Werke belegen. 13<br />

Ende des 20. Jahrhunderts mit der wachsenden Bedeutung der Kinderliteratur treten erstmals<br />

auch kindliche Detektive auf den Plan. Mit einer ausgeklügelten Mischung aus Abenteuerlust,<br />

Freundschaft und analytischem Gespür lösen Kalle Blomquist, die Fünf Freunde oder TKKG<br />

die Kr<strong>im</strong>inalfälle in ihrer Nachbarschaft. In vielerlei Hinsicht passt Harry Potter perfekt in<br />

8 Vgl. Mattenklott, Gundel (2003) Harry Potter – phantastische Kinderliteratur. Auf den Spuren eines globalen<br />

Erfolgs. u.a.<br />

9 Stellvertretend sei auf den Hippogreif, Basilisken, die Zentauren, Kobolde, Riesen, Wassermenschen uva. verwiesen<br />

10 Vgl. Ritter, Werner (2003) a.a.O.; Meyer-Gosau, Frauke (2001): Harrymania. Gute Gründe für die Harry Potter<br />

Sucht; Morgenroth, Matthias. (2001); a.a.O.; Meurer, Thomas (2002); a.a.O. u.a.<br />

11 Vgl. dazu Fußnote 9<br />

12 Generell folgen Detektivgeschichte und Kr<strong>im</strong>inalroman dem Schema Verbrechen – Verfolgung - Aufklärung<br />

13 Vgl. „Das Versprechen“ oder „Der Richter und sein Henker“; auch Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“<br />

(in anderer Übersetzung Verbrechen und Strafe) kann als Kr<strong>im</strong>inalroman interpretiert werden.


8<br />

diese Reihe: Er spürt <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue die Machenschaften und Pläne des Lord<br />

Voldemort auf und besiegt diesen mit Hilfe seiner treuen Freunde und eigenen Fähigkeiten.<br />

Zwei wesentliche Unterschiede zur Detektivgeschichte bestehen dennoch. Zum einen ist Harry<br />

stets selbst und direkt von den Anschlägen Voldemorts betroffen, die aufgrund der einzigartigen<br />

Ursprungsbegebenheit ihm allein gelten. Dies steht den originären Charakteristika der<br />

Detektivgeschichte entgegen, denn in der Regel lösen die Helden dieses Genres stets die<br />

Probleme Außenstehender. Zum anderen löst Harry ja gar keine Fälle, sondern verhindert das<br />

Unheil, bevor es überhaupt geschieht. Durch die genannten Unterschiede bekommt Harrys<br />

(und Voldemorts) Verhalten <strong>im</strong> Empfinden des Lesers eine andere Wertigkeit, und die Reflexion<br />

über Gut und Böse wird gleichsam intensiviert, da die Möglichkeit verschiedenartiger<br />

Ausgänge und Konstellationen stets gegeben bleibt.<br />

Wie gesehen, lässt sich Harry Potter also nicht hundertprozentig als klassische Detektivgeschichte<br />

klassifizieren, auch wenn die Romanfolge augenscheinliche Anteile an diesem Genre<br />

aufweist. Die mangelnde Passung ist allerdings nicht nur mit den Differenzen zu idealtypischen<br />

Merkmalen des genannten Genres zu begründen, sondern erschließt sich auch daraus,<br />

dass die Romane Kennzeichen anderer literarischer Gattungen aufweisen. So weist der Ort, an<br />

dem sich der Großteil der Handlung zuträgt, das magische Internat „Hog<strong>war</strong>ts“, auf Parallelen<br />

zur englischen School Story hin. Klassische Vertreter dieses Genres sind <strong>im</strong> deutschen Raum<br />

Erich Kästners „Das fliegende Klassenz<strong>im</strong>mer“ und Oliver Hassenkamps Internatsserie „Burg<br />

Schreckenstein“ bzw. in England Enid Blytons „Hanni und Nanni“. Im Mikrokosmos einer<br />

geschlossenen Schulwelt werden in der School Story elementarisierend zentrale pubertätsspezifische<br />

Themen fokussiert. Dazu zählen beispielsweise Eifersucht, Zerwürfnisse, Intrigen<br />

und Konkurrenz, also generell Aspekte gruppendynamischer Prozesse unter Jugendlichen.<br />

Exemplarisch werden dabei verschiedene Rollen, Konstellationen, und für die Phase des Heranwachsens<br />

typische Ablösungs- und Anbindungsprozesse stellvertretend durchgespielt. Andere<br />

Werke des Genres integrieren zusätzlich gesellschafts- und systemkritische Aspekte.<br />

Dies ist etwa bei Hermann Hesses „Unterm Rad“ oder Peter Weyrs „Der Club der toten Dichter“<br />

der Fall. Doch selbst dann stehen weiterhin vorrangig das Leben und die Entwicklung<br />

eines Individuums <strong>im</strong> Mikrokosmos seines Umfelds an einer (Internats-) Schule <strong>im</strong> Zentrum.<br />

Augenscheinlich passt sich Harry Potter auch in dieses Genre durch zahlreiche Parallelen<br />

ein 14 – allerdings ebenfalls nicht ohne sich doch an entscheidender Stelle davon abzugrenzen.<br />

In vielerlei Hinsicht steht Rowlings Werk idealtypischen Vertretern des Genres nämlich karikierend<br />

gegenüber, insofern als sie die genretypischen moralisierenden Momente viktorianischen<br />

Ursprungs entweder auslässt oder bewusst ad absurdum führt. Statt sich in das Genre<br />

der School Story völlig einzufügen, n<strong>im</strong>mt die Autorin Anleihe bei einer weiteren klassischen<br />

Literaturgattung, dem Bildungs- bzw. Entwicklungsroman und schafft so eine weitere spannungsvolle<br />

Diskrepanz zu anderen Genres, die den Leser fordert und bindet.<br />

Der Bildungsroman n<strong>im</strong>mt seinen Ursprung in Deutschland zu Zeiten der Aufklärung. Mit<br />

seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlung über das Wesen des Romans <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zum Epos, in der er das <strong>im</strong> Roman steckende Entwicklungspotential für den Leser betont, legt<br />

der Dorpater Philologe Karl Morgenstern die theoretische Grundlage des Genres. Praktische<br />

Umsetzungen folgen zeitnah. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ oder seine „Wilhelm<br />

Meisters Lehrjahre“ beschreiben die Biographie eines jungen Mannes, der sich zu Beginn der<br />

14 Wie gesagt, spielt die gesamte Handlung überwiegend <strong>im</strong> Zauber-Internat Hog<strong>war</strong>ts. Neben dem Kampf zwischen<br />

Gut und Böse spielen dabei auf <strong>im</strong>mer vorhandenen Nebenschauplätzen die Themen Freundschaft (vor<br />

allem mit Hermine und Ron), erste Liebe und Eifersucht (Harry verliebt sich in Cho Chang und vernachlässigt<br />

seine Freunde, Ron und Hermine werden nach langem Hin und Her ein Paar) und rivalisierende Gruppen und<br />

Personen (die vier „Häuser“ des Internats, die über sportliche und schulische Leistungen, aber auch inoffiziell<br />

ständig <strong>im</strong> Wettkampf miteinander stehen; die Konkurrenzsituation unter idealtypischen Gegenspieler Figuren,<br />

z.B. Harry, Hermine, Ron gegen Draco Malfoy, Crab und Goyle) eine Rolle. Auch Ablösungsprozesse von Vaterfiguren<br />

(von Albus Dumbledore, Harrys Pate Sirius Black) und Peer-Groups werden thematisiert.


9<br />

Handlung jung, idealistisch und ein Stück weit naiv auf den Weg zum Erwachsenwerden befindet.<br />

Dabei durchläuft er stellvertretend für den Leser (der aber trotzdem intensiv Anteil am<br />

Geschehen hat) verschiedene Bereiche und Themen der Welt bzw. des Lebens. Dabei erfährt<br />

der eingangs idealistische Protagonist die Welt oft als widerständige Realität, an der er reift,<br />

und mit der er sich schlussendlich aussöhnt. Im englischen Raum greift allen voran Charles<br />

Dickens mit seinen Romanen „David Copperfield“, „Oliver Twist“ oder „Great Expectations“<br />

das in Deutschland entstandene Genre auf. An ihm orientiert sich wiederum augenscheinlich<br />

die Harry Potter Autorin Rowling. Ihr Protagonist ist wie seine historischen Vorgänger eine<br />

Waise, die nach etlichen Widerfahrnissen, Hoffnungen und Rückschlägen an Erfahrung, Wissen<br />

und in der persönlichen Entwicklung gereift ihr altes Leben abschließt und in eine verheißungsvolle<br />

Zukunft blickt. „Alles <strong>war</strong> <strong>gut</strong>“ – so lautet der abschließende Satz des siebten und<br />

letzten Harry Potter Bandes.<br />

Der vergleichsweise banale Schlusssatz des letzten Harry Potter Bandes soll jedoch nicht darüber<br />

hinweg täuschen, dass der junge Detektiv, Schuljunge und Zauberer den Leser auf seinem<br />

Weg zu einem mit der Welt ausgesöhntem Erwachsenem keineswegs nur Unterhaltung<br />

und Abenteuer bietet. Im Sinne der oben vorgestellten Interaktion zwischen Text und Rezipienten<br />

muss sich der Leser selbst zentralen Fragen des Lebens stellen. Die zentrale Frage in<br />

allen sieben Bänden ist bei Harry Potter die nach Gut und Böse, sie ist es auch, die Harry –<br />

und damit auch die Leserschaft – <strong>im</strong>mer wieder persönlich in seiner Entwicklung fordert und<br />

nicht nur durch äußere Ereignisse gefährdet. Denn wie gleich zu sehen sein wird, ist das Verhältnis<br />

von Gut und Böse bei Harry Potter keineswegs eindeutig und einfach, sondern vielschichtig<br />

und komplex und bietet damit zahlreiche Anknüpfungspunkte für die (Praktische)<br />

Theologie, für die das genannte Kernthema der Romane ebenfalls von zentraler Bedeutung<br />

ist.<br />

4. Harry Potter und der Januskopf des Bösen<br />

Wie bereits angedeutet stellt sich das Verhältnis von Gut und Böse keinesfalls so eindeutig<br />

und einfach dar, wie die Konstellation der Figuren in Harry Potter auf den ersten Blick vermuten<br />

lassen würde. Die dualistische Konzeption von Gut und Böse, verkörpert in Harry Potter<br />

und seinem Gegenspieler Lord Voldemort, aber auch verschiedenen anderen auf den ersten<br />

Blick dualistisch konzipierten Paaren 15 , ist nämlich nur ein scheinbarer Gegensatz. Tatsächlich<br />

existieren zahlreiche innere und äußere Verbindungen, Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten<br />

zwischen dem Protagonisten und Antagonisten, die eine multid<strong>im</strong>ensionale, komplexe<br />

Darstellung von Gut und Böse schaffen, die in vielerlei Hinsicht der erfahrbaren Realität und<br />

der protestantischen Sündenlehre entsprechen. Die Leserschaft n<strong>im</strong>mt die spannungsvolle<br />

Darstellung von Gut und Böse an der Oberfläche der Story tatsächlich als „spannend“ wahr,<br />

wird aber (unbewusst) <strong>im</strong>mer wieder überrascht und irritiert und gerät dabei über die Interaktion<br />

mit dem Text mitten hinein in die oft ambivalente Darstellung von Gut und Böse und das<br />

andauernde komplexe Ringen der beiden Kategorien. Es lohnt daher, den bisher nur grob<br />

15 Als sich diametral gegenüberstehende Paarungen nennt Granger die beiden stets direkt konkurrierenden Internatshäuser<br />

Griffindor (Harrys Haus/„Gut“) und Slytherin (Draco Malfoys Haus/“Böse), natürlich die beiden<br />

prominentesten Vertreter dieser Häuser Harry und Draco, Lily (Rons äußerst liebevolle und auch gegenüber<br />

Harry <strong>war</strong>mherzige Mutter) und Petunia (Harry lieblose Ziehmutter und Tante). (Vgl. Granger 2004, 41). Ergänzt<br />

werden könnten Professor Snape (zynischer und gemeiner Lehrer aus dem Hause Slytherin) und Professor<br />

Gonagall (strenge, aber doch den Schülern zugewandte und faire Lehrerin aus dem Hause Griffindor) u.a. Bei<br />

genauer Analyse der Texte fällt auf, dass alle der genannten „bösen“, zumindest aber äußerst unsympathischen<br />

Figuren in entscheidenden, wenn auch nicht <strong>im</strong>mer auffälligen Situationen Gutes tun. So „versagt“ Draco Malfoy<br />

<strong>im</strong> 6. Band bei seinem Auftrag, Professor Dumbledore zu töten („Ich kann es nicht“, Harry Potter Bd.6,<br />

423), der zynische Snape wird mehr als nur einmal zu Harrys Lebensretter. Weitere Beispiele könnten zitiert<br />

werden. Ihnen allen ist eine Aussage gemein: Der äußere Schein kann trügen, das ungebrochen Böse gibt es<br />

nicht, bzw. es kann sich auch der böse Mensch jederzeit wandeln.


10<br />

skizzierten Aspekt der Harry Potter Romane einer Analyse zu unterziehen und ggf. in zuvor<br />

beschriebener Weise für die <strong>Religion</strong>spädagogik fruchtbar zu machen.<br />

4.1. Zur Verstrickung von Harry Potter und Lord Voldemort<br />

„Sie [die Bücher] haben zweifellos Raffinesse, aber sie wirken in ihrer Sch<strong>war</strong>zweißmalerei<br />

und ihrer halbchristlichen Erlöser-Metaphorik auch naiv“ (Martenstein 2004, 151) lautet der<br />

Vorwurf von Harald Martenstein an Harry Potter, dem – wie oben bereits skizziert – zu widersprechen<br />

wäre. Tatsache ist nämlich, dass zwischen Gut und Böse, Sch<strong>war</strong>z und Weiß,<br />

verkörpert in Lord Voldemort und Harry Potter, etliche Grauabstufungen liegen, von denen<br />

man be<strong>im</strong> besten Willen nicht sagen kann, welchem Ursprung sie nun zuzuordnen sind. Mitunter<br />

sind die Übergänge so fließend, die Verbindungen derart intensiv, dass man ins Zweifeln<br />

gerät, ob Grenzziehungen überhaupt möglich sind. Betrachten wir dazu den Text selbst:<br />

Eine erste schicksalsträchtige Verbindung zwischen Lord Voldemort und Harry Potter erwächst<br />

schon vor dessen Geburt aus einer Prophezeiung von der Hellseherin Sybill Trelawny.<br />

Während der Terrorherrschaft des grausamen Zauberers verkündet sie, dass Ende Juli ein<br />

Junge geboren würde, der Lord Voldemort töten könnte (Vgl. Harry Potter Bd. 5, „Die verlorene<br />

Prophezeiung“). Dieser versucht in der Absicht, seine Herrschaft zu sichern, Harry zu<br />

töten. Sein Anschlag schlägt jedoch fehl, und sein eigener Todesfluch wendet sich gegen ihn.<br />

Der Junge ist nämlich durch die Liebe und das Opfer seiner menschlichen Mutter, die sich vor<br />

ihn stellt und dabei stirbt, geschützt. Dieser uralten Magie eines Opfers aus Liebe ist nämlich<br />

kein noch so starker Zauber ebenbürtig 16 . Lord Voldemorts Existenz ist dadurch jedoch keinesfalls<br />

ausgelöscht, da er <strong>im</strong> Vorfeld seine Seele gespalten hat und in sogenannten „Horkruxen“,<br />

dafür geeigneten Gegenständen, in Fragmenten aufbewahrt. Das alles dient seinem<br />

obersten, ja einzigen Wunsch: Unsterblichkeit und ewiges Leben. Nach dem verunglückten<br />

Anschlag scheint er auf ewig weiterzuleben, allerdings in einer körperlosen, unmenschlichen<br />

und entmachteten Existenz, die an Seele und Leib verkrüppelt über sieben Bände nur ein Ziel<br />

kennt: Harry als Ursache seines Scheiterns und einziges Hindernis seiner Rückkehr zu vernichten.<br />

Der wehrlose Säugling hat übrigens wie durch ein Wunder <strong>im</strong> Kampf keine Blessuren<br />

mit Ausnahme einer blitzförmigen Narbe davongetragen. Dieses äußere Zeichen ist aber<br />

keineswegs nur typisches Erkennungsmerkmal des Retters. Eigentümlicher Weise schmerzt<br />

sie <strong>im</strong>mer dann, wenn Lord Voldemort in der Nähe oder emotional erregt ist und durch ihn<br />

Gefahr droht. Offensichtlich stellt sie eine bleibende, sinnlich wahrnehmbare Verbindung<br />

zwischen den beiden Widersachern dar.<br />

„Die Narbe kribbelt, brennt und steigert sich zu qualvollen, die Besinnung raubenden Schmerzen.<br />

In ihr kehrt zum einen die Erinnerung an ein traumatisches Ereignis zurück, zum anderen<br />

ist sie auch die Wiederkehr des unhe<strong>im</strong>lichen Vertrauten: die Konfrontation mit der ihm innewohnenden<br />

Destruktivität.“ (Nitzschmann 2000, 55)<br />

Corinna Nitzschmanns tiefenpsychologisch anmutende Interpretation der Narbe deutet bereits<br />

eines an: Die Narbe ist sicherlich mehr als eine Erinnerung an ein Ereignis und auch mehr als<br />

ein wie auch <strong>im</strong>mer gearteter Weg der Kommunikation zwischen Lord Voldemort und Harry.<br />

Meines Erachtens steht sie daher für eine untrennbare und für den Menschen wahrnehmbare<br />

Verbindung von Gut und Böse, quasi stellvertretend für das „Kainsmal jedes Menschen“<br />

(Nitzschmann 2000, 55). In eigentümlicher Weise unterstreicht dies auch Lord Voldemorts<br />

körperliche Abhängigkeit von Harry Potter. Nach seiner Niederlage ist er, wie gesagt, zu einer<br />

körperlosen Existenz verdammt, die auf fremde Körper, insbesondere aber Harry angewiesen<br />

ist. So bemächtigt sich Lord Voldemort in Band 2 (Die Kammer des Schreckens) eines klei-<br />

16 Augenscheinlich liegen hier Analogien zum christlichen Messias vor, denen hier aber auf Grund der besonderen<br />

Schwerpunktsetzung nicht weiter nachgegangen werden soll – bzw. erst an passender Stelle, wenn e s um die<br />

Bedeutung dieses Opferungsaktes <strong>im</strong> Kontext der protestantischen Sündenlehre geht. Siehe dazu Abschnitt 4.2


11<br />

nen Mädchens mit Hilfe eines Tagebuchs aus seiner Jugend, mittels dessen er sie instrumentalisiert.<br />

Sein Triumph seine geistige und körperliche Rückkehr wird in letzter Sekunde verhindert,<br />

indem Harry einen mit seinem Blut getränkten Schlangenzahn in das Buch stößt und so<br />

die gewachsene körperliche Existenz aufs Neue zerstört. Quasi Gegenteiliges passiert in Band<br />

4 (Der Feuerkelch); hier benötigt der dunkle Zauberer Harry Blut, um eine physische Existenz<br />

zu erlangen, was ihm schließlich auch gelingt. Festzuhalten ist jedenfalls: Gut und Böse sind<br />

in einer komplexen Abhängigkeit zusammen zu denken.<br />

Eingewoben in die Handlung und dargestellt in Symbolen unterstreicht eine ganze Reihe weiterer<br />

Episoden dies. Besonders auffällig ist dabei die parallel verlaufende Biographie des Pround<br />

Antagonisten: Beide stammen von Eltern ab, die zu Teilen menschlich und zu Teilen<br />

Zauberer <strong>war</strong>en. Voldemort und Harry wachsen ohne Eltern und ungeliebt auf 17 . In Hog<strong>war</strong>ts<br />

erweisen sie sich – natürlich jeder zu seiner Zeit – als brillante Zauberer, die bei ihren Mitschülern<br />

äußerst beliebt und bewundert sind. Ebenso augenscheinlich wird die Verbindung<br />

der beiden in der Tatsache, dass ihre Zauberstäbe aus ein- und derselben Phönixfeder geschaffen<br />

sind. Jeder Zauberstab besitzt nämlich ein identisches Gegenstück und sucht sich seinen<br />

Besitzer selbst aus (nicht umgekehrt). Es ist nun sicherlich nicht zufällig, dass Gut und Böse<br />

sich auch hier als einander ergänzende Gegenstücke präsentieren. Weitere Details stützen<br />

diese Hypothese: Harry kann Lord Voldemorts Gedanken hören (Vgl. Harry Potter Bd. 2).<br />

Darüber hinaus sieht der magische Hut, der die Schüler auf die Häuser des Internats verteilt,<br />

in Harry einen potentiellen Slytherin Bewohner (wie einst seinen Gegenspieler) – allein Harrys<br />

Willen bzw. Unwillen verhindert dies, ein Detail, über das auch noch zu sprechen sein<br />

wird. Außerdem verfügt Harry über ein paar äußerst seltene Fähigkeiten, wie die Schlangensprache<br />

„Parselmund“ zu sprechen, was nur einige wenige Zauberer, darunter Voldemort,<br />

können. Dies erklärt die Story damit, dass bei Voldermorts missglücktem erstem Anschlag,<br />

Zauberkräfte von ihm auf Harry übergegangen sind. Später intensiviert sich dieses Bild, indem<br />

Harry als ein siebtes, ungewolltes und bis zuletzt unbekanntes Horkrux des bösen Zauberers<br />

entlarvt wird (vgl. Harry Potter Bd.7), der bekanntlich stellvertretend für das Böse an sich<br />

steht. Spätestens hier wird überdeutlich, was die Autorin anhand der zwei Gegenspieler zum<br />

Ausdruck bringen möchte: Gut und Böse sind nicht zu trennen, der (oder das) Gute trägt <strong>im</strong>mer<br />

und unvermeidlich auch Böses in sich. Die eingangs zitierte Hypothese gehört demnach<br />

insofern modifiziert, als nun klar ist, dass „in Wirklichkeit, das hat jeder von uns irgendwann<br />

schon einmal leidvoll erfahren, beides in uns drin [steckt]. In Wirklichkeit sind wir alle ein<br />

bisschen Harry Potter und ein bisschen Lord Voldemort.“ (Martenstein 2003, 151). Das spiegelt,<br />

wie gesehen, der Text selbst wieder.<br />

Die eingangs von Martenstein behauptete einfache, dualistische Konzipierung von Gut und<br />

Böse hält also der Analyse nicht stand, und ist vielmehr als eine literarische Elementarisierungsstrategie<br />

zur Darstellung eines hochkomplexen Sachverhalts zu verstehen. Die Charaktere<br />

Harry Potter und Lord Voldemort sind daher auch nicht als komplementäre Gegensätze,<br />

sondern <strong>im</strong> Grunde als „shadow character“ zu verstehen. Dieser bezeichnet eine „creature‟s<br />

complementary figure or shadow, which reveals aspects of its character otherwise invisible.“<br />

(Granger 2004, 41). Die Taktik, das Verhältnis widerstreitender Kräfte bzw. Gut und Böse<br />

innerhalb einer Person und stellvertretend für den Menschen an sich, literarisch darzustellen,<br />

ist ein klassisches Stilmittel und daher den Lesern bereits aus zahlreichen Werken vertraut.<br />

Die Bekanntesten sind wohl Robert Louis Stevenson‟s Dr. Jekyll and Mr. Hyde und Mary<br />

Shelley‟s Dr. Frankenstein und sein Monster. Während Dr. Jekyll und Mr. Hyde ein- und dieselbe<br />

Person sind, handelt es sich bei Frankenstein und seinem Monster wie bei Harry Potter<br />

und Lord Voldemort scheinbar um zwei getrennte Wesen. Abhängigkeiten und interdepen-<br />

17 Lord Voldemorts Mutter stirbt bei seiner Geburt, sein von ihm gehasster und später getöteter Vater hat sie<br />

bereits vor der Geburt verlassen. Harry wächst bei seinen Verwandten, den Dursleys, auf, Lord Voldemort <strong>im</strong><br />

Waisenhaus.


12<br />

dente Beziehungsmuster best<strong>im</strong>men jedoch hier wie da das Verhältnis der genannten Figuren<br />

und werfen damit für die Leserschaft die Frage nach Gut und Böse in seiner ganzen Komplexität<br />

auf. Augenscheinlich liegen hier auch literaturspezifische Interpretationen von C.C.<br />

Jungs Tiefenpsychologie und seiner Lehre von den Schatten vor, die ihrerseits einschlägige<br />

Erklärungsmodelle für das Verhältnis widerstreitender Kräfte <strong>im</strong> Menschen geben 18 .<br />

Für die Reflexion über Gut und Böse und die Frage nach der Möglichkeit richtigen Handelns<br />

bzw. Lebens ist von zentraler Bedeutung, ob der Mensch überhaupt über die Fähigkeit dazu<br />

verfügt. Die protestantischen Lehren dazu werden nachfolgend fokussiert, bleiben wir hier<br />

zunächst noch bei Rowlings Antwort. Über sieben Bände skizziert sie (wie oben dargestellt)<br />

die ständige und untrennbare Melange zwischen Gut und Böse. Dabei wird deutlich, dass Harry<br />

trotz seiner spontanen Entscheidung für das Gute in Band 1 stets gefährdet und innerlich<br />

angefochten bleibt. Dieses Gefühl des Protagonisten erreicht schließlich einen ersten krisenhaften<br />

Höhepunkt in Band 4, als Harry die Ambivalenz des Bösen (und übrigens auch des<br />

Guten) in der Erforschung seiner Vergangenheit erkennen muss und schließlich seinen absoluten<br />

Höhepunkt, als Harry erfährt, dass er als Voldemorts siebtes Horkrux selbst Träger des<br />

Bösen ist (Band 7). An diesem (für den Entwicklungsroman) zentralen Punkt, könnte man<br />

Harry und den Leser wieder an den Anfang der Heptalogie verweisen, denn in Band 2 zeigt<br />

der weise Schuldirektor Dumbledore den Weg aus der Krise, wenn er sagt: „It is our choices,<br />

Harry, that show who we truly are, far more than our abilities.“ (Harry Potter Bd. 2, 258). Das<br />

Individuum kann also Kraft eigener, <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue getroffener Entscheidungen das<br />

Gute tun und das Böse in sich zurückdrängen. Gehen wir aber noch einen Schritt zurück:<br />

Grundlage einer jeden Entscheidung für das Gute ist natürlich Kenntnis darüber, was Gut und<br />

was Böse ist. Dass die keineswegs selbstverständlich und offenkundig ist, ist nicht nur eine<br />

Alltagserfahrung, sondern auch Kernthema der Romanreihe. Trotzdem gibt Rowling meines<br />

Erachtens bislang nicht beachtete bzw. falsch gedeutete Hinweise, dass und wie das Individuum<br />

Unterscheidungen treffen kann. Zum einen sehe ich die <strong>im</strong> Kontakt mit dem Bösen<br />

schmerzende Narbe als sinnliches, quasi intuitives Differenzierungsorgan. Ergänzend tritt die<br />

in Harry (und wenigen weiteren Protagonisten 19 ) verkörperte Fähigkeit, das Böse be<strong>im</strong> Namen<br />

zu benennen hinzu. Alle anderen Zauberer nennen Lord Voldemort nämlich nur „den,<br />

dessen Namen nicht genannt werden darf.“ 20 Bislang haben <strong>Religion</strong>spädagogen dies vorrangig<br />

als Anspielung auf das alttestamentliche Ausspracheverbot des Gottesnamens bezogen<br />

(vgl. Ritter 2003, 162). Ich denke jedoch, dass Harrys Eigenart, das Böse zu benennen, auch<br />

als weiterer Beleg menschlicher Kompetenzen in der Wahrnehmung und <strong>im</strong> Umgang mit dem<br />

Bösen gedeutet werden kann. Der Mensch kann – so Rowling via Harry – das Böse intuitiv<br />

vom Guten unterscheiden und es durch Verbalisierung begreifen. Damit ist die Grundlage zur<br />

Entscheidung für das Gute gegeben.<br />

Rowlings Konzept von Gut und Böse und der Rolle des Individuums spiegelt ihre <strong>im</strong>plizite<br />

Anthropologie, sie geht also von einem potentiellen Bösesein des Menschen aus, das dieser<br />

jedoch mittels seines freien Willens und Vermögens, sich für das Gute zu entscheiden, überkommen<br />

kann. So gelingt es dem gereiften Harry in Band 7, als er gewillt, für das Gute zu<br />

sterben und das Böse in sich abzutöten, Lord Voldemort entgegentritt, diesen zu besiegen (–<br />

übrigens ohne selbst zu sterben). Das letzte Buch endet dementsprechend mit: „Und alles <strong>war</strong><br />

<strong>gut</strong>.“ Augenscheinlich greifen die Harry Potter Bücher mit ihrer Frage nach dem Bösen bzw.<br />

Guten <strong>im</strong> Menschen, dem freien Willen und der Fähigkeit, das Richtige aus eigener Kraft zu<br />

tun, Kernthemen der protestantischen Sündenlehre auf. Insofern sind sie für die Gestaltung<br />

religiöser Bildungsprozesse aus Sicht der <strong>Religion</strong>spädagogik durchaus von Interesse. Aller-<br />

18 Bekanntlich geht Jung davon aus, dass das Individuum stets <strong>im</strong> Unbewussten die Schatten seiner ausgeprägten<br />

Persönlichkeitsmerkmale wie Gegenstücke in sich trägt.<br />

19 Dazu zählen Professor Albus Dumbledore, Harrys Pate Sirius Black, Professor Lupin und Hermine<br />

20 Ganz richtig bemerkt Hermine dazu in Harry Potter Bd. 2: „Angst vor einem Namen, macht Angst vor der<br />

Sache selbst.“; 287


13<br />

dings gilt es vorab zu klären, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede vorliegen, die für die<br />

Vermittlung relevant sind.<br />

4.2. Harry Potter <strong>im</strong> Lichte der protestantischen Sündenlehre<br />

„Sünde ist ein theologischer Begriff und bezeichnet das verkehrte Verhältnis des Menschen zu<br />

Gott, mit dem ein verkehrtes Selbst- und Weltverhältnis einhergeht. Mit der Aussage, daß der<br />

Mensch ein Sünder ist, zielen christliche Theologie und christlicher Glaube auf die grundlegende<br />

Verkehrung und Verstrickung unseres Selbstvollzugs, aus der sich der Mensch nicht aus eigener<br />

Kraft zu befreien vermag, sondern auf das unsere Existenz erhellende und versöhnende<br />

Handeln Gottes angewiesen ist.“ (Axt-Piscalar 2001, 428)<br />

Insbesondere die reformatorische Erbsündenlehre radikalisiert das Sündenverständnis, indem<br />

sie „das Verständnis der Sünde nicht mehr von den Tatsünden her, sondern von diesem zugrunde<br />

liegenden, in sich verkehrten Sein des Menschen her erfasst.“ Gleichzeitig entlastet sie<br />

jedoch auch das Individuum, da eine „Überwindung eines moralistisch verengten Sündenbegriffs“<br />

(Axt- Piscalar 2001, 400) geschafft ist. Der Anspruch, ständig das Richtige und Gute<br />

tun zu müssen – bzw. auch nur zu können – kann nicht länger aufrecht erhalten werden, da<br />

dem Menschen das grundsätzliche Vermögen, nicht zu sündigen, abgesprochen wird. Damit<br />

wird auch dem Kern der Sünde, der darin besteht, dass der Mensch auf sich vertraut statt auf<br />

Gott, die Grundlage entzogen. An die Stelle der Amor sui, superbia, concupiscentia sollen<br />

Vertrauen und Glaube an Gott treten, um die strukturell angelegte Selbstbezüglichkeit zu<br />

überkommen. Besonders problematisch an der genannten Selbstbezüglichkeit ist<br />

„die Best<strong>im</strong>mtheit des sogenannten freien Willens des natürlichen Menschen, der von sich aus<br />

nicht anders kann, als seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten und solcherart der Gnade widerspricht.“<br />

(Axt-Piscalar 2001, 402)<br />

Man kann sich nämlich nur passiv von der Gnade ergreifen lassen, jeder Eigenanteil des Menschen<br />

ist zu verurteilen. Genau deshalb streitet Luther die Existenz eines freien Willens auch<br />

ab,<br />

„dem [CA IV:BSLK 56,2-4] entspricht die gesamtreformatorisch vertretene Lehre von der Unfreiheit<br />

des Willens zum Guten mit der Aussage, daß der Wille des natürlichen Menschen in<br />

sich selbst so verfasst ist, nicht nicht das Böse wollen zu können.“ (Axt-Piscalar 2001, 400)<br />

Dieser Fähigkeit bedarf es allerdings gar nicht, da der Mensch aus Gnade und durch das Erlösungswerk<br />

Christi vor Gott gerecht ist, wie uns die Rechtfertigungslehre lehrt. In Bezug auf<br />

die Fähigkeit, das Böse zu erkennen, ist zu lesen:<br />

„Was die Frage nach dem Erkenntnisgrund der Sünde angeht, so ist zunächst zu bedenken, daß<br />

die zerstörerische Macht der Sünde gerade auch in ihrem sich verstellendem Charakter besteht<br />

und die sündige Person die Sünde übersieht und verkennt.“ (Axt-Piscalar 2001, 430)<br />

An nachfolgend zu vergleichenden zentralen Aussagen über das Wesen der Sünde und ihre<br />

Wirkung auf den Menschen können wir also Folgendes festhalten: Jeder Mensch ist ein Sünder<br />

und kann dieses Merkmal seiner Natur auch nie aus eigener Kraft überkommen, denn gerade<br />

<strong>im</strong> Irrglauben an die potentielle Befähigung dazu liegt ein Urgrund der Sünde. Zudem<br />

kann der Mensch die Sünde aufgrund ihres verstellenden Charakters nicht einmal als solche<br />

identifizieren. Die Freiheit des menschlichen Willens ist ambivalent zu sehen. Ganz sicher<br />

kann er sich nicht aus eigener Kraft durch sein Wollen von der ihm anhaftenden Sündigkeit<br />

befreien, allerdings wurde er als Geschöpf mit der Freiheit versehen, eigene Entscheidungen<br />

zu treffen; insofern ist er nicht zur absoluten Unfreiheit determiniert. Gerecht kann der<br />

Mensch vor Gott aus eigener Kraft jedoch nie werden und muss es auch nicht, da er es aus


14<br />

Gnade und durch Christus bereits ist. Aus der Rechtfertigung erwächst sodann das Bedürfnis,<br />

Gutes zu tun, was nicht mit Gnadenleistungen zu verwechseln ist.<br />

Die Frage ist nun, inwiefern sich die genannten zentralen Aspekte des protestantischen Sündenverständnisses<br />

in Harry Potter wiederfinden. Den Kerngedanken einer <strong>im</strong> Wesen verankerten<br />

Affinität, das Böse zu tun, spiegelt Rowlings Beziehungskonstellation von Lord<br />

Voldemort und Harry – wie oben dargestellt – treffend wieder, insofern als Harry erfahren<br />

muss, dass er selbst Anteile des Bösen von Beginn an und vor jeder Tat in sich trägt als „Horkrux“<br />

des Bösen. „The Harry/Voldemort shadow, the pivotal antagonism of the series, points<br />

to the duality in every human being.“ (Granger 2004, 42). Ähnlich treffend veranschaulicht<br />

die Autorin das in der christlichen Theologie in Christus begründete Ursprungsgeschehen zur<br />

Rechtfertigung des Menschen. Hier wie da ist es ein Opfer aus Liebe, das zur Rettung des<br />

Menschen gereicht. Schon in Band 1 lässt Dumbledore Harry und die Leser wissen:<br />

„Your mother died to save you. If there is one thing Voldemort cannot understand, it is love. He<br />

didn‟t realise that love as powerful as your mother‟s for you leaves its own mark. Not a scar not<br />

a visible sign…to have been loved so deeply, even though the person who loved us is gone, will<br />

give us some protection forever. It is in your very skin.“ (Granger 2004, 42)<br />

Demnach ist Harry vor der Macht des Bösen und analog der Sünder vor dem Verlust des<br />

Heils durch die Liebe gefeit. Diese hinterlässt in Harry bzw. <strong>im</strong> Individuum prägende Spuren,<br />

die es schützen und trotz aller Widerstände dem Guten verschreiben. Bei Harry Potter expliziert<br />

sich dieses Gute in seiner Liebe zu seinen Freunden, Vertrauten und dem Leben. So weit<br />

so <strong>gut</strong>, bei aller Übereinst<strong>im</strong>mung an zentralen Stellen dürfen jedoch nicht die Unterschiede<br />

übersehen werden. An erster Stelle sind hier die Rolle des freien Willens und der Stellenwert<br />

menschlicher Anstrengungen zum Überkommen des Bösen zu nennen. Wie oben skizziert,<br />

sind es bei Harry Potter nämlich die aus eigener Kraft <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue getroffenen<br />

Entscheidungen eines Menschen, die ihn zu einem <strong>gut</strong>en oder schlechten Menschen machen.<br />

Mag er auch <strong>im</strong>mer sündig und potentiell bedroht bleiben (wobei Epilog und der Schlusssatz<br />

„Alles <strong>war</strong> <strong>gut</strong>“ Gegenteiliges andeuten), für das Gute entscheidet er sich kraft seines freien<br />

Willens und rettet sich selbst. Eben dies ist nach protestantischem Sündenverständnis aber<br />

ausgeschlossen.<br />

Bei Harry Potter liegt daher trotz der identifizierten protestantischen Züge insgesamt wohl<br />

eher eine stark ethisierende Interpretation von Sünde vor, die die Gottesbeziehung außen vor<br />

lässt. Durch die Ethisierung wird das Moment der Entscheidung gestärkt, und zumindest theoretisch<br />

droht die Gefahr eines moralisch-ethizistisch verengten Sündenbegriffs. Das soll nicht<br />

darüber hinwegtäuschen, dass natürlich auch die christliche Sündenlehre eine ethische D<strong>im</strong>ension<br />

aufweist, und Harry Potter wiederum mehr als eine Ode an die menschliche Moral<br />

ist, aber das Problembewusstsein sollte dahingehend geschärft bleiben, wenn wir uns nun fragen,<br />

inwiefern Harry Potter der postmodernen Wahrnehmung der Sünde entspricht, und wie<br />

mit den Romanen <strong>im</strong> Kontext religiöser Bildungsprozesse ggf. umzugehen sei.<br />

4.3. Harry Potter als Spiegel und Kritik postmodernen Sündenverständnisses<br />

„Die Sünde steht innerhalb wie erst recht außerhalb der Kirche vor gravierenden Kommunikationsproblemen.“<br />

(Gräb 2001, 437), zumal man <strong>im</strong> gesellschaftlichen Empfinden mit „Sünde“<br />

heute eher das meint, was in der Theologie mit dem „Bösen“ bezeichnet wird, und „das unterscheidet<br />

sich durch seinen qualifiziert ethischen Charakter.“ (Hygen 2001, 9). <strong>Von</strong> einer<br />

„Sünde“ spricht man heute allenfalls banalisierend und mit ironisch-distanzierendem Unterton<br />

und überhaupt nur noch in spezifischen Kontexten, vorrangig be<strong>im</strong> sinnlichen Genuss und<br />

anderen Bagatellen des Alltags, wo Menschen wissentlich verkehrtes Verhalten an den Tag<br />

legen. Beliebt ist die „Sünde“ <strong>im</strong> Sprachgebrauch auch, wenn es um Sexualität geht. Wer ein


15<br />

Eis mit Sahne isst, „sündigt“ beispielsweise, es gibt „Umwelt- und Verkehrssünder“ und Outfits,<br />

die „eine Sünde wert“ sind. Mit der theologischen Sündenlehre haben heutiger Sprachgebrauch<br />

und postmodernes Sündenverständnis nur noch wenig bis gar nichts mehr zu tun, da<br />

sowohl der Gottesbezug als auch der zur Gemeinschaft als D<strong>im</strong>ension der Sünde verloren<br />

gegangen sind. Ähnliches gilt für den Aspekt eines falschen Selbstbildes, das <strong>im</strong> christlichen<br />

Verständnis von Sünde <strong>im</strong>pliziert ist, denn es findet sich in der postmodernen Interpretation<br />

von „Sünde“ (aber auch in der vom „Bösen“) nicht mehr oder nur in radikal veränderter<br />

Form. An die Stelle von definierten Beziehungskategorien des ursprünglichen Sündenverständnisses<br />

sind bagatellisierende, ironische Kommentierungen einzelner Episoden ohne größeren<br />

Zusammenhang getreten, die allenfalls noch eine moralische D<strong>im</strong>ension aufweisen,<br />

jedoch kein Fundament sein können.<br />

Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Sicherlich ist hier die starke Position der<br />

menschlichen Ratio zu nennen, die sich scheinbar leichter in konkreten Regeln und Moral als<br />

in diffusen Beziehungsgeflechten und Definitionen expliziert und die Beziehung zu einem<br />

transzendenten Wesen ohnehin ausschließt. Zum Anderen kann auf die für den postmodernen<br />

Lebensstil kennzeichnende Autonomie des Individuums verwiesen werden. Nach wie vor ist<br />

der Mensch z<strong>war</strong> keineswegs autark, aber in seinen Entscheidungen so frei wie nie zuvor.<br />

Diese Entscheidungen betreffen nun eben auch die Beziehung zur eigenen Person (und damit<br />

die Möglichkeit der Selbsttranszendierung) und diejenige zu seinen Mitmenschen. Vielleicht<br />

liegt in dieser Autonomie gerade ein dringlicher Anlass, den Menschen von heute wieder mit<br />

der christlichen Sündenlehre zu konfrontieren. Auch wenn ich mich ausdrücklich von einer<br />

vorschnellen Wertung des postmodernen Sündenverstädnisses und den Gründen der beschriebenen<br />

Veränderung distanzieren möchte, scheint die Forderung von Seiten der (Praktischen)<br />

Theologie nachvollziehbar:<br />

„Sie [die Theologie] muß an das moralische Verständnis in seiner ganzen Ambivalenz kritischkonstruktiv<br />

sich anschließen, um es religiös – auf die Auslegung des Gottesverhältnisses hin –<br />

zu transzendieren.“ (Gräb 2001, 438)<br />

Zumindest, wenn damit die Ziele gemeint sind, das gegenseitige Aufrechnen von Schuld zu<br />

durchbrechen und die ethizistisch-moralistische Verkürzung des Sündenbegriffs zu beheben,<br />

ist dem zuzust<strong>im</strong>men. Offen bleibt indes, wie dieser Prozess zu gestalten wäre. Nachfolgend<br />

soll daher geprüft werden, ob Trivialliteratur, hier Harry Potter, sich als möglicher Zugang<br />

eignet.<br />

Augenscheinlich bietet Harry Potter zahlreiche direkte Anknüpfungspunkte für das postmoderne<br />

Sündenverständnis. Allem voran ist die positive Rolle der menschlichen Entscheidungsfähigkeit<br />

anzuführen. Ich erinnere an den Kernsatz: „It is our choices, Harry, that show who<br />

we truly are, far more than our abilities.“ (Harry Potter Bd. 2, 358). Positive Basis der Entscheidung<br />

ist bei Rowling die vernunftgeleitete Reflexion. An einer Schlüsselstelle des Romans,<br />

bevor Harry sich an den Widerfahrnissen seiner Jugend gereift bewusst entschließt,<br />

Lord Voldemort gegenüberzutreten und ggf. zum Besten aller <strong>im</strong> Kampf zu sterben, gehen<br />

ihm folgende Gedanken durch den Kopf:<br />

„And Harry saw very clearly as he sat there under the hot sun how people who cared about h<strong>im</strong><br />

had stood in front of h<strong>im</strong> one by one, his mother, his father, his godfather, and finally Dumbledore,<br />

all determined to protect h<strong>im</strong>; but now that was over. He could not let anybody stand between<br />

h<strong>im</strong> and Voldemort; he must abandon forever the illusion he ought to have lost at the age<br />

of one: that the shelter of a parent‟s arms meant nothing could hurt h<strong>im</strong>. There was no waking<br />

from this nightmare, no comforting whisper in the dark that he was safe, that it was all in his<br />

<strong>im</strong>agination.“ (Harry Potter Bd. 6, 601)


16<br />

Kennzeichen eines postmodernen Sündenverständnisses ist hier der freie Wille zur Entscheidung<br />

kraft der menschlichen Erkenntnis. Mehr noch, der freie Wille und die Vernunft gereichen<br />

hier abschließend zum endgültigen Überkommen des Bösen, das hier, verkörpert in Lord<br />

Voldemort, für die Sünde steht 21 . „Alles <strong>war</strong> <strong>gut</strong>“ lautet der finale Satz – und z<strong>war</strong> auf viele<br />

Jahre, andeutungsweise für <strong>im</strong>mer 22 , so dass man annehmen darf, dass Harry aus eigener<br />

Kraft die Sünde besiegt hat. Da möchte man doch als protestantische Theologin sofort auf die<br />

ganz zu Beginn dieses Beitrags verwiesene Möglichkeit zurückgreifen 23 , diesem Werk der<br />

Trivialliteratur die protestantische Sündenlehre kritisierend, ja korrigierend gegenüberzustellen.<br />

Doch Vorsicht – so einfach ist das nicht.<br />

Tatsächlich weist Rowlings Heptalogie nämlich unter anderem Konstrukte auf, die <strong>im</strong> Kern<br />

der protestantischen Sündenlehre entsprechen und <strong>im</strong> Text provozierend neben dem postmodernen<br />

Sündenverständnis stehen und zum kritischen Nachdenken auffordern. Dazu zählt natürlich<br />

die spezifische Konzipierung der beiden Gegenspieler (s.o.), die getrost als trivialliterarische<br />

Veranschaulichung von Luthers „s<strong>im</strong>ul iustus et peccator“ gelten kann. Entsprechend<br />

fallen die Entscheidungen des Protagonisten stets vor dem Hintergrund innerer und äußerer<br />

Anfechtungen und sind keinesfalls einfach: „Harry‟s choices deliver the <strong>im</strong>plicit message „Do<br />

the hard, right thing; don‟t take the easy advantageous route.“ (Granger 2004, 73). Die Autorin<br />

gewährt darüber hinaus auch Einblicke in die dunkle Seite des Menschen, indem sie Lord<br />

Voldemort und seine Motive erfahrbar macht. „Anders als in anderen Kinderbüchern gibt es<br />

bei mir nicht den Bösen, den wir alle hassen. Ich wollte zeigen: Warum ist er so? Und wie<br />

schwierig es ist, gegen jemand zu kämpfen, der das menschliche Leben nicht schätzt.“ (Rowling<br />

2000)<br />

„Kein Mensch ist in Rowlings Universum von Natur aus böse oder zum Bösen determiniert. Im<br />

Gegenteil: es wird größten Wert auf die Entscheidung des einzelnen Menschen gelegt, der zwischen<br />

Gut und Böse frei wählen kann bzw. muss.“ (Runge 2007, 40)<br />

Zuvor wurde skizziert, inwiefern die menschliche Erkenntnisfähigkeit eine tragende Säule der<br />

Entscheidung aus eigener Kraft für das Gute bei Harry Potter ist, und dass dieses Sündenverständnis<br />

<strong>im</strong> Widerspruch zur protestantischen Lehre steht. Beachtet man nun aber das Folgende<br />

erscheint der Sachverhalt in einem völlig anderem Licht: Neben intensivem Reflektieren<br />

sowie abschließender Erkenntnis ist es vor allem die Liebe zu seinen Mitmenschen (allen voran<br />

seinen Freunden und seinen für ihn gestorbenen Eltern) sowie dem Leben und allem Guten,<br />

die Harry motiviert, sich <strong>im</strong>mer wieder für den schwereren, aber richtigen Weg zu entscheiden.<br />

Dieser Umstand kann durchaus <strong>im</strong> Sinne der protestantischen Sündenlehre interpretiert<br />

werden. Harry transzendiert seine individuelle Existenz auf einen höheren Sinn hin – die<br />

Liebe, das Leben und das Gute und definiert richtiges Leben über die Fürsorge für und Liebe<br />

zu seinen Mitmenschen. Grundlage seiner Entscheidung ist demnach nicht allein eine vernunftdominierte<br />

Moral, sondern Beziehungskategorien und -ausprägungen, die durchaus dem<br />

christlichen Verständnis entsprechen. Harrys aktiver Anteil am „Gutsein“ relativiert sich<br />

durch die beschriebene Konstituierung <strong>im</strong> Übrigen ebenfalls. Man kann für Harry Potter also<br />

mit Recht behaupten, dass „dessen [des Bösen] Überwindung nicht durch allmähliche, sittliche<br />

Besserung [geschieht], sondern durch eine Revolution für die Denkungsart, welche die<br />

Änderung des Grundes aller Max<strong>im</strong>en bewirkt“ (Axt-Piscalar 2001, 414). Dass Harry dabei<br />

21 Lord Voldemort verkörpert als das Böse bzw. die Sünde Merkmale der theologisch verstandenen Sünde, wie<br />

die Selbstvergöttlichung des Menschen, der unsterblich werden will, Allmacht anstrebt, seine eigene Existenz<br />

pervertiert, und der Liebe, dem Leben sowie der Gemeinschaft feindlich gegenübersteht.<br />

22 Im Epilog in Harry Potter Band 7 beschreibt Rowling das Leben 18 Jahre nach dem finalen Kampf: Harry und<br />

seine Freunde leben alle verheiratet mit Familie und Job in einer friedlich sicheren Zauberwelt.<br />

23 Eingangs wurde in Absatz 1 “Theologie und Populärkultur” auf den “dritten Weg” verwiesen und darin auf die<br />

Möglichkeit, dass der Theologie auch die Aufgabe zukommen kann, verfremdete und überformte Fragmente<br />

christlichen Glaubens in der Populärkultur zu kritisieren und zu korrigieren.


17<br />

u.a. Verstand und Vernunft zur Erkenntnis nutzt und aktiven Anteil an seiner Veränderung<br />

hat, kann die christliche Intention dieser Aussage nicht schmälern – <strong>im</strong> Gegenteil Vernunft<br />

und Glaube, Agieren und Reagieren gehören bekanntlich <strong>im</strong> Protestantischen ohnehin zusammen.<br />

Augenscheinlich ist Harry Potter also durchaus ein geeignetes Medium, um religiöse Bildungsprozesse,<br />

insbesondere das Nachdenken über die Sünde, zu unterstützen. Die Frage ist<br />

nur, wie dies konkret aussehen könnte.<br />

5. <strong>Religion</strong>spädagogische Konkretionen<br />

„Hatte die Aufklärung den Teufel/Satan mehr oder weniger über die Klinge springen lassen, so<br />

werden mit den 70er Jahren der und das Böse theologisch und humanwissenschaftlich durch Erklärungen<br />

rationalisiert und nivelliert.“ (Ritter 2003, 176)<br />

– so die Diagnose von Werner Ritter. Eines fällt jedenfalls ganz sicher auf: Der Böse ist gänzlich<br />

von der theologischen Bildfläche verschwunden – allenfalls thematisiert man noch das<br />

Böse, aber auch das nur ungern. Stattdessen stellt man doch gerade <strong>im</strong> <strong>Religion</strong>sunterricht das<br />

Schöne unseres Glaubens in den Mittelpunkt: Liebe, Hoffnung, Vergebung und so weiter. Ein<br />

Blick in die Populärkultur zeigt uns aber, dass das und der Böse dort bleibende Hochkonjunktur<br />

haben und die Nachfrage boomt,<br />

„weil offensichtlich Deutungsmuster <strong>im</strong>mer weniger zu befriedigen vermögen, die das Böse<br />

bzw. den Bösen in gesellschaftliche und/oder in psychologische Erklärungen hinein auflösen<br />

wollen. Wie es aussieht, brauchen Menschen <strong>im</strong>mer wieder – kulturgeschichtlich und -<br />

anthropologisch beobachtbar – vorstellbare Texturen, Figuren und Konfigurationen, die das<br />

Unheil und Unglück, das ihnen widerfährt, ausdrücken, einordnen und zuschreiben zu können.“<br />

(Ritter 2003a, 183)<br />

Wie gesehen, kommt Rowling mit ihren Harry Potter Romanen diesem Bedürfnis nach einer<br />

elementarisierenden Anschauung des Bösen kompensierend nach. Dass ihr Werk dabei<br />

Schlüsselmomente der christlich-protestantischen Sündenlehre repräsentiert, stellt einen religionspädagogischen<br />

Glücksfall dar, kann man ihre Texte doch für Bildungsprozesse fruchtbar<br />

machen und von ihnen lernen.<br />

Lord Voldemort als die Personifizierung des Bösen, dessen Beweggründe dem Leser jedoch<br />

nicht fremd und verborgen bleiben, bietet reichlich Projektionsfläche für reelle individuelle<br />

und überindividuelle Erfahrungen mit dem Bösen. Er verkörpert alles Lebens-und Menschenfeindliche,<br />

und in der Begegnung mit Harry fühlt man mit diesem die Machtlosigkeit und das<br />

Ausgeliefertsein angesichts des übermächtigen Bösen. Man trifft das Gefühl, ein Rädchen in<br />

fremdgesteuerten Maschinerien zu sein, ebenso wie man der massenmörderischen Politik (etwa<br />

in Voldemorts Kampf gegen die Menschen, „Muggel“) und schuldhaften Verstrickungen<br />

begegnet. Ohne das Böse über Gebühr effektheischend oder gar genussvoll auszuweiden, gibt<br />

Rowling den Fragen, Befürchtungen und Erfahrungen der Leser Raum. Eben dies kann die<br />

(Praktische) Theologie von ihr lernen, nämlich auch diejenigen (religiösen) Bedürfnisse aufzugreifen<br />

und zu veranschaulichen, die hässlich sind. Das Böse muss ausreichend und anschaulich<br />

thematisiert sein, bevor übergegangen wird zu Versöhnung, Heil und Hoffnung –<br />

und manchmal kann vielleicht gar keine derartige Auflösung erfolgen. Gerade trivialliterarische<br />

Texte können hierfür von großem Nutzen sein, denn<br />

„in der irrealen Zaubererwelt kann man es [ein Projekt zum Finden von Differenzierungen und<br />

Maßstäben] mit wunderbarer Leichtigkeit durchspielen, weil der Prüfstand, auf den hier alle<br />

existentiellen Fragen und Antworten kommen, niemals so gr<strong>im</strong>mig ernst und grau ausschaut,<br />

wie <strong>im</strong> wirklichen Leben.“ (Meyer-Gosau 2001, 294)


18<br />

Außerdem sind den Darstellungsmöglichkeiten quasi keine Grenzen gesetzt, und auch Komplexes<br />

kann elementar veranschaulicht werden, wie am Exempel Harry Potter zu sehen ist.<br />

Rowling konzipiert ihre Darstellung von Gut und Böse extrem vielschichtig und komplex.<br />

Gute wie böse Charaktere bleiben dabei stets ambivalent und wandelbar. Das ist einerseits –<br />

wie gesehen – der Natur der Sache geschuldet, andererseits geht damit aber auch ein <strong>im</strong>pliziter<br />

Auftrag an den Leser einher. Dieser lautet: Sei Dir Deiner Sache nie sicher, <strong>gut</strong> ist nicht<br />

<strong>im</strong>mer und eindeutig <strong>gut</strong>, Gleiches gilt für das Böse bzw. den Bösen. An die Stelle feststehender<br />

Überzeugungen tritt die Aufforderung zu ständiger (Selbst-)Reflexion. Hier zeigt sich<br />

auch, „dass Joanne K. Rowling von abstrakt moralischen Max<strong>im</strong>en wenig, vom Verständnis<br />

für die individuellen Lebensprozesse aber alles hält.“ (Meyer-Gosau 2001, 296). Daher sind<br />

ihre Texte auch von einer hartnäckigen Abwesenheit von dogmatischen Belehrungsabsichten<br />

gekennzeichnet. An die Stelle fertiger Konzeptionen tritt die Aufgabe, eigene Konstruktionen<br />

zu schaffen, und z<strong>war</strong> <strong>im</strong> sicheren Rahmen des Romans, der für das reale Leben durchaus<br />

Impulse gibt, denn „Phantasie ist nicht Flucht, sondern Freiheit, nämlich Freiheit, die Welt<br />

anders zu denken, als wir sie <strong>im</strong> Alltag erfahren, und unsere Erfahrungen spielerisch um- und<br />

weiterzuschaffen.“ (Hemminger 2002, 55)<br />

Eines ist also sicher: Auch wenn Pädagogen nicht müde werden, die vom Vorbild Harry Potter<br />

zu lernenden Tugenden zu preisen (Jelinek 2006, 7), geht es genau darum nicht. Der Roman<br />

macht nämlich den verkennenden und irritierenden Charakter der Sünde in einer abgespaltenen,<br />

ambivalenten Gestalt erfahrbar, um die Ausbildung einer Urteils-, Entscheidungsund<br />

Handlungskompetenz <strong>im</strong> Sinne einer postkonventionellen Moral zu provozieren, statt<br />

einfach um Ge- und Verbote einzuüben. Diese Unterscheidung wird besonders deutlich anhand<br />

der konträren Führungsstile des Schuldirektors Albus Dumbledore und seiner temporären<br />

Vertretung Dolores Umbridge. Während er fröhlich-anarchisch Raum für die individuelle<br />

Entwicklung gibt und beratend seinen Schülern hilft, ein eigenes Empfinden für richtig und<br />

falsch und ihre Verantwortung für sich und andere zu finden, errichtet die despotische Umbridge<br />

ein Terrorreg<strong>im</strong>e voller Regeln und Strafen, das zeigt, dass akribisches Befolgen von<br />

Regeln noch lange keinen „<strong>gut</strong>en“ Menschen ausmacht. An dieser Episode könnte man beispielsweise<br />

ein ethisches Schlüsselproblem mit Schülern erarbeiten.<br />

Allerdings reicht das den Romanen innewohnende Potential weit über bloße kognitive Erkenntnisse<br />

hinaus. Wie zuvor gesehen, ermöglicht die spezifische Handlung der Harry Potter<br />

Bücher durch Identifikationen identitätsstiftende Prozesse. In der (unbewussten) Auseinandersetzung<br />

mit den Schatten, die verbotene Wünsche haben, wie Allmacht, Gewalt uvm., liegt<br />

die Möglichkeit zur Individuation. Diese hat keineswegs die Legit<strong>im</strong>ation des Bösen zum<br />

Ziel, sondern die konstruktive Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der eigenen Person,<br />

der Gesellschaft oder dem Bösen an sich. Das protestantische Ideal der Selbstbildung<br />

„bedarf des anderen außerhalb des Selbst als eines konstitutiven Moments der Selbstwerdung<br />

und Selbstfindung.“ (Lämmermann 2005, 171). Warum soll dieses Andere nicht einmal über<br />

einschlägige und allseits bekannte Romanfiguren erfahrbar werden?<br />

Harry Potter mag trivial sein, aber das ihm trotzdem innewohnende Bildungspotential – insbesondere<br />

<strong>im</strong> Bezug auf die Frage nach Gut und Böse und die damit verbundene Persönlichkeitsbildung<br />

– ist nicht von der Hand zu weisen. Sicher wird durch die Aufnahme von Harry<br />

Potter in den <strong>Religion</strong>sunterricht wirklich nicht alles <strong>gut</strong>, aber vielleicht kann Letztgenannter<br />

dadurch doch ein bisschen besser werden.


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