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6 | ERSTENS: 365/eins | Erzählung<br />

365/eins<br />

[<br />

Dynamische Systeme erzeugen fraktale]<br />

Gebilde, sogenannte Seltsame Attraktoren<br />

Autor | Andreas Kamp | Illustration | Ute Kleim<br />

Für jedes Ding gibt es ein Maß. Also auch Grenzen,<br />

innerhalb welcher es festgestellt werden kann –<br />

durch die Feinheit der Wahrnehmung.<br />

Man kann, man muss manches Ding dafür verstärken,<br />

lauter werden lassen, größer. In einem<br />

Elektronenmikroskop beispielsweise, oder durch<br />

ein Mikrofon.<br />

Nikola Tesla hat ein Maß gefunden für die Flussdichte<br />

eines elektromagnetischen Impulses, der nötig<br />

ist, um die Dinge voneinander unterscheidbar<br />

schwingen zu lassen, auf diese Weise Bilder von ihnen<br />

zu machen und sehen zu können, was normalerweise<br />

vor unserem Blick verborgen bliebe. Aber<br />

was ist schon normal. Wahrnehmung?<br />

Jeder Mensch empfindet eine Grenze, bis zu der er<br />

Dinge erträglich findet. Erträglich im Sinne von<br />

ertragen können, nicht zu verwechseln mit einträglich,<br />

also Ertrag einbringend. Obwohl wir wirken<br />

können, als könnten wir beides nur sehr willkürlich<br />

in unserem Wesen und durch unser Wesen unterscheiden:<br />

wir können Dinge ertragen, die in Maßen<br />

anrühren, stinken, laut sind, enervierend, scharf,<br />

salzig oder süß schmecken.<br />

Die Fähigkeit Dummheit ertragen zu können<br />

ist bei vielen ausgeprägter als diejenige, Schmerz<br />

gut aushalten, dulden oder ignorieren zu können,<br />

präziser: Schmerz, der sich körperlich äußert, beeinflusst<br />

unser Wesen nachhaltiger und direkter im Ausdruck<br />

und Gefühl unseres Wesens als jeder andere<br />

Sinneseindruck.<br />

Wie um dies zu beweisen, brach sich Karmelin Knirp<br />

den linken Fuß im Gelenk, als er vorgab, dass alles<br />

nicht so schlimm werden würde, wie befürchtet. Er<br />

tat so wider besseres Wissen, und eben das sollte<br />

ihm nichts nützen, denn meistens kommt es dann<br />

noch schlimmer.<br />

Wir wollen auch nicht vordergründig die These<br />

damit stützen, dass wir argumentieren, eben spürbar<br />

war es für ihn nun, da die Umwelt ihm Hürden<br />

und Stolpersteine entgegen hielt und warf, dass<br />

Dinge, die er sonst in aller Souveränität überwand,<br />

bezwang und benutzte, sich nun als sperrige, verschlossene<br />

Güter zeigten, die sich nur unter großem<br />

Aufwand und dem Gebot aller gegebenen Geschicklichkeit<br />

dienstbar gaben. Es wäre also zu einfach,<br />

zu behaupten, eben dadurch, dass ihm seine Wohnung<br />

zum Hindernisparcours wurde, der nicht behindertengerecht<br />

eingerichtet war, sei Karmelin<br />

Knirp sich seiner Behinderung bewusst und darauf<br />

zurückgeworfen worden, wurde dadurch seiner<br />

Körperlichkeit in einem Maße gewahr, das er für<br />

unerträglich hielt.<br />

Vielmehr möchten wir hinterlistiger darauf hindeuten,<br />

wie mit einem gut gesalzenen Finger auf<br />

seine Wunde weisend, dass er vielmehr seine<br />

Dummheit spürte, die sich Raum schaffte, indem<br />

sie den Raum seiner Wahrnehmung auf den<br />

Schmerz verengte; die Dummheit fand ihren Aus-


druck im nicht Ursächlichen (schließlich dachte er<br />

nicht mit den Füßen), sie nahm sich ihren Ausgleich<br />

im Maß des Schmerzes, für ihn spürbar als<br />

Veränderung der Bedeutung des Fußes (f) zum Rest<br />

seines Körpers und dessen Funktionen (k).<br />

xD = (∆f/k)/(f/k)<br />

Das hieße in diesem Fall: So sehr mehr (∆) als<br />

sonst er gerade nur Fuß (f) war, so groß (x) müsste<br />

seine Dummheit (D) sein, sie würde schwingen in<br />

der Unfähigkeit, etwas anderes zu sein. Mit seinen<br />

Gehilfen bzw. Gehhilfen würde er die Frequenz<br />

feststellen können – sie gaben die Taktung an, anhand<br />

der x zu bestimmen war, unregelmäßig wie<br />

alles Leben, das Heben und Senken des Meeres, wie<br />

Flammen an Holz, wie Wolkenformation. Wenn die<br />

Größe der Dummheit aber nicht festgeschrieben,<br />

sondern fortschreitend nur immer sich selbst ähnlich<br />

wäre, würde sie kleiner werden, je ungefährer<br />

man sie betrachtete. Denn je genauer man das Objekt<br />

betrachtete, desto mehr würde man die vielen<br />

verkleinerten Kopien seiner selbst wahrnehmen<br />

können, die Oberfläche würde sich bis ins Unendliche<br />

ausdehnen – nur durch Beobachtung. Es war<br />

wie mit der Ludolph’schen Zahl π: Es käme darauf<br />

an, ob sich nicht doch ein erkennbares Muster ergäbe,<br />

je länger man sie betrachtete. Entweder war<br />

jede Entscheidung zufällig und die Konsequenz<br />

chaotisch, oder man war entschieden zu dumm.<br />

Besser war, man sah nicht zu genau hin.<br />

Das war des Knirps Trost; wie die Aussicht, dass<br />

Heilung für seinen Fuß möglich war, der Schmerz<br />

also vorübergehen würde, denn gerade im Moment<br />

fühlte er sich unerträglich dumm, etwa so dumm<br />

wie eine juckende Stelle unter einem Gipsverband<br />

um ein geschwollenes Gelenk. So dumm wie die<br />

schlaue Zeichnung des Homunkulus auf diejenigen<br />

wirkt, die über dessen große Extremitäten lachen,<br />

die darstellen sollen, wie viel Hirnaktivität und<br />

Nerven in unseren Händen stecken. Sie hatten gut<br />

lachen und Karmelin Knirp schmunzelte wenigstens<br />

darüber, dass es mit der Dummheit so schlimm<br />

nicht sein konnte, er hatte wenigstens nur einen<br />

Fuß in Gips und noch alle Finger.<br />

Mit Mühe machte er sich vor anderen schon wieder<br />

über sich selbst lustig, wenn er etwa seine Wohnung<br />

als Behindertenparcours schilderte.<br />

Wie zum Beweis, wie gesagt, las Karmelin Knirp<br />

an dem Tage, an dem sein Fuß zwecks Schadensanalyse<br />

in einen Elektromagneten gehalten wurde<br />

(wobei die Knochen und Bänder zum Schwingen<br />

gebracht werden, damit man ihre Resonanz aufzeichnen<br />

konnte), ein Buch, das ein Gelehrter über die<br />

Dummheit verfasst hatte beziehungsweise genauer:<br />

Karmelin Knirp trug dieses Buch nur bis zum Ort<br />

der Untersuchung mit sich und wieder zurück, um<br />

dann keine Zeit zu haben, darin zu lesen, denn<br />

schließlich sollte er untersucht werden und dafür<br />

musste er gehen, stehen, liegen, sitzen und so weiter<br />

und so fort, wobei ihm die junge Ärztin sagte, wie<br />

und wohin, an ihm ruckte, unter ihn schob und ihn<br />

verzurrte. Für das Buch hatte er gerade so viel Verwendung,<br />

es auszupacken, wobei ihm die Krückstöcke<br />

hinfielen, sodass die Ärztin sie aufheben<br />

musste und ihn praktisch unterwies, wie man diese<br />

stellen könne, ohne dass sie fielen, worauf er sagte,<br />

das (also fallen) täten sie ja bei ihm zu Hause auch<br />

immer, wobei ihr Blick auf sein Buch fiel. Sie mochte<br />

in dem Moment x am genauesten erfasst haben, als<br />

es in ihrer Toleranzbereichsanzeige für auffallend<br />

unerträglich dumme Patienten, die sie direkt hinter<br />

ihren hellen Augen trug, für ihn einen Ausschlag<br />

gab.<br />

Später, während des fortschreitenden Heilungsprozesses<br />

kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht<br />

nur für das Lachen kein rechtes Maß gebe, das als<br />

Ausgleich diente, um der Dummheit zwar nicht<br />

Herr zu werden, sie aber wenigstens erträglich sein<br />

zu lassen – somit sogar einträglich.


8 | Ich weiß noch … | Ameisen | Gedichte | Autorin | Anna Hetzer | Illustration | Tanja Kischel<br />

Ich weiß noch in der kalten Nacht<br />

Als unsre Wege sich vereinten.<br />

Trüber Schimmer in den aufgerissnen Straßen<br />

Vereinzelte Gestalten,<br />

Doch wir wanderten zu zweit.<br />

In den Worten, die wir sprachen<br />

In dem Schweigen, das uns band<br />

Meine Hand, die du gefunden,<br />

Ohne irgendwer zu sein.<br />

Ameisen fliegen durch die Luft<br />

Regen in der kleinen Stadt.<br />

So wie immer. Regen.<br />

Ameisen marschieren<br />

Ohne Ordnung<br />

Ihrem Ziel<br />

Durch die kleine Stadt der Straßen<br />

Ihrem eignen Ziel<br />

Entgegen.<br />

Ihre Träume konzentrieren, kondensieren<br />

In den Regenwolken.<br />

Pusteblumen,<br />

Die vom Wind davongetragen<br />

Werden, immer waren.<br />

Und das Flugzeug landet.<br />

London, Heathrow Punkt


Der Schnee, der für immer<br />

mit dir verbunden sein wird.<br />

Autor | Sebastian Himstedt<br />

Sie wird fragen, wie meine Reise gewesen ist und<br />

ich werde denken, dass jede Reise zu ihr angenehm<br />

sein muss. „Es war ein bisschen zu warm im Bus“,<br />

werde ich sagen und fühlen, dass es auch in der<br />

Stadt zu warm ist. Möglicherweise zerfließen meine<br />

Erinnerungen. Sie sind alt und empfindlich. Fotofilme<br />

soll man auch im Kühlschrank lagern.<br />

Dieser Gegensatz von Winter und Sommer. Ob sie<br />

sich wohl verändert hat? Es ist anzunehmen. Wie<br />

viel Schnee sie mit ihren graugrünen Augen zum<br />

Schmelzen gebracht hat, ist nirgendwo festgehalten.<br />

Auch nicht für wen sie noch die Muse gespielt hat.<br />

Wobei das ein falscher Ausdruck ist. Spielen ist<br />

nicht sein.<br />

Ich komme zu ihr. Schaue ihr beim Leben zu. Mindestens<br />

weitere sieben Jahre wird es dauern, bis ich<br />

in ihrem Leben bin. Noch bin ich der Besucher, der<br />

sich bei ihr von Besuchern erholt. Sie soll Leben<br />

inszenieren. Für mich. Damit bürde ich der kleinen<br />

Person eine große Last auf. Aggressiv und egoistisch<br />

hänge ich ihr den Rucksack auf die Schultern,<br />

streiche vorher ihr von der Sonne gebleichtes Haar<br />

zur Seite.<br />

Durch ein Fenster getrennt. Oder schätze ich die<br />

Entfernung falsch ein; näher oder weiter. An dem<br />

Punkt, hinter dem man nicht mehr das Aufeinanderprallen<br />

der Augenlider hören kann, ergibt es<br />

keinen Sinn, Entfernungen genau bestimmen zu<br />

wollen. Es kann niemand genau sagen, ob es dieses<br />

Fenster wirklich gibt. Wir haben unsere Erfahrungen<br />

mit Missverständnissen. Wenn sie mir die


Erzählung | Der Schnee, der für immer mit dir verbunden sein wird. | 11<br />

Frage nach der Existenz der Scheibe beantworten<br />

würde, wäre ich verwirrt. Sie könnte mich küssen,<br />

als Zeichen für unsere große Distanz. Nähe ist immer<br />

ein Indiz für ausgeprägte Disharmonie. Für<br />

eine Störung des Gleichgewichts. Man geht nur<br />

aufeinander zu, wenn man mit seinem Körper etwas<br />

hinter sich verstecken möchte.<br />

Ich könnte zu ihr herüber gehen, um die Schritte<br />

zu zählen. Dann hätte ich eine greifbare Entfernungsangabe.<br />

Sind es fünf oder mehr als hundert<br />

Schritte, möglicherweise entflieht die Zahl ins Unendliche.<br />

Schon bei einem geringen Ergebnis könnte<br />

ich wahrscheinlich nur mathematische Angaben<br />

machen.<br />

Woran erinnerst du dich, wenn ich dich nach dem<br />

Schnee frage?<br />

Geistige Verbundenheit. Ein besserer Gradmesser,<br />

du bist so still.<br />

Es fällt etwas vom Himmel. Es ist kein Schnee,<br />

der würde den Raum nur noch weiter verdunkeln.<br />

Draußen läuft Regen in die Rinne, um irgendwo in<br />

ein Fass oder einen Fluss abzufließen. Nicht nur du,<br />

kleine Eva, wurdest schon lange aus dem Paradies<br />

vertrieben, wovon auch nur ich glaube, dass es im<br />

Himmel gewesen sein muss. Und jetzt, wo ist es<br />

jetzt?<br />

Wir haben einen Schmetterling eingesperrt, als<br />

wir die Türen des Glashauses geschlossen haben.<br />

Auch er fragt sich, was hinter dem Fenster ist und<br />

beobachtet uns.<br />

Man könnte sagen: Ich fühle mich in der Nähe<br />

wohl. Nur weiß ich nicht, ob ich in deiner Nähe bin.<br />

Es ist schwierig, den Quell meines Hochgefühls zu<br />

bestimmen. Du liegst zwischen den Malereien deines<br />

Vaters. Ein kräftiges Blau leuchtet halbdunkel<br />

zwischen den Rahmen und gibt dir eine Form. Es<br />

verleiht dir eine Aura. Wäre ich näher dran, könnte<br />

ich nur eine Farbe sehen, in der du zu verschwimmen<br />

drohst.<br />

Ich mache mir nichts aus Schönheiten. Es stellen<br />

sich andere Dinge in den Vordergrund, wenn man<br />

sich drei Jahre lang nicht sieht. Jetzt habe ich Fotos<br />

von dir. Es wird alles anders werden. Ich werde<br />

sie entwickeln lassen und nach Hause tragen, um<br />

dich zu beschreiben. Ich könnte jetzt schon damit<br />

anfangen, für den aktuellen Zusammenhang, der<br />

Vollständigkeit halber; noch sind meine Eindrücke<br />

frisch und unberührt wie eben gefallener Schnee.<br />

Aber nein – Ich möchte nicht damit beginnen. Wir<br />

wollen bei der Schrift bleiben.<br />

Und dann? Die Zeit wird voranschreiten und die<br />

Jahre werden wechseln. Ohne unser Zutun oder gemeinsame<br />

Teilnahme an irgendwelchen Festen. Es<br />

werden Briefe kommen. Werden beantwortet werden.<br />

Vielleicht nur mit ein paar Zeilen zur gegenseitigen<br />

Beruhigung des gemeinsamen Gewissens.<br />

Aber ab jetzt werde ich dich beim Schreiben vor mir<br />

sehen. An deinem Schreibtisch, den Blick nach<br />

draußen gerichtet, in den Garten, auf die Kastanienbäume,<br />

die ihre Blätter verlieren werden, bevor sich<br />

der erste Schnee auf sie niedersetzen kann.

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