26.06.2014 Aufrufe

rgb 069 - Die Schriftleitung

rgb 069 - Die Schriftleitung

rgb 069 - Die Schriftleitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ot-graue blätter<br />

internetschrift der<br />

pfadfinderschaft grauer reiter<br />

<strong>069</strong><br />

Sie ragen heute noch aus der sanft gewellten<br />

Hegau-Senke und erinnern an Riesenfäuste oder<br />

Titanenköpfe. Je länger man sie anschaut, desto<br />

unwirklicher werden sie: in der östlichen Reihe die<br />

Phonolitkegel Hohenkrähen, Mägdeberg und<br />

Hohentwiel, in der westlichen die Basaltberge<br />

1


ot-graue blätter<br />

heft nummer neunundsechzig


Inhalt<br />

Vorwort 5<br />

Der Hohenstoffel – der Berg des Anstoßes 6


Vorwort<br />

Der Hohenkrähen ist das Zentrum unseres Bundes, dieser Berg liegt<br />

bekanntlich im Hegau. In dieser Ausgabe erfahrt ihr einiges über diese<br />

Landschaft, die Hegau-Romantik und ihre Verbindungen zur deutschen<br />

Geschichte.<br />

– die <strong>Schriftleitung</strong> –


Der Hohenstoffel<br />

– der Berg<br />

des Anstoßes<br />

Der Hohenstoffeln im Hegau war zuerst ein Sehnsuchtsort der Romantiker und<br />

später Kampfplatz von aggressiven Nazi-Ideologen<br />

Offenkundig hat der Hegau das Zeug zum Mythos. Ludwig Finckh etwa,<br />

einer der rührigsten Propagandisten dieser Landschaft, verraunte sie zur<br />

„deutschen Heldenlandschaft“. Mit Held war weder Kaiser noch lockende<br />

Nymphe gemeint, sondern die Erde selbst. Jeder Stein, so der Arzt und Dichter<br />

Finckh, künde im Hegau vom „Urwerden“ der Erde. Dabei bezeugte er<br />

eigentlich nur ein längst vergangenes Naturgeschehen: Während der Auffaltung<br />

der Alpen taten sich im Vorland Risse auf, durch die Magma austrat. Vulkane<br />

entstanden, die Gas und Asche ausstießen. In der Eiszeit drängte der<br />

Rheingletscher heran und hobelte sie zurecht. Was an ihnen Tuff war, hielt<br />

nicht stand; übrig blieben nicht die weicheren Vulkanschlote, sondern die harten<br />

Magmapfropfen im Inneren.<br />

Sie ragen heute noch aus der sanft gewellten Hegau-Senke und erinnern an<br />

Riesenfäuste oder Titanenköpfe. Je länger man sie anschaut, desto unwirklicher<br />

werden sie: in der östlichen Reihe die Phonolitkegel Hohenkrähen,<br />

Mägdeberg und Hohentwiel, in der westlichen die Basaltberge Hohenstoffeln,<br />

Hohenhewen und Neuhewen; diese sechs bilden das Herzland des<br />

Hegau und sind zwischen 643 und 846 Meter hoch.<br />

Der Feierton vom „geheiligten Land“ schwoll an, als das Industriezeitalter<br />

nach dem Hegau-Basalt griff: Basalt ergibt Schotter, und Schotter wurde für<br />

den Straßen- und Gleisbau benötigt, besonders wenn Räder rollen sollten für<br />

den Krieg. 1912 gingen die Sprengmeister an der Nordspitze des Hohenstoffeln<br />

ans Werk. In der Umgebung kam es zu Bürgerprotesten, die bald<br />

Zulauf aus ganz Deutschland erhielten. Der trotzdem mehr als zwei Jahrzehnte<br />

schwer geschundene, am Ende doch noch gerettete Berg – er verlor zwei<br />

6


seiner drei Gipfel – wurde unversehens zum Kyffhäuser des ökologischen<br />

Patriotismus.<br />

Der Hegau ist überwiegend katholisches Bauernland. Dort herrscht auch an<br />

Werktagen eine gleichsam vorindustrielle Ruhe, die des siebten Schöpfungstags.<br />

Welcher Kontrast zum nahen, touristisch brodelnden Bodensee! Allerorten<br />

stehen Wegkreuze und Bildstöcke, die oft mit Sträußen geschmückt sind.<br />

<strong>Die</strong> Dörfer heißen Anselfingen und Binningen, Duchtlingen und Welschingen,<br />

Hilzingen und Weiterdingen. In beinahe allen plätschert ein hübsch renovierter<br />

Brunnen. Von den Bergen herab kann man die Jahresringe der Dörfer zählen,<br />

vom alten Ortskern mit Kirche bis hinaus zu den Neubaugebieten, die<br />

noch immer wachsen. „Sufer und glatt“ hätte der alemannische Dichter und<br />

Kalendermann Johann Peter Hebel diese Dörfer genannt, sauber und herausgeputzt.<br />

Jedes von ihnen könnte um die Ehre konkurrieren, das Adretteste zu<br />

sein. Dennoch, sie wirken nicht spießig und verhockt. In dieser Gegend spürte<br />

man fast zu allen Zeiten einen Unterstrom politischer Unruhe. Vom Hegau<br />

aus flog der erste Funke, der 1525 den Bauernkrieg entzündete, im Hegau<br />

wurden die Sensen geschmiedet, mit denen die Heckerschen Freischaren<br />

1848 die Republik erstreiten wollten. Nirgends war die Liebe zur bürgerlichen<br />

Revolution so groß wie in dem Frankreich nahe gelegenen Baden,<br />

auch nach der Niederlage.<br />

Hegaulandschaft . . .<br />

7


Der Erfinder der Hegau-Romantik war ein enttäuschter Achtundvierziger, der<br />

Lyriker und Romancier Joseph Victor von Scheffel. Er machte den Hegau im<br />

Deutschen Reich erst bekannt. Doch wäre es nach Scheffel gegangen, hätten<br />

unter den Bewunderern dieser Landschaft niemals Kitsch und Schwulst die<br />

Oberhand bekommen. Sein Hegau-Bild bestimmen Humor und Melancholie.<br />

Der „Ekkehard“-Roman, den Scheffel unter der bis heute erhaltenen Linde am<br />

Hohentwiel-Hotel geschrieben haben soll, erschien 1855 und ist inzwischen<br />

mehr als dreihundertmal aufgelegt worden. Er erzählt, wie der Sankt Galler<br />

Mönch Ekkehard im zehnten Jahrhundert das Waltharilied dichtet; er ist jung,<br />

lehrt auf Burg Hohentwiel die unbezähmbare Schwabenherzogin Hadwig<br />

Latein und verliebt sich in sie, vergeblich. Nach Scheffels Willen sollte der<br />

Roman als Satire auf die deutschnationale Sehnsucht nach Ursprungslegenden,<br />

nach beweiskräftigen Vorzeiten gelesen werden. Den Germanenfimmel<br />

seiner Epoche hatte er bereits in dem Lied „Als die Römer frech geworden“<br />

verulkt. Scheffel war der Schöpfer einer heiter-humanen Gegenwelt zum Wilhelminismus.<br />

Verse wie „Still liegen und einsam sich sonnen / ist auch eine<br />

schöne Kunst“ wurden schnell literarische Alltagsmünze.<br />

Der „Verpreußung“ seiner Heimat entfliehend, wich er in den Hegau aus, der<br />

zur Bühne seiner Selbstinszenierung als trinkfreudiger Wandersmann wurde.<br />

Ausgerechnet Anton von Werner, der die berühmte „Kaiserproklamation von<br />

Versailles“ gemalt hatte, zeichnete Scheffel 1882 vor dem Hohenkrähen:<br />

Wie er hinausblickt in die Aach-Ebene, einsam und knorrig-unverwechselbar<br />

wie ein Hegauberg. Kein anderer als er rettete die Pose des weltscheuen<br />

Wanderpoeten für die Moderne, sodass Nachgeborene wie Robert Walser<br />

oder Hermann Hesse sie wieder besetzen konnten.<br />

8


Den schroffsten Kontrast ringsum bietet der Hohenstoffeln. Märchenhaft<br />

undurchdringlich umgibt den Wanderer beim Aufstieg der Wald. Bis vor seinem<br />

Auge plötzlich zweihundert Meter hoch die nackte Basaltwand aufschießt,<br />

die zurückblieb, als der Berg 1939 unter Naturschutz kam. Ludwig<br />

Finckh hat das erreicht, der indes kein so gemütlicher Hegau-Schwärmer wie<br />

Scheffel war. In der Nähe der Bruchwand, an der man die mehreckige Säulenform<br />

des Basalts studieren kann, wurde ihm als „Retter des Hohenstoffeln“<br />

ein Gedenkstein errichtet. Auch der Hauptweg hier herauf ist nach Ludwig<br />

Finckh benannt, und nicht nur in der Region verehrt man ihn noch immer als<br />

„grünen Pionier“.<br />

Er war aber vor allem ein völkischer Ideologe. Seine Variante von „Heimatschutz“<br />

sah durchaus auch vor, die Bodensee-Halbinsel Höri, wo er lebte,<br />

„judenrein“ zu machen oder Behinderte „auszumerzen“. Durch ihn wurde die<br />

Ahnenforschung in Deutschland zeitweise zum Familiensport. Nur wenige<br />

scheinen ihm seine politischen Neigungen übelgenommen zu haben. Bis heute<br />

gilt Finckh vielen als schrullig-apolitischer Sonderling, dem die Weltgeschichte<br />

lebenslang schulfrei erteilt hatte.<br />

1919 erschien in der Frankfurter Zeitung sein Aufsatz „Schotter“, ein Angriff<br />

auf die „Basalter“, die schon im siebten Jahr den anmutigsten Hegauberg zu<br />

Straßenbelag zerklopften. Der Verfasser verglich sie mit Shylock, dem Geldverleiher<br />

und Juden, der „ein Pfund Fleisch aus dem Leib seines Schuldners<br />

gefordert“ hatte. Vom Steinbruchbesitzer dafür verklagt, wurde Finckh wegen<br />

9


Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt, die er aber nicht bezahlen konnte.<br />

Das Urteil erregte in ganz Deutschland Aufsehen. Von überallher liefen Spenden<br />

ein – die Strafe konnte beglichen werden. Was übrigblieb, wurde zum<br />

Startkapital der ersten deutschen Bürgerinitiative. Deren Mitglieder nannten<br />

sich „Stoffler“, ihr Schlachtruf lautete „Stofflio!“ Auf den Plakaten, mit denen<br />

sie agitierten, war der Hohenstoffeln mit einem Messer im Rücken abgebildet.<br />

Tausende reisten hin, um den stumm Leidenden aus der Nähe zu bedauern.<br />

<strong>Die</strong> Hegau-Romantik trat in ihre Kampfphase ein.<br />

Waren die „Stoffler“ im Kaiserreich noch eine Protestbewegung, so wurden<br />

sie in der Weimarer Republik ein Teil der Opposition von rechts. „Es ging um<br />

die deutsche Seele“, erklärte Finckh später: der Hohenstoffeln als Symbol<br />

eines wiederzuerlangenden Nationalbewusstseins. Dazu musste der Berg, so<br />

die Tageslosung, dem gierigen Liberalkapitalismus entrissen werden; Shylock<br />

grüßt vom Vorstandssessel. Wem sollte das gelingen, wenn nicht einem selbstlosen<br />

Alchimisten aus deutschen Märchenlanden namens Dr. Faust? Mit ihm<br />

identifizierte sich Finckh noch in seinem Buch „Der Goldmacher“ (1953), das<br />

lange als „Roman des deutschen Naturschutzes“ galt.<br />

Als 1935 das erste deutsche Naturschutzgesetz – auch lex Hohenstoffeln<br />

genannt – erging und der Berg vier Jahre danach endgültig unter Naturschutz<br />

gestellt wurde, erklärte Finckh beides zum Erfolg der Stoffler-Bewegung. <strong>Die</strong><br />

10


Nazis widersprachen nicht, da dieser vermeintliche Sieg ihren Staat als den<br />

„Volksstaat“ legitimierte, der er zu sein vorgab. Aber das war gelogen. Wie<br />

jüngere Aktenfunde belegen, hatte Finckh bei seinem Kampf einen mächtigen<br />

Helfer, hatte Faust gegen Shylock einen Mephisto an seiner Seite gehabt: den<br />

„Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler, ohne den er nicht durchgekommen<br />

wäre. Ihm schnitt Finckh den Hohenstoffeln mit nazistischem Passepartout so<br />

zurecht, dass eine „Volksburg“, ein „Reichsgrenzberg“ daraus wurde; der<br />

Stoffeln wurde zum „deutschen Berg“, was freilich „mehr als ein Berg“ war.<br />

Mit Himmlers Hilfe konnte er gerettet werden, wenn auch nicht um seiner<br />

schützenswerten Natur willen, sondern weil er „Ahnenerbe“ war.<br />

Beim Abstieg gewinnt der Wanderer wieder einen Blick ins Heiter-Offene. Es<br />

wird Zeit einzukehren in einem der Landgasthöfe auf eine Wurst- oder Rauchfleischvesper.<br />

Dazu ein Viertel vulkanstaubtrockenen Müller-Thurgau vom Elisabethenberg,<br />

dem Südhang des Hohentwiel. Und zum Nachtisch die fast im<br />

Rucksack vergessenen „Hegaufossilien“, die ein österreichischer Zuckerbäkker<br />

im Café Huber zu Engen aus Schokolade formt. Das essbare Souvenir<br />

passt gut zu der 9000-Seelen-Gemeinde Engen, in der fast nichts so eng<br />

gesehen wird, wie es sein mag. Ein fröhliches Städtchen mit augenzwinkerndem<br />

Traditionalismus, der sich gleichgern auf Fasnet und Barock beruft.<br />

Nüchtern und urban daneben das fünfmal so große Singen, Stadt des Aluminiums<br />

und der Suppengewürze „Maggi“, das vor zweihundert Jahren noch<br />

11


ein Dörfchen war. Heute ist Singen der Hauptort des Hegau, kunstsinnig und<br />

mit hervorragenden Museen, darunter das Heimatmuseum, in dem vielgestaltig<br />

das versteinerte Leben ausgestellt wird.<br />

Singen liegt am Fuß des Hohentwiel, des wuchtigsten und erschreckendsten<br />

aller Hegauberge. Klotzig wirft er seinen Schatten über das Aach-Tal. Tausend<br />

Jahre war er Festungsberg. Von seiner Uneinnehmbarkeit zeugen die<br />

Steilwände, die Abgründe unter den Holzbrücken, die zerborstenen Bastionen<br />

und Rondelle, die steinernen Portale, Türme, Mauern. 1521 wurde der<br />

Berg von den Württembergern gekauft. Schrittweise bauten die Stuttgarter<br />

Herzöge ihn zum exterritorialen Bollwerk ihrer Reformation aus.<br />

Doch so uneinnehmbar er war, so unentrinnbar war er auch. Der Räuberhauptmann<br />

Hannikel und seine Bande oder auch Schillers „Verbrecher aus<br />

verlorener Ehre“ büßten hier ihre Taten. Im Frühjahr 1800 ließ Napoleon den<br />

Hohentwiel sprengen. Hundert Mineure waren dazu nötig. Wochenlang<br />

krachte es über dem Hegau. Der riesige Wehrbau soll aus militärischen Gründen<br />

zerstört worden sein. Doch die Leidenschaft, mit der General Moreau<br />

den Befehl ausführte, lässt vermuten, dass die französische Revolutionsarmee<br />

auch ihre Freude daran hatte, eine schwäbische Bastille in die Luft zu jagen<br />

.<br />

Auskünfte und einen guten Überblick über den Hegau bietet die Arbeitsgemeinschaft<br />

Hegau, August-Ruf-Straße 13, 78224 Singen, Telefon<br />

077 31/852 62, Fax 077 31/852 63, E-Mail: info@hegau.net, Internet:<br />

www.hegau.de<br />

12


IMPRESSUM<br />

rot-graue blätter<br />

Heft Nr. <strong>069</strong><br />

Ausgabe im März 2007<br />

Ausgabe nur als PDF für das Internet<br />

SCHRIFTLEITUNG UND BEZUG<br />

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 29. März 2007; Adressen für Zuschriften an die <strong>Schriftleitung</strong>:<br />

Stephan Maria Sommer, Kreuzstraße 12, 85049 Ingolstadt; E-Mail: schriftleitung@gmx.de, www.schriftleitung.org.<br />

HERSTELLUNG<br />

Schriften gesetzt in 7-Punkt Futura (Impressum) sowie 12.5/15.5-Punkt Futura Book. Überschriften und Pagina gesetzt in 56-Punkt, Futura<br />

Book. Nicht berücksichtigt: Titelblatt. Heftumfang 15 Seiten inkl. Schmutztitel und zwei Seiten Umschlag.<br />

URHEBERRECHT<br />

<strong>Die</strong> Urheberrechte liegen bei den Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist grundsätzlich nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Urhebers<br />

zulässig. <strong>Die</strong>sbezügliche Anfragen sind an die <strong>Schriftleitung</strong> zu richten, die gern vermittelt. Ein Anspruch auf Erteilung einer Abdruckgenehmigung,<br />

auch Auszugsweise, besteht nicht. Ob Verstöße gegen das Urheberrecht gerichtlich verfolgt werden sollen, liegt im<br />

Ermessen der Urheber.<br />

Das vorliegende Heft ist kein Druckerzeugnis im Sinne des Pressegesetzes.<br />

Es wurde als Typoskript für den internen Gebrauch hergestellt.


Der Hohenhöwen erhebt sich über der Landschaft des Hegau, die einst Gegenstand<br />

von heftigen politischen Debatten war. Als einer der radikalsten Heimatideologen<br />

führte der völkische Dichter Ludwig Finckh einen mit Hass und Antisemtismus<br />

vergifteten Kampf um dieses Naturerbe.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!