26.06.2014 Aufrufe

rgb 033 - Die Schriftleitung

rgb 033 - Die Schriftleitung

rgb 033 - Die Schriftleitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ot-graue blätter<br />

internetschrift der<br />

pfadfinderschaft grauer reiter<br />

<strong>033</strong><br />

Auf der Fahrt zum Hohen Krähen landete ich<br />

bei der Fahrt durch Oberschwaben fast<br />

zufällig in Wilflingen. Dort lebte Ernst Jünger<br />

einen großen Teil seines Lebens. <strong>Die</strong>se Ausgabe<br />

der rot-grauen blätter soll uns den<br />

Schriftsteller ein wenig näher bringen . . .<br />

1


ot-graue blätter<br />

heft nummer dreiunddreißig


Inhalt<br />

Vorwort 5<br />

Kälteberüht – Ernst Jünger 6<br />

Lebensdaten 14<br />

Jüngers „In Stahlgewittern“ 16<br />

Werk und Leben Ernst Jüngers 18<br />

4


Vorwort<br />

Auf der Fahrt zum Hohen Krähen landete ich fast zufällig in Wilflingen.<br />

Klar, dass ich mir den ehemaligen Wohnort Ernst Jüngers etwas näher<br />

anschaute. Zum ersten Mal kam ich mit ihm in Kontakt, als mir jemand<br />

einen Artikel mit der Überschrift „In Stahlgewittern“ zuschickte. Ich war<br />

wie elektrifiziert von diesen zwei Worte und wollte mehr wissen . . .<br />

Ernst Jünger: ein sehr umstrittener Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Wandervogel,<br />

hoch dekorierter Soldat im Ersten Weltkrieg, Annäherung an linke<br />

und rechte Kreise des deutschen Nationalismus, 1927 lehnte er einen<br />

Sitz der NSDAP im Reichstag ab, als Hauptmann der Wehrmacht im<br />

besetzten Paris, da er Verbindungen zum Widerstand hatte, wurde er als<br />

wehrunwürdig aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Schließlich in den<br />

70er Jahren Drogenexperimente . . . <strong>Die</strong>ses Heft soll zur Klärung der Person<br />

Jünger beitragen!<br />

– die <strong>Schriftleitung</strong> –


Kälteberührt –<br />

Ernst Jünger<br />

Stadtwanderungen, III.Teil: Auf den Spuren eines großen Dandys,<br />

Essayisten und Ästheten des Augenblicks. Im oberschwäbischen Wilflingen<br />

lebte der deutsche Jahrhundertautor Ernst Jünger.<br />

Jetzt, wo er schon eine Weile tot ist, reden die Menschen in Wilflingen wieder<br />

sorgloser über ihn. Sie setzen sich sogar mit an den Tisch, wenn man<br />

sie im Gasthaus „Zum Löwen“ nach dem Schriftsteller fragt, der ein halbes<br />

Jahrhundert hier lebte: ein steinalter Mann zuletzt, mit silberweißem Haar,<br />

aufrechtem Gang und knallblauen Augen, der täglich durchs Dorf spazierte,<br />

am „Löwen“ vorbei, hinauf zum Friedhof und dann ab in den Wald,<br />

bevor er hier auch starb, im Februar 1998, ein paar Wochen vor seinem<br />

103. Geburtstag.<br />

Es ist zwölf Uhr mittags in der oberschwäbischen Provinz. <strong>Die</strong> Wirtin serviert<br />

mit Gemüse garnierte Kässpätzle. Das Radio spielt „Was ich dir<br />

sagen will“ von Udo Jürgens. Zur Tür herein kommen ein paar Leute aus<br />

dem Dorf, die am Stammtisch wie gewohnt zu Mittag essen, sie nicken<br />

freundlich rüber, löffeln Flädle-Suppe, schwätzen. Noch vor zehn Jahren<br />

sind Fremde hier ein wenig argwöhnisch beäugt worden: „I sag nix, ond<br />

die andere saget au nix.“ Damals, Jünger lebte noch, war kurz vorher ein<br />

Journalist da gewesen, der sich für 30 Mark ein Zimmer genommen, sich<br />

zu ihnen gesetzt und sie ausgehorcht hatte. Dann hatte er sich über das<br />

„Dumpfdeutsche“ ihrer „bösen roten Kelten- und Bauerngesichter“ ereifert.<br />

Fassungslos waren die Wilflinger mit der Schmähung aus der Zeitschrift<br />

Tempo zum Landrat gezogen, der ihnen nahe legte, der Presse in Zukunft<br />

überhaupt nichts mehr zu sagen. Also hatte man eine Weile lang geschwiegen<br />

und den Journalisten irgendwann wieder vergessen. Heute hat man<br />

insgesamt das Blättchen Tempo vergessen, nicht aber Ernst Jünger.<br />

Wilflingen hat 350 Einwohner, ein Fleck Erde zwischen Donautal und<br />

6


Schwäbischer Alb, ein paar hingewürfelte Häuser mit viel Wald drumherum.<br />

Tatsächlich noch ein Dorf wie gemalt, in Asterix-Dimensionen. Ein Ort<br />

aber ohne Aussicht auf Ruhe, seit 1950 der Autor des Kriegstagebuchs „In<br />

Stahlgewittern“ ins Stauffenbergsche Forsthaus gezogen war. Mit ihm<br />

kamen Scheinwerfer. Mit ihm brach die Welt ein ins Dorf. Und seinetwegen<br />

musste ausgerechnet Wilflingen als Indikator herhalten für das, was<br />

deutsche Befindlichkeit genannt wurde. Auf dem alten Bolzplatz landeten<br />

mitunter Hubschrauber, aus denen Helmut Kohl, Roman Herzog, Francois<br />

Mitterand oder Felipe Gonzales aus- und in die sie nach ein paar Stunden<br />

wieder einstiegen. Luis Borges fand den Weg hierher, Alberto Moravia,<br />

Heiner Müller.<br />

Für die einen, die Kritiker, wurde das Nest so zum wunden Punkt auf der<br />

Landkarte. Allerdings hielt sie das nicht davon ab, trotzdem zu kommen,<br />

womit sie Jünger nur bestätigten, was er war: eine der aufreibendsten, also<br />

buchstäblich aufregendsten Figuren des 20. Jahrhunderts.<br />

7


Für die anderen, die ihn ohnehin und geradezu glühend verehrten, war<br />

Wilflingen von nun an ein Pilgerort. „Kommen auch mal normale Leute?“,<br />

soll Jüngers erste Frau Gretha ihren Mann gefragt haben, als plötzlich wieder<br />

jemand draußen in der Dämmerung im Garten stand. Literatur bringt<br />

zuweilen Schattengewächse hervor – und nicht selten standen vor Jüngers<br />

Haus auch Kriegsveteranen.<br />

Es gibt in der Provinz Orte, die wie frisch geklebte Modelldörfer aussehen,<br />

in denen der Modellbauer neben Kirche, Schloss, Friedhof und Häusern<br />

am Ende aus Versehen jene Menschen vergessen hat, die er als Figurinen<br />

da eigentlich noch hatte hineinmontieren wollen: Wilflingen. An einem normalen<br />

Freitagvormittag läuft hier niemand herum. Alles ist gefegt, keiner ist<br />

da. Wenn in so einen Ort ein weltläufiger Schriftsteller zieht, einer, der lange<br />

in Berlin und Paris gelebt hat und dort das Bild eines Großstadtdandys<br />

abgab, ist schnell von Weltflucht die Rede. Da zieht sich jemand zurück,<br />

da läuft jemand weg. Es war aber keine Weltflucht, die Jünger hierher führte.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog er, den die Alliierten mit<br />

Berufsverbot belegt hatten, von Kirchhorst zunächst nach Ravensburg in die<br />

Nähe seines Bruders Friedrich Georg, der in Überlingen wohnte. Auch da<br />

billigte die Stadt ihm kein Arbeitszimmer. Auf Vermittlung einer Leserin,<br />

einer Ärztin, bot Baron Franz Schenk von Stauffenberg dem Schriftsteller<br />

daraufhin an, in sein Wilflinger Jagdschloss zu ziehen. Stauffenberg war<br />

ein entfernter Verwandter des Hitler-Attentäters. Das Schloss war 1944 von<br />

der Gestapo besetzt und für kurze Zeit als Gefängnis für Mitglieder der<br />

französischen Vichy Regierung benutzt worden. Als der Baron starb, zog<br />

der Sohn ein - und die Jüngers bezogen nebenan die Försterei.<br />

Warum Jünger blieb? Ihm gefiel die Landschaft, der Menschenschlag. Vielleicht<br />

war er auch der vielen Umzüge müde. „Da es mir nicht an Zeitgenossen<br />

fehlt, die mir gern etwas anhängen“, meinte er, „musste ich mich<br />

auch einmal fragen lassen, ob es nicht absurd sei, Ehrenbürger eines Dorfes<br />

zu sein. Darauf konnte ich antworten, dass ich ein Dorf einer Großstadt<br />

schon deshalb vorziehe, weil mich hier jedermann kennt.“ Und die Wilflinger<br />

liebten ihn zweifellos. „Der Jünger“, schwärmt die Wirtin im ¸¸Löwen“,<br />

als sie den Kaffee bringt, „der war ein Mensch wie jeder andere und wollte<br />

das auch sein. Der war einer von uns.“ Stammgast sei er gewesen,<br />

immer zur Schlachtplatte gekommen. Als eine von drei Töchtern des Gastwirts<br />

sei sie selbst „sozusagen immer dabei“ gewesen, in Wilflingen geboren<br />

und acht Jahre hier zur Schule gegangen. ¸¸Das war, als es die Schule<br />

noch gab. Inzwischen hat ja alles zugemacht, die Schule, die Schmiede<br />

und der Tante-Emma-Laden schräg gegenüber.“<br />

8


Manchmal blieben die Fenster in der Stauffenbergstraße 11 über viele<br />

Wochen dunkel. Jüngers gingen auf Reisen. Ägypten, Ostasien, Korsika,<br />

Angola, Marokko, Tunesien, Ceylon, Türkei, Griechenland, Südfrankreich,<br />

Liberia, Portugal . . . <strong>Die</strong> „Siebzig verweht“-Tagebücher dokumentieren<br />

das. Möglicherweise war es das, was ihn in Wilflingen hielt: Weggehen<br />

und Wiederkommen, Sich-ins-Fremde-Begeben und dann wieder das<br />

Davon-Abstand-Nehmen, im Dorf. Es ist die Bewegung seines Lebens<br />

gewesen. <strong>Die</strong> Voraussetzung seiner „Ästhetik der Distanz“. Das, was man<br />

schon in den „Stahlgewittern“ findet: Todesmutig steht der Soldat in der<br />

Schlacht, einer, der sich als Inbegriff einer „heroischen Individualität“ sieht,<br />

der sich aussetzt und trotzt. Dann liegt er am oberen Rand eines Granattrichters<br />

und blickt als souveräner Beobachter auf das grausame Gemetzel<br />

herunter, als sei das alles nichts als ein Naturgeschehen.<br />

Der Kältetechniker Jünger fror das Fließende ein und hielt es gegen das<br />

Licht. Ein Jahrhundert lang.<br />

Man hat ihm von moralischer Seite diesen kühlen Blick, der Menschen wie<br />

Käfer ins Auge fasste, vorgeworfen. Doch ist es diese Kälte, die seine<br />

Schriften so anziehend und abstoßend zugleich macht: „Gerade weil Jünger<br />

ungerührt (nicht unberührt) hinsehen konnte und hinsah, fielen ihm<br />

Zusammenhänge und Konvergenzen auf, die den übereifrigen Humanisten<br />

nie eingefallen wären“, hat Joachim Kaiser 1970 geschrieben. <strong>Die</strong> „subtilen<br />

Jagden“, wie er sein Käferbuch genannt hat, waren das Programm des<br />

Lebens. Jünger sammelte Käfer und Schmetterlinge, aber eben auch Augenblicke,<br />

die er am Schreibtisch dann säuberlich präparierte.<br />

Da steht man nun also in seinem Wilflinger Haus vor dem Käfer-Universum.<br />

Einer riesigen, bunt schillernden Nekropole in Schubladen. Irrsinnig schöne<br />

Exemplare, aufgespießt unter Glas. „Durch ihn bin ich zu einer Käferfrau<br />

geworden, durch ihn habe ich, wenn Sie so wollen, sehen gelernt“, sagt<br />

Monika Miller, als sie die Laden im Schrank oben neben der Treppe öffnet.<br />

<strong>Die</strong> Frau mit dem eingeflochtenen blonden Zopf war jahrelang Haushälterin<br />

bei Jüngers und ist heute Kustodin der ¸¸Gedenkstätte Ernst und Friedrich<br />

Georg Jünger“, den Museums-Wohnräumen. „Wenn ich früher in den<br />

Urlaub fuhr“, erzählt sie, „musste ich auch immer Käfer sammeln. Er hat<br />

mir dafür ein Fläschchen mit Essigäther hergerichtet. Und er hat mir auch<br />

Bücher zu lesen gegeben, über die wir dann gesprochen haben. Maupassant<br />

und Hugo. Das habe ich ja alles nicht gekannt.“<br />

Wie sie zu den Jüngers gekommen ist? „Ich habe ihn mal in Langenenslingen,<br />

wo er immer zu Fuß zur Post hinging, auf der Straße angesprochen<br />

10


und gefragt, ob er mir ein Buch signieren würde. Und da hat er mich<br />

gefragt, ob ich nicht jemanden wüsste, der bei ihm im Haus helfen könnte.“<br />

Da habe sie sich dann mal selbst vorgeschlagen. Glücklicherweise willigte<br />

auch Liselotte Jünger, seine zweite Frau, ein. Nein, die sei nicht da.<br />

Sie lebe heute am Bodensee.<br />

Sehr geradeheraus („Ich bin eine konservative Frau“, und auch ein bisschen<br />

streng führt sie durch die Räume, in denen alles so belassen ist, als<br />

seien die Jüngers nur kurz mal unterwegs. Am Schreibtisch, der von der<br />

einen Ecke her der Schriftstellerei, von der anderen Ecke her der Käfer-Forschung<br />

diente, liegen die Arbeitsutensilien. Im Regal stehen die Sanduhren.<br />

Man findet den Stahlhelm mit Einschussloch, Fotos von Weggefährten und<br />

überall Bücher. Es ist das Kabinett eines Sammlers, unendlich vollgestopft.<br />

„Tja, und Hebe lebt ja auch noch!“<br />

Hebe ist die Schildkröte, die Jünger nach der Zeus-Tochter, der Göttin der<br />

Jugend, benannt hat. Sie war ein Geschenk des Fotografen Stefan Moses.<br />

Gerade hat sie ihren Winterschlaf im Keller beendet. Frau Miller zeigt Aufnahmen,<br />

auf denen der Schriftsteller mit seinem urtümlichen Lieblingsreptil<br />

im Garten zu sehen ist: „<strong>Die</strong> wird bestimmt 200 Jahre alt“, soll der damals<br />

102-Jährige gesagt haben, während er das Tier am kleinen Kopf killerte.<br />

Wie seine Jugendgöttin, hatte auch er sich früh einen Schild zugelegt. Und<br />

während man mit Blick auf Garten, Felder und Wald am Fenster steht,<br />

kommt es einem vor, als sei das Dorf Wilflingen für ihn eine zweite Panzerung<br />

gewesen, unter der er sich, im Naturrhythmus, gerne in den Winterschlaf<br />

begeben hätte, um im Frühjahr wieder herauszukriechen: „Am Morgen<br />

ist der Garten silbern, mittags golden, am Abend fällt Nebel ein. Jetzt<br />

sollte der Winterschlaf beginnen; man müsste einschneien“, schreibt er in<br />

„Siebzig verweht“.<br />

Ernst Jünger floh die Welt nicht. Das passte nicht zu ihm. Er suchte sie, er<br />

setzte sich ihr aus, aber eben nur wann und wo er wollte. Was er aber tat,<br />

war: sich abschotten. Vor allem gegen alles Tagespolitische. Dafür waren<br />

die Einsamkeit und Abgeschiedenheit des oberschwäbischen Nests perfekt.<br />

Immer menschenerdenferner wurden seine Schriften in Wilflingen. Überhaupt<br />

war der Mensch als solcher nun nicht unbedingt seine Sache. Noch<br />

in den „Strahlungen“, den Notizen aus dem Zweiten Weltkrieg in der Militärverwaltung<br />

im Pariser Hotel Majestic, kam er nicht umhin, aktuelle Entwicklungen<br />

zumindest in Andeutungen aufzunehmen. In den Wilflinger<br />

Tagebüchern dann reichen ihm ein paar bloße Bemerkungen zu den Studentenunruhen,<br />

zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl oder zum Regierungswechsel.<br />

11


Er informierte sich („Morgens überflog Jünger die FAZ“, wird stets überliefert),<br />

aber das täglich Politische interessierte ihn nicht. Was ihn umtrieb,<br />

waren geschichtliche Traumbilder, die die Regel des Weltlaufs zum mythischen<br />

Sinnspruch verkürzen. „<strong>Die</strong> Politik jeglicher Färbung ist mir seit langem<br />

zuwider, und ich marschiere hinter keiner Fahne mehr her“, liest man<br />

in „Siebzig verweht“. „Auch ist die Erdrevolution mit politischen Mitteln<br />

nicht zu bewältigen. Sie dienen höchstens zur Garnierung des Vulkanrandes,<br />

falls sie nicht die Entwicklung sogar vorantreiben.“ Das sind Wilflingen-Worte.<br />

Und wohl auch die Worte eines alten Mannes. Der politische<br />

Publizist in Berlin oder der Soldat in Paris hätte sie so bestimmt nicht<br />

geschrieben.<br />

Vielleicht wird man unterm Panzer unbeugsam. Der Starrsinn, mit dem er<br />

seine frühen Schriften bis zuletzt verteidigte, das blieb das Verstörende an<br />

Jünger. Von umstrittenen Büchern wie „Der Arbeiter“ hat er sich nie distanziert.<br />

Lieber hat er noch daran herumgebastelt – mit „ameisenhaftem Trieb,<br />

am beschriebenen und bedruckten Papier herumzuminieren“, wie er es<br />

nannte.<br />

Auch die ¸¸Totale Mobilmachung" von 1930, die nach der Niederlage des<br />

Ersten den Zweiten Weltkrieg herbeisehnte, dieser agitatorische Irrsinn,<br />

war ihm bis zuletzt teuer. Warum er diesen Text in die Klett-Cotta-Gesamtausgabe<br />

aufnehme, hat Alfred Andersch, der ein Jünger-Fan war, gefragt.<br />

„Andersch“, sagte ihm Jünger, „das ist einer der wichtigsten Essays, die ich<br />

überhaupt geschrieben habe.“<br />

Golo Mann hat in dieser Unbeugsamkeit Größe gesehen: „Starke und produktive<br />

Identitäten“, meinte er – und natürlich auch mit Blick auch auf die<br />

„Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Vaters Thomas –, „können<br />

nichts zurücknehmen, und wenig Sinn hätte es, zu fragen, ob es schön<br />

wäre, wenn sie es könnten. Was in ihrem Leben einmal war, das kann<br />

nicht ausgestrichen, nicht als Irrtum wiederrufen werden. Da gibt es keine<br />

Verwandlung, so, dass heute wäre, was gestern nicht war oder umgekehrt.<br />

Alles muss zu seiner Zeit gültig gewesen sein.“ Möglicherweise gab es da<br />

aber gar nicht viel zurückzunehmen. Der antiliberale Hochmut, der aus Jüngers<br />

frühen Schriften spricht, der elitäre Gestus, der ihn von den Nazis<br />

fernhielt und zugleich so elitär war, dass er sich nicht mal Eliten zuordnen<br />

ließ, diese Haltung: er hat sie bis zuletzt nicht abgelegt.<br />

So lief auch der Wilflinger Landmann noch als Dandy durch den Wald.<br />

Jeden Tag. Mit dichtweißem Haar, sonderbar junger Haut, bis zuletzt mit<br />

kühlen, sezierenden Augen. Dass man ihn hier nicht trifft, an diesem Tag in<br />

12


Wilflingen, im Jahr 2005, das kommt einem fast sonderbar vor. Einem wie<br />

Ernst Jünger traut man zu, dass er, unterm Panzer, sich nur mal hat einschneien<br />

lassen. Dass er da wieder rauskommt. Und dann doch noch zweihundert<br />

Jahre alt wird.<br />

Das Gesamtwerk von Ernst Jünger ist bei Klett-Cotta erschienen.<br />

13


LEBENSDATEN<br />

Ernst Jünger, geboren am 29.3.1895 in Heidelberg. 1907:<br />

Übersiedlung der Familie nach Rehburg/Hannover. 1911: im<br />

Wandervogel. 3. November 1913: Flucht in die Fremdenlegion<br />

(am 4. Dezember vom Vater heimgeholt). August 1914: Notabitur;<br />

Kriegsfreiwilliger im Füsilierregiment 73, Hannover; Dezember<br />

1914 bis August 1918: an der Front, Leutnant und Stoßtruppführer;<br />

sieben Verwundungen. 1918 Verleihung des Pour le<br />

Mérite. 1920: Begegnungen mit Schwitters und Klabund in Hannover;<br />

erste Buchveröffentlichung (In Stahlgewittern). 1919-<br />

1923: <strong>Die</strong>nst in der Reichswehr. 1923-1924: Studium der Zoologie<br />

in Leipzig und in Neapel. 1925: Heirat mit Gretha von<br />

Jeinsen in Leipzig. 1926: Geburt des Sohnes Ernst (gefallen in<br />

Carrara am 29. November 1943). 1925-1930: Mitarbeit bei<br />

Zeitschriften der nationalistischen Rechten und der Konservativen<br />

Revolution«. Lebt bis 1933 in Berlin-Steglitz; Umgang mit Vertretern<br />

des rechten und linken Nationalismus, u.a. mit Ernst Niekisch,<br />

Franz Schauwecker, Friedrich Hielscher, Ernst von Salomon,<br />

Otto Strasser, auch Josef Goebbels; mit Bertolt Brecht,<br />

Arnolt Bronnen und Erich Mühsam; mit Carl Schmitt und mit<br />

Valeriu Marcu. 1927 lehnt er einen Reichstagssitz der NSDAP<br />

und 1933 die Wahl in die nazifizierte Deutsche Akademie ab.<br />

Lebt von 1933 bis 1939 in Goslar und Überlingen und danach<br />

in Kirchhorst bei Hannover. 1934 Geburt des Sohnes Alexander.<br />

August 1939: als Hauptmann reaktiviert. Winter 1939/40: am<br />

»Westwall«. Mai - Juli 1940: Frankreichfeldzug. Juni 1941:<br />

beim Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich; gehört zum<br />

Kreise des Obersten Hans Speidel. Oktober 1942 - Januar<br />

1943: Inspektionsreise an die russische Front (Kaukasus). Bis<br />

August 1944 in Paris; befreundet mit französischen Schriftstellern:<br />

Cocteau, Léautaud, Paulhan; Umgang mit der Haute-Collaboration:<br />

Paul Morand und dessen Gattin Hélène, Benoist-<br />

Méchin, Bonnard; Bekanntschaft mit Braque, Picasso, Madame<br />

Banine. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, obwohl nicht<br />

unmittelbar beteiligt, im September als wehrunwürdig entlassen.<br />

1945-1949: Publikationsverbot in Deutschland (weigerte sich,<br />

den „Fragebogen“ der Alliierten auszufüllen). 1948-1950 in<br />

Ravensburg. Im Mai 1950 erste Frankreichreise nach dem Krieg:<br />

Paris und Antibes. Verbindung zu Heidegger. Experimen-<br />

14


tiert mit Meskalin, nachher auch mit Psyllocybin und LSD (vgl.<br />

„Annäherungen. Drogen und Rausch“). Seit Juli 1950 lebt er in<br />

Wilflingen/Schwäbische Alb. 1960: Gretha Jünger in Wilflingen<br />

gestorben. 1962: Heirat mit Liselotte Lohrer, geb. Bäuerle.<br />

Zahlreiche nationale und internationale Preise, Auszeichnungen<br />

und Ehrungen.<br />

Nachdem Jümger mit zwei weiteren Bänden seines Tagebuchs<br />

»Siebzig verweht« (1993-95) hervorgetreten war, gab die Feier<br />

seines 100. Geburtstages erneut Anlaß für zum Teil heftige Auseinandersetzungen<br />

um Jüngers Rolle während der Weimarer<br />

Republik und seine Haltung zum nationalsozialistischen Regime.<br />

Ernst Jünger starb 1998 im Alter von fast 103 Jahren.<br />

15


Jüngers „In<br />

Stahlgewittern“<br />

Das Kriegstagebuch von Ernst Jünger erschien 1920. Das Werk, die erste<br />

Buchpublikation des Autors, gehört neben „Das Wäldchen 125“ (1925),<br />

„Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922), „Sturm“ (1923), „Feuer und Blut“<br />

(1925) und „Das Abenteuerliche Herz“ (1929) zu den vom Ersten Weltkrieg<br />

berichtenden Schriften Jüngers. Doch im Gegensatz zu dem mehr<br />

reflektierenden und systematisch abgefaßten Werk „Der Kampf als inneres<br />

Erlebnis“ ist „In Stahlgewittern“ ein ohne übergreifende Gedankengänge<br />

den Fronterlebnissen des Autors vom Januar 1915 bis zum August 1918<br />

folgendes Tagebuch, das – obwohl noch im Krieg umgeschrieben – sehr<br />

stark die Unmittelbarkeit und Einfachheit eines Diariums bewahrt. „In einem<br />

Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung<br />

von Rosen und Blut“;, voller „Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen“, sagt<br />

Jünger zu Beginn des Buchs. Gleich der erste Tag korrigiert seine romantischen<br />

Vorstellungen und zeigt ihm das wahre Bild des Kriegs: Eine Granate<br />

schlägt in ein Dorf; der Kriegsfreiwillige sieht die ersten Toten und Verwundeten.<br />

Nach und nach lernt er den Krieg an der Westfront in allen seinen<br />

Formen kennen: den Grabenkrieg in den Kreidefeldern der Champagne,<br />

die Materialschlachten an der Somme, den Gaskrieg, die große Doppelschlacht<br />

bei Cambrai, die Stoßtruppunternehmen in Flandern und die letzte<br />

große Offensive an der Westfront im März 1918. Den Beschluß seiner Aufzeichnungen<br />

bildet die Schilderung der letzten Schlacht, von der er mit<br />

einer schweren Verwundung zurückkam; im Lazarett in Hannover erreicht<br />

ihn - nachdem er bereits mit dem EK 1 ausgezeichnet worden ist – die<br />

Nachricht, daß „Seine Majestät, der Kaiser“ ihm den Orden Pour le mérite<br />

verliehen hat.<br />

<strong>Die</strong>ser Schluß ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für das Tagebuch<br />

bzw. den Autor: <strong>Die</strong> gesamte Darstellung ist überaus ichbezogen, von einer<br />

bisweilen landsknechthaften Gleichgültigkeit gegenüber der moralischen<br />

Problematik des Tötens und nicht frei von Eitelkeit; mit einem beinah jun-<br />

16


genhaften Stolz auf seine – in der Tat hervorragende – Tapferkeit stellt Jünger<br />

am Ende fest: „In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne<br />

Menschen unter Feuer wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf<br />

von diesen Geschossen auf mich persönlich abgegeben wurden.“ Es finden<br />

sich in dem Buch kaum Reflexionen über politische Hintergründe, über Sinn<br />

oder Berechtigung des Kriegs, der wie eine Naturerscheinung hingenommen<br />

wird - worauf auch schon die im Titel enthaltene, den Kampf als Naturereignis<br />

mythisierende Metapher verweist; nur ein einziges Mal heißt es<br />

kurz: „Der Krieg warf seine tieferen Rätsel auf.“ Wichtiger ist dem Autor die<br />

Beobachtung der neuen Kampfformen, der Materialschlacht und der „planmäßigen<br />

mechanischen Schlacht“, sowie vor allem der menschlichen Reaktionen<br />

darauf. Er bemerkt, daß die Soldaten, betäubt vom Schlachtendonner<br />

und der „turmhohen, flammenden Feuerwand“ der Materialschlacht,<br />

nicht mehr „bei klarem Verstand“, die Gehirne oft in „rote Nebel“, in „Blutdurst,<br />

Wut und Trunkenheit“ getaucht waren und die Schritte der Kämpfer<br />

von dem „übermächtigen Wunsch zu töten“ beflügelt wurden. Wie im Krieg<br />

insgesamt etwas Elementares aufsteigt, so scheint dem Verfasser auch der<br />

einzelne beherrscht von einer irrtümlichen Kampfes- und Zerstörungslust.<br />

Das Buch spiegelt manches von der Monotonie wieder, die der Krieg für<br />

den erfahrenen und abgebrühten Soldaten annimmt: Der Stil ist einfach,<br />

knapp, völlig nüchtern und bisweilen von einer kaum mehr nachvollziehbaren<br />

Trockenheit und Gleichgültigkeit des Tons, trotz der unzähligen schweren<br />

Verwundungen und qualvollen Todeskämpfe, die Jünger um sich herum<br />

wahrnahm und von denen er – weder Zustimmung noch Abscheu äußernd -<br />

berichtet.<br />

Der Text, der fünf Überarbeitungen erfuhr, begründete den Ruhm Jüngers in<br />

den zwanziger Jahren, polarisierte aber zugleich das Urteil der Zeitgenossen<br />

wie der Kritik über den Autor. Während Alfred Andersch, einer der<br />

vehementesten Jünger-Verteidiger nach 1945, den Schriftsteller mit seinem<br />

Frühwerk in die Nähe des Surrealismus rückt und Karl Heinz Bohrer, in seiner<br />

umfangreichen Studie in der Jüngerschen „Paradoxie von archaischer<br />

Rückwendung und schärfster Bewußtheit des epochalen Augenblicks“ die<br />

Kategorie der Plötzlichkeit, des Schocks als beherrschendes Moment moderner<br />

Wahrnehmung gestaltet sieht, weshalb die Kriegsbücher nicht mehr<br />

bloß als „literarisch brillante Dokument eines im übrigen präfaschistischen<br />

Nationalismus“ zu lesen seien, blieb, neben dem allgemeinen Desinteresse<br />

an dem Kriegsbuchautor Jünger nach 1945, der Eindruck elitärer Attitüde<br />

und Simplifizierung des Geschehens („Im Verlauf des Krieges“ ist dem Autor<br />

„immer klarer geworden, daß aller Erfolg der Tat des einzelnen entspringt,<br />

während die Masse der Mitläufer nur Stoß- und Feuerkraft darstellt“) bestimmend.<br />

(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)<br />

17


Werk und Leben<br />

Ernst Jüngers<br />

Ernst Jünger wurde am 29. März 1895 als Sohn des Chemikers Dr. phil.<br />

Ernst Georg Jünger und dessen Frau Karoline (geborene Lampl) in Heidelberg,<br />

als ältestes von sieben Kindern geboren. Schon frühzeitig, im Knaben-<br />

und Schüleralter interessiert sich Jünger für Literatur und versucht mit<br />

ihrer Hilfe dem normalen Leben und der ihn umgebenden banalen Welt zu<br />

entfliehen, indem er während des Unterrichtes unter seiner Schulbank<br />

Abenteuerromane lass. Weitere Vorlieben für Wanderung und Natur zeigten<br />

sich mit dem Eintritt in die Wandervogelbewegung, in der er gemeinsam<br />

mit seinem Bruder Friedrich Georg 1911 Mitglied wird. Aufgrund<br />

eines Buches(Stanley, H. – Im dunkelsten Afrika), dass er von seiner Großmutter<br />

geschenkt bekam, erwächst in ihm der Entschluss, seinem Elternhaus<br />

zu entfliehen und seine eigenen, romantischen Pläne zu verwirklichen.<br />

Im November 1913 sieht Jünger seine Chance und lässt sich von<br />

der französischen Fremdenlegion anwerben, die ihn von Marseille nach<br />

Schwarzafrika brachte. 1936 – also 23 Jahre später – veröffentlichte Jünger<br />

das Buch „Afrikanische Spiele“, worin er diese Ausbruchserfahrungen<br />

literarisch verarbeitet hat.<br />

Es beginnt mit den Zeilen: „Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie<br />

gleich einem Fieber, dessen Keime von weither getrieben werden,<br />

von unserem Leben Besitz ergreift und sich immer tiefer und glühender in<br />

ihm einnistet. Endlich erscheint nur die Einbildung uns noch als das Wirkliche,<br />

und das Alltägliche als ein Traum, in dem wir uns mit Unlust bewegen<br />

wie ein Schauspieler, den seine Rolle verwirrt. Dann ist der Augenblick<br />

gekommen, in dem der wachsende Überdruss den Verstand in Anspruch<br />

nimmt und ihn die Aufgabe stellt, sich nach einem Auswege umzusehen.“<br />

Ende 1913 erreicht Ernst Georg Jünger auf diplomatischen Weg die Entlassung<br />

seines Sohnes aus der Fremdenlegion. <strong>Die</strong> Intensität des Lebens<br />

seines Sohnes sollte sich fortan aber nicht verringern. Bereits einige Mona-<br />

18


te später, am 1. August 1914, meldete sich Ernst Jünger zusammen mit<br />

seinem drei Jahre jüngeren Bruder Friedrich Georg als Kriegsfreiwilliger<br />

des Ersten Weltkrieges.<br />

„Während wir auf dem von Sonnenstrahlen erwärmten Dache saßen und<br />

plauderten, fuhr unten, wie gewöhnlich um diese Stunde, der Landbriefträger<br />

mit seinem Rade vorbei. Ohne abzusteigen, rief er uns die beiden<br />

Worte „Mobilmachung befohlen!“ zu, die wohl schon seit Stunden der<br />

Telegraph unaufhörlich über Stadt und Land verbreitete. Der Dachdecker<br />

hatte gerade seinen Hammer erhoben, um einen Schlag zu tun. Nun hielt<br />

er mitten in der Bewegung inne und legte ihn ganz sacht wieder hin. In<br />

diesem Augeblick trat ein anderer Kalender bei ihm in Gültigkeit. Er war<br />

ein gedienter Mann, der sich schon in den nächsten Tagen bei seinem<br />

Regiment zu stellen hatte. Meier war Ersatzreservist, auch ihm stand nun<br />

die Einberufung bevor. Ich fasste wie Hunderttausende in dieser Stunde<br />

den Entschluss, mich als Kriegsfreiwilliger zu beteiligen. So war mit einem<br />

Schlage wie überall in Deutschland, wo Männer zusammen waren, aus<br />

unserer kleinen friedlichen Gemeinschaft eine militärische geworden. Wir<br />

packten das Gerät und beschlossen, unten im Dorfe einen Trunk zu tun.<br />

Vor dem Rathause sahen wir, dass der Mobilmachungsbefehl bereits angeschlagen<br />

war. Im Kruge war keine besondere Aufregung zu bemerken –<br />

dem niedersächsischen Bauern ist die Begeisterung fremd, die zähe Erdkraft<br />

ist sein eigentliches Element. Erst spät gingen wir wieder nach Hause<br />

und sangen auf der einsamen Landstraße das schöne Lied: „Auf, auf<br />

Kameraden von der Infanterie, es gilt für unser Leben!“<br />

Wenige Tage später gelang es Jünger, beim Füselier Regiment 73 anzukommen,<br />

wo man ihn für kriegstauglich befand. Aufgrund des Kriegsbeginns<br />

absolviert Jünger das Notabitur. Nach 5 Tagen mündlicher und<br />

schriftlicher Prüfung besteht Jünger das Abitur. Am 6. Oktober erhielt Jünger<br />

seinen Einberufungsbefehl und kam zur Truppe.<br />

„Ich lernte schießen und marschieren und machte auch Bekanntschaft mit<br />

der preußischen Disziplin, an deren Ecken und Kanten ich mich zunächst<br />

heftig stieß und der ich doch mehr zu verdanken habe als allen Schulmeistern<br />

und Büchern der Welt. Am 27. Dezember wurden wir plötzlich alarmiert;<br />

die Front wartete auf uns. Schwer bepackt und doch fröhlich, wie<br />

an einem Feiertage, marschierten wir zum Bahnhof ab. In meiner Rocktasche<br />

hatte ich ein schmales Büchlein verwahrt; es war für meine täglichen<br />

Aufzeichnungen bestimmt. Ich wusste, dass die Dinge, die uns erwarteten,<br />

unwiederbringlich waren, und ich ging mit höchster Neugier auf sie<br />

zu . . . Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und<br />

19


waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten<br />

Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der<br />

Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach<br />

der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In<br />

einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen<br />

Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg musste es uns ja bringen, das<br />

Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches<br />

Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen.“<br />

Am Tag der ersten Flandernschlacht bewahrt Ernst Jünger seinen jüngeren<br />

Bruder vor feindlicher Gefangenschaft, indem er den Schwerverwundeten<br />

in einer lebensgefährlichen Aktion zurück ins eigene Lager bringt. Im<br />

August 1918 sorgte eine schwere Verletzung – die Dutzendste für den<br />

Infanterieleutnant – dafür, dass der Krieg für Ernst Jünger selbst beendet<br />

war. Vier Wochen später verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. den Pour le mérite,<br />

den höchsten preußischen Militärorden. <strong>Die</strong>ser war für Jünger die vierte<br />

Auszeichnung im Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg blieb Jünger in der<br />

Reichswehr.<br />

Während seines gesamten Frontdienstes führte Jünger kleine Notizbüchlein<br />

bei sich, in die er seine Erlebnisse unvermittelt eintrug. Sein Vater regte deren<br />

Veröffentlichung an. <strong>Die</strong> erste Auflage von „In Stahlgewittern“, die heute eine<br />

antiquarische Kostbarkeit ist, veröffentlichte er 1920 im Eigenverlag, der den<br />

Namen des Gärtners der Familie Jünger trug. Auch erscheint der von ihm<br />

verfasste Artikel Revolution und Idee im Völkischen Beobachter.<br />

Nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr, studiert Jünger Zoologie<br />

und Philosophie in Leipzig und Neapel, schließt das Studium aber nicht<br />

ab. Der Philosophieprofessor Felix Krüger versucht vergeblich, Ernst Jünger<br />

zur akademischen Laufbahn zu bewegen. Am 3. August 1925 ehelicht<br />

Jünger in Hannover die neunzehnjährige Lindy Toni Margarete Anni von<br />

Jeinsen, genannt Gretha. Zwei Jahre später zieht Gretha zu ihm nach Leipzig,<br />

und am 1. Mai 1926 wird ihnen der erste Sohn mit dem Namen Ernst<br />

geboren. Für Jünger, der nun eine kleine Familie zu ernähren hat, beginnt<br />

nunmehr endgültig die unsichere Existenz eines freien Schriftstellers. Doch<br />

Jüngers Hochzeit mit Gretha war keineswegs ein Schritt zu einem ruhigeren<br />

und bürgerlichen Dasein. Im Gegenteil: Es hat den Anschein, als fühlte<br />

er sich jetzt erst recht frei genug um sich in den bewegtesten Abschnitt seines<br />

Lebens hinein zu wagen.<br />

1926 beginnt Jünger seinen Werdegang als freier Schriftsteller. <strong>Die</strong>ses<br />

Jahr ist auch der Schwerpunkt seiner nationalistischen Veröffentlichungen.<br />

Er knüpft Kontakte mit nationalrevolutionären Gruppierungen und Zeitschriften,<br />

wie zum Beispiel mit dem in Berlin erscheinenden Stahlhelm,<br />

21


dem Organ des gleichnamigen Frontkämpferbundes, einem Sammelbekken<br />

von Modernitätsgegnern, erbitterten Antidemokraten und abgehalfterten<br />

Militärs. In jenen nationalrevolutionären Kreisen hatte man es zum Ziel<br />

erklärt, den Versailler Vertrag, den Weimarer Parlamentarismus und die<br />

Ideen der Demokratie zu bekämpfen, die man einfach als undeutsch empfindet.<br />

Jünger verteidigt den neuen Nationalismus und vertritt eine preußisch<br />

– militärische Grundeinstellung und er betrachtet die für ihn krankhafte<br />

politische, gesellschaftliche und literarische Wirklichkeit mit beißendem<br />

Spott. „Über Krämer, Literaten und Schwächlinge wird die Aufforderung<br />

zur Tat in das neue Europa fegen, eine reißende Flutwelle mit blutrotem<br />

Kamm.“, schreibt er mit der Wut desjenigen, der die neu geschaffenen<br />

Verhältnisse ablehnt und als heuchlerisch und falsch beurteilt.<br />

Jünger veröffentlicht weiterhin: Der Aufmarsch, eine Reihe deutscher Schriften,<br />

ist Mitherausgeber der Standarte, Wochenschrift des neuen Nationalismus<br />

und von Arminius, Kampfschrift für deutsche Nationalisten. <strong>Die</strong><br />

Standarte, die am Ende Standarte – Beiträge zur geistigen Vertiefung des<br />

Frontgedankens hieß und bald die stattliche Auflage von 150.000 Exemplaren<br />

erreichte, fand in Jünger ihre einflussreichste Stimme. <strong>Die</strong> Standarte<br />

war eine Zeitschrift des neuen Nationalismus und geprägt von Kriegserlebnissen<br />

und der Ohnmacht der neuen Demokratie und so bestand das<br />

Programm dieses neuen oder modernen Nationalismus vor allem in der<br />

grundsätzlichen Ablehnung aller Parteien, auch der schwarz-weiß-roten.<br />

Was man wollte, war Revolutionierung, egal, zu welchem Zweck. Veränderung<br />

war die Triebkraft dieses Denkens, doch leider konnte man sich<br />

nicht darauf einigen was eigentlich verändert werden sollte. Doch es gab<br />

Ansatzpunkte, die aber meist utopisch und unrealistisch waren, um die<br />

gewünschte Veränderung zu vollziehen. In einem waren sich jedoch alle<br />

einig und das war die Ablehnung der Parteiendemokratie. In diesem Sinne<br />

schreibt die Standarte im Februar 1926: „Ein Armutszeugnis traurigster<br />

Art würden wir uns ausstellen, wenn wir den Weg zum deutschen Aufbau<br />

über das Parlament suchen wollten, solange wir eben dieses Parlament als<br />

unfruchtbar bekämpfen.“ Entsprechend meinte Friedrich Georg Jünger,<br />

man müsse den Parteien- und Klassenstaat dadurch aushungern, dass man<br />

sich jeder Parteibildung enthalte, und Ernst Jünger, zu dieser Zeit tatsächlich<br />

der radikalste unter den Autoren der Konservativen Revolution, empfahl<br />

die Wahlverweigerung. „Wir wollen“, schrieb er „nicht wählen, denn<br />

das hieße, den Staat anerkennen, das hieße, eines seiner Organe werden,<br />

statt gegen ihn gerichtet zu sein.“<br />

Im modernen Krieg der geistigen Kräfte versuchte Jünger seine eigenen<br />

Werte von Kampfbereitschaft, Volk, Blut und Vaterland darzustellen und so<br />

22


war auch sein Schreibstil der nationalistischen Phase, radikal, jugendlich<br />

und nicht zuletzt heroisch und eigenwillig. Schrieb er noch im November<br />

1925 national und radikal, so sollte sich diese Einstellung und Schreibweise<br />

schon wenige Jahre später verändern und abflachen. „Wir bilden<br />

eine Einheit durch Blut, Gesinnung und Erinnerung, den „Staat im Staate“,<br />

den Sturmbock, um den sich die Masse schließen soll. Wir schätzen keine<br />

langen Reden, eine neue Hundertschaft ist uns wichtiger als ein Sieg im<br />

Parlament. Zuweilen feiern wir Feste, um die Macht geschlossen paradieren<br />

zu lassen und um nicht zu verlernen, wie man die Massen bewegt . . .<br />

Der Tag, an dem der parlamentarische Staat unter unserem Zugriff<br />

zusammenstürzt und an dem wir die nationale Diktatur ausrufen, wird<br />

unser höchster Festtag sein.“<br />

Allmählich wird erkennbar, dass sich Jünger aus der Politik zurück zu ziehen<br />

beginnt und er die Überzeugung der Massen anderen überlässt. Stattdessen<br />

avanciert er zu einem nüchternen Betrachter der Zeit. <strong>Die</strong> publizistische<br />

Arbeit der nationalen Phase kann so hauptsächlich zwischen 1925<br />

und 1927 eingeordnet werden (die der nationalbolschewistischen zwischen<br />

1928 bis 1933). So schrieb er in diesen Jahren zwischen September<br />

1925 und März 1926 für die Standarte 21 Artikel und als das Blatt<br />

dann zur Wochenschrift des neuen Nationalismus umbenannt wurde,<br />

waren es von April bis August 1926 noch einmal 11 Beiträge. Gleichzeitig<br />

veröffentlicht er im Arminius zwischen August 1926 und März 1927<br />

28 Artikel. Hiernach werden seine Aktivitäten jedoch diffuser, zwar arbeitet<br />

er auch jetzt noch für den Stahlhelm, aber er tut es nur noch vereinzelt<br />

und er beginnt sich mehr und mehr von diesen Zeitschriften zu entfernen,<br />

denn sein politischer Ehrgeiz und sein Interesse daran beginnt allmählich<br />

zu verblassen.<br />

Von 1927 bis Ende 1934 lebt Jünger in Berlin, wo er in den literarischen<br />

und politischen Kreisen der Weimarer Republik verkehrt. Gesprächspartner<br />

waren Nationalisten aller Arten wie Ernst Niekisch, Ernst von Salomon<br />

und Otto Strasser, „linke“ Literaten wie Berthold Brecht und Arnolt Bronnen,<br />

verschiedenste Katholiken wie der Jurist Carl Schmitt und Franz Blei,<br />

Künstler wie Rudolf Schlichter und Alfred Kubin und viele andere Persönlichkeiten,<br />

zu denen auch Ernst Rowohlt gehörte. <strong>Die</strong> verzweigten und verschlungenen<br />

Wege, auf denen Jünger seit 1927 Berlin durchstreifte, führten<br />

ihn endgültig zur Schriftstellerei. Seine publizistische Arbeit versandet,<br />

läuft einfach aus: Während er zwischen 1925 und 1927 mehr als fünfzig<br />

Artikel für verschiedene rechtsnationale Blätter verfasst hat, sind es in den<br />

fünfeinhalb Jahren zwischen April 1927 und September 1933 noch gerade<br />

vierzig. Allein dem nationalbolschewistischen Widerstand von Ernst<br />

23


Niekisch, in dem er ebenso wie sein Bruder Friedrich Georg seit Ende<br />

1928 als ständiger Mitarbeiter geführt wird, bleibt er noch eine Weile<br />

treu. Politisch brauchte er sich dabei nicht zu ändern: Schon sein erster,<br />

1928 im Widerstand erschienener Artikel zog wie eh und je gegen die<br />

„Parteien als Hauptträger einer von Grund auf verruchten und korrupten<br />

Weltanschauung“ zu Felde. Als indessen im Oktober 1933 unter dem Titel<br />

Untergang oder neue Ordnung? Sein letzter eigenständiger Zeitschriftenbeitrag<br />

gedruckt wird, hat die Zeit sich schon längst geändert und mit ihr<br />

Ernst Jünger.<br />

Damals ist er durch Das Abenteuerliche Herz von 1929 und dem großen<br />

Essay Der Arbeiter von 1932 endlich einem größeren Publikum bekannt<br />

geworden. Doch tatsächlich haben erst der politische Extremismus und der<br />

publizistische Aktionismus Jünger einem größeren Leserkreis bekannt<br />

gemacht. Auf diese Weise vollzieht sich in der zweiten Hälfte der zwanziger<br />

Jahre ein Umschwung, in dessen Verlauf sein Einfluss langsam auch<br />

außerhalb kleinster Kreise spürbar wird, weil sein Stil so klar, so unvergleichlich<br />

hochmütig, verführerisch, ja von Grund auf elitär ist.<br />

Jünger ist als Schriftsteller, und nicht nur als Schriftsteller der sogenannten<br />

Fronterlebnisse anerkannt, doch während er und seine Weggefährten sich<br />

Ende der zwanziger Jahre in ihren geschliffen – aggressiven Formulierungen<br />

vor allem selbst genießen, bringt es die NSDAP zu einem noch wenige<br />

Monate zuvor nicht für möglich gehaltenen Aufschwung. <strong>Die</strong> Partei und<br />

ihre Wähler gewinnen an Zuwachs und bald wird ihr Führer Adolf Hitler<br />

die Geschicke Deutschlands in seine Hände nehmen. Jünger hat den Führer<br />

1923 bei einer Rede in München selbst gehört, und noch mehr als<br />

zwanzig Jahre später ist erkennbar, welch irritierenden Eindruck dieser<br />

auf ihn gemacht hat. Wiederholt versucht er dieses Erlebnis zu deuten,<br />

und bei Gelegenheit hat er in Hitlers rhetorisch – demagogischen Exzessen<br />

etwas wie mediale Ergriffenheit gesehen, als habe nicht Hitler sich des<br />

Wortes, sondern das Wort sich seiner bemächtigt. Darüber schrieb er folgendes:<br />

„Er zog Kräfte aus dem Unbestimmten, sammelte und reflektierte<br />

sie wie ein Hohlspiegel; er war ein Traumfänger“.<br />

1933 erfolgt die Machtübernahme der Nationalsozialisten und bald darauf<br />

lehnt Jünger ein Reichstagsmandat der NSDAP ab. Joseph Goebbels<br />

umwarb den Schriftsteller und wollte ihn für die Sache der Nationalsozialisten<br />

begeistern, doch Jünger wollte sich nicht noch einmal von der Politik<br />

vereinnahmen lassen und schon gar nicht wollte er zu einem Trommler für<br />

die nationalsozialistische Machtergreifung werden. Im gleichen Jahr wird<br />

Jünger aus der Dichterakademie ausgeschlossen. Daraufhin folgt eine<br />

25


Hausdurchsuchung durch die Geheime Staatspolizei, woraufhin er sich<br />

nach Goslar zurückzieht und später 1936 nach Überlingen am Bodensee.<br />

1936 siedelt er nach Kirchhorst bei Hannover über. Der Roman Auf den<br />

Marmorklippen erscheint und wird als literarischer Angriff auf das nationalsozialistische<br />

Staatssystem gewertet.<br />

Auf den Marmorklippen: „. . . Mein Auge . . . erkannte unter all den alten<br />

und längst entfleischten Köpfen auch zwei neue, an Stangen hoch aufgesteckt<br />

– die Köpfe des Fürsten und Braguermarts. Sie blickten von ihren<br />

Eisenspitzen, von denen sich Hacken krümmten, auf die Feuersgluten, die<br />

weiß verblätterten. Dem jungen Fürsten war nun das Haar gebleicht, doch<br />

fand ich seine Züge noch edler und von jener höchsten, sublimen Schönheit,<br />

die nur das Leid erzeugt. Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir<br />

in die Augen schießen – doch jene Tränen, in welchen mit der Trauer uns<br />

herrlich die Begeisterung ergreift. Auf dieser bleichen Maske, von der die<br />

abgeschundene Haut in Fetzen herunterhing und die aus der Erhöhung am<br />

Marterpfahle auf die Feuer hernieder blickte, spielte der Schatten eines<br />

Lächelns von höchster Süße und Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem<br />

hohen Menschen an diesem Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen<br />

war – so wie die Lumpen von einem König, der als Bettler verkleidet<br />

ging. Da fasste mich ein Schauer im Innersten, denn ich begriff, dass dieser<br />

seiner frühen Ahnen und Bezwinger von Ungeheuern würdig war; er<br />

hatte den Drachen Furcht in seiner Brust erlegt. Hier wurde mir gewiss,<br />

woran ich oft gezweifelt hatte: es gab noch Edle unter uns, in deren Herzen<br />

die Kenntnis der großen Ordnung lebte und sich bestätigte. Und wie<br />

das hohe Beispiel uns zur Gefolgschaft führt, so schwur ich von diesem<br />

Haupt mir zu, in aller Zukunft lieber mit den Freien einsam zu fallen, als<br />

mit den Knechten im Triumph zu gehen.“<br />

Im September 1939 wurde Ernst Jünger in die Wehrmacht eingezogen. Im<br />

Juni 1941 wurde er in den Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich<br />

versetzt. Heinrich von Stülpnagel, der Anfang 1942 Militärbefehlshaber<br />

wurde, gründete in seinem Pariser <strong>Die</strong>nstsitz, dem Hotel Majestic eine<br />

Casino-Runde. Daneben hatte Hans Speidel, der von 1939 bis 1942 Chef<br />

des Pariser Kommandostabs war, im „Hotel Georges V“ eine danach<br />

benannte Runde einberufen, deren bekannteste Teilnehmer wohl Friedrich<br />

Sieburg und Adolf Sternberger waren. In den Strahlungen schrieb Jünger:<br />

„Unter seiner (Speidels) Ägide bilden wir hier im Innern der Militärmaschine<br />

eine Art von Farbzelle von geistiger Ritterschaft; wir tagen im Bauche<br />

des Leviathans und suchen noch den Blick, das Herz zu wahren für die<br />

Schwachen und Schutzlosen.“ Hans Speidel schrieb in seinen Erinnerungen.<br />

„Gespräche über den Missbrauch der Macht unter Kniebolo, wie<br />

26


Ernst Jüngers Deckbezeichnung für Hitler war, prägten die Abende ebenso<br />

wie andere über die Paarung von Macht und Armut unter den großen<br />

Hohenstaufen, (...) über Preußentum und Europäertum, über Tolstois „Krieg<br />

und Frieden“, über die französischen Moralisten und ihre Nachfahren,<br />

über die Gefühle des schöpferischen Menschen beim Abschluss eines<br />

Werkes oder einer Konzeption.“ Am 21. April notiert Ernst Jünger in sein<br />

Tagebuch: „Mittags besuchte mich ein alter Niedersachse, der Oberst<br />

Schaer, Lagebesprechung. (. . .) Unter den Dingen, die er erzählte, war<br />

besonders die Schilderung einer Erschießung von Juden schauerlich. Er<br />

hat sie von einem anderen Oberst, ich glaube, Tippelskirch, den seine<br />

Armee dorthin schickte, um zu sehen, was gespielt wurde. Bei solchen Mitteilungen<br />

erfasst mich Entsetzen, ergreift mich die Ahnung einer ungeheuren<br />

Gefahr. Ich meine das ganz allgemein und würde mich nicht wundern,<br />

wenn der Erdball in Stücke flöge, sei es durch Aufschlag eines Kometen,<br />

sei es durch Explosion. In der Tat habe ich das Gefühl, dass diese Menschen<br />

den Erdball anbohren, und dass sie die Juden dabei als kapitales<br />

Opfer wählen, kann kein Zufall sein. Es gibt bei ihren höchsten Henkern<br />

eine Art von unheimlicher Hellsichtigkeit, die nicht auf Intelligenz, sondern<br />

auf dämonischen Antrieben beruht. An jedem Kreuzweg werden sie ihre<br />

Richtung finden, die zur größeren Zerstörung führt.“<br />

Am 7. Juni 1942 tätigt Jünger eine Tagebucheintragung, die viel aussagt<br />

über sein Selbstverständnis als Repräsentant der Besatzungsmacht in Paris:<br />

„In der Rue Royale begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben dem<br />

gelben Stern, getragen von drei jungen Mädchen, die Arm in Arm vorbeikamen.<br />

<strong>Die</strong>se Abzeichen wurden gestern ausgegeben; übrigens mussten<br />

die Empfänger einen Punkt von ihrer Kleiderkarte dafür abliefern. Nachmittags<br />

sah ich den Stern häufiger. Ich halte derartiges, auch innerhalb<br />

der persönlichen Geschichte, für ein Datum, das einschneidet. Ein solcher<br />

Anblick bleibt nicht ohne Rückwirkung – so genierte es mich sogleich,<br />

dass ich in Uniform war.“<br />

Jünger erbot vielen Menschen, die den gelben Stern tragen mussten, den<br />

militärischen Gruß. Ansonsten half er Verfolgten, ohne darüber viel Aufheben<br />

zu machen. Der französische Schriftsteller Paul Léautaud notierte am<br />

3. Juli 1944 in seinem Tagebuch: „Falls für die Deutschen die Dinge endgültig<br />

eine schlechte Wendung nehmen, habe ich die Absicht, mich im<br />

gegebenen Augenblick nach der Anschrift dieser ‘Propagandastaffel’ – so<br />

heißt sie, glaube ich – zu erkundigen, der Leutnant Heller angehört, ihm<br />

meiner herzlichen Empfindungen zu versichern und ihn zu bitten, sie auch<br />

Hauptmann Jünger gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Für mich gibt es<br />

in geistigen Dingen keine Grenzen, und diese bei den Deutschen haben<br />

27


darüber hinaus Gefühle der Sympathie für Frankreich und die Franzosen<br />

bekundet.“ Doch auch sein ritterliches Verhalten konnte Ernst Jünger nicht<br />

vor dem Schreibverbot der Engländer nach dem zweiten Weltkrieg<br />

bewahren.<br />

Der militärische Krieg hatte geendet, das nationalsozialistische System hatte<br />

die Macht verloren und das Oberkommando der Wehrmacht hatte kapituliert.<br />

Für Jünger war diese Entwicklung abzusehen und so betrachtete er<br />

weiterhin die Zeit und setzte seine theologischen Studien fort, beschäftigte<br />

sich mit Augustinus und vertiefte sich in die Literatur der Romantik. Einmal<br />

wird er von amerikanischen GIs mit dem Revolver bedroht. Daraufhin<br />

zieht er sich in ein Mansardenzimmer zurück, mauert sich gewissermaßen<br />

ein mit Büchern, in deren Gesellschaft er von jetzt an seine Tage verbringen<br />

will.<br />

Am 10. Januar 1946 beginnt Jünger ein neues Projekt. Es ist ein Staatsroman<br />

von beträchtlichem Umfang, utopisch der Handlung nach, der ein<br />

gewaltiger Atomschlag vorausgegangen ist, phantastisch in den Kulissen,<br />

ein Buch voll dick aufgetragener Farbe und greller Effekte: Heliopolis. Es<br />

wird Jünger während der nächsten Jahre beschäftigen. Keine Frage, dass<br />

im Innern des Romans eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der<br />

Diktatur stehen wird, und schon die Anlage der Fabel zeigt, dass Jünger<br />

auch hier, nicht anders als in den Tagebüchern, an einer Entpolitisierung<br />

und Entzeitlichung des historischen Geschehens liegt. Indessen bleibt all<br />

das noch für einige Zeit eine Arbeit ohne Resonanz, wenn man vom<br />

Freundeskreis und der langsam wachsenden Korrespondenz absieht.<br />

Denn Jünger hat in der Britischen Zone Publikationsverbot, und dies nicht<br />

zuletzt deshalb, weil er nicht wahrhaben will, dass auch bei ihm Erläuterungsbedarf<br />

besteht. Strikt weigert er sich, den berühmten Fragebogen zur<br />

Entnazifizierung auszufüllen, dem Ernst von Salomon ein ganzes Buch<br />

unter dem gleichen Namen gewidmet hat. Jüngers Publikationsverbot<br />

bleibt bis zum Erscheinen seines Romans Heliopolis im Jahre 1949 bestehen.<br />

Zwar legt die britische Militärregierung noch 1949 bei der amerikanischen<br />

Protest gegen die Veröffentlichung von Heliopolis ein, jedoch ist<br />

dieser unbegründete Aufschrei vergeblich. Jünger hatte sich mit diesem<br />

Roman zurückgemeldet und sein literarischer Werdegang sollte noch lange<br />

andauern.<br />

Im Jahre 1950 siedeln die Jüngers nach Wilflingen in Oberschwaben<br />

über. Es wird wohl auch so gewesen sein, dass Jünger hin und wieder des<br />

Ortswechsels bedurfte, weil seine Phantasie neue Nahrung brauchte. In<br />

Ravensburg, wo er im Dezember 1948 hingezogen war, fühlte er sich mit<br />

29


all seinen Büchern und Sammlungen zu Recht eingeengt doch dann kommt<br />

ihm 1950 der Zufall zu Hilfe. Der Reichsfreiherr Schenk zu Stauffenberg –<br />

kein unmittelbarer, aber ein entfernter Verwandter des Attentäters vom 20.<br />

Juli 1944 – bietet ihm in seinem Schloss in Wilflingen eine vorläufige Bleibe<br />

an. Im Dezember zieht Jünger in die oberschwäbische Provinz, einige<br />

Kilometer vom nächsten Ort und jeder Bahnstation entfernt, eine nicht<br />

unwesentliche Veränderung für einen Mann, der nie einen Führerschein<br />

gemacht hat und seine Post nun lange Zeit zu Fuß die zwei Kilometer von<br />

Wilflingen nach Langenenslingen tragen muss, zwischendurch ein Eis zur<br />

Stärkung essend. Bald wird die neben dem Schloss liegende Oberförsterei<br />

des Grafen frei. Elf Zimmer warten in dem bescheidenen, doch ansehnlichen<br />

Barockbau aus dem Jahr 1728 auf Jünger, auch ein großer Garten,<br />

für ihn aus schriftstellerischen wie persönlichen Gründen unentbehrlich. So<br />

findet er, inzwischen 56 Jahre alt, eine neue Heimat.<br />

In Wilflingen beginnt Jünger an seinem Werk zu arbeiten und Armin Mohler,<br />

der den Schriftsteller aus nächster Nähe kennt, legt einen anschaulichen<br />

Bericht vor, wie sich der Tag von Jünger gestaltet: „Er beginnt um<br />

acht Uhr mit dem rituellen Sprung in die Wanne voll kaltem Wasser . . .<br />

<strong>Die</strong> erste Hälfte des Vormittages ist eine Zeit des Sich – Einpendelns, des<br />

Ins – Gleichgewicht – Kommens nach der Traumschwere der Nacht.“ Erst<br />

wenn Jünger sich um zehn Uhr an seinen Schreibtisch setzt, beginnt die<br />

Arbeit. Er formuliert zügig, auch weil er, wie er wiederholt bemerkt hat,<br />

mit dem Schreiben erst beginnt, wenn der innere Bau seiner Texte steht: Er<br />

muss ihn bloß noch aufführen. Bis Mittag setzt er die Feder nicht ab. Dann<br />

folgt eine Pause, ein Intermezzo; Jünger beschäftigt sich mit seiner Post. So<br />

dringt die Welt herein mit ihrer Wirrnis, ihrer zersplitternden Spannung<br />

und zuweilen auch ihrem furchtbaren Anstoß. Zwischen zwei und drei Uhr<br />

legt sich Jünger hin zu einem kurzen Schlaf, darauf folgt, vorgesehen für<br />

die Stunden zwischen drei und fünf Uhr, ein Spaziergang, fast immer mit<br />

festem Ziel, bevor die zweite, etwa zwei Stunden dauernde Arbeitsperiode<br />

beginnt. Sie gilt in aller Regel nicht mehr den Manuskripten, sondern<br />

Nebenarbeiten, darunter häufig entomologischen Studien. Um sieben Uhr<br />

folgt das Abendessen. Anschließend zieht Jünger sich noch mit einem<br />

Buch auf das Sofa zurück. Gegen neun Uhr begibt er sich ins Schlafzimmer,<br />

liest dort vielleicht noch eine Stunde, löscht dann das Licht. „Doch<br />

damit ist der Zusammenhang keineswegs unterbrochen. Jünger träumt<br />

jede Nacht.“<br />

1962 heiratet Jünger im „Münster“ vom Heiligenkreuztal bei Wilflingen<br />

zum zweiten Mal. Seine erste Ehefrau Greta war 1960 verstorben. Eine<br />

grundlegende Entscheidung ist gefallen: <strong>Die</strong> Archivarin und Lektorin Dr.<br />

Liselotte Lohrer, 1917 geboren, war lange zuvor schon in sein Leben<br />

30


getreten. Ohne ihre Hilfe und Assistenz wäre die Produktion der späten<br />

fünfziger Jahre in dieser Fülle kaum möglich gewesen.<br />

1970 sorgte Jünger zum wiederholten Mal für Unverständnis bei einem<br />

Teil seiner Anhänger. In dem Buch „Annäherungen – Drogen und Rausch“<br />

verarbeitete er seine Experimente mit verschiedenen Rauschmitteln und<br />

sorgte für Missmut bei einer bürgerlich-spießigen Klientel, der jegliche Vorstellung<br />

von Grenzerfahrung abstrus ist. Sein Konsum von Rauschmitteln<br />

soll hier jedoch keineswegs überbewertet werden; er war ein Teil seines<br />

Lebens, nicht mehr aber auch nicht weniger. Jüngers Rauscherfahrungen<br />

können als Mittel angesehen werden, in denen er sich einen Platz suchte,<br />

von dem er das Geschehen nüchtern betrachtete und von seinem erhöhten<br />

Standort aus untersuchte.<br />

„Das braune Pulver mumifiziert. Der ‘Schnee’ vereist. Auch das bringt lange<br />

Dauer mit sich oder wenigstens ihr Bewusstsein – und was ist Zeit denn<br />

anderes? Wenn das Gehirn einfriert und sich zu einem Eisblock wandelt,<br />

kann es eben so wenig Gedanken bilden, wie sich am Nordpol Wasser<br />

aus einem Eimer gießen oder aus einem Brunnen sprühen lässt. Das große<br />

Kraftwerk ruht. Dafür wächst das Bewusstsein geistiger Gegenwart und<br />

Macht. Das Gehirn denkt nicht mehr dieses oder jenes, es fühlt sich selbst<br />

in seiner unbeschränkten Fülle – die kleine Münze, die kursierte, ist in das<br />

Gewölbe zurückgeholt. Damit entfällt viel Täuschung, auch Einbeziehung<br />

in die Ansprüche der Welt.“ Jünger wandte unterschiedliche Rauschmittel<br />

an und war dabei auch nicht gerade wählerisch.<br />

Peyotl: “In Stuttgart war Walter Frederking schon angekommen; wir konnten<br />

gleich zur Sache gehen. Zufällig war Mathias Wieman im Hause; seine<br />

Gegenwart war wie immer unmittelbar kräftigend. Er fuhr im Laufe des<br />

Tages weiter und hatte nur unseren Präliminarien beigewohnt. Sie regten<br />

ihn zu einem eigenen Versuch an, den er ein wenig später mit seiner Frau<br />

Erika unternahm. Wir stiegen gegen drei Uhr nachmittags zu viert ein,<br />

nahmen um vier eine zweite Dosis und waren etwa zwölf Stunden unterwegs.<br />

Auch Frederking schattierte sich durch ein geringes Quantum und<br />

befolgte damit eine der Vorschriften des Persers Yazdi: ‘In gemischter<br />

Gesellschaft müssen die Nichtraucher wenigstens symbolisch ‘eine Pille’<br />

mitrauchen.’ Ich hatte mir Blatt und Papier und einen Bleistift zurechtgelegt,<br />

kam aber nicht zur Aufzeichnung. Der Doktor hatte mir das vorausgesagt.<br />

Nachdem ich etwa eine Stunde in leichter Übelkeit verbracht hatte,<br />

erschreckte mich ein Knall wie ein Pistolenschuss. Neben mir hatte die<br />

Hausfrau eine Nescafè-Dose aufgemacht. Zugleich begann ein Farn in<br />

einem Blumentopf sich zu bewegen, und zwar auf eine zugleich vitale und<br />

31


mechanische Weise, ähnlich wie Raupenketten – das konnten Segmente<br />

eines grünen Tausendfüßlers sein. Das war der Anfang. Man wird gefasst,<br />

gefesselt durch besondere Vorweisungen. So ertönt ein Kanonenschuss,<br />

steigt ein Banner auf vor großen Schauspielen: Vor-weisung. Wenn wir<br />

uns umblicken, steht einer hinter uns. So muss man übrigens die moderne<br />

Welt sehen, ihre Präzision, ihren ungeheuren Anschub von Tatsachen. Das<br />

ist Signalwesen. Wir waren mit Visionen, Meditationen, Schauen und Horchen<br />

auf Bilder und Kompositionen beschäftigt bis gegen sechs Uhr<br />

abends, als die Welt schon ziemlich aus den Fugen geraten war, doch<br />

sich sogleich die Spannung qualvoll steigerte. Es war, als ob das Anfluten<br />

der Bilder nicht mehr genügte; sie mussten zurückbleiben. Wir verlangten<br />

nach einer dritten, stärkeren Dosis; der Arzt hielt sie für zumutbar. Wenn<br />

solche Steigerungen fruchten sollen, müssen sie den Umschwung in die<br />

Qualität bringen. Sie gleichen dann, wenn wir uns eines Bildes aus der<br />

Mechanik bedienen wollen, dem Durchbrechen der Schallmauer. <strong>Die</strong><br />

Fahrt erreicht eine Grenze, an der die gestaute Luft wie in einer Wehe zerreißt<br />

– und damit bewegt sich das Fahrzeug in einer neuen Phase: dem<br />

Überschallflug. Das ist wie gesagt, ein grobes Beispiel aus dem Bereich<br />

der physikalisch-titanischen Welt, doch ist es typisch für ihren unersättlichen<br />

Heißhunger und seine Eskalation. Nach ungeheurem Antrieb wird<br />

auch die Schwere aufgehoben wie der Schall. An den kritischen Punkten,<br />

auch der Thermodynamik, gibt es keine Steigerung mehr, sondern Überraschungen.<br />

Ein solcher Punkt ist dort zu vermuten, wo Zeit und Ewigkeit<br />

angrenzen.“<br />

1977 erscheint der Roman Eumeswill der mit dem Goldadler bei dem<br />

„Festival du Livre“ in Nizza ausgezeichnet wird. Eumeswill: “Das Ungehauene<br />

zu präzisieren, das Unbestimmte schärfer und schärfer zu bestimmen:<br />

das ist die Aufgabe jeder Entwicklung, jeder zeitlichen Anstrengung.<br />

Daher treten im Lauf der Jahre die Physiognomien und Charaktere deutlicher<br />

hervor. Das gilt auch für die Handschriften. Der Bildhauer steht<br />

zunächst dem rohen Block, der puren Materie gegenüber, die jede Möglichkeit<br />

umschließt. Sie antwortet dem Meißel; er kann zerstören oder Wasser<br />

des Lebens, geistige Macht aus ihr befreien. Das liegt im Unbestimmten,<br />

selbst für den Meister, es hängt nicht gänzlich von seinem Willen ab.“<br />

Der Roman Eumeswill spielt, wie schon Heliopolis, an Orten einer phantastischen<br />

Zukunft. <strong>Die</strong>ser Roman bezieht sich auf Erfahrungen, die Jünger<br />

mit der Demokratie als einer Art verkappter Tyrannismus gemacht hat.<br />

1978 wird Jünger mit der Friedensmedaille der Stadt Verdun ausgezeichnet.1979<br />

werden die Tagebuchaufzeichnungen „Strahlungen I/II“ herausgegeben.<br />

Am 20. Mai 1982 verleiht die Stadt Frankfurt den Goethe-Preis<br />

an Ernst Jünger. <strong>Die</strong>s ist der Auslöser für viele Debatten um Ernst Jünger<br />

33


und wochenlang äußern sich Empörung und Zustimmung, Ärger und Sympathie<br />

in den Zeitungen.<br />

1984 nimmt Jünger, gemeinsam mit Francois Mitterand und Helmut Kohl<br />

an der Ehrung der Opfer des zweiten Weltkrieges teil.1987 erschient die<br />

Niederschrift einer Forschungsreise nach Südostasien mit dem Titel: “Zwei<br />

Mal Halley“. 1988 reist Jünger zur 25-Jahr-Feier des deutsch-französischen<br />

Vertrages mit Helmut Kohl nach Paris.1993 erhält Jünger den großen<br />

Preis der Kunstbiennale in Venedig. 1995 feiert Ernst Jünger seinen<br />

Einhundertsten Geburtstag.<br />

Einhundert Jahre wandelte Jünger auf der Erde und Einhundert Jahre<br />

haben ihn und seine Umwelt geprägt, aber keiner seiner frühen Freunde<br />

erreichte dieses Alter und so war es nicht verwunderlich, dass sich Jünger<br />

immer einsamer fühlte. In diesen Jahren gewinnt seine Frau immer größere<br />

Bedeutung für ihn, nicht nur im Alltag, sondern auch beim Schreiben seiner<br />

Bücher, die sie lektoriert und mit Anregungen und Kritik begleitet.<br />

Zugleich werden beide von der Dorfgemeinschaft getragen, als deren ältester<br />

Bürger und Ehrenbürger Jünger große Achtung genießt. Bis in die letzten<br />

Lebensmonate hinein geht er in und um Wilflingen allein spazieren.<br />

Freunde, die ihn treffen, berichten, dass er im Gespräch in immer längere<br />

Pausen des Schweigens gesunken, dann allerdings ebenso schnell wieder<br />

aufgetaucht sei. Keine Verwirrung ist ihm anzumerken, und noch im<br />

Herbst 1997 spricht er davon, Siebzigverweht einen weiteren Band hinzuzufügen.<br />

Schließlich habe es einen Kanzler des Ordens Pour le mèrite<br />

gegeben, der noch älter geworden sei als er. Am 26. September 1996<br />

war er, der Protestant, zum römisch – katholischen Glauben übergetreten.<br />

Er gibt damit einer Neigung nach, die er seit Jahrzehnten sporadisch<br />

immer wieder dokumentiert hatte.<br />

Im Januar 1998 zieht sich Jünger eine Magenverstimmung zu, verliert an<br />

Gewicht und muss das Bett hüten. Einige Tage später brachte man den<br />

Geschwächten ins Kreiskrankenhaus Riedlingen, Infusionen sollten den<br />

Gewichtsverlust wettmachen, doch hat er die Station nicht mehr verlassen,<br />

operiert werden wollte er nicht. Seine Frau ist bei ihm, als Ernst Jünger am<br />

17. Februar 1998 im Alter von 102 Jahren stirbt.<br />

Als er jung war, hatte er an keine Art zu sterben weniger gedacht als<br />

gerade an diese: in einem Bett liegend, begleitet von einer Frau, ohne<br />

Wunden oder Verletzungen und ganz in Frieden. Es war ein Friede, den<br />

er erst spät fand, nach Verwirrungen, Fehlern, nach großen Leistungen<br />

34


und vielem Beachtlichen, ja Bewundernswertem allerdings auch. Ernst Jünger,<br />

der alte Weise, vom Thron des Edlen herabblickende ist fort und folglich<br />

versucht man ihn jetzt einzuordnen, in eine Schublade zu stecken.<br />

Aber Jünger ist frei, und ein freier Mensch war er auch schon zu Lebzeiten,<br />

sagte selbst Mitterand. Aber was wird bleiben von Ernst Jünger,<br />

einem der größten deutschen Schriftsteller dieses Jahrhunderts? <strong>Die</strong>se Frage<br />

wird sich auf dem Wilflinger Friedhof so mancher gestellt haben. Antworten<br />

wir mit den Worten von Heimo Schwilk:<br />

„Zuerst einmal werden die aufatmen, die Jünger von Anfang an das Plätzchen<br />

streitig machen wollten, das er in der bundesdeutschen Zerstreuungsgesellschaft<br />

einnehmen durfte. Er, der Nichtverwertbare, dem allgemeinen<br />

„Diskurs“ Entzogene, politisch Desinteressierte ist nun endgültig abgetreten,<br />

aufgebrochen zum allerletzten Abenteuer, in den Tod. Dass das Leben<br />

ein Geheimniszustand sei und der Mensch ein wunderbares Wesen in<br />

einer durchaus wunderbaren Welt, dieser romantische Grundzug seines<br />

Denkens riss eine Lücke auf, die ihn schon zu Lebzeiten von jenen trennte,<br />

die an der Profanisierung und Banalisierung unserer Existenz tagaus tagein<br />

geschäftig arbeiten. Jünger hinterlässt keine Lücke, sondern einen Ozean<br />

erfüllter Augenblicke, die Poesie geworden sind in einer nur noch<br />

geschwätzig-kommunikativen Welt.“<br />

„Das Korn ist reines Erbteil, die Erde gibt ihm Schutz und Nahrung; sie<br />

leistet, was sehr wichtig, ihm auch Widerstand. Licht muss hinzutreten,<br />

wenn dieses unmittelbare Erbe verzehrt worden ist. Nun kommt er zur<br />

freien Entfaltung im Raume; der Schutz wird weniger genossen, als dass<br />

er zur Aufgabe wird. Das Individuum bildet Schirm und Krone aus. Den<br />

Widerstand leistet jetzt die sichtbare Welt. Sie bildet ein unsichtbares Spalier.<br />

<strong>Die</strong> Frucht als zeitliches Ziel, etwa in der Familie, dem Vermögen,<br />

dem Werk. Das Leben stirbt ab – entweder periodisch oder ein für alle<br />

Mal, als ob es sich in ihr erschöpft hätte. <strong>Die</strong> Früchte fallen ab. Manche<br />

Boviste verwandeln sich ganz in Sporen; ein pergamentenes Häutchen<br />

bleibt vom Individuum zurück. Sie gleichen Mörsern, die mit Frucht geladen<br />

sind. Im Gelingen steckt kein Verdienst: das sind Genfer Wunschträume.<br />

In der Hervorbringung wird noch ein anderes Gesetz als das des<br />

Wachstums befolgt. Das Gleichnis meint nicht die bloße Vermehrung des<br />

Pfundes, und schon gar nicht die merkantile, sondern das Wuchern als<br />

Dank für die Existenz. <strong>Die</strong>se kann auch durch Nichthandeln an Wert<br />

gewinnen, so durch das Opfer, die Askese, die Meditation, das Gebet. Im<br />

Pflanzenreich spricht das Universum reiner und deutlicher als in der Tierwelt<br />

und der Menschengeschichte; darauf beruht der Wert botanischer<br />

Studien. <strong>Die</strong> Gleichnisse führen vor allem in die Gärten: der Feigenbaum,<br />

35


das Senfkorn, die Lilie. Vielleicht sind ferne Gestirne nur von Pflanzen und<br />

Sinnpflanzen belebt. <strong>Die</strong> Blüten ahmen die Gestirne nach, besonders die<br />

Sonne, der sie sich zuwenden. Das sind Spiegelungen; sie geben die<br />

Ahnung einer mächtigen Mitte, welche die Sterne ihrerseits nachahmen.<br />

Und auch das Auge: ‘sonnenhaft’.“<br />

36


IMPRESSUM<br />

rot-graue blätter<br />

Heft Nr. <strong>033</strong><br />

Ausgabe im April 2005<br />

Ausgabe nur als PDF für das Internet<br />

SCHRIFTLEITUNG UND BEZUG<br />

Quellen: Süddeutsche Zeitung vom 9. April 2005, Internet. Adressen für Zuschriften an die <strong>Schriftleitung</strong>: Stephan Maria<br />

Sommer, Kanalstraße 12, 85049 Ingolstadt; E-Mail: schriftleitung@gmx.de, www.schriftleitung.org.<br />

HERSTELLUNG<br />

Schriften gesetzt in 7-Punkt Futura (Impressum) sowie 15.0/20.0-Punkt Futura Book. Überschriften und Pagina gesetzt in 15-Punkt, Futura<br />

Book. Nicht berücksichtigt: Titelblatt. Heftumfang 38 Seiten inkl. Schmutztitel und zwei Seiten Umschlag.<br />

URHEBERRECHT<br />

<strong>Die</strong> Urheberrechte liegen bei den Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist grundsätzlich nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Urhebers<br />

zulässig. <strong>Die</strong>sbezügliche Anfragen sind an die <strong>Schriftleitung</strong> zu richten, die gern vermittelt. Ein Anspruch auf Erteilung einer Abdruckgenehmigung,<br />

auch Auszugsweise, besteht nicht. Ob Verstöße gegen das Urheberrecht gerichtlich verfolgt werden sollen, liegt im<br />

Ermessen der Urheber.<br />

Das vorliegende Heft ist kein Druckerzeugnis im Sinne des Pressegesetzes.<br />

Es wurde als Typoskript für den internen Gebrauch hergestellt.<br />

37

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!