02.07.2014 Aufrufe

Seeheim-Chronik - Seeheimer Kreis

Seeheim-Chronik - Seeheimer Kreis

Seeheim-Chronik - Seeheimer Kreis

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

In der Mitte der Partei<br />

Gründung, Geschichte und Wirken<br />

des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es<br />

Herausgegeben von<br />

Johannes Kahrs und Sandra Viehbeck


In der Mitte der Partei<br />

Gründung, Geschichte und Wirken des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es<br />

Herausgegeben von<br />

Johannes Kahrs und Sandra Viehbeck


© 2005 Die SEEHEIMER e.V., Berlin,<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Redaktion: Michael Fuchs<br />

Gestaltung und Satz: Sascha Bittner<br />

Herstellung: printjob24.de, Berlin<br />

ISBN 3-00-016396-4


Inhaltsverzeichnis<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

11<br />

13<br />

15<br />

20<br />

22<br />

29<br />

32<br />

38<br />

43<br />

48<br />

52<br />

56<br />

60<br />

Vorwort<br />

Grußwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />

Grußwort von Bundestagspräsidentin a. D. Annemarie Renger<br />

„Freunde sauberer Verhältnisse“ -<br />

Wie Egon Franke und Karl Herold die Kanalarbeiter gründeten<br />

„Unkeler Gefunkel“ - Auf die Pflege ihrer Gemeinsamkeiten<br />

legten die Kanaler großen Wert<br />

„Solide Unterstützung“ - Erste Kontakte zu den <strong>Seeheim</strong>ern –<br />

Die Kanalarbeiter lösen sich auf<br />

„Reale Reformer“ - Die Anfänge der <strong>Seeheim</strong>er: Metzger-<strong>Kreis</strong>,<br />

Linke Mitte, Fritz-Erler-<strong>Kreis</strong>, Vogel-<strong>Kreis</strong> und Lahnsteiner <strong>Kreis</strong><br />

„Signalwirkung“ - Der Parteitag in Hannover 1973<br />

und die Vorstandswahlen<br />

„Organisierte Gegenmacht“ - Der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong><br />

gründet sich in Lahnstein – „Godesberg und die Gegenwart“<br />

„Neue Herausforderungen“ - Die <strong>Seeheim</strong>er<br />

in der Regierungsverantwortung<br />

„Ungewohntes Bild“ - Kernkraftfrage,<br />

„angegrünte“ Schichten und die Löwenthal-Thesen<br />

„Sicherheitspolitischer Sinneswandel“ -<br />

Die Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss<br />

„Streit der Ideologien“ - Die 80er Jahre – Gründung der<br />

Kurt-Schumacher-Gesellschaft, Kritik am SPD/SED-Papier<br />

„Befürworter der Einheit“ -<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er und die Wiedervereinigung<br />

„Paukenschlag“ - Die <strong>Seeheim</strong>er in den 90ern –<br />

der Weg zur Regierungsfähigkeit<br />

„Staffettenwechsel“ - Die <strong>Seeheim</strong>er am Anfang des 21. Jahrhundert<br />

Die Veranstaltungen des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es<br />

Der SEEHEIM Mittagstisch<br />

Die SEEHEIM Tagungen<br />

Die SEEHEIM Spargelfahrt


VORWORT<br />

Vorwort<br />

Mehr als 30 Jahre liegt die Gründung des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es nun zurück.<br />

Mehr als 30 bewegte Jahre, in denen die <strong>Seeheim</strong>er vieles erreicht und so<br />

manches möglich gemacht haben:<br />

Da sind die großen Namen der Genossinnen und Genossen der ersten Stunde,<br />

von Annemarie Renger bis Hans-Jürgen Wischnewski. Da sind die wichtigen<br />

Entscheidungen, bei denen die <strong>Seeheim</strong>er immer deutlich Position bezogen<br />

haben, nicht selten gegen heftige Kritik von außen. Das Richtige zu tun für<br />

Deutschland und seine Bürger war stets ihr Ziel.<br />

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“, hat Wilhelm von<br />

Humboldt einmal gesagt. Die Geschichte der <strong>Seeheim</strong>er gibt uns ein Beispiel<br />

dafür. Die Reformen, die Deutschland gerade heute so dringend nötig<br />

hat – wir werden sie mit ebensolcher Kraft angehen, wie es die <strong>Seeheim</strong>er<br />

auch in der Vergangenheit getan haben. Unsere Vergangenheit ist uns ein<br />

gutes Vorbild, wie wir zielstrebig unsere Positionen vertreten wollen. Basierend<br />

auf unseren sozialdemokratischen Überzeugungen werden die <strong>Seeheim</strong>er<br />

ihren Beitrag leisten für ein erfolgreiches Deutschland im 21. Jahrhundert.<br />

Petra Ernstberger Klaas Hübner Johannes Kahrs<br />

4


GRUSSWORT DES BUNDESKANZLERS<br />

Grußwort von<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er – was verbindet sich nicht alles mit diesem Namen! Da<br />

gehen die Gedanken zunächst zurück zu Egon Franke und Annemarie<br />

Renger und den Kanalarbeitern aus der Bonner Rheinlust. Seit mehr als drei<br />

Jahrzehnten gehören die <strong>Seeheim</strong>er zu den festen Größen der Sozialdemokratie,<br />

ja der deutschen Politik insgesamt. An allen wichtigen Wegmarkierungen<br />

der SPD waren sie entscheidend beteiligt. Sitzungen der Bundestagsfraktion<br />

und Parteitage waren ohne ihre gewichtigen Wortmeldungen nicht denkbar.<br />

Ihren Stempel haben sie nicht nur den dort gefassten Beschlüssen aufgedrückt;<br />

sie haben damit bis heute auch maßgeblich Anteil an den großen Entscheidungen<br />

und Weichenstellungen für unser Land.<br />

Gerne versammeln sich aktive und ehemalige Abgeordnete, Freunde und<br />

Mitstreiter zur traditionellen Spargelfahrt der <strong>Seeheim</strong>er. In vertrauter<br />

Runde trifft man sich alljährlich zu einer Schiffstour bei Spargel und Wein<br />

zum Gedankenaustausch in geselliger Runde.<br />

Nachdem inzwischen fast ein halbes Jahrhundert seit dem ersten informellen<br />

Zusammentreffen der Kanalarbeiter vergangen ist, soll diese <strong>Chronik</strong> die <strong>Seeheim</strong>er<br />

und ihre Weggefährten zum Blick zurück animieren und sie an so<br />

manches in Vergessenheit geratene Ereignis erinnern. Ich wünsche allen bei<br />

der Lektüre viel Vergnügen.<br />

Gerhard Schröder<br />

Bundeskanzler<br />

5


GRUSSWORT ANNEMARIE RENGER<br />

Grußwort von<br />

Bundestagspräsidentin a. D. Annemarie Renger<br />

2005 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum sechzigsten Mal.<br />

Es war Kurt Schumacher, der in den ersten Nachkriegsjahren die deutsche<br />

Sozialdemokratie formte und prägte wie kein anderer. Peter Merseburger<br />

nannte ihn in seiner Biographie einen „der Grossen des deutschen Neubeginns“.<br />

In seinen letzten Lebenswochen hat Kurt Schumacher festgestellt, dass die<br />

Frage der deutschen Einheit für unser Volk ein zentrales Problem sei, gleichzeitig<br />

aber auch große Bedeutung für die Erhaltung der Freiheit in der Welt<br />

habe.<br />

An Kurt Schumacher und sein Vermächtnis möchte ich an dieser<br />

Stelle erinnern, der allen sozialdemokratischen Politikern in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg gewiesen hat. Kanalarbeiter und<br />

<strong>Seeheim</strong>er haben im Sinne Schumachers über lange Jahre hinweg dieses<br />

wichtige Ziel unserer Nation verfolgt und ihren Anteil zur Überwindung der<br />

deutschen Teilung beigetragen.<br />

Mit dieser <strong>Chronik</strong> des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es können wir einen Blick zurück<br />

werfen auf annähernd 50 Jahre Geschichte der deutschen Sozialdemokratie,<br />

die wir als Kanalarbeiter und <strong>Seeheim</strong>er maßgeblich mitgestaltet haben.<br />

Dr. h.c. Annemarie Renger<br />

Bundestagspräsidentin a.D.<br />

6


FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE<br />

„Freunde sauberer Verhältnisse“<br />

Wie Egon Franke und Karl Herold die Kanalarbeiter gründeten<br />

„Sie sind wahrhaftig ein Phänomen“, schrieb Der Spiegel 1977: „Einzigartig<br />

in der Bonner Politik-Landschaft; ein Verein mit gut 20jähriger Tradition,<br />

aber ohne genaues Gründungsdatum; ohne Satzung und gewählte Organe,<br />

aber doch mit geregeltem Klubleben und informeller Hierarchie; ohne feste<br />

Mitgliedschaften, doch mit ausgeprägtem Zusammengehörigkeitsgefühl: die<br />

‚Kanalarbeiter’ der SPD-Bundestagsfraktion, weniger bekannt auch unter<br />

dem Namen ‚Freunde sauberer Verhältnisse’“. Das Selbstverständnis der<br />

Kanalarbeiter, die in diesem Artikel beschrieben wurden, drückte sich schon<br />

in der Überschrift aus: „Ohne uns läuft nichts“.<br />

Wie kam es zu dem „ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl“ der<br />

Kanalarbeiter? Wie so vieles, fing alles beim Bier an: Das Lokal „Rheinlust“ an<br />

der Bonner Adenauerallee war Mitte der 50er Jahre beliebt bei Abgeordneten<br />

aller Parteien, auch zahlreiche Mitglieder der SPD-Fraktion trafen sich hier.<br />

Es waren Egon Franke aus Hannover und der Kulmbacher Karl Herold, die<br />

hier eine Art SPD-Stammtisch gründeten. „Dienstag in der ,Rheinlust’“<br />

lautete der Spruch, mit dem sich die Kanaler in der Fraktion verabredeten.<br />

Die Kanalarbeiter-Runde beim gemütlichen Bier im „Kessenicher Hof “ (H. J. Darchinger)<br />

7


FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE<br />

Zum festeren Zusammenschluss, und vor allem zur Namensgebung, kam es<br />

aber erst, als die „Rheinlust“-Runde 1957 gemeinsam protestierte – gegen die<br />

kleiner werdenden Portionen im Bundeshaus-Restaurant. Die Abgeordneten<br />

besorgten sich an einem Kiosk Würstchen und Brot und verspeisten diese<br />

„üppige“ Mahlzeit unter großer Anteilnahme in der Parlamentskantine, von<br />

der man sich lediglich das Besteck geliehen hatte. Als Journalisten fragten,<br />

was es denn mit der Aktion auf sich habe, antwortete Karl Herold: „Wir sind<br />

die Gewerkschaft der Kanalarbeiter“ – ein Name war gefunden.<br />

Helmut Schmidt kommentierte die Namensgebung in seinem Buch „Weggefährten.<br />

Erinnerungen und Reflexionen“ aus dem Jahr 1996 so: „Mit dem<br />

selbstironischen Namen Kanalarbeiter wollten sie andeuten, daß sie zwar<br />

wenig zu sagen hatten, wohl aber in den Wahlkreisen und in den unteren<br />

Parteigliederungen die schwierige Arbeit der Überzeugung leisten mußten.“<br />

Vom Kantinen-Protest abgesehen, begann die politische Karriere der<br />

Kanaler etwas später – aus verhältnismäßig geringfügigem Anlass: Der damalige<br />

Bundestags-Vizepräsident und Fraktionsgeschäftsführer Karl Mommer<br />

genehmigte Auslandsreisen von Fraktionskollegen prinzipiell nur, nachdem<br />

er ihre Fremdsprachenkenntnisse geprüft hatte. Erschienen dem promovierten<br />

Sozialwissenschaftler die Sprachkenntnisse des Kandidaten zu dürftig,<br />

wurde der Reiseantrag abgelehnt; eine Praxis, die auf Initiative der Kanalarbeiter<br />

abgeschafft wurde. Egon Franke, der keiner Fremdsprache mächtig war,<br />

drückte es so aus: „Das fanden wir ungerecht, das haben wir geändert.“<br />

Egon Franke prägte die Kanalarbeiter über Jahrzehnte hinweg. Während<br />

des Dritten Reiches war er wagen „Vorbereitung zum Hochverrat“ von den<br />

Nazis für zweieinhalb Jahre ins Zuchthaus gesperrt worden, die letzten beiden<br />

Kriegsjahre erlebte er in der berüchtigten Strafeinheit 999. Seit 1929 in<br />

der SPD, gehörte Franke neben Annemarie Renger, einem weiteren prominenten<br />

Mitglied der Kanalarbeiter und später des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es, in seiner<br />

Heimatstadt Hannover zu einem der engsten Mitarbeiter Kurt Schumachers<br />

und war maßgeblich beteiligt am Wiederaufbau der SPD nach 1945.<br />

Der ehemalige Tischlergeselle Franke, von der Presse gern „Canale Grande“<br />

genannt, war unbestrittener Wortführer der Kanalarbeiter, obwohl er nie dazu<br />

8


FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE<br />

Süddeutsche Zeitng vom 16. März 1973<br />

gewählt wurde. Die „sozialdemokratische Institution“, wie Franke einmal von<br />

Hans-Jochen Vogel genannt wurde, begrüßte die Mitglieder des <strong>Kreis</strong>es gern<br />

mit „Liebe Freunde“ statt mit „Liebe Genossen“, Solidarität war für ihn stets<br />

die wichtigste Eigenschaft eines Sozialdemokraten.<br />

36 Jahre lang war Egon Franke Mitglied des Deutschen Bundestages, vom<br />

17. Mai 1951 bis zu seinem Ausscheiden am Ende der Zehnten Wahlperiode<br />

im Jahr 1987. Sehr früh schon hatte er sich der Deutschlandpolitik, der<br />

Berlin-Hilfe und der Zonenrandförderung angenommen. Als Herbert<br />

Wehner im Dezember 1966 in der Großen Koalition das Ministerium für<br />

Gesamtdeutsche Fragen übernahm, folgte Franke ihm als Vorsitzender<br />

des Bundestagsausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen nach.<br />

1969 wurde er dann Nachfolger Wehners als Bundesminister für innerdeutsche<br />

Beziehungen im Kabinett Brandt, dem er bis 1982 in dieser<br />

Funktion angehörte.<br />

Welche Bedeutung Egon Franke für die SPD-Fraktion in Bonn hatte,<br />

schilderte Helmut Schmidt: „[Er] war das wichtigste Scharnier zu den<br />

vielen traditionellen Arbeiterfunktionären in der Fraktion, denen die Koalition<br />

mit der CDU/CSU – noch dazu einschließlich Franz Josef Strauß, den<br />

9


FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE<br />

sie doch so vehement bekämpft hatten – zunächst ziemlich unheimlich<br />

vorkam. Wenn wir einen im Parlament zu beschließenden Akt in mühseligen<br />

Kompromißverhandlungen mit der CDU/CSU-Fraktion unter ihrem<br />

Vorsitzenden Rainer Barzel zur Beschlußreife gebracht hatten, war es oft<br />

Frankes Aufgabe, seine Kanalarbeiter beim Bier von der Angemessenheit des<br />

Beschlusses zu überzeugen.“<br />

Aber nicht nur die Kanalarbeiter wurden gelegentlich überzeugt, in so manchem<br />

Fall brachten sie auch einen Bundeskanzler dazu, seine Meinung zu<br />

überdenken – zum Beispiel Willy Brandt. Annemarie Renger erinnert sich<br />

in ihrem Buch „Ein politisches Leben“ an ein Treffen der Kanaler mit ihm,<br />

bei dem sie Brandt überzeugen wollten, die Gespräche zur Großen Koalition<br />

1966 fortzusetzen:<br />

„Willy Brandt war ursprünglich gegen eine Große Koalition, die<br />

Mehrheit der Fraktion schien aber die Notwendigkeit einzusehen.<br />

Also mußte Willy Brandt überzeugt werden. In dieser Zeit<br />

pflegte Willy Brandt enge Kontakte zu den ‚Kanalarbeitern’, die in der<br />

Fraktion die Mehrheit bildeten. Der ‚Schatzmeister’ unseres<br />

<strong>Kreis</strong>es, Karl Herold, der spätere Parlamentarische Staatssekretär<br />

im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, hatte in der<br />

Nähe seines Wahlkreises Kulmbach eine Anzahl Karpfenteiche.<br />

Er hatte nun die ganze‚ Kanalarbeiter-Riege’ zu einem großen<br />

Karpfen-Essen eingeladen zusammen mit den für die Entscheidung<br />

der Koalitionsfrage wichtigen Leuten. Es dauerte nicht lange, und<br />

Willy Brandt konnte von der Notwendigkeit der Koalition überzeugt<br />

werden, denn bei einer Abstimmung wäre die Mehrheit in der<br />

SPD-Fraktion gesichert. Die Gespräche konnten also weitergehen.“<br />

10


UNKELER GEFUNKEL<br />

„Unkeler Gefunkel“<br />

Auf die Pflege ihrer Gemeinsamkeiten legten die Kanaler großen Wert<br />

„Berühmt-berüchtigt“ waren die Kanalarbeiter auch für ihre personalpolitischen<br />

Absprachen. Nicht nur einmal haben sie die Wahlen zum Fraktionsvorstand<br />

nach ihren Vorstellungen gestaltet – möglich war dies durch<br />

solide Mehrheiten: In der 3. Legislaturperiode von 1957 bis 1961 waren mehr<br />

als zwei Drittel der SPD-Fraktion Kanaler. Egon Franke: „Wer was werden<br />

will in der Fraktion, muß sich bei uns schon mal blicken lassen.“ Die Publizistin<br />

Sybille Krause-Burger beschrieb das 1979 in einem Artikel so: „Die Zusammengehörigkeit,<br />

die hier gepflegt und genossen wird, verwandelt Egon<br />

Franke, wenn es sein muß, im Handumdrehen in ein machtvolles politisches<br />

Instrument. Dann strömen die Kanalarbeiter in Massen in den großen Saal<br />

(des Kessenicher Hofs) nebenan. Dann mag ihnen sogar der Bundeskanzler<br />

die Ehre erweisen. Den Dank für die Herablassung holt er sich später bei der<br />

Abstimmung im Plenum ab.“<br />

Bedeutendstes gesellschaftliches Kanaler-Ereignis eines jeden Jahres seit<br />

1961 war die „Spargelfahrt“. Von der Bonner Gronau aus fuhr man mit<br />

der „MS Beethoven“ oder der „Filia Rheni“ stromaufwärts nach Unkel, um<br />

dort im Rheinhotel Schulz gemeinsam zu speisen und einen Wein namens<br />

„Unkeler Gefunkel“ zu trinken. 1980 recherchierte die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, dass die Mitgliederzahl des dortigen SPD-Ortsvereins nach der<br />

ersten Spargelfahrt sprunghaft von 67 auf 92 angestiegen war. Ab 1988 legte<br />

das Schiff allerdings nicht mehr in Unkel an, seitdem wurde der Bornheimer<br />

Spargel an Bord gegessen.<br />

Die Ziele der Kanalarbeiter waren klar definiert: Unbedingte Loyalität<br />

zur Regierung und Treue zum Godesberger Programm, das für den Wandel<br />

der Partei zu einer gemeinwohlorientierten sozialreformerischen Volkspartei<br />

stand. Entschieden traten sie gegen eine Re-Ideologisierung der Partei<br />

ein, verurteilten die Tendenzen zu einer elitären Entwicklung und eine theoretische<br />

Überfrachtung. Die Kanaler wollten eine SPD, die auf Bundesebene<br />

11


UNKELER GEFUNKEL<br />

koalitions- und mehrheitsfähig war und die sich<br />

nicht von linken Minderheiten beherrschen lässt.<br />

Auf die Rolle von Egon Franke bei der<br />

Realisierung des Godesberger Programms 1959<br />

ging Hartmut Soell in seiner Fritz-Erler Biographie<br />

ein:<br />

„Mit der Wahl des niedersächsischen Landesausschußvorsitzenden<br />

Egon Franke ins Parteipräsidium<br />

wurde nicht nur, wie Erler<br />

schrieb, ‚ein bisher von der Parteiführung<br />

schwer zu erreichendes Gebiet etwas stärker<br />

herangezogen’ und jemand für die ‚Arbeit des<br />

Präsidiums interessiert, der bisher der ganzen Einrichtung ablehnend<br />

gegenüberstand’. Franke war neben seiner Eigenschaft als ein im<br />

Bündnis der Bezirksvorsitzenden Mitbestimmender – dieses Bündnis<br />

hatte, weil es einen Großteil der eher ‚traditionalistischen’, theoretisch<br />

nicht so interessierten Gruppen zusammenband, bei der Durchsetzung<br />

des Godesberger Programms (1959) eine kaum zu unterschätzende<br />

Rolle gespielt – auch Sprecher der ‚Kanalarbeitergewerkschaft’,<br />

einer informellen aber bei personalpolitischen Entscheidungen einflußreichen<br />

Gruppe von SPD-‚Hinterbänklern’ jüngeren und mittleren<br />

Alters.“<br />

Egon Franke auf dem SPD-Parteitag<br />

in Hannover 1960<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Die Kanalarbeiter grenzten sich entschieden ab – nach beiden Seiten. „Wenn<br />

mich meine Jusos in Nordenham fragen, ob ich mich als demokratischer<br />

Sozialist verstehe, antworte ich denen immer: Ich bin Sozialdemokrat“,<br />

sagte der Kanaler Heinrich Müller („der lange Hein“). „Einem Sozialdemokraten<br />

zu sagen, du stehst rechts, ist eine intellektuelle Schweinerei“,<br />

ergänzte wiederum Egon Franke.<br />

12


SOLIDE UNTERSTÜTZUNG<br />

Zwei „Kanalarbeiter“ – Annemarie Renger in Stockholm<br />

„Solide Unterstützung“<br />

Erste Kontakte zu den <strong>Seeheim</strong>ern – Die Kanalarbeiter lösen sich auf<br />

Im Dezember 1972 kam es erstmals zu Gesprächen zwischen den Kanalarbeitern<br />

und den späteren <strong>Seeheim</strong>ern. Hans-Jochen Vogel und Heinz<br />

Ruhnau versuchten die in der Bundestagsfraktion starke Gruppe der Kanalarbeiter<br />

für eine koordinierte innerparteiliche Offensive gegen den wachsenden<br />

Einfluss des Neomarxismus in der SPD zu gewinnen. Die zunächst eher<br />

zögerliche Haltung, auch aufgrund der Vorbehalte gegen eine organisierte<br />

Gruppenbildung, änderte sich nach der herben Niederlage bei den Vorstandswahlen<br />

auf dem Parteitag 1973 in Hannover. Danach waren auch die letzten<br />

Vorbehalte gegen eine innerparteiliche Koordinierung der nicht-marxistischen<br />

Kräfte bei den Kanalern aufgehoben. Günther Metzger, einer die Initiatoren<br />

des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es, charakterisierte die Anfänge des gemeinsamen<br />

Aktionsfelds zwischen Kanalarbeitern und <strong>Seeheim</strong>ern folgendermaßen:<br />

„Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler gab es in der<br />

Bundestagsfraktion eine Reihe jüngerer Abgeordneter, die den<br />

13


SOLIDE UNTERSTÜTZUNG<br />

Versuch unternahmen, über die sogenannten Kanalarbeiter hinaus, die<br />

zweifellos die Mehrheit in der Bundestagsfraktion stellten, einen <strong>Kreis</strong><br />

zu bilden, der in Solidarität und Zusammenarbeit mit den Kanalarbeitern<br />

die politische Diskussion, die politische Sacharbeit und die<br />

Schaffung einer geistigen Grundlage für die politische Arbeit fördern<br />

und ausbauen sollte. Den Kanalarbeitern war damals ja immer wieder<br />

zum Vorwurf gemacht worden, daß sie in erster Linie einen Sauf-<br />

Club darstellten. Das war sicher nicht richtig. Ich habe sehr bald im<br />

Umgang mit den älteren Mitgliedern der Fraktion erfahren, daß es<br />

um eine sehr solide Unterstützung einer Politik auf der Grundlage des<br />

Godesberger Programms ging.[…]“<br />

In den Jahren der Regierung Schmidt gelang es Kanalarbeitern und <strong>Seeheim</strong>ern<br />

gemeinsam in Regierung und Parlament konstruktiv zusammenzuarbeiten.<br />

Erst mit dem Ende der SPD/FDP-Koalition 1982 lösten sich<br />

die Kanalarbeiter auf. Die verbliebenen Mitglieder schlossen sich dem <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong> an. Was haben die Kanalarbeiter – gegen alle Anfeindungen,<br />

nur ein „Bier- und Skatverein“ zu sein – erreicht? Die treffendste Antwort auf<br />

diese Frage hat Annemarie Renger, die Grande Dame der Kanaler, einmal<br />

dem Journalisten Helmut Herles gegeben, überliefert ist sie in seinem Buch<br />

„Machtverlust oder des Ende der Ära Brandt“:<br />

„Mit dem Ende der Regierung Schmidt ist die über lange Jahre erfolgreiche,<br />

selbstgesetzte Aufgabe der Kanalarbeiter, ein verläßlicher Partner<br />

sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zu sein, entfallen.<br />

Der ‚Kanal’ ist stolz darauf, durch seine spezifische Haltung bedeutsame<br />

und – wie selbst die jetzigen Koalitionsvereinbarungen zeigen –<br />

jedenfalls einstweilen nicht umkehrbare Reformen von Staat und Gesellschaft<br />

ermöglicht zu haben. Er hat dazu in Kauf genommen, als<br />

eine Ja-Sager-Truppe ohne eigene intellektuelle ausgreifende Entwürfe<br />

verzeichnet zu werden. Die Pflege offener, geselliger und freundschaftlicher<br />

Beziehungen der Abgeordneten untereinander bleibt eine<br />

Aufgabe.“<br />

14


REALE REFORMER<br />

„Reale Reformer“<br />

Die Anfänge der <strong>Seeheim</strong>er: Metzger-<strong>Kreis</strong>, Linke Mitte, Fritz-Erler-<strong>Kreis</strong>,<br />

Vogel-<strong>Kreis</strong> und Lahnsteiner <strong>Kreis</strong><br />

Für die Vertreter des „Godesberger Flügels“ innerhalb der SPD gab es in den<br />

70er Jahren diverse Bezeichnungen, abhängig zum einen vom Betrachtungszeitraum,<br />

zum anderen davon, ob man von der Partei- bzw. Fraktionsebene<br />

sprach. Zu den bekanntesten Bezeichnungen für die Vorläufer des <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong>es gehören „Metzger-<strong>Kreis</strong>“, „Linke Mitte“, „Fritz-Erler-<strong>Kreis</strong>“,<br />

„Vogel-<strong>Kreis</strong>“ oder auch „Lahnsteiner <strong>Kreis</strong>“.<br />

Der Zusammenhalt der ersten <strong>Seeheim</strong>er gründete vor allem auf der Konfrontation<br />

mit der 68er-Generation. Meist war eine persönliche Auseinandersetzung<br />

mit der Offensive der neomarxistischen Bewegung das Schlüsselerlebnis<br />

für die Initiatoren des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es. So für Hans-Jochen Vogel in<br />

München, Günther Metzger in Hessen-Süd sowie Peter Corterier und Ernst<br />

Eichengrün als Führungsspitze der Jusos vor dem Linksrutsch 1969. Jürgen<br />

Maruhn und Ernst Eichengrün hatten bereits 1960 eigens den Studentischen<br />

Hochschulbund (SHB) gegründet um sich vom Sozialistischen Deutschen<br />

Studentenbund (SDS) abzusetzen, dass sich der SHB allerdings wenige Jahre<br />

später zunehmend radikalisierte, konnten sie nicht verhindern.<br />

Aus den Reihen der Studentenbewegung und der Jugendorganisationen kam<br />

oft der Vorwurf, die <strong>Seeheim</strong>er seien angepasst. Peter Corterier, einer der<br />

Mitbegründer des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es äußerte sich dazu bereits 1970:<br />

„Der Vorwurf der Anpassung ist innerparteilich sehr populär, wie ja<br />

überhaupt das Phänomen des innerparteilichen Opportunismus nach<br />

links heutzutage weitgehend tabuiert ist und auch von der Öffentlichkeit<br />

unbeachtet bleibt. Hier wird mancher als erleuchteter Märtyrer<br />

gefeiert, der in Wirklichkeit nur klug taktiert.“<br />

15


REALE REFORMER<br />

Peter Corterier und Hans Jochen Vogel im Jahre 1969 (H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Der „Linksruck“ innerhalb der SPD vollzog sich in Anbetracht der Schwerfälligkeit<br />

politischer Parteien relativ schnell: Die Juso-Linkswende 1969, der<br />

Steuerparteitag 1971 – der einige Vorschläge des Parteivorstands zu Gunsten<br />

radikaler Anträge zurückgewiesen hatte – bis zum Hannoveraner Parteitag<br />

1973, auf dem die Parteilinke ein Drittel der Delegierten stellte. Bereits<br />

im September 1970 hatte der damalige Oberbürgermeister von München,<br />

Hans-Jochen Vogel, in einem Brief an Willy Brandt darauf hingewiesen, dass<br />

eine innerparteiliche Organisierung des „Godesberger Flügels“ notwendig<br />

sei:<br />

„Meine Freunde und ich führen den Kampf [gegen die neomarxistischen<br />

Kräfte] mit aller Entschlossenheit. […] Solange sich die realen<br />

Reformer innerhalb der Partei nicht ebenso straff organisieren, leidet<br />

ihre Wirksamkeit ganz empfindlich, zumal sich die andere Seite rücksichtsloser<br />

Methoden bedient.“<br />

Noch vor der Bundestagswahl 1972 lud der damalige Wirtschafts- und<br />

Finanzminister Helmut Schmidt eine Reihe von Vertretern der „Godesberger<br />

Linie“ in sein Ferienhaus am Brahmsee ein, um über ein weiteres innerpartei-<br />

16


REALE REFORMER<br />

liches Vorgehen zu diskutieren. Hans-Jochen Vogel schilderte in seinem Buch<br />

„Nachsichten“ die Gründe für eine solche Zusammenkunft:<br />

„Innerparteiliche Auseinandersetzungen über die Fragen, über die in<br />

München gestritten wurde, fanden zu jener Zeit – Willy Brandt war<br />

in dieser Hinsicht etwas zu optimistisch – auch an anderen Orten, so<br />

etwa in Frankfurt am Main, in Berlin und in Kiel, statt. Darüber hinaus<br />

gab es die Sorge, die Partei könnte insgesamt hinter Godesberg<br />

zurückfallen und dadurch auch ihren Erfolg bei den nächsten Bundestagswahlen<br />

mit der Konsequenz gefährden, daß sie wieder in die<br />

Opposition zurückkehren müßte. Ebenso wurden weitere Übertritte<br />

im Parlament und ein neuerliches und dann erfolgreiches Mißtrauensvotum<br />

nicht für ausgeschlossen gehalten. Zu den Besorgten gehörte<br />

auch Helmut Schmidt, damals Wirtschafts- und Finanzminister<br />

und stellvertretender Parteivorsitzender. Er lud deshalb Hermann<br />

Schmidt-Vockenhausen, damals Vizepräsident des Bundestages, Adolf<br />

Schmidt, damals Vorsitzender der Bergbaugewerkschaft und Bundestagsabgeordneter,<br />

und mich zu einem Gespräch in sein Ferienhaus am<br />

Brahmsee ein. In dem Gespräch, das im August 1972 stattfand, wurde<br />

ausführlich darüber geredet, wie dieser Entwicklung begegnet werden<br />

könnte, ohne daß man zu konkreteren Ergebnissen gekommen wäre.<br />

Insbesondere blieb offen, ob für die, die in der Partei ähnlich dachten,<br />

eine gewisse Struktur angestrebt werden und was im Falle des Verlustes<br />

der Regierungsmacht in der Partei geschehen sollte.“<br />

Zu diesem Zeitpunkt gab es auf der Ebene der Fraktion bereits eine „gewisse<br />

Struktur“ wie es Hans-Jochen Vogel nannte. Als nach den Bundestagswahlen<br />

1969 eine Reihe junger Abgeordneter neu in den Deutschen Bundestag<br />

einzogen, hatten viele bereits Kampfabstimmungen und Befragungen zu ihren<br />

Positionen zur Notstandsgesetzgebung und der Großen Koalition hinter<br />

sich. Ihr Ziel war es, einen Gegenpol zum bereits auf der Ebene der Bundestagsfraktion<br />

agierenden linken „Frankfurter <strong>Kreis</strong>“ zu organisieren. Für diesen<br />

sich formierenden Gesprächszirkel bürgerte sich bald der Name „Metzger-<br />

<strong>Kreis</strong>“ ein, benannt nach einem der Initiatoren, Günther Metzger.<br />

17


REALE REFORMER<br />

Günther Metzger im Jahre 1972<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Diese informellen Treffen und „Faktionalisierungstendenzen“<br />

innerhalb der SPD stießen<br />

auf heftige Kritik des Bundeskanzlers und<br />

Parteivorsitzenden Willy Brandt – die sich gegen<br />

jede Flügelbildung richtete. „Der Parteivorsitzende<br />

möchte lieber anders als aus<br />

Zeitungsmeldungen erfahren, wenn auf einer<br />

Nachfolgeveranstaltung zur Parteiratssitzung<br />

über die Probleme der Regierungsbildung gesprochen<br />

werden soll“, sagte er in der Süddeutschen<br />

Zeitung vom 12. Dezember 1972. Anlass<br />

für Brandts Verärgerung war u. a. ein Treffen<br />

des „Fritz-Erler-<strong>Kreis</strong>es“ in der Bonner Gaststätte<br />

„Kessenicher Hof“, zu dem rund 60 Personen kamen. Die Initiatoren<br />

waren Helmut Schmidt, Bundesverteidigungsminister Georg<br />

Leber, Bundesbauminister Hans-Jochen Vogel und der Hamburger Innensenator<br />

Heinz Ruhnau. Man wollte, so die Teilnehmer, „die theoretische<br />

Diskussion in der SPD nicht mehr allein den Linken überlassen.“<br />

Süddeutsche Zeitung vm 12. Dezember 1972<br />

18


REALE REFORMER<br />

Nur zehn Tage später wird in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung erstmals auch von einem Arbeitskreis „Linke Mitte“ innerhalb der<br />

SPD-Bundestagsfraktion gesprochen, der nun parallel zu den Kanalarbeitern<br />

existierte. Tatsächlich handelte es sich praktisch um den „Metzger-<strong>Kreis</strong>“, der<br />

sich zum Ziel setzte, „unter Beachtung der Grundsätze der parlamentarischen<br />

Demokratie sehr pragmatisch ausgerichtete sozialdemokratische Politik zu<br />

betreiben.“<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Dezember 1972<br />

Mitglieder waren u. a. Günther Metzger, Horst Seefeld, Lothar Wrede,<br />

Ludwig Fellermaier, Rainer Offergeld, Alwin Brück, Alfons Pawelczyk,<br />

Peter Corterier, Manfred Wende, Peter Würtz und Roelf Heyen. Sie übten<br />

scharfe Kritik an den Fraktionskollegen des linken Flügels, die – so zitiert<br />

die Frankfurter Allgemeine Zeitung – „verstaubtes Gedankengut aus dem<br />

vergangenen Jahrhundert zum politischen Maßstab ihres Handels machen.<br />

Unter ihnen seien sogar einige, die das System der parlamentarischen Demokratie<br />

stürzen wollten. Der Arbeitskreis ‚linke Mitte’ will nicht zulassen, daß<br />

vornehmlich solche Parteimitglieder die Diskussion in der SPD bestimmen.“<br />

Die „Linke Mitte“ versammelte sich jeden Dienstag vor der Fraktionssitzung<br />

der SPD. Und auch heute noch treffen sich die <strong>Seeheim</strong>er in den Sitzungswochen<br />

jeden Dienstag gegen 13.30 Uhr zum Mittagstisch – eine Kontinuität<br />

über 30 Jahre hinweg.<br />

19


SIGNALWIRKUNG<br />

„Signalwirkung“<br />

Der Parteitag in Hannover 1973 und die Vorstandswahlen<br />

Der Parteitag in Hannover vom 10. bis zum 14. April 1973 überraschte<br />

viele Sozialdemokraten. Bereits im Vorfeld war abzusehen, dass es zwischen<br />

den Lagern innerhalb der Partei zu heftigen Auseinandersetzungen kommen<br />

würde. Ein strittiges Thema war der so genannte „Radikalenerlaß“ bzw.<br />

„Ministerpräsidentenbeschluß“, der Rechts- sowie Linksradikalen den Zugang<br />

zum öffentlichen Dienst verschließen sollte. Dieser Erlass wurde von<br />

den Linken als Berufsverbot angesehen und war für sie Sinnbild des polizeistaatlichen<br />

Charakters der Bundesrepublik.<br />

Entscheidender für einige bedeutende Köpfe der SPD – und der Kanalarbeiter<br />

– waren allerdings die Wahlen zum 34-köpfigen Parteivorstand, bei<br />

denen Annemarie Renger, Egon Franke, Käte Strobel und Carlo Schmid<br />

Niederlagen erlitten. Die damalige Bundestagspräsidentin Renger schilderte<br />

ihre persönlichen Eindrücke:<br />

„Im Vorfeld des Parteitages hatten einige Genossen im Vorstand auf<br />

mich eingeredet, ich möchte doch von einer Kandidatur für den<br />

Vorstand absehen, denn meine Wahl sei nicht gesichert. Herbert<br />

Wehner und Holger Börner, letzterer damals Bundesgeschäftsführer,<br />

meinten, ich könnte doch als Bundestagspräsidentin an den Sitzungen<br />

teilnehmen. Ich dachte nicht daran ihrem Rat zu folgen. Ich wollte<br />

wissen, ob es der Parteitag fertigbekäme, die erste sozialdemokratische<br />

Präsidentin abzuwählen, und ich wollte das sagen, was nach meiner<br />

Meinung gesagt werden mußte. Wenn das so weiterginge mit den linken<br />

Tönen, wären wir früher oder später nicht mehr regierungsfähig.“<br />

Hans-Jochen Vogel schockierte vor allem das Scheitern Carlo Schmidts, einer<br />

der Symbolfiguren der deutschen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit:<br />

„Erstmals fand auf diesem Parteitag auch eine Personaldiskussion<br />

statt, bei der sich die Kandidaten für den Parteivorstand einzeln vorstellen<br />

mußten. Carlo Schmid tat das mit den Worten: ‚Ich heiße<br />

20


SIGNALWIRKUNG<br />

Carlo Schmid, bin 77 Jahre alt, also nicht mehr jusofähig. Im übrigen<br />

eine Zeitlang im Bundestag und auch in der Partei tätig gewesen.’<br />

Er fiel im ersten Wahlgang durch und zog seine Kandidatur zurück.<br />

‚Das wird meine Liebe zur Partei nicht vermindern’, sagte er bei dieser<br />

Gelegenheit. ‚Ich werde mein Können und meine Kraft zur Verfügung<br />

stellen wie bisher.’ Der Parteitag antwortete darauf mit einer stehenden<br />

Ovation. Damals erschien mir das als ein Akt kollektiver Heuchelei.<br />

Heute sehe ich darin eher ein Beispiel für die befreiende Wirkung einer<br />

ebenso noblen wie souveränen Äußerung einer großen Persönlichkeit.“<br />

Heinz Ruhnau auf dem SPD-Parteitag in Hannover 1973 (H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Die „Linke Mitte“ konnte mit dem Ausgang der Wahlen trotzdem zufrieden<br />

sein, mit Hans-Jochen Vogel, Bruno Friedrich, Hermann Buschfort, Heinz<br />

Ruhnau und Hans Apel wurden einige der späteren führenden Köpfe des <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong>es neu in den Parteivorstand gewählt.<br />

Der Parteitag hatte indes Signalwirkung für die Kanalarbeiter, die sich einer<br />

innerparteilichen Zusammenarbeit mit dem „Metzger-<strong>Kreis</strong>“ nun nicht mehr<br />

verschlossen. Ziel war von nun an die Bündelung der gemäßigten Kräfte der<br />

Sozialdemokratie.<br />

21


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

„Organisierte Gegenmacht“<br />

Der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> gründet sich in Lahnstein –<br />

„Godesberg und die Gegenwart“<br />

Zum ersten Mal trafen sich rund 40 der späteren <strong>Seeheim</strong>er im August 1973<br />

im Dorint-Hotel im rheinland-pfälzischen Städtchen Lahnstein. Aber erst<br />

das größer angelegte Treffen im September 1974 an gleicher Stelle kann als<br />

das eigentliche Gründungstreffen des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es gelten. Dem Ort<br />

Lahnstein verdankte der <strong>Kreis</strong> die anfänglich noch gebräuchliche Bezeichnung<br />

„Lahnsteiner <strong>Kreis</strong>“. Ab 1978 fanden die regelmäßigen Treffen dann<br />

aber im hessischen Ort <strong>Seeheim</strong>, einem Luftkurort an der Bergstraße, im<br />

dortigen Lufthansa-Schulungszentrum statt. „Das Gute war, dass abends<br />

keiner wegkonnte“, sagte Günther Metzger später einmal über die Wahl des<br />

Tagungsortes. Der Name „<strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>“ hat sich bis heute erhalten.<br />

Angesichts der Entwicklungen auf Partei- und Fraktionsebene und des Verlaufs<br />

des Parteitags, hielten es führende SPD-Politiker für notwendig, einen<br />

Gegenpol zu den Parteilinken auf Bundesebene zu schaffen. So schrieb Ernst<br />

Eichengrün im Frühjahr 1974 in seinem Papier „Was wird aus der SPD?“:<br />

„Die radikalen Linken sprechen oft von der ‚organisierten Gegenmacht’,<br />

die gegen das ‚Kapital’ antreten muß. Sie selbst haben seit Jahren im<br />

Frankfurter, Leverkusener und anderen <strong>Kreis</strong>en und nicht zuletzt in<br />

der Juso-Organisation diese organisierte Gegenmacht gegen die bisherige<br />

Politik der Partei aufgebaut. Auch wir müssen endlich einsehen,<br />

daß es ohne eine solche Gegenmacht nicht geht.“<br />

Mit den ersten Treffen in Lahnstein wurde somit der Grundstein gelegt<br />

für eine über die Fraktionsebene hinaus agierende Organisation, die ihren<br />

klaren Bezugspunkt im Godesberger Programm von 1959 hatte und stets die<br />

Regierungsfähigkeit der Partei in den Mittelpunkt rückte.<br />

In einem Redemanuskript zum Jubiläumstreffen 1994 nannte Hans-<br />

Jochen Vogel einige Politiker und Politikwissenschaftler, die an der<br />

22


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

Das Schulungszentrum der Lufthansa in <strong>Seeheim</strong>-Jungheim<br />

23


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

Gründung und den ersten Schritten des<br />

<strong>Kreis</strong>es maßgeblich beteiligt waren. Dies waren<br />

neben ihm selbst, Richard Löwenthal,<br />

Ludwig Rosenberg, Alexander und Gesine<br />

Schwan, Heinz Ruhnau, Herbert Ehrenberg,<br />

Annemarie Renger, Antje Huber, Hermann<br />

Buschfort, Jürgen Maruhn, Peter Streichan,<br />

Günther Metzger, Hans Apel, Klaus Riebschläger<br />

und Ludwig Koch.<br />

Herbert Ehrenberg auf dem<br />

SPD-Parteitag in Mannheim 1975<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

In „Nachsichten“ erläutert Hans-Jochen Vogel<br />

die Umstände, die zum ersten Treffen in Lahnstein<br />

führten:<br />

„Unter dem Eindruck der andauernden Auseinandersetzungen kamen<br />

im August 1973 auch auf meine Einladung hin in Lahnstein<br />

rund vierzig Parteimitglieder zusammen, die sich als realistische Reformer<br />

verstanden und mit ihrem Treffen einen im Gespräch am<br />

Brahmsee geäußerten Gedanken aufgriffen. Aus dieser Begegnung<br />

gingen im weiteren Verlauf die so genannten <strong>Seeheim</strong>er hervor. Als<br />

wir in Lahnstein eintrafen, erwartete uns im Hotel ein in Gedichtform<br />

abgefaßter Brief des Vorsitzenden der dortigen Jungsozialisten,<br />

in dem er uns riet, uns eher den guten Weinen der dortigen Lagen<br />

zu widmen und bald wieder nach Hause zu fahren. Der Name des<br />

Absenders lautete Rudolf Scharping.“<br />

Auf diesen ersten Treffen in Lahnstein war beschlossen worden, die Gründung<br />

von regionalen Gesprächskreisen zu fördern und diese durch informelle,<br />

organisatorische und argumentative Hilfe von Seiten der Bundesebene zu<br />

unterstützen. Man wollte so die Mehrheitsströmungen in den Parteiuntergliederungen<br />

stärken und besser koordinieren.<br />

Mit dem Text „Godesberg und die Gegenwart“ erschien 1975 das erste<br />

theoretische Grundsatzpapier der <strong>Seeheim</strong>er. Es war vornehmlich dazu<br />

gedacht, Gleichgesinnten in den Parteigremien argumentativ gegen die<br />

24


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

Linke bei Seite zu stehen und aus der theoretischen<br />

und ideologischen Defensive herauszukommen.<br />

Handlungsbedarf für den <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> war<br />

zweifelsohne vorhanden. Die SPD hatte bei<br />

einer Reihe von Landtagswahlen in der ersten<br />

Jahreshälfte 1974 teilweise drastische Stimmverluste<br />

zu verzeichnen – in Hamburg waren es<br />

sogar mehr als 10 Prozentpunkte. Eine Studie<br />

hatte ergeben, dass der größte Schwachpunkt der<br />

SPD ihre Uneinigkeit sei. Hans-Jochen Vogel<br />

forderte bei einer Aussprache im Parteivorstand<br />

daraufhin, sich nicht länger um die Integration<br />

der neomarxistischen Linken zu bemühen:<br />

Antje Huber auf dem<br />

SPD-Parteitag in Mannheim 1975<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

„Aber sind wir denn in erster Linie ein Sozialisationsgremium, um<br />

verrückt gewordene Großbürgersöhne […] Mann für Mann zu erziehen,<br />

oder sind wir eine politische Partei, für die die Erhaltung der<br />

Mehrheit und der politischen Macht zur Veränderung im Interesse der<br />

breiten Mehrheit des Volkes im Vordergrund steht. Ich entscheide<br />

mich da ganz klar dafür, daß Integrations- und Erziehungsversuche<br />

dann abgebrochen werden müssen, wenn es<br />

ans Mark dieser Partei geht.“<br />

Die Linke forderte zu diesem Zeitpunkt von der<br />

SPD, sich von der Idee der Volkspartei zu verabschieden.<br />

Es galt daher für die <strong>Seeheim</strong>er das<br />

öffentliche Erscheinungsbild der SPD bis zum<br />

nächsten Bundesparteitag in Mannheim im November<br />

1975 zu korrigieren. „Godesberg und die<br />

Gegenwart“ war ein maßgeblicher Schritt auf<br />

diesem Weg.<br />

In der Schrift, die zu großen Teilen von den<br />

Politikwissenschaftlern Richard Löwenthal<br />

und Jürgen Maruhn verfasst wurde, wurden die<br />

Hermann Buschfort, einer der<br />

Initiatoren von „Godesberg und<br />

die Gegenwart“<br />

(Bildstelle Deutscher Bundestag)<br />

25


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

Vorwort<br />

Unsere Partei befindet sich in einer schwierigen Phase ihrer Entwicklung. Äußerlich ist<br />

diese Phase durch die Wahlniederlagen des Jahres 1974 gekennzeichnet, die der SPD<br />

gegenüber den vorhergehenden Landtagswahlen Verluste von durchschnittlich fast 5 Stimmprozenten<br />

und gegenüber der letzten Bundestagswahl einen Durchschnittsverlust von fast<br />

7 Stimmprozenten brachten. Innerhalb der Partei ist eine starke Auffächerung der<br />

Meinungen zu verzeichnen. Gleichzeitig wachsen die Herausforderungen, denen sich die<br />

Bundesrepublik gegenübersieht. Auch sind Probleme neu in unseren Gesichtskreis getreten,<br />

von denen man im Jahre 1959 noch keine Vorstellung besaß.<br />

In dieser Situation muß sich das Godesberger Programm in besonderem Maße bewähren.<br />

Einerseits muß es gegen Bestrebungen geschützt werden, die unsere theoretischen Grundlagen<br />

aufs Neue einengen und dogmatisieren wollen. Mit Recht hat Kurt Schumacher schon auf<br />

dem Parteitag 1948 festgestellt: „Eine einheitliche Parteitheorie wäre der Tod der Freiheit“.<br />

Andererseits müssen die Grundsätze des Programms immer wieder konkretisiert und auf die<br />

Gegenwart angewandt werden. Der Entwurf des Orientierungsrahmens ist ein wichtiger<br />

Schritt in diese Richtung.<br />

Der vorliegende Text, der von den Unterzeichneten gemeinsam mit den Genossen<br />

Herbert Ehrenberg, Ernst Eichengrün, Michael Hereth, Richard Löwenthal, Jürgen Maruhn,<br />

Ludwig Rosenberg, Alexander Schwan, Theo Tilders und einer großen Anzahl weiterer<br />

Genossinnen und Genossen erarbeitet worden ist, will der Partei auf diesem Wege als<br />

Diskussionsbeitrag helfen. Er soll zugleich auch dazu dienen, den Entwurf der Orientierungsrahmens<br />

mitzutragen und gegebenenfalls in einzelnen Punkten noch zu ergänzen.<br />

Gerade deshalb sind Äußerungen, Anregungen und auch kritische Stellungnahmen zu dem<br />

Text sehr erwünscht.<br />

Godesberg und die Gegenwart – das heißt nicht, einer angeblichen reinen Lehre zuliebe in<br />

die Opposition zurückkehren; das heißt vielmehr, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands<br />

als Volkspartei reformfähig, mehrheitsfähig und regierungsfähig zu erhalten, in<br />

einer Zeit, in der unser Volk mehr denn je die starke Kraft zwischen den Extremen, die Kraft<br />

der Vernunft, die Kraft braucht, die den Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der<br />

Solidarität verpflichtet ist.<br />

Hermann Buschfort Heinz Ruhnau Hans-Jochen Vogel<br />

Das Vorwort der Programmschrift „Godesberg und die Gegenwart“, unterzeichnet von Hermann Buschfort,<br />

Heinz Ruhnau und Hans-Jochen Vogel<br />

26


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

grundsatzpolitischen Prämissen des Godesberger Programms verteidigt und<br />

die neomarxistischen Schlüsselbegriffe kritisiert. Außerdem widmete sich das<br />

Papier aktuellen Debatten über Umwelt und Wachstum, Humanisierung der<br />

Arbeitswelt und betriebliche Mitbestimmung.<br />

Dem Parteivorstand wurde „Godesberg und die Gegenwart“ als Beitrag zur<br />

Diskussion über den „Orientierungsrahmen ’85“ vorgelegt. Der Parteivorsitzende<br />

Willy Brandt lobte den Text als nützlichen Beitrag für die Diskussion<br />

innerhalb der SPD. Erwartungsgemäß wurde von Seiten der Jusos, die<br />

„Godesberg und die Gegenwart“ als eine Art „Abrechnung“ betrachteten,<br />

heftige Kritik an der Schrift laut.<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1975<br />

Im Vorfeld des Mannheimer Parteitags im November 1975 zitierte Die Welt<br />

einen Sprecher des „Vogel-<strong>Kreis</strong>es“ folgendermaßen: „Wir werden nicht<br />

lethargisch wie das Kaninchen auf die Schlange starren und zusehen, wie uns<br />

die Linken den Boden unter den Füßen wegziehen.“<br />

Ein weiteres schlagkräftiges Instrument des <strong>Kreis</strong>es – neben der Schrift<br />

„Godesberg und die Gegenwart“ – war der seit Dezember 1974 von Jürgen<br />

Maruhn veröffentlichte Informationsdienst. Mit diesem Rundbrief sollten<br />

Aktivitäten auf lokaler Ebene unterstützt werden. Der Informationsdienst<br />

27


ORGANISIERTE GEGENMACHT<br />

wurde regelmäßig an bis zu 1.000 Empfänger verschickt. Im Anschreiben an<br />

die Adressaten wird die Zielsetzung deutlich:<br />

Er diene der Bereitstellung von Informationen „zur innerparteilichen<br />

Situation und Grundsatzdiskussion. Angesichts der massiven Informationspolitik<br />

und innerparteilichen Fraktionsbildung unter dem Stichwort ‚Linke’<br />

ist es notwendig, daß sich die gemäßigte Parteimehrheit auf Bundesebene<br />

wenigstens um einen begrenzten Informationsaustausch bemüht.“<br />

Der Rundbrief war somit eine Art Informationsplattform. Bis nach der<br />

Wiedervereinigung war der Informationsdienst eines der wichtigsten<br />

Kommunikationsinstrumente des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es im gesamten Bundesgebiet.<br />

Über den Informationsdienst und dessen Inhalte, sowie über die vermeintlichen<br />

Abspaltungstendenzen einer eigenen „Vogelpartei“ in Süddeutschland<br />

berichtete auch die Frankfurter Rundschau im Mai 1975. Mit ironischem<br />

Unterton wurden in dem Artikel die Beobachtungen des CSU-<br />

Bayern-Kuriers kommentiert, der in München bereits eine eigene „Filiale“ des<br />

„Lahnsteiner <strong>Kreis</strong>es“ ausgemacht und über die Vorbereitung einer eigenen<br />

Partei „zum höheren Ruhme Hans-Jochen Vogels“ gemutmaßt hatte.<br />

Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 1975<br />

28


NEUE HERAUSFORDERUNGEN<br />

„Neue Herausforderungen“<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er in der Regierungsverantwortung<br />

Am 16. Mai 1974 wurde nach dem Rücktritt Willy Brandts mit<br />

Helmut Schmidt ein ausgewiesener Vertreter des „Godesberger Flügels“ zum<br />

Bundeskanzler gewählt. Ebenso wie die <strong>Seeheim</strong>er, war auch der neue<br />

Kanzler für eine entschiedene Abgrenzung gegenüber den marxistischen<br />

Linken und für die Begrenzung ihres innerparteilichen Einflusses. Bereits vor<br />

dem Kanzlerwechsel war es wegen dieses Themas zwischen Willy Brandt und<br />

Helmut Schmidt immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten gekommen.<br />

Neben den Bundesministern Hans-Jochen Vogel und Georg Leber, die<br />

bereits dem zweiten Kabinett Brandt angehört hatten, wurden im ersten<br />

Kabinett Schmidt drei weitere <strong>Seeheim</strong>er zu Bundesministern ernannt: Hans<br />

Apel (Finanzen), Kurt Gscheidle (Verkehr, Post- und Fernmeldewesen) und<br />

Karl Ravens (Raumordnung und Bauwesen). Mit Kanalarbeiter-Chef Egon<br />

Franke als Minister für innerdeutsche Beziehungen war ein weiterer Vertreter<br />

des Godesberger Flügels im Kabinett.<br />

Noch bedeutender wurde die Rolle des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es im zweiten<br />

Kabinett von Helmut Schmidt, in dem noch mehr Bewahrer der Godesberger<br />

Positionen ein Ministeramt bekleideten: Hans-Jochen Vogel (Justiz), Hans<br />

Apel (Finanzen), Herbert Ehrenberg (Arbeit und Sozialordnung), Georg<br />

Leber (Verteidigung), Antje Huber (Jugend, Familie und Gesundheit), Kurt<br />

Gscheidle (Verkehr, Post- und Fernmeldewesen) und Karl Ravens (Raumordnung,<br />

Bauwesen und Städtebau).<br />

Ab 16. Februar 1978 übernahm der ebenfalls zu den <strong>Seeheim</strong>ern gehörige<br />

Dieter Haack das Amt für Raumordung, Bauwesen und Städtebau, zum<br />

gleichen Zeitpunkt wurde Rainer Offergeld Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

als Nachfolger von Marie Schlei. Egon Franke von den Kanalarbeitern<br />

war auch weiterhin Minister für innerdeutsche Beziehungen.<br />

29


NEUE HERAUSFORDERUNGEN<br />

Das Bundeskabinett 1976 mit einer großen Anzahl von Ministern die dem „Godesberger Flügel“ angehörten<br />

hintere Reihe von links nach rechts: Karl Ravens, Josef Ertl; mittlere Reihe: Hans Rohde, Antje Huber,<br />

Kurt Gscheidle, Marie Schlei, Werner Maihofer, Herbert Ehrenberg, Hans Fridrichs, Hans-Jochen Vogel<br />

vordere Reihe: Egon Franke, Georg Leber, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher,<br />

Hans Apel, Hans Matthöfer (H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Hans-Jochen Vogel erinnerte sich in seinem Buch „Nachsichten“ an das Jahr<br />

1976:<br />

„In dieser Zeit verfestigten sich die Kontakte derjenigen Sozialdemokraten<br />

und Sozialdemokratinnen, von deren erster Begegnung<br />

in Lahnstein im Frühjahr 1973 ich am Ende des vorigen Kapitels berichtet<br />

habe. Sie – im Durchschnitt rund achtzig bis hundert Parteimitglieder<br />

aus dem ganzen Bundesgebiet – tagten in gewissen Abständen<br />

zunächst weiterhin in Lahnstein und später in <strong>Seeheim</strong> bei<br />

Darmstadt, wovon sich die Bezeichnung „Die <strong>Seeheim</strong>er“ herleitete.<br />

Wichtig waren ihnen die Bewahrung des Godesberger Programms,<br />

die Analyse neuer Herausforderungen und die Entwicklung programmatischer<br />

Antworten, die Beeinflussung personeller Entscheidungen<br />

im Sinne dieser Ziele und die Erhaltung der Regierungsfähigkeit der<br />

30


NEUE HERAUSFORDERUNGEN<br />

Partei. In gewissem Sinne waren die <strong>Seeheim</strong>er auch die Antwort auf<br />

entsprechende Kontaktkreise in der anderen Hälfte des innerparteilichen<br />

Spektrums wie etwa dem Frankfurter oder dem Leverkusener<br />

<strong>Kreis</strong>. Und auch eine Antwort auf die sogenannte Doppelstrategie, die<br />

glaubte, Mitarbeit in der Partei und Bekämpfung von Teilen ihrer Führung<br />

und der eigenen Regierung miteinander verbinden zu können.“<br />

Die Unterstützung der Regierung und des Kanzlers war eine der Hauptprämissen<br />

der <strong>Seeheim</strong>er. Die langjährige konstruktive Zusammenarbeit zwischen<br />

dem Kanzler und dem <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> spiegelte sich auch in einem Briefwechsel<br />

zwischen Helmut Schmidt und Günther Metzger wider. Der Darmstädter<br />

Oberbürgermeister (1981-1993) und ehemalige Bundestagsabgeordnete Günther<br />

Metzger wies darin auf den Einsatz der <strong>Seeheim</strong>er im Sinne Schmidts im<br />

Vorfeld und auf dem Münchner Parteitag 1982 hin. Ebenso stellte er in seinem<br />

Schreiben heraus, dass für den <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> die Glaubwürdigkeit der<br />

Partei, die Unterstützung der Regierungspolitik und die Solidarität zum<br />

Kanzler im Vordergrund ständen.<br />

„Lieber Helmut,<br />

nach dem Bundesparteitag in Berlin hast Du mir in einem Brief am<br />

17.12.1979 für meine Arbeit im Vorfeld gedankt und geschrieben, daß<br />

ich mich auch umgekehrt auf Dich verlassen könnte.<br />

Ich möchte gerne heute eine Bitte aussprechen, die von vielen Freunden<br />

unterstützt wird, die mit mir die Arbeit in den letzten Jahren fortgesetzt<br />

haben. Den Münchener Parteitag haben wir mit großer Sorgfalt<br />

und viel Engagement vorbereitet. Im Vordergrund standen und<br />

stehen die Glaubwürdigkeit unserer Partei, die Unterstützung Deiner<br />

Regierungspolitik und die Solidarität zu Dir. Dabei mußt Du wissen,<br />

daß Du viele treue und tüchtige Mitstreiter hast – in allen Bereichen<br />

unserer Partei -, die hinter Dir und Deiner Politik stehen. Ich glaube,<br />

wir haben auch für München wieder gute Arbeit geleistet. Das gilt vor<br />

allem für die Sachentscheidungen. […]“<br />

31


UNGEWOHNTES BILD<br />

„Ungewohntes Bild“<br />

Kernkraftfrage, „angegrünte“ Schichten und die Löwenthal-Thesen<br />

Mitte der 70er Jahre war aber nicht nur die Hochzeit der <strong>Seeheim</strong>er in der<br />

Regierung Schmidt, plötzlich standen ganz neue politische Themen auf der<br />

Tagesordnung. Vor dem Münchner Freundeskreis der <strong>Seeheim</strong>er erklärte<br />

der Politologe Richard Löwenthal, die Zeit der Debatten über den Neomarxismus<br />

in der SPD neige sich dem Ende zu, die neuen Diskussionsfelder<br />

seien vielmehr die Fragen zur Kernenergie, den Wachstumsgrenzen, der<br />

Umweltgefährdung und der Lebensqualität. Weite Teile der Gesellschaft hatten<br />

in den 70er Jahren die Inhalte dieser neuen Bewegungen aufgenommen,<br />

viele organisierten sich zudem in den allerorts entstehenden Friedens- und<br />

Antikernkraftinitiativen. Innerhalb der SPD lösten diese neuen sozialen<br />

Bewegungen zahlreiche Diskussionen aus.<br />

Annemarie Renger schildert in ihrem Buch „Ein politisches Leben“ die gewandelte<br />

Stimmungslage in Deutschland wie auch in der SPD am Ende der<br />

70er Jahre:<br />

„Die Partei wurde evangelischer; junge Pfarrer traten in die SPD ein<br />

und hielten Friedenspredigten – ‚Frieden schaffen ohne Waffen’, war<br />

ein vereinfachender, griffiger Slogan. Man erhob den Schutz der Umwelt<br />

zu einem absoluten Wert bis zur Verneinung der Industriegesellschaft.<br />

Der profilierteste Vertreter dieser Richtung war Erhard<br />

Eppler, der mir immer wie ein ‚Hoherpriester’, ausgestattet mit einem<br />

starken Sendungsbewußtsein, vorkam. Oft hatte ich das Gefühl, er<br />

klage von jedermann Buße und Unrechtsbewußtsein ein: als Ausbeuter<br />

der Dritten Welt, als Umweltsünder, als gnadenloser Konsument<br />

aller Ressourcen, von den technischen Errungenschaften bis zur Kernenergie.<br />

Umweltschutz und Sicherung der Arbeitsplätze schienen in<br />

einen unüberwindbaren Widerspruch zu geraten. Die Umwelt bekam<br />

völlige Priorität vor der Arbeitsplatzsicherung, was neue Probleme mit<br />

den Gewerkschaften brachte.“<br />

32


UNGEWOHNTES BILD<br />

Der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> plädierte in diesem Zusammenhang für ein „Humanes<br />

Wirtschaftswachstum“, die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie.<br />

Dabei wurde auch weiterhin der technologische Fortschritt und die Deckung<br />

des steigenden Energiebedarfs für notwendig erachtet. Großen Anklang fand<br />

das Referat „Wege in die Zukunft – welche Bewußtseinsänderung ist heute<br />

nötig?“ des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker, das dieser auf Einladung<br />

von Hans-Jochen Vogel im November 1978 vor dem <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> gehalten<br />

hatte. Vogel hatte bereits früh – und parallel zu Erhard Eppler – Begriffe<br />

wie „Lebensqualität“ und „qualitatives Wachstum“ in die Debatte gebracht.<br />

Weizsäckers Vortrag gab neue Impulse. Der damalige Direktor des „Max-<br />

Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen<br />

Welt“ in Starnberg sprach sich für eine Krisenvermeidung<br />

der kleinen Schritte aus. Auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

versuchte er, die beherrschenden Krisenszenarien der Zeit zu rationalisieren.<br />

Seiner Meinung nach brachten weder eine Abwendung von der Marktwirtschaft,<br />

noch vom wirtschaftlichen Wachstum oder anderen tragenden<br />

Faktoren der westlichen Industriegesellschaft einen erkennbaren Vorteil für<br />

die Lösung ökologischer Probleme.<br />

„Menschliches Wachstum, Energiekrise und sozialdemokratische Politik“ war<br />

dann auch das Thema der Tagung des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es im Juni 1979 im<br />

Lufthansa-Bildungszentrum <strong>Seeheim</strong>. Herbert Ehrenberg betonte in seinem<br />

Referat „Pflicht des Sozialstaats: Vorsorge für humanes Wachstum“, dass der<br />

„Kampf für eine humane Entfaltung der menschlichen Produktivkräfte“ immer<br />

elementarer Bestandteil sozialdemokratischer Tradition gewesen sei. Neben<br />

den weltpolitischen Themen wie der Stationierung der SS-20-Raketen<br />

durch die Sowjetunion und deren Einmarsch in Afghanistan war auch das<br />

Thema Kernenergie einer der zentralen Punkte des Berliner Parteitags im Dezember<br />

1979. In beiden Punkten gelang es Helmut Schmidt, für seine Linie<br />

Mehrheiten auf dem Parteitag zu erlangen. Man stimmte der westlichen<br />

Nachrüstung zu, um das atomare Gleichgewicht zu erhalten – und kündigte<br />

gleichzeitig konkrete Vereinbarungen über eine Begrenzung der Rüstung<br />

an. Auch das Regierungskonzept zur Kernenergie wurde angenommen.<br />

33


UNGEWOHNTES BILD<br />

Hans-Jochen Vogel erinnert sich in seinem Buch „Nachsichten“ an die Begebenheiten<br />

und zieht eine kurze Parteitagsbilanz für die <strong>Seeheim</strong>er:<br />

„Noch in einem zweiten Punkt behielt Helmut Schmidt auf diesem<br />

Parteitag die Oberhand, und das war die Kernkraftfrage. Hier beschloß<br />

eine Mehrheit, die etwa sechzig Prozent der Delegierten umfaßte, an<br />

der vom Hamburger Parteitag getroffenen Entscheidung festzuhalten.<br />

Dieser wollte die Option für die Kernenergie offenhalten und die<br />

Option, künftig auf Kernenergie verzichten zu können, öffnen.<br />

[…] Während der Debatte entzündeten die Delegierten, die seiner<br />

Meinung waren, und viele Zuhörer Kerzen, um so ihrer Ablehnung<br />

der Kernenergie Ausdruck zu geben. Das ergab in dem raumschiffähnlichen<br />

Sitzungssaal des ICC ein ganz ungewohntes Bild, das<br />

in seiner Widersprüchlichkeit einiges von der Spannung des Themas<br />

widerspiegelte. […] Der Berliner Parteitag brachte den <strong>Seeheim</strong>ern,<br />

die sich diesmal gut vorbereitet hatten, bei den Wahlen eine leichte<br />

Stärkung. Ich selber erreichte bei den Vorstandswahlen erstmals ein<br />

Ergebnis, aus dem zu entnehmen war, daß mir die Delegierten quer zu<br />

den diversen Richtungen Vertrauen entgegenbrachten.“<br />

Die Positionen zur Industrie- und Ökologiepolitik der Gewerkschaften<br />

und des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es deckten sich in der zweiten Hälfte der 70er<br />

Jahre weitgehend. Das Einhergehen von Wirtschaftswachstum und friedlicher<br />

Nutzung von Kernenergie stand für die <strong>Seeheim</strong>er immer im Mittelpunkt ihres<br />

Handelns. Dieser Standpunkt wurde allerdings nicht in der ganzen<br />

Partei vertreten, innerparteilich verliefen die Konfliktlinien quer durch die<br />

Mitgliedschaft. Diskussionen über alte und potentielle neue Wählerschaften<br />

entbrannten.<br />

Willy Brandt bekannte sich anlässlich einer Gedenkfeier zu Ehren von<br />

Willi Eichler am 21. Oktober 1981 zu einer „neuen“ SPD, die breite gesellschaftliche<br />

Strömungen, insbesondere die Jugend, repräsentiere. Die<br />

„angegrünten Schichten“ würden nichts anstreben, „was dem demokratischen<br />

Sozialismus fremd sein müßte“. Eine Gruppe um Annemarie Renger, damals<br />

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, und Richard Löwenthal, damals<br />

34


UNGEWOHNTES BILD<br />

Johannes Rau, Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1979<br />

(Landesarchiv Berlin-Fotostelle/AdsD)<br />

stellvertretender Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, entwickelten<br />

darauſhin ein Papier zur „Identität und Zukunft der SPD“. Die Situation<br />

stellte sich für sie folgendermaßen dar:<br />

„Die Abwanderung von Anhängern und Wählern gleichzeitig in zwei<br />

Richtungen: Auf der einen Seite zeigte sich ein deutlicher Verlust von<br />

Jungwählern, eine mangelnde Anziehung auf neue Jugendschichten<br />

und eine Abwanderung von primär ökologisch interessierten Gruppen<br />

zu ‚grünen’ und ‚alternativen’ Listen oder zur Wahlenthaltung. Auf<br />

der anderen Seite verlor die SPD einen Teil ihrer sog. ‚Stammwähler’,<br />

besonders, aber keineswegs ausschließlich, unter den Facharbeitern<br />

und in den Großstädten, nach deren Meinung die Partei sich zu sehr<br />

der unruhigen Jugend anpasse und zu wenig um die Verteidigung des<br />

Rechtsstaates und die Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />

kümmere, die deshalb zur CDU abwanderten oder ebenfalls bei<br />

der Wahl zu Hause blieben.“<br />

35


UNGEWOHNTES BILD<br />

Das Papier war als Aufforderung an die Partei und deren Führung gedacht,<br />

sich intensiver mit diesem Thema zu befassen. Annemarie Renger erinnert<br />

sich in ihrer Biographie „Ein politisches Leben“ an die Umstände, die zur<br />

Erarbeitung der Thesen geführt hatten, sowie an die am Entwurf des<br />

„Löwenthal-Papiers“ beteiligten Personen:<br />

„Der Umweltschutz wurde zu einer Art Ersatzideologie. Meine<br />

Freunde und ich waren der Meinung, daß die einseitige Ausrichtung<br />

der Politik auf den Schutz der Umwelt, in Verbindung mit den<br />

Friedens- und sozialen Fragen, auch dazu dienen sollte, die<br />

Gesellschaft eklatant zu verändern. Merkzeichen dafür war die negative<br />

Beurteilung der Industriegesellschaft, die völlige Regulierung der Produktion<br />

nach der Umweltverträglichkeit, wobei die Definition völlig<br />

unklar war. Man tendierte dazu, Entscheidungen nach unten, basisdemokratisch<br />

zu verlagern. Den ‚Aussteigern’ aus dieser Gesellschaft<br />

begegnete man mit mehr Verständnis als den Arbeitnehmern, die sich<br />

um ihren Arbeitsplatz sorgten.<br />

In dieser für den Industriestandort Deutschland gefährlichen Entwicklung,<br />

die ein rapides Anwachsen der Arbeitslosigkeit bedeutet<br />

hätte, mußte gegengesteuert werden. An mehreren Wochenenden<br />

haben sich einige Freunde zusammengesetzt und in Teamarbeit –<br />

unter Leitung von Richard Löwenthal – ein richtungsweisendes<br />

Papier ausgearbeitet. Zu unserm <strong>Kreis</strong> gehörten: Hermann Rappe,<br />

Vorsitzender der IG Chemie, Dieter Haack, Wohnungsbauminister,<br />

Egon Franke, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Lothar<br />

Wrede, Parlamentarischer Staatssekretär ebenda, Herbert Ehrenberg,<br />

Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Stephan Thomas,<br />

Programmdirektor des Deutschlandfunks und Annemarie Renger.“<br />

Eine heftige Kritik Willy Brandts war die Folge der Veröffentlichung der<br />

sechs Thesen. Der Parteivorsitzende verwehrte sich dagegen, sich nach 50<br />

Jahren Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung, vom „Metaller“ Löwenthal,<br />

vom Hamburger „Hafenarbeiter“ Weichmann und von der „Textilarbeiterin“<br />

Renger belehren zu lassen, was der deutsche Arbeiter denke.<br />

36


UNGEWOHNTES BILD<br />

Richard Löwenthal im Gespräch mit Willy Brandt anlässlich der Sitzung der Historischen Kommission der SPD in<br />

Bonn 1981 (H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Für die Initiatoren der Thesen stellte sich die Kritik als unverhältnismäßig dar,<br />

da abweichende Meinungen, die aus dem linken Lager kamen, oft mit allzu<br />

großem Verständnis aufgenommen wurden. Helmut Schmidt schreibt in seinem<br />

Buch „Weggefährten“ darüber:<br />

„1981 hat er [Richard Löwenthal] sechs Thesen zur Politik der SPD<br />

in Umlauf gesetzt. Brandt reagierte allergisch und mahnte seinen<br />

alten Freund Löwenthal zur Parteidisziplin; gleichzeitig ließ er aber<br />

andere prominente Sozialdemokraten, die laufend öffentlich meine<br />

Regierung kritisierten und dabei die Beschlüsse des Parteitages und des<br />

Parteivorstandes, dem sie selbst angehörten, immer wieder verletzten,<br />

völlig frei agieren. Das brachte mich in Harnisch. Ich sprang Rix bei,<br />

der mit Recht besorgt war über den Rückzug der SPD aus der Mitte des<br />

Wählerspektrums. Ich konnte mich dabei auf viele Gespräche mit<br />

Arbeitnehmern und Gewerkschaftsfunktionären stützen, die in zunehmenden<br />

Maße durch die linken Spielereien verunsichert wurden.“<br />

37


SICHERHEITSPOLITISCHER SINNESWANDEL<br />

„Sicherheitspolitischer Sinneswandel“<br />

Die Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss<br />

Neben den Fragen zur Kernenergie war das Thema der Zeit natürlich der viel<br />

diskutierte NATO-Doppelbeschluss. Die Initiative zu diesem Beschluss, der<br />

am 12. Dezember 1979 im NATO-Rat verabschiedet wurde, ging vor allem<br />

vom deutschen Kanzler aus. Helmut Schmidt bilanzierte auf der 34. Jahrestagung<br />

der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg im November 1988:<br />

„So wurde ich zu einem der vier Urheber des berühmten Doppelbeschlusses<br />

– mancher würde von dem berüchtigten Doppelbeschluß<br />

sprechen –, der schließlich 8 Jahre später zum Mittelstreckenabkommen<br />

und zur doppelten Null-Lösung führte. Die doppelte<br />

Null-Lösung war das Ziel gewesen, das wir als optimales Ergebnis dieser<br />

Maßnahme bereits 1979 festgelegt hatten. 1987 war ich mit dem<br />

Ergebnis dieser Bemühungen durchaus zufrieden, obwohl es sehr dazu<br />

beigetragen hatte, dass ich schon 1982 mein Amt verlor.“<br />

Auf dem Berliner Parteitag im Dezember 1979 nahmen – wie bereits<br />

erwähnt – die Diskussionen über den NATO-Doppelbeschluss neben den<br />

Fragen zur Kernenergie einen wesentlichen Raum ein. Helmut Schmidt<br />

beharrte darauf, dass es zu keiner zeitlichen Verschiebung oder gar einer<br />

einseitigen Festlegung auf Verhandlungen ohne den Nachrüstungsteil des<br />

Beschlusses kommen sollte. Trotz der klaren Position des Kanzlers war es<br />

im Vorfeld des Parteitags noch unklar, ob der Leitantrag des Parteivorstands<br />

ausreichende Zustimmung finden würde. Im <strong>Kreis</strong>e der <strong>Seeheim</strong>er wurde<br />

der bevorstehende Parteitag intensiv vorbereitet, um die erforderlichen Mehrheiten<br />

zu sichern. Der damalige Verteidigungsminister und <strong>Seeheim</strong>er Hans<br />

Apel beschreibt in seinen Erinnerungen an die Jahre 1978 bis 1988 die beiden<br />

<strong>Seeheim</strong>er-Tagungen im Juni und November 1979 folgendermaßen:<br />

„In zwei zweitägigen Zusammenkünften in <strong>Seeheim</strong>, im Schulungszentrum<br />

der Lufthansa, haben wir die kritischen Themen, vor allem<br />

die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Nato-Doppel-<br />

38


SICHERHEITSPOLITISCHER SINNESWANDEL<br />

beschluß, aufgearbeitet und uns für die inhaltliche<br />

Debatte auf dem Parteitag vorbereitet.<br />

Allein die Probleme des Nato-Doppelbeschlusses<br />

haben uns mehr als fünf Stunden<br />

beschäftigt.“<br />

Der ehemalige Finanz- und<br />

Verteidigungsminister Hans Apel<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

In Berlin stimmten schließlich 90% der<br />

Delegierten für den Leitantrag des Parteivorstands<br />

– eine letzte große Mehrheit für den<br />

Doppelbeschluss. Innerhalb der Partei wurde<br />

die Front dagegen immer deutlicher und viele<br />

Mitglieder der SPD schlossen sich der Friedensbewegung<br />

an oder gründeten eigene Initiativen.<br />

Im Dezember 1980 wurde zunächst der „Bielefelder Appell“ von<br />

einigen SPD-Linken initiiert. Diesem Appell folgten noch eine Vielzahl<br />

ähnlicher Aufrufe, Beschlüsse und Resolutionen quer durch die SPD, stets<br />

mit dem Ziel, eine Aufhebung des NATO-Doppelbeschlusses zu erreichen.<br />

Diesen Anti-Doppelbeschluss-Initiativen setzte im Juli 1981 der <strong>Seeheim</strong>er<br />

Horst Niggemeier den Dattelner Friedensaufruf „Für Entspannung, Abrüstung<br />

und Frieden in Freiheit“ entgegen. Dies war ein klares Bekenntnis<br />

zum NATO-Bündnis und dem Doppelbeschluss und prangerte die stetig<br />

fortschreitende Aufrüstung der Sowjetunion als Bedrohung Westeuropas an.<br />

Auf dem Münchener Parteitag im April 1982 konnte man sich nach heftigen<br />

Debatten in einem dritten Abstimmungsanlauf auf ein Moratorium einigen,<br />

dass – so Peter Corterier – den Schein eines Kompromisses erwecken sollte,<br />

tatsächlich aber auf ein Kippen des Doppelbeschlusses hinauslief. Im Ergebnis<br />

blieb die Entscheidung darüber, ob der Stationierung zugestimmt würde,<br />

somit offen. Dies aber gab dem Kanzler einen äußerst engen Handlungsspielraum<br />

und deutlich begrenzte Möglichkeiten für eine flexible Außenpolitik.<br />

Nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 beschleunigte sich der<br />

sicherheitspolitische Gesinnungswandel deutlich. Am 11. September 1983<br />

beschloss der erste Landesverband – Baden-Württemberg – den Ausstieg aus<br />

dem NATO-Doppelbeschluss und vollzog damit den endgültigen Bruch mit<br />

39


SICHERHEITSPOLITISCHER SINNESWANDEL<br />

der bisherigen Sicherheitspolitik. Der über Jahre mühsam aufrecht erhaltene<br />

Widerstand des Regierungsflügels zerbröckelte. Mit welcher Vehemenz und<br />

Intensität die Debatten um den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung<br />

der Mittelstreckenraketen innerhalb der SPD geführt wurden, beschrieb<br />

der <strong>Seeheim</strong>er Peter Corterier in der von der Bayerischen Landeszentrale<br />

für politische Bildungsarbeit herausgegebenen Aufsatzsammlung „Raketenpoker<br />

um Europa“:<br />

„Ich habe nie vorher und nachher in meinem Leben an Veranstaltungen<br />

teilgenommen, bei denen einem mit solcher Intoleranz und<br />

Feindseligkeit begegnet wurde und wo man als Befürworter des<br />

Doppelbeschlusses so behandelt wurde, als sei man gerade dabei, den<br />

3. Weltkrieg aktiv vorzubereiten. An Andersdenkenden wurde in der<br />

SPD regelrecht Rache geübt: Fast alle Mandatsträger, die bis zum<br />

Schluss für den Doppelbeschluss eintraten und die Helmut Schmidt<br />

die Treue hielten, mussten dies mit dem Verlust ihrer Mandate bezahlen.<br />

Die Auseinandersetzungen um den Doppelbeschluss werden<br />

sicherlich nicht als Musterbeispiel für ein trotz aller sachlichen Gegensätze<br />

faires Ringen um die beste Lösung in einer Demokratie in die<br />

Geschichte der Bundesrepublik eingehen.“<br />

Bei der entscheidenden Abstimmung im Deutschen Bundestag am<br />

22. November 1983 enthielten sich neben Helmut Schmidt noch weitere<br />

24 SPD-Abgeordnete der Stimme. Der <strong>Seeheim</strong>er Dieter Haack, damals<br />

Mitglied im Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion und im Kabinett Schmidt<br />

Minister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, trug im Namen der<br />

Unterzeichner im Bundestag eine Erklärung vor, mit der sie ihre Enthaltung<br />

begründeten. Statt eines bedingungslosen Neins zur Stationierung plädierten<br />

sie vielmehr für ein Aussetzen der Stationierung für einen überschaubaren<br />

Zeitraum, um Nachverhandlungen zu ermöglichen.<br />

„Mit unserer Fraktion teilen wir die Motive und Zielsetzung des<br />

vorliegenden Antrags der SPD-Bundestagsfraktion. Unsere abweichende<br />

Meinung bezieht sich ausschließlich auf das absolute<br />

40


SICHERHEITSPOLITISCHER SINNESWANDEL<br />

Nein zum zweiten Teil des Doppelbeschlusses der NATO in diesem<br />

Antrag. Das unkonditionierte, d.h. unbedingte und unbefristete Nein,<br />

das sich mit der Meinung vieler unserer Bürger deckt und verständlich<br />

und legitim ist, scheint uns nicht als politisches Instrument für<br />

das Sozialdemokraten gemeinsame Ziel des Abbaus atomarer Überrüstung<br />

geeignet zu sein. Wir halten deshalb auch heute am Sinngehalt<br />

des NATO-Doppelbeschlusses fest, der für uns in Übereinstimmung<br />

mit Helmut Schmidt ein wirkungsvolles Instrument zum<br />

Abbau und zur Begrenzung eurostrategischer Atomwaffen ist. […] Wir<br />

müssen die Sorgen der Menschen in unserem Volk in Politik umsetzen.<br />

Dabei wissen wir, daß die Ängste vieler Menschen auch auf die fehlende<br />

Glaubwürdigkeit politischer und militärischer Konzepte zurückzuführen<br />

sind. Aus diesem Dilemma kommen wir aber nicht mit einer<br />

absoluten Ja- oder Nein-Position heraus, weder mit Selbstgerechtigkeit<br />

noch mit Friedensbekenntnissen allein. Wir machen uns unsere Entscheidung<br />

nicht leicht und stehen damit in der Kontinuität sozialdemokratischer<br />

Politik.“<br />

Dieter Haack im Gespräch mit Dietrich Stobbe auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1979<br />

(Landesarchiv Berlin-Fotostelle/AdsD)<br />

41


SICHERHEITSPOLITISCHER SINNESWANDEL<br />

Die weiteren Entwicklungen in den 80er Jahren sollten Helmut Schmidt und<br />

den Befürwortern der Nachrüstung Recht geben. Trotz der Stationierung der<br />

amerikanischen Pershing-II-Raketen wurden nach einer Phase der Eiszeit<br />

die Gespräche zwischen den beiden Blöcken wieder aufgenommen. Schließlich<br />

unterzeichneten an jenem geschichtsträchtigen 8. Dezember 1987 in<br />

Washington der amerikanische Präsident Ronald Reagan und der sowjetische<br />

Generalsekretär Michail Gorbatschow den INF-Vertrag über den vollständigen<br />

Abbau der „Intermediate-range Nuclear Forces“, der Raketen und<br />

Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.<br />

Zu diesem späten Triumph gratulierten die noch verbliebenen Befürworter<br />

des NATO-Doppelbeschlusses dem Altbundeskanzler Schmidt in einem<br />

Brief:<br />

„Lieber Helmut, der INF-Vertrag ist unterschrieben! Alle Welt müßte<br />

nun mit einem Fackelzug nach Hamburg ziehen, um dem Bundeskanzler<br />

zu danken, der mit seiner Idee des Nato-Doppelbeschlusses<br />

den Prozeß mit dem Ziel dieses Ergebnisses in Gang gesetzt hat.<br />

Wir von der SPD-Fraktion, die trotz schwerster Anfechtungen im<br />

November 1983 zur Stange gehalten haben, gratulieren zu diesem<br />

späten, aber großartigen Erfolg Deiner weitsichtigen Politik. Und<br />

nun handeln wir, wie es am Ende der Ballade von Prinz Eugen heißt:<br />

‚Der Trompeter tät den Schnurrbart streichen/ und sich auf die Seite<br />

schleichen/ zu der Marketenderin’!“<br />

Die Unterzeichner dieses Briefs waren Annemarie Renger, Hans Apel,<br />

Rudolf Purps, Erwin Stahl, Dieter Haack, Wilfried Penner, Hans-Jürgen<br />

Wischnewski, Axel Wernitz, Hans de With, Karl Ahrens, Peter Würtz,<br />

Horst Grunenberg und Horst Niggemeier.<br />

Helmut Schmidt erwiderte darauf in seinem Antwortschreiben:<br />

„Liebe Freunde! Lange Zeit hat mir kein Brief soviel Freude gemacht<br />

wie der Eure vom 8. Dezember. Ich grüße die hinterbliebenen Standhaften<br />

im 11. Deutschen Bundestag und verspreche, auch meinerseits<br />

weiterhin standhaft zu bleiben.“<br />

42


STREIT DER IDEOLOGIEN<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Februar 1988<br />

„Streit der Ideologien“<br />

Die 80er Jahre – Gründung der Kurt-Schumacher-Gesellschaft,<br />

Kritik am SPD/SED-Papier<br />

Nachdem die SPD nicht mehr in der Regierungsverantwortung war, sank der<br />

Einfluss des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es innerhalb der Partei. Es war nun nicht mehr<br />

notwendig, für Entscheidungen der Regierung die entsprechenden innerparteilichen<br />

Mehrheiten zu organisieren. Peter Streichan charakterisierte die<br />

Situation in einem Interview folgendermaßen: „Man hatte alles getan, um in<br />

der Regierungsverantwortung vor dem Bürger gut zu bestehen, so dass es nun<br />

einen natürlichen Prozess des Nachlassens gab […]“<br />

Nach der sicherheitspolitischen Wende auf dem Parteitag in Köln 1983<br />

wurde in den nun tonangebenden <strong>Kreis</strong>en innerhalb der SPD nicht mehr<br />

mit aller Entschlossenheit am westlichen Bündnis und der Mitgliedschaft in<br />

der NATO festgehalten. Man kritisierte einseitig die USA und verdrängte<br />

demokratische Freiheitsgrundsätze. Ebenso bröckelte massiv die Abgrenzungspolitik<br />

zu den kommunistischen Gruppen und Organisationen in Deutschland.<br />

Horst Ehmke beklagte in einer Rede anlässlich des 40. Jahrestags des<br />

43


STREIT DER IDEOLOGIEN<br />

Kriegsendes den Antikommunismus in der Nachkriegs-SPD, der unter dem<br />

Einfluss der Alliierten die Entnazifizierung ersetzt hätte.<br />

Diesem Trend versuchten einige <strong>Seeheim</strong>er mit der Gründung der „Kurt-<br />

Schumacher-Gesellschaft“ entgegen zu wirken. Am 27. Mai 1985 wurde unter<br />

Vorsitz von Annemarie Renger, die in der Nachkriegszeit eine der engsten<br />

Mitarbeiterinnen Kurt Schumachers war, eine Gesellschaft gegründet, deren<br />

Ziel es war, politisch die Erinnerung an die freiheitliche, antikommunistische<br />

Ausrichtung der Partei durch Kurt Schumacher wach zu halten.<br />

Kurt Schumacher und Annemarie Renger im Jahre 1952 (A. Scholz/AdsD)<br />

Hermann Rappe fasste in einem Schlusswort auf der ersten Tagung, die<br />

anlässlich des Gedenkens an den 90. Geburtstag von Kurt Schumacher einberufen<br />

worden war, die Grundüberzeugungen der Mitglieder zusammen:<br />

„1. Wir sind der Republik und in der parlamentarischen Demokratie<br />

verhaftet. Wir wollen eine Partei mit der Grundorientierung westlicher<br />

Politik, integriert ins Westliche Bündnis; wir sind – wie<br />

Schumacher sagte – eine Partei des Westens.<br />

2. Wir sind eine Partei der klaren Abgrenzung zu den Kommunisten.<br />

44


STREIT DER IDEOLOGIEN<br />

3. Wir wollen eine Partei der Arbeit sein und uns offenhalten für den<br />

technologischen Fortschritt.<br />

4. Wir sind eine Partei der Freiheit.<br />

5. Und wir sind die Partei der sozialen Sicherheit auf der Basis unserer<br />

Verfassung eines sozialen Rechtsstaates.“<br />

Hermann Rappe, Vorsitzender der<br />

IG Chemie-Papier-Keramik 1984<br />

(Cintula/AdsD)<br />

Die Kurt-Schumacher-Gesellschaft hat es sich<br />

in den vergangenen 20 Jahren zur Aufgabe<br />

gemacht, Vorträge und Seminare zu veranstalten<br />

sowie Broschüren zur Entwicklung der SPD herauszugeben.<br />

Konzentrierte man sich in den 80er<br />

Jahren vor allem auf die Auseinandersetzung mit<br />

dem Kommunismus, so stand in den 90ern die<br />

Frage der inneren Vereinigung mit den Sozialdemokraten<br />

aus dem Osten im Mittelpunkt. Die<br />

nach der Wende in Leipzig gegründete Kurt-<br />

Schumacher-Gesellschaft der DDR hat sich<br />

bald mit der westdeutschen Schwester-Gesellschaft<br />

vereinigt. Bereits vor der Wende 1989 hat<br />

die Gesellschaft eng mit dem Arbeitskreis sozialdemokratischer<br />

Häftlinge zusammengearbeitet und konnte zahlreiche<br />

Oppositionelle aus der DDR auf den Tagungen begrüßen. Die ehemalige<br />

Bundestagspräsidentin Annemarie Renger ist auch heute noch Vorsitzende<br />

der Kurt-Schumacher-Gesellschaft, ihr zur Seite steht mit Johannes Kahrs<br />

– als stellvertretendem Vorsitzenden – einer der aktuellen Sprecher des <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong>es.<br />

In den 90er Jahren intensivierten sich auch die Gespräche zwischen<br />

Vertretern der SPD und der SED, die schließlich 1987 zu einem gemeinsam<br />

erarbeiteten Papier führten. Von der SPD-Grundwertekommission und der<br />

Delegation der Akademie für Gesellschaftspolitik des ZK der SED war das<br />

Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vorgelegt<br />

worden. Nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit in beiden Teilen Deutschlands<br />

sorgte der Text für großes Aufsehen, auch innerhalb der SPD war das<br />

45


STREIT DER IDEOLOGIEN<br />

Papier umstritten. Die <strong>Seeheim</strong>er beschäftigten sich auf ihrer Tagung in Bad<br />

Honnef im Dezember 1987 eingehend damit. Die meisten Teilnehmer<br />

lehnten einen entscheidenden Absatz ab: „Keine Seite darf der anderen die<br />

Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf<br />

richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf,<br />

daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme<br />

den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und<br />

gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Annemarie<br />

Renger äußerte sich zum SPD/SED-Papier in ihrem Buch<br />

„Ein politisches Leben“ entsprechend:<br />

„Sicher war es eine der Absichten dieses<br />

Papiers, oppositionellen Kräften innerhalb der SED und der<br />

DDR überhaupt Anhaltspunkte zu geben, auf die sie sich gegenüber<br />

der Partei- und Staatsmacht berufen konnten. Im wesentlichen<br />

aber war es der Abschied von der Hoffnung auf die<br />

künftige Einheit Deutschlands und eine Anerkennung des<br />

Weges zu einem eigenen Sozialismus der SED. […] Die Gleichstellung<br />

der beiden Systeme und die Anerkennung der Daseinsberechtigung<br />

des kommunistischen Systems in der DDR, das weder seinen Bürgern<br />

die demokratischen Grundrechte noch die individuelle Freiheit<br />

gewährleistete, hielt ich für unerlaubt<br />

und eine grobe irreführende<br />

Verunglimpfung unserer gesellschaftlichen<br />

Ordnung.“<br />

Auch der im März 2005 verstorbene frühere<br />

Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jürgen<br />

Wischnewski, äußerte sich in einem Interview<br />

kritisch:<br />

Hans-Jürgen Wischnewski auf dem<br />

SPD-Parteitag in Münster 1988<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

„Ich habe die Gespräche, die damals geführt<br />

worden sind, durchaus für notwendig und<br />

richtig gehalten, und in diesem Papier kann<br />

46


STREIT DER IDEOLOGIEN<br />

das meiste von mir unterstützt werden. Und die Tatsache, daß es drüben<br />

veröffentlicht werden mußte, war hilfreich, insbesondere auch für<br />

die Gegner des SED-Regimes. Aber es hat zumindest einen Satz gegeben,<br />

der für mich unerträglich war, der aber für die SED von entscheidender<br />

Bedeutung war. Das war der Satz, der für sie der Anlaß<br />

war, das überhaupt zu machen, in dem es hieß: ‚ […] daß man sich gegenseitig<br />

nicht in Frage stellt.’ Ein Sozialdemokrat muß immer ein<br />

nicht-demokratisches System in Frage stellen. Unabhängig von allem<br />

anderen, und dieses war der Grund, warum ich diesem Papier meine<br />

Zustimmung nicht geben konnte – und im übrigen viele andere auch.<br />

Heute hat es die Geschichte überrollt. Aber die geschichtliche Entwicklung<br />

ist so gewesen, daß ich mich mit meiner Auffassung bestätigt<br />

fühle.“<br />

Trotz mannigfaltiger Kritik wurde auf der Tagung in Bad Honnef dennoch<br />

dafür plädiert, das Papier zu nutzen, indem man von der SED forderte, auch<br />

zu tun, worauf sie sich festgelegt hatte.<br />

1987 beteiligte sich der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> an der Debatte um eine Fortschreibung<br />

des Godesberger Programms. Diese Diskussionen mündeten schließlich<br />

im Berliner Programm von 1989. Während der 80er Jahre waren immer<br />

wieder Forderungen nach einer neuen Programmdebatte in Fortsetzung zu<br />

Godesberg laut geworden. Zum ersten Mal sprach 1981 der <strong>Seeheim</strong>er Bruno<br />

Friedrich aus Franken davon. Der Parteivorstand beauftragte 1984 eine<br />

Programmkommission, der mit Richard Löwenthal, Hermann Rappe und Holger<br />

Börner allerdings nur drei Vertreter der „Godesberger Linie“ angehörten.<br />

Als im August 1986 auf dem Nürnberger Parteitag ein erster Entwurf – der so<br />

genannte „Irsee-Entwurf“ – als Diskussionsgrundlage vorgelegt wurde,<br />

stieß dieser auf Kritik in Partei und Öffentlichkeit. Unter Federführung von<br />

Florian Gerster legte der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> im Dezember 1987 schließlich den<br />

eigenen Programmentwurf „Ein <strong>Seeheim</strong>er Beitrag zur Sozialdemokratischen<br />

Programmdiskussion“ vor. Das Leitmotiv dieses Entwurfs lautete:<br />

47


BEFÜRWORTER DER EINHEIT<br />

„Zentrales Anliegen der <strong>Seeheim</strong>er ist die Erhaltung – oder Wiedergewinnung<br />

– der Mehrheitsfähigkeit der SPD und ein ausgewogenes<br />

Verhältnis von Kontinuität und Wandel in der sozialdemokratischen<br />

Programmatik. Der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> hat nicht den Ehrgeiz,<br />

das ‚Rad neu zu erfinden’ und Positionen zu definieren, bei denen es<br />

keinen programmatischen Klärungsbedarf in der SPD gibt. Er bemüht<br />

sich um die Schaffung einer tragfähigen Plattform und um eine offene<br />

und fruchtbare Programmdiskussion innerhalb und außerhalb der<br />

SPD mit dem Ziel einer höchstmöglichen<br />

Grundübereinstimmung, damit das neue<br />

Grundsatzprogramm der SPD ‚über den Tag<br />

hinaus’ Bestand haben wird.“<br />

Florian Gerster hält den<br />

<strong>Seeheim</strong>er Beitrag zur<br />

Programmdebatte in Händen<br />

(H. J. Darchinger/AdsD)<br />

Mit dem damals 38jährigen Wormser Bundestagsabgeordneten<br />

Florian Gerster erhielten<br />

die <strong>Seeheim</strong>er neue Impulse. Bis zu seinem<br />

Ausscheiden aus dem Bundestag – er wurde<br />

am 21. Mai 1991 zum Minister für Bundesangelegenheiten<br />

und Europa des Landes<br />

Rheinland-Pfalz ernannt – prägte er zusammen<br />

mit Gerd Andres nachdrücklich die<br />

Aktivitäten des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es.<br />

„Befürworter der Einheit“<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er und die Wiedervereinigung<br />

Die Einflussmöglichkeiten der <strong>Seeheim</strong>er im Wendejahr 1989 schätzte<br />

Florian Gerster, einer der damalige Sprecher, im Januar des Jahres folgendermaßen<br />

ein: „Nach einer Neubelebung 1987 war 1988 ein Jahr ohne nennenswerte<br />

<strong>Seeheim</strong>er Aktivitäten. Der Bundesparteitag in Münster hat wegen der<br />

48


BEFÜRWORTER DER EINHEIT<br />

Abwahl von Hans Apel unseren Einfluß im Parteivorstand geschwächt. In<br />

der Bundestagsfraktion haben wir eine mit hohem Aufwand mobilisierte<br />

Mehrheit […]“<br />

Im Gegensatz zum linken SPD-Flügel stellten die Mitglieder des <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong>es die deutsche Einheit nie in Frage. Mit großem Beifall hatte man<br />

die Rede Erhard Epplers zum 17. Juni 1989 begrüßt, in der dieser den umstrittenen<br />

Satz des SPD/SED-Papiers – keine Seite dürfe der anderen die<br />

Existenzberechtigung absprechen - modifizierte und klar stellte, keine Seite<br />

könne die andere daran hindern, sich selbst zugrunde zu richten.<br />

Im Sommer und Herbst 1989 verschärfte sich der Druck auf die DDR-<br />

Regierung, unvergesslich sind die Bilder der ausreisewilligen DDR-<br />

Bürger, die Zuflucht in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest<br />

suchten. Aber auch innerhalb der Staatsgrenzen der DDR formierten die Bürger<br />

ihren Widerstand. Parallel zu den groß angelegten Feierlichkeiten zum<br />

40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober, gründeten die späteren <strong>Seeheim</strong>er<br />

Stephan Hilsberg und Markus Meckel sowie Martin Gutzeit, Arndt<br />

Noack und Ibrahim Böhme die Sozialdemokratischen Partei SDP. Nur<br />

wenige Monate später, im Januar 1990, benannte sich die SDP schließlich<br />

in SPD um. Die Vereinigung der Ost- und der West-SPD war allerdings<br />

noch einer Zerreißprobe ausgesetzt. So drohte die Ost-SPD den Prozess der<br />

Vereinigung abzubrechen, nachdem es in der West-SPD zu Uneinigkeit über<br />

den ersten Staatsvertrag, der die Wirtschafts- und Währungsunion regeln<br />

sollte, gekommen war,<br />

die Ost-SPD dem<br />

Vertragswerk aber<br />

bereits zugestimmt<br />

Willy Brandt, Johannes Rau,<br />

Stephan Hilsberg,<br />

Hans-Jochen Vogel,<br />

Ibrahim Böhme und<br />

Markus Meckel anlässlich des<br />

Deutsch-Deutschen<br />

Gipfels in Bonn 1990<br />

(T. Brakemeier/dpa - Report)<br />

49


BEFÜRWORTER DER EINHEIT<br />

hatte. Der damalige Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine forderte die Ablehnung<br />

des Staatsvertrags durch die SPD im Bundestag und drohte gar mit<br />

einem Rückzug von der Kanzlerkandidatur.<br />

Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel war in dieser<br />

Situation aber nicht bereit, die staatspolitische Verantwortung des<br />

Einigungsprozesses wahlkampftaktischen Überlegungen unterzuordnen.<br />

Mit dieser Haltung vertrat er die Linie der <strong>Seeheim</strong>er. Der ehemalige Regierende<br />

Bürgermeister von Berlin, der <strong>Seeheim</strong>er, Dietrich Stobbe, erläuterte<br />

in einem Interview die grundlegende Haltung des <strong>Kreis</strong>es:<br />

„Die <strong>Seeheim</strong>er waren einheitlich Befürworter der Einheit und demzufolge<br />

auch für die Verträge. Ich entsinne mich nicht an einzelne<br />

Abweichler, sondern man muß vielleicht sagen, daß es in einem ganz<br />

frühen Stadium einige <strong>Seeheim</strong>er die Einheit noch schneller wollten.<br />

Im Januar/Februar gab es in der Fraktion schon Stimmen, die sagten:<br />

‚Ihr werdet sehen, am Ende des Jahres ist die Einheit perfekt.’ Da habe<br />

ich noch zusammengezuckt […]: ‚Das schaffen wir nicht so schnell.’<br />

Diese <strong>Seeheim</strong>er wollten in die Vorhand kommen, sie erinnerten an die<br />

nationalen Traditionen der SPD und haben gesagt, daß wir da doch an<br />

der Spitze stehen müssen. Sie verstanden die<br />

Welt nicht mehr wegen des Verhaltens mancher<br />

Gruppen, meistens der linken.“<br />

Rudolf Purps, Sprecher des<br />

<strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es in den 90er Jahren<br />

(Bildstelle Deutscher Bundestag)<br />

Nur 25 Abgeordnete der Parteilinken lehnten<br />

schließlich in der Bundestagsabstimmung den<br />

ersten Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Währungsreform<br />

ab. Der <strong>Seeheim</strong>er Rudolf Purps,<br />

würdigte in einem persönlichen Schreiben<br />

vom 15. Juni 1990 die Integrationsleistung von<br />

Hans-Jochen Vogel und bat ihn gleichzeitig,<br />

auch weiterhin als Vorsitzender zur Verfügung<br />

zu stehen und die Vereinigung mit der Ost-SPD<br />

zu begleiten:<br />

50


BEFÜRWORTER DER EINHEIT<br />

„Es ist zuförderst Dein persönlicher Einsatz gewesen, der die Partei<br />

vor großem Schaden bewahrt hat. […] Es ist meines Erachtens nicht<br />

zu vermitteln, daß Du als Architekt der Entscheidung der SPD für<br />

die Einheit im Augenblick des Erfolges nicht als Vorsitzender zur<br />

Verfügung ständest. Die großen Probleme, die nach der partiellen<br />

Vereinigung auf uns zukommen, kann nur jemand in den Griff bekommen,<br />

der zugleich führt und moderiert und lang zäh und beharrlich<br />

arbeiten kann.“<br />

Ein sehr persönliches Erlebnis im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung<br />

der beiden deutschen Staaten schildert Annemarie Renger in<br />

ihrer Biographie. Wollte es der Zufall doch, dass gerade sie, die die gesamte<br />

deutsche Nachkriegsgeschichte als Politikerin mitgestaltet hatte, als stellvertretende<br />

Bundestagspräsidentin in der Plenarsitzung des 9. Novembers<br />

1989 den Fall der Mauer in Berlin verkünden durfte:<br />

„Als ich am 9. November 1989 als amtierende Präsidentin die Plenarsitzung<br />

leitete, kam der Parlamentarische Geschäftsführer der<br />

SPD-Bundestagsfraktion, Gerhard Jahn, zu mir ans Präsidium und<br />

rief: ‚Frau Präsidentin, warten Sie doch noch ein bißchen mit der<br />

Fortsetzung der Debatte, in Berlin scheint sich etwas wichtiges zu<br />

ereignen. Man spricht davon, daß die Mauer durchbrochen sei.’ Mit<br />

aller Vorsicht deutete ich nun ein noch ungeklärtes Ereignis in Berlin<br />

an und bat den Parlamentarischen Staatssekretär Horst Waffenschimdt<br />

festzustellen, was denn in Berlin los sei. Es bedurfte einiger<br />

Zeit, bis wir eine authentische Auskunft bekamen: Die Mauer wurde<br />

tatsächlich durchbrochen, die Menschen lagen sich mit Tränen in den<br />

Augen in den Armen. Sekt floß, und ein einziger Jubel war ausgebrochen.<br />

Ich durfte dieses geschichtliche Ereignis verkünden, und<br />

wahrlich, ich mußte meine Stimme festigen und meine Gefühle<br />

zügeln, damit mich nicht die Rührung zu sehr ergriff.“<br />

51


PAUKENSCHLAG<br />

„Paukenschlag“<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er in den 90ern – der Weg zur Regierungsfähigkeit<br />

Personell gestärkt durch neue Mitglieder aus der ehemaligen DDR gewann<br />

der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> zu Beginn der 90er Jahren wieder an Gewicht.<br />

Sah man sich durch die Wiedervereinigung doch auch in vielen Positionen<br />

bestätigt, die man während der 80er Jahre im Hinblick auf die Deutschland-,<br />

Sicherheits- und Außenpolitik vertreten hatte. Der ehemalige <strong>Seeheim</strong>-<br />

Sprecher Karl-Hermann Haack:<br />

„Man hat den <strong>Seeheim</strong>ern immer unterstellt, dass sie eine aussterbende<br />

Spezies seien. Wir haben in der Fraktion aber immer eine feste<br />

Mehrheit gehabt, etwa ein Drittel. Wir haben auch intensiv für unsere<br />

Mehrheiten gearbeitet. Bei der Abstimmung über den Grundgesetzartikel<br />

zum Asylverfahren, haben wir Telefonketten gebildet um<br />

die Leute aus ihren Büros zu telefonieren, weil die natürlich auch keine<br />

Lust hatten, in die Fraktion zu gehen und darüber abzustimmen und<br />

sich dann im Wahlkreis von den Kirchen verprügeln zu lassen.“<br />

Neben den Diskussionspapieren „Unser Weg zur Regierungsfähigkeit der<br />

SPD“ und „Chancen zur Mehrheitsfähigkeit der Volkspartei SPD“ aus<br />

den Jahren 1992 und 1995, setzten die großen Klausurtagungen „SPD –<br />

quo vadis? – Zur deutschen Parteienlandschaft an der Jahrhundertwende“<br />

(November 1994), „Projekt Moderne – Die Zukunft unserer Gesellschaft“<br />

(Oktober 1996) in Tutzing und das Jubiläumstreffen in <strong>Seeheim</strong>-Jungheim<br />

im Juni 1994 große Akzente. Daneben organisierte der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> im<br />

November 1995 auch das erste Karl-Schiller-Symposium zum Thema<br />

„Europäische Wettbewerbspolitik nach Maastricht“, bei dem Vertreter aus<br />

Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in einen offenen Dialog zentrale<br />

Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung diskutieren<br />

sollten. Die Idee zu einem solchen Forum war noch vom ehemaligen Finanzund<br />

Wirtschaftsminister Karl Schiller persönlich ausgegangen, der aber noch<br />

vor dem Symposium im Dezember 1994 im Alter von 83 Jahren starb.<br />

52


PAUKENSCHLAG<br />

Das erste grundlegende Diskussionspapier zum<br />

Thema „Wiedergewinnung der Mehrheitsfähigkeit“<br />

legte der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> im Vorfeld des<br />

SPD-Parteitags in Bonn im November 1992<br />

vor. Unter dem Titel „Unser Weg zur Regierungsfähigkeit<br />

der SPD“ zeigten die Abgeordneten<br />

Gerd Andres, Eike Ebert, Anke Fuchs,<br />

Karl-Hermann Haack, Manfred Hampel, Fritz-<br />

Rudolf Körper, Rudolf Purps, Dieter Schloten,<br />

Rolf Schwanitz, Johannes Singer, Hartmut<br />

Soell und Verena Wohlleben Chancen und Perspektiven<br />

für eine moderne SPD auf, die sich vor<br />

dem Hintergrund einer veränderten weltpolitischen<br />

Situation neu positioniert. Der Aufruf an<br />

Karl-Hermann Haack, Sprecher<br />

des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es bis 2004<br />

(Bildstelle Deutscher Bundestag)<br />

die SPD lautete – so Karl-Hermann Haack – „Rückkehr zur Realität“ und<br />

somit Rückkehr zur Regierungs- und Mehrheitsfähigkeit. Gefordert wurde<br />

eine ganzheitliche Politik, die nicht nur auf Lobbyisten und so genannte<br />

‚pressure groups’ Rücksicht nimmt, sondern auf die Interessen der Gesamtheit<br />

der Bevölkerung eingeht und somit mehr Alltagserfahrung in die Parteidiskussion<br />

einbringt. „Wir wollen nicht Gefahr laufen, auf die Handlungsfähigkeit<br />

konservativer Regierungen vertrauen zu müssen. Wir wollen<br />

selbst, vertrauend auf Geschichte, Programm und Erfahrung, das ausgehende<br />

Jahrtausend mit sozialdemokratischer Verantwortung gestalten.“ Zur<br />

Rolle Deutschlands in Europa und der Welt wurde gefordert, dass die neue<br />

Bundesrepublik ihren Beitrag für den Aufbau eines sozialen Europas leiste<br />

und weltweit für soziale Gerechtigkeit kämpfe – so wie die sozialdemokratische<br />

Politik die sozialstaatliche Verfassung der Bundesrepublik geprägt<br />

hat. Zudem sah man es als unabdingbare Pflicht Deutschlands an, als Teil<br />

des friedlichen Europas auch künftig seiner internationalen Verantwortung<br />

gerecht zu werden, sowohl in der UNO, in der KSZE, in der gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union als auch in der NATO<br />

und in der WEU.<br />

53


PAUKENSCHLAG<br />

Gerd Andres, Sprecher des <strong>Seeheim</strong>er<br />

<strong>Kreis</strong>es in den 90er Jahren<br />

(Bildstelle Deutscher Bundestag)<br />

Stand das Papier aus dem Jahre 1992 noch ganz<br />

unter den Vorzeichen der Veränderungen in<br />

Deutschland und in Osteuropa und den sich<br />

daraus ergebenden Anforderungen für die SPD<br />

und die Bundesrepublik, so war das Positionspapier<br />

„Chancen zur Mehrheitsfähigkeit der<br />

Volkspartei SPD“ von 1995 vielmehr eine konkrete<br />

Analyse der Bundestagswahlen zwischen 1983<br />

und 1994 und der Mitgliederentwicklung innerhalb<br />

der Partei. Kritisch wurde aber vor allem zur<br />

Wahlanalyse von 1994 durch den Parteivorstand<br />

Stellung genommen. Dieser verkannte u.a. die<br />

wirkliche Stammwählergruppe der SPD: Die<br />

kleinen Leute, für die die SPD immer noch<br />

eine Art Schutzmacht darstellte. Die klassischen SPD-Hochburgen waren<br />

genau dort zu finden, wo traditionell Realitätsorientierte Politik gemacht<br />

wurde. Um eine Realitätsorientierte Politik – nicht nur auf kommunaler<br />

Ebene – haben sich die <strong>Seeheim</strong>er immer bemüht.<br />

Als Resümee des Papiers wurden zehn Thesen zur Mehrheitsfähigkeit der<br />

SPD aufgestellt, in denen u.a. der Wille zur Übernahme von politischer Verantwortung<br />

auch auf Bundesebene, die Rückbesinnung auf Werte wie Solidarität<br />

und soziale Gerechtigkeit, sowie auf die traditionellen Wählerschichten<br />

und eine intensivere Mobilisierung von Jung- und Nichtwählern gefordert<br />

wurde.<br />

Große Resonanz fanden auch die Tagungen des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es Mitte der<br />

90er Jahre. Das sicherlich größte Echo löste die Veranstaltung „SPD – Quo<br />

vadis?“ aus, zu der man sich vom 25. bis 27. November 1994 in der Akademie<br />

für politische Bildung in Tutzing traf. Neben den Reden von Renate Schmidt<br />

und Hans-Ulrich Klose erntete vor allem die Stegreifrede des damaligen SPD-<br />

Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping großen Beifall. „Die<br />

Rede von Scharping war der Versuch, eine Politik der Mehrheitsfähigkeit zu<br />

beschreiben“, erinnert sich Karl-Hermann Haack. „Er beschrieb exakt die<br />

Politik, für die wir <strong>Seeheim</strong>er immer eingetreten sind.“<br />

54


PAUKENSCHLAG<br />

Scharping forderte in deutlichen<br />

Worten eine Kursänderung<br />

der SPD, vor allem<br />

in der Sozial- und Wirtschaftspolitik,<br />

sowie eine<br />

offensive Herangehensweise<br />

an unliebsame Politikthemen,<br />

wie den Umbau des Sozialstaats.<br />

Die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung kommentierte<br />

den Auftritt Scharpings<br />

wohlwollend als „Paukenschlag“:<br />

„Schonungslos hielt<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 1994<br />

der SPD-Vorsitzende seiner Partei den Spiegel vor. Die Zensur, die er ihr<br />

ob ihres programmatischen und organisatorischen Erscheinungsbildes gab,<br />

lautet ,ungenügend’. Scharping weiß, daß Schocktherapien nötig sind, um<br />

in der SPD etwas zu bewegen. ,Tutzing’ könnte ebenso wie ,Petersberg’ zur<br />

Chiffre eines solchen schmerzhaften Anstoßes werden. […] Es ist bemerkenswert,<br />

daß Scharping seine Vorstellungen bei einer Parteigruppierung vortrug,<br />

die gemeinhin als gewerkschaftsnah gilt. Das gibt dem Tutzinger Ereignis<br />

Gewicht.“<br />

Zwei Jahre später, im Oktober 1996, trafen sich die <strong>Seeheim</strong>er wieder in<br />

Tutzing. Thema: „Projekt Moderne – Die Zukunft unserer Gesellschaft. Neuorientierung<br />

Sozialdemokratischer Perspektiven für das 21. Jahrhundert“. Das<br />

ließen sich auch Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping<br />

nicht entgehen. Der Fernsehjournalist Ulrich Wickert referierte über das<br />

Thema „Braucht die Politik noch Moral?“. Klaus von Dohnanyi diskutierte<br />

u.a. mit dem damaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen<br />

Industrie, Hans-Olaf Henkel, über die Chancen und Risiken des Wirtschaftsstandorts<br />

Deutschland. Und Franz Müntefering sprach über „Volksparteien<br />

in der Mediengesellschaft – Strukturelle, organisatorische und<br />

politische Anforderungen an die Arbeit der SPD“.<br />

55


STAFFETTENWECHSEL<br />

Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung 1998 begann für die<br />

<strong>Seeheim</strong>er die Aufgabe den Prozess der Reformpolitik, und hier insbesondere<br />

den Umbau des Sozialstaats konstruktiv zu begleiten. Der damalige<br />

Sprecher Karl-Hermann Haack setzte zwei Schwerpunkte in der Arbeit der <strong>Seeheim</strong>er.<br />

So wurde versucht, den ‚Umbau des Sozialstaats’ nicht allein auf neue<br />

finanzielle Rahmenbedingungen hin zu beschränken, sondern auch deutlich<br />

zu machen, dass das Projekt ebenso das Thema ‚Bürokratie’ bearbeiten muss.<br />

Der Leitsatz lautete: „Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat“<br />

und die Einbettung des Ganzen in den neu zu gestaltenden Rahmen<br />

eines europäischen Sozialmodells. Beide Projekte sind inzwischen Inhalte der<br />

offiziellen Partei- und Fraktionspolitik geworden.<br />

„Staffettenwechsel“<br />

Die <strong>Seeheim</strong>er am Anfang des 21. Jahrhundert<br />

Über die Jahre hinweg standen renommierte Politikerinnen und Politiker an<br />

der organisatorischen Spitze des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es, der seit 1994 unter dem<br />

Namen „Die SEEHEIMER e.V.“ auch als eingetragener Verein, mit dem Ziel<br />

politische Bildungsarbeit zu leisten, registriert ist. Im März 2004 fand der<br />

letzte Wechsel im Sprecherkreis statt. Karl-Hermann Haack und Reinhold<br />

Robbe gaben den „Staffelstab“ weiter an Petra Ernstberger, Klaas Hübner und<br />

Johannes Kahrs.<br />

Petra Ernstberger, Klaas Hübner und Johannes Kahrs umrissen bei ihrem<br />

Amtsantritt jeweils, wofür der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> steht und in welchem Selbstverständnis<br />

die drei neuen Sprecher die Arbeit fortsetzen möchten:<br />

„Ziel meines künftigen Engagements als Sprecherin ist es in erster<br />

Linie, das Gewicht der <strong>Seeheim</strong>er als pragmatische Kraft in der SPD-<br />

Fraktion weiter zu stärken. Eine Steigerung der Attraktivität für Abgeordnete,<br />

unsere inhaltlichen Ziele mitzugestalten, zählt dazu ebenso<br />

56


STAFFETTENWECHSEL<br />

Johannes Kahrs, Reinhold Robbe, Petra Ernstberger und Klaas Hübner bei der Staffelübergabe 2004<br />

wie die Schärfung des Profils der <strong>Seeheim</strong>er in der Öffentlichkeit. Bei<br />

inhaltlichen und organisatorischen Entscheidungen werden die <strong>Seeheim</strong>er<br />

mit Nachdruck eine bedeutende Rolle übernehmen, um notwendige<br />

Reformen entsprechend voranzubringen.“<br />

(Petra Ernstberger)<br />

„’Die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft’, dieses politische<br />

Leitmotiv habe ich von Helmut Schmidt übernommen. Leidenschaftlich<br />

für die Modernisierung unserer Gesellschaft einzutreten<br />

und diese Modernisierung in praktischen Schritten umzusetzen ist<br />

mein Ziel im und für den <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>. Nicht alles was sich in der<br />

Vergangenheit bewährt hat, kann angesichts forschreitender Globalisierung<br />

und sich zunehmend öffnender Märkte aufrechterhalten<br />

werden. Wir müssen neue und innovative Wege gehen, um vor allem<br />

die Chancen in diesen Entwicklungen zu erkennen und zu nutzen. Ich<br />

werde mich daher dafür engagieren, dass der mit der Agenda 2010<br />

eingeleitete Modernisierungsprozess auch vollendet wird.“<br />

(Klaas Hübner)<br />

57


STAFFETTENWECHSEL<br />

„Ich bin 1982 wegen Helmut Schmidts Politik in die SPD eingetreten.<br />

Nachdem ich 1998 in den Bundestag eingezogen war, bekam ich<br />

schnell Kontakt zu den <strong>Seeheim</strong>ern und habe mich inhaltlich und<br />

menschlich in diesem <strong>Kreis</strong> sofort gut aufgehoben gefühlt – und tue<br />

dies heute mehr denn je.<br />

Mein Motto lautet: ‚Politik ist die Kunst, das Notwendige möglich zu<br />

machen.’ Reform- und Gestaltungswille sowie der gleichzeitige Einsatz<br />

für die Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und den Sozialstaat<br />

beschreiben die Vorstellungen des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es. Die <strong>Seeheim</strong>er<br />

stehen für eine undogmatische Debatte. Die <strong>Seeheim</strong>er verfolgen eine<br />

Politik, die erneuert und gleichzeitig sozialdemokratische Werte bewahrt.<br />

Wir halten nichts von weltfremden Ideologien. Für uns steht<br />

die Umsetzbarkeit der anstehenden Neuerungen im Hinblick auf die<br />

derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen unseres Landes im<br />

Mittelpunkt. Nur so bewegt sich Deutschland. ‚Es muss sich vieles<br />

verändern, damit alles so bleiben kann wie es ist.’“<br />

(Johannes Kahrs)<br />

Inhaltlich haben sich die Ziele der <strong>Seeheim</strong>er den sich stetig verändernden<br />

Gegebenheiten der Zeit angepasst. Längst steht nicht mehr wie zu Beginn<br />

der 70er Jahre die Abgrenzung gegenüber einer neomarxistischen Linken innerhalb<br />

der SPD im Vordergrund. Dennoch gelten bis heute entscheidende<br />

Positionen der Anfangszeit: Das Festhalten am Godesberger Programm als<br />

Grundlage des politischen Handelns und die konsequente Unterstützung der<br />

Bundesregierung durch pragmatische, an den finanziellen Möglichkeiten des<br />

Sozialstaates orientierte sozialdemokratische Politik.<br />

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Deutschland vor neuen Problemen, die<br />

es zu bewältigen gilt: Globalisierung, Massenarbeitslosigkeit und Überalterung<br />

der Gesellschaft – soziale Errungenschaften wie Rentenversicherung<br />

und Krankenversicherung drohen, daran zu zerbrechen. Mit dem Eckpunktepapier<br />

aus dem Jahr 2003 befürworteten die <strong>Seeheim</strong>er ausdrücklich die<br />

Reformvorschläge der Agenda 2010 und den Leitantrag des Parteivorstands<br />

„Mut zur Veränderung“: Dies könne aber erst ein Anfang zur Bewältigung der<br />

58


STAFFETTENWECHSEL<br />

wirtschaftlich und finanziell dramatischen Lage sein. Die <strong>Seeheim</strong>er fordern<br />

noch weitergehende Reformen. Konkret heißt das ein Inangriffnehmen der<br />

Gesundheitsreform, die keine Zweiklassenmedizin bedeutet und die paritätisch<br />

und solidarisch von allen finanziert wird, sowie eine Weiterentwicklung<br />

der Rentenversicherung unter Erhaltung der Generationengerechtigkeit. Bildung<br />

und Ausbildung als entscheidende Investitionen in die Zukunft müsse<br />

noch mehr Priorität eingeräumt werden. Die Entbürokratisierung des Wirtschaftssektors<br />

müsse weiter vorangetrieben werden, eine erste Maßnahme sei<br />

die Abschaffung der Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Zur Stärkung<br />

der kommunalen Investitionsquote werde die Gemeindefinanzreform<br />

unerlässlich sein.<br />

Ziel müsse ein innovatives, wachstumsstarkes und sozial gerechtes Deutschland<br />

sein, in dem jede Bürgerin und jeder Bürger die gleichen Lebenschancen<br />

hat: „Dafür werden sich die <strong>Seeheim</strong>er auch in Zukunft einsetzen.“<br />

Franz Müntefering, Reinhold Robbe und Peter Struck bei der Verabschiedung von Reinhold Robbe, der am<br />

12. Mai 2005 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags wurde (M. Urban)<br />

59


VERANSTALTUNGEN DES SEEHEIMER KREISES - SEEHEIM MITTAGSTISCH<br />

Die Veranstaltungen des <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>es<br />

Der SEEHEIM Mittagstisch<br />

Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn beim<br />

SEEHEIM Mittagstisch 2005<br />

Bereits zu Beginn der 70er Jahre traf<br />

sich nach Angaben von Günther<br />

Metzger eine Gruppe von Abgeordneten<br />

dienstags zum gemeinsamen<br />

Essen. Traditionsgemäß diente die<br />

Zusammenkunft der Vorbereitung<br />

der im Anschluss an das Essen<br />

stattfinden SPD-Fraktionssitzung.<br />

An dieser guten Sitte halten die <strong>Seeheim</strong>er<br />

auch nach dem Umzug des<br />

Bundestags von Bonn nach Berlin fest.<br />

Heute findet der SEEHEIM Mittagstisch<br />

jeweils um 13 Uhr 30 im Raum<br />

„Sachsen“ der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft statt. Es ist zur<br />

Gewohnheit geworden, zu diesen Treffen auch Gesprächspartner aus<br />

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zum Meinungsaustausch über<br />

aktuelle Ereignisse und Themen einzuladen. So durften die <strong>Seeheim</strong>er in<br />

der aktuellen Wahlperiode neben Vertretern von Partei und Regierung auch<br />

den israelischen Botschafter Shimon Stein, die Professoren Karl Kaiser, Karl<br />

Lauterbach, Bert Rürup, Paul Kirchhof, die Journalistin Tissy Bruns sowie<br />

Monika Wulf-Mathies von der Deutschen Post AG und den Vorsitzender des<br />

DGB, Michael Sommer, begrüßen.<br />

60


SEEHEIM TAGUNGEN<br />

Die SEEHEIM Tagungen<br />

Veranstaltete der <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> in den vergangen Jahrzehnten meist eine<br />

groß angelegte Tagung im Jahr, so werden seit jüngster Zeit eine Frühjahrs-<br />

und eine Herbsttagung abgehalten. In den letzten Jahren wurde u.a.<br />

diskutiert über die Themen „Reformen einleiten – Zukunft gewinnen“, „SPD-<br />

Brücke zwischen den Generationen“, „Zeitenwende – Politik für das 21. Jahrhundert:<br />

Neue Rahmenbedingungen für eine globale Welt“, „Terror in der<br />

Welt – Krieg auf dem Balkan: Die neue Rolle Deutschlands im Bündnis“,<br />

„Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat“, „Gemeinsame<br />

Europäische Außen- und Sicherheitspolitik: Ein Projekt mit Zukunft?“<br />

und „Deutschland 2010 – Mut zur Zukunft“. Gesprächspartner aus dem<br />

Reinhold Robbe, Gerhard Schröder und Karl-Hermann Haack auf der <strong>Seeheim</strong>er Tagung „Reformen einleiten –<br />

Zukunft gewinnen“ 1999 (M. Urban)<br />

Bereich der Politik waren Bundeskanzler Gerhard Schröder, Bundestagspräsidenten<br />

Wolfgang Thierse und die Bundesminister Peter Struck,<br />

Wolfgang Clement, Edelgard Bulmahn, Rudolf Scharping und Ulla Schmidt.<br />

Aus dem Bereich der Wissenschaft diskutierten die Professoren Stefan<br />

Hradil, Jürgen W. Falter, Hans-Georg Petersen, Roland Roth, Gerd Mutz,<br />

61


SEEHEIM TAGUNGEN<br />

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement auf der<br />

<strong>Seeheim</strong>er Tagung „Deutschland 2010 – Mut zur<br />

Zukunft“ 2004<br />

Catherine Kelleher, Karl Kaiser, Hans<br />

Peter Bull und Karl W. Lauterbach.<br />

Auch aus dem Bereich der Presse<br />

konnten renommierte Journalisten für<br />

Referate und Podiumsdiskussionen<br />

gewonnen werden, so z. B. Stephan-<br />

Andreas Casdorff, Susanne Gaschke,<br />

Klaus Methfessel, Holger Klemm,<br />

Elisabeth Niejahr, Rolf Clement und<br />

Karl Feldmeyer. Ausländische Gäste<br />

waren Lorraine Millot von der französischen<br />

Tageszeitung Liberation,<br />

zwei Vertreter der Republik Ungarn,<br />

Gergely Pröhle und István Simicskó,<br />

Carl Tham, Botschafter von Schweden und Sir Peter Torry, Botschafter von<br />

Großbritannien, sowie Bart J. Groot, ehemaliger General Manger Dow<br />

Olefinverbund und Fred B. Irwin, Präsident der American Chamber of<br />

Commerce in Germany e.V.<br />

Klaas Hübner, Bundesverteidigungsminister Dr. Peter Struck und Reinhold Robbe auf der<br />

<strong>Seeheim</strong>er Strategieklausur 2005<br />

62


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Die SEEHEIM Spargelfahrt<br />

1961 lud Egon Franke zum ersten Mal zur Spargelfahrt. Im Laufe der<br />

Jahre hat diese Fahrt einen festen Platz im politischen Veranstaltungskalender<br />

eingenommen. Aus der einst im kleinen <strong>Kreis</strong>e abgehaltenen Spargelfahrt<br />

ist ein alljährliches Großereignis der SPD-Bundestagsfraktion<br />

geworden. Nach Angaben von Karl Ahrens reichten Mitte der 60er Jahre<br />

noch 40-50 Pfund Spargel aus um die Gäste zu bewirten – heute wird ein<br />

Vielfaches davon verzehrt. In der über 40-jährigen Geschichte dieser Veranstaltung<br />

musste die Fahrt bisher erst ein einziges Mal abgesagt werden. Die<br />

für den 26. Mai 1993 geplante 32. Spargelfahrt entfiel aufgrund der kurzfristig<br />

anberaumten Asyldebatte – die „Ersatzspargelfahrt“ führte die <strong>Seeheim</strong>er<br />

dann Ende November 1993 per Bus nach Nürmbrecht in den Oberbergischen<br />

<strong>Kreis</strong>.<br />

Aufgrund des Umzugs des Bundestags von Bonn nach Berlin ließen sich<br />

die <strong>Seeheim</strong>er im Juni 1999 zum letzten Mal auf dem Rhein den Spargel<br />

schmecken. Seither wird auf Berliner Gewässern zum Spargelessen gebeten.<br />

Über viele Jahre hinweg haben die Kanalarbeiter die Genossen zum<br />

Spargel gebeten, die <strong>Seeheim</strong>er haben diese Tradition gerne fortgeführt.<br />

Die Liste der Organisatoren der Spargelfahrt ist lang: Egon Franke,<br />

Wolfgang Schwabe, Karl Herold, Heinrich Müller, Lothar Wrede und<br />

Günther Tietjen. Der letzte Wechsel fand erst im Jahre 2003 statt, als<br />

Gunther Weißgerber nach über 10 Jahren das traditionelle „Steuerrad“ an<br />

Johannes Kahrs weiterreichte. Seither gilt für ihn das Motto:<br />

„Dem Organisator der Spargelfahrt stets Mast- und Schotbruch und<br />

immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel“<br />

63


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Johannes Kahrs und Gerhard Schröder bei der Übergabe des traditionellen „Steuerrads“ anlässlich der Spargelfahrt<br />

2003 (F. Ossenbrink)<br />

Im Gästebuch zur Spargelfahrt verewigte sich auch so mancher Gast, allen<br />

voran Wolfgang Schwabe, der über Jahre hinweg seine Eindrücke in Gedichtform<br />

festhielt. So schrieb er anlässlich der Fahrt am 1. Juni 1970:<br />

„Was gut ist, kommt wieder! So heißt es auch heuer:<br />

Die Dampferkanalfahrt ist lieb uns und teuer.<br />

Die innerdeutschen Relationen<br />

vereinigen wiederum höchste Personen:<br />

Der Bundespräsident macht höchstselbst uns die Freude.<br />

Der Kanzler trifft seine Gattin hier heute.<br />

Und Carlo und Hermann und Helmut Schmidt<br />

erscheinen gewissermaßen selbdritt.<br />

Für Schiffahrt und Spargel und Wein…herzlich Danke!<br />

Dir lieber Karl Herold und Dir, Egon Franke“<br />

64


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Kölner Stadtanzeigervom 18. Juni 1998<br />

Leipziger Volkszeitung vom 18. Mai 2000<br />

65


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Der Tagesspiegel vom 18. Mai 2000<br />

Karl-Hermann Haack und Gerhard Schröder 1998 (M. Urban)<br />

66


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Gerhard Schröder und Helmut Schmidt 1998 (M. Urban)<br />

Annemarie Renger, Gerhard Schröder, Hans-Jürgen Wischnewski und Gerd Andres 2003 (F. Ossenbrink)<br />

67


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Susanne Kastner, Karl-Hermann Haack und Ulla Schmidt 2004 (M. Urban)<br />

Wolfgang Thierse und Susanne Kastner 2004 (M. Urban)<br />

68


SEEHEIM SPARGELFAHRT<br />

Johannes Kahrs, die Beelitzer Spargelkönigin und Franz Müntefering 2004 (M. Urban)<br />

Gerhard Schröder am Bug der MS Havel Queen 2003 (S. Pilick/dpa - Fotoreport)<br />

69


NACHBEMERKUNG<br />

Nachbemerkung<br />

Wir bitten um Nachsicht, dass nicht alle <strong>Seeheim</strong>er, die über die vielen<br />

Jahre hinweg unseren <strong>Kreis</strong> geprägt und gestaltet haben, namentlich aufgeführt<br />

wurden, oder dass so manches Ereignis, an das sich der eine oder andere<br />

noch gerne zurück erinnern mag, aufgrund der Fülle an Informationen<br />

unerwähnt geblieben ist. Da es an einigen Stellen schwierig war, die<br />

Geschehnisse detailgetreu zu rekonstruieren, haben wir uns gerne auf die<br />

Biographien und Lebenserinnerungen einiger <strong>Seeheim</strong>er gestützt.<br />

Besonderer Dank gilt Annekatrin Gebauer, deren in Kürze erscheinende<br />

Dissertation über den <strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong> und die „Neue Linke“ wertvolle<br />

Informationen und Anregungen gegeben hat. Ebenso möchten wir uns vielmals<br />

bei Gunther Weißgerber bedanken, dessen Broschüre zur Geschichte<br />

der <strong>Seeheim</strong>er Spargelfahrt „<strong>Chronik</strong> der Spargelfahrten – Kanalarbeiter,<br />

<strong>Seeheim</strong>er <strong>Kreis</strong>, Neue Mitte“ aus dem Jahr 2001 in diese <strong>Chronik</strong> mit eingeflossen<br />

ist.<br />

70


BILDNACHWEIS<br />

Bildnachweis<br />

Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

S. 12 (6/FOTA014807), S. 16 (6/FOTA035748), S. 18 (6/FOTA088445),<br />

S. 21 (6/FOTA008612), S. 24 (6/FOTA034609), S. 25 (6/FOTA063625),<br />

S. 30 (6/FOTA078181), S. 37 (6/FOTA076337), S. 39 (6/FOTA016636),<br />

S. 44 (6/FOTA008996), S. 45 (6/FOTA100032), S. 46 (6/FOTA042003),<br />

S. 48 (6/FOTA065799)<br />

Bildstelle des Deutschen Bundestags<br />

S. 25, S. 50, S. 53, S. 54<br />

H. J. Darchinger<br />

S. 7, S. 12, S. 16, S. 18, S. 21, S. 24, S. 25, S. 30, S. 37, S. 39, S. 46, S. 48<br />

dpa<br />

S. 49, S. 69<br />

Landesarchiv Berlin, Fotosammlung<br />

S. 35<br />

Frank Ossenbrink<br />

S. 64, S. 67<br />

Privatarchiv Annemarie Renger<br />

S. 13<br />

Schulungszentrum der Lufthansa in <strong>Seeheim</strong><br />

S. 23<br />

Marco Urban<br />

S. 59, S. 61, S. 66, S. 67, S. 68, S. 68, S. 69<br />

71


Kontakt<br />

Die SEEHEIMER<br />

Deutscher Bundestag<br />

Platz der Republik 1<br />

11011 Berlin<br />

Tel: +49(0)30/227-70034<br />

Fax: +49(0)30/227-70043<br />

seeheimer.kreis@bundestag.de<br />

www.seeheimer-kreis.de<br />

72


ISBN 3-00-016396-4

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!