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Ralf-Peter Fuchs: Hexenverfolgung an Ruhr und ... - Sehepunkte

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<strong>Ralf</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Fuchs</strong>: <strong>Hexenverfolgung</strong> <strong>an</strong> <strong>Ruhr</strong> <strong>und</strong> Lippe. Die<br />

Nutzung der Justiz durch Herren <strong>und</strong> Untert<strong>an</strong>en (= Forum<br />

Regionalgeschichte; Bd. 8), Münster: Ardey-Verlag 2002, 202 S.,<br />

ISBN 3-87023-080-0, EUR 12,90<br />

Rezensiert von:<br />

Jürgen Michael Schmidt<br />

Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen<br />

Bei der Erforschung der frühneuzeitlichen <strong>Hexenverfolgung</strong> spielen die<br />

regionalgeschichtlichen Studien eine zentrale Rolle, stellen sie uns doch<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen zur Verfügung, um das Phänomen überhaupt im Detail<br />

erfassen zu können. Mithilfe des Vergleiches in europäischer Perspektive<br />

haben insbesondere Erik Midelfort (1972 zu "Southwestern Germ<strong>an</strong>y")<br />

<strong>und</strong> Wolfg<strong>an</strong>g Behringer (1987 zu Bayern) St<strong>an</strong>dardwerke vorgelegt.<br />

Viele weitere Arbeiten sind dieser Tradition inzwischen gefolgt, so auch<br />

der hier zu besprechende B<strong>an</strong>d von <strong>Ralf</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Fuchs</strong>, der freilich <strong>an</strong><br />

Umf<strong>an</strong>g absichtlich hinter die Vorbilder zurück tritt <strong>und</strong> sich in der<br />

Fragestellung auf ausgewählte Aspekte konzentriert. Dafür fügt <strong>Fuchs</strong><br />

eine Edition von Quellen <strong>an</strong>, die - sprachlich zum Teil recht <strong>an</strong>spruchsvoll<br />

- in den Anmerkungen auch für den Unterricht aufgearbeitet wurden.<br />

Der Raum, den <strong>Fuchs</strong> in seiner Darstellung beh<strong>an</strong>delt, deckt sich relativ<br />

weitgehend mit dem heutigen Regionalverb<strong>an</strong>d <strong>Ruhr</strong>gebiet. Die groben<br />

geografischen Eckpunkte der städteorientierten Arbeit sind Wesel, Hamm,<br />

Schwerte <strong>und</strong> Duisburg. Von der frühneuzeitlichen Territorialaufteilung<br />

bedeutet das eine sp<strong>an</strong>nende Mischung, geht es doch um ein größeres<br />

weltliches Herzogtum (die nördlichen Teile der Grafschaft Mark <strong>und</strong> die<br />

östlichen Teile des Herzogtums Kleve in Verwaltungseinheit), um Gebiete<br />

des geistlichen Kurfürstentums Köln (Vest Recklinghausen), um die<br />

Reichsstadt Dortm<strong>und</strong>, um Stadt <strong>und</strong> Stift Essen, um die Stifte Werden<br />

<strong>und</strong> Rellinghausen sowie einige kleinere Gerichte <strong>und</strong> Herrschaften, die<br />

sich eine gewisse Autonomie bewahrt hatten (etwa Horst <strong>und</strong> Witten).<br />

Das zeitliche Fenster reduziert sich gegenüber vielen <strong>an</strong>deren Regionen<br />

deutlich: Nach einzelnen Zaubereiprozessen im späteren 15. <strong>und</strong> frühen<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert setzte eine erste intensivere Verfolgungsphase 1579-<br />

1582 ein. Eine zweite Phase folgte von 1588 bis in die 1590er-Jahre,<br />

d<strong>an</strong>n war der Höhepunkt der Verfolgungen schon überschritten. Eine<br />

Phase 1609-1613 forderte wenige Opfer, die große Verfolgungswelle im<br />

Reich um 1629/30 f<strong>an</strong>d keinen Widerhall. Erst 1647-1650 gab es noch<br />

einmal eine letzte, "glimpflichere" Verfolgungsphase. Bereits in der Mitte<br />

des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts endeten die tödlich Prozesse in der Region, von<br />

einer singulären Ausnahme 1705/06 abgesehen.<br />

Bei 198 Opfern (82% Frauen, 18% Männer) konstatiert der Autor


insgesamt eine "mittlere" Verfolgungsintensität, was allerdings nicht viel<br />

aussagt. Weit wichtiger sind die von <strong>Fuchs</strong> herausgearbeiteten<br />

Unterschiede in der territorialen Verteilung der Opferzahlen, die sehr gut<br />

die bisherigen Beobachtungen der Hexenforschung bestätigen: Die<br />

Schwerpunkte der Verfolgung lagen im Kurkölner Bereich (94 Opfer im<br />

Vest Recklinghausen) <strong>und</strong> in einigen der kleineren politischen Gebilde.<br />

Das dominierende größere weltliche Territorium Kleve-Mark hingegen<br />

zeichnete sich durch eine geringe Verfolgungsbereitschaft <strong>und</strong> wenige<br />

Hinrichtungen aus, die zudem überwiegend dort stattf<strong>an</strong>den, wo die<br />

Herzöge <strong>und</strong> ihre Rechtsnachfolger die Hochgerichtsbarkeit nicht voll <strong>und</strong><br />

ungestört inne hatten. Bei seiner Suche nach den Ursachen für diese<br />

großen Unterschiede weist <strong>Fuchs</strong> den gegensätzlichen Hexereikonzepten<br />

der jeweiligen Herren <strong>und</strong> ihrer Eliten nur eine partielle Ver<strong>an</strong>twortung<br />

zu.<br />

Die mark<strong>an</strong>testen Eckpunkte sind hier der Verfolgungseifer auf der Seite<br />

Kurkölns <strong>und</strong> eine von <strong>Fuchs</strong> bis in die 1530er-Jahre zurückverfolgte<br />

hum<strong>an</strong>istische Skepsis auf der Seite Jülich-Kleve-Bergs, die in Joh<strong>an</strong>nes<br />

Weyer ihren bek<strong>an</strong>ntesten literarischen Vertreter hatte. <strong>Fuchs</strong> weiß<br />

jedoch um die verschiedenen Faktoren, die zusammen kommen mussten,<br />

um eine Verfolgung ausbrechen zu lassen. Während er die<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Faktoren der "Krise des späten 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts" (146) <strong>und</strong> damit die Untert<strong>an</strong>en in diesem Buch eher kurz<br />

abh<strong>an</strong>delt, gilt sein hauptsächliches Augenmerk den politischen <strong>und</strong><br />

verfassungsrechtlichen Verhältnissen, die die Verfolgungen jeweils<br />

begünstigten oder erschwerten. Ohne umfassendere theoretische<br />

Diskussionen über latente oder m<strong>an</strong>ifeste Funktionen <strong>an</strong>zustoßen,<br />

konzentriert er sich auf die "Justiznutzung durch die Herren".<br />

Das Bild, das <strong>Fuchs</strong> von den verfolgenden Herrschaften zeichnet, hat viele<br />

Facetten <strong>und</strong> streicht die sich überlagernden Motivebenen heraus.<br />

Hexenprozesse boten vor allem für die kleineren Herrschaften die<br />

Möglichkeit zur Demonstration von Gerichts- <strong>und</strong> Herrschaftsrechten <strong>und</strong><br />

konnten damit zum "Instrument zur Durchsetzung herrschaftlicher<br />

Unabhängigkeit" gegenüber den frühmodernen Staatsgebilden werden<br />

(147). Sie waren häufig Teil von Jurisdiktionsstreitigkeiten. Aber auch in<br />

Verfahrensfragen m<strong>an</strong>ifestierte sich die lokale Autonomie, wenn in der<br />

Vestischen Unterherrschaft Horst etwa gegen den obrigkeitlichen Willen<br />

Wasserproben zugelassen wurden. Wie wenig die Kurkölner Zentrale die<br />

lokale Hexenjustiz in dieser Zeit kontrollierte, zeigte sich sogar <strong>an</strong> den<br />

Verfolgungen, die im Vest Recklinghausen ab 1588 unter umgekehrten<br />

Vorzeichen st<strong>an</strong>den. Im Kölner Krieg zwischen dem katholischen<br />

Erzbischof <strong>und</strong> seinem protest<strong>an</strong>tischen Vorgänger stellte sich der junge,<br />

karrierebewusste Stadtrichter des Verfolgungszentrums Dorsten, Vinzenz<br />

Rensing, entschieden auf die Seite des Erzbischofs <strong>und</strong> vertrat auch<br />

gegenüber dem Rat eine stark l<strong>an</strong>desherrliche Position. Trotzdem<br />

gehörten seine Hexenprozesse zu einer g<strong>an</strong>zen Reihe von militärischen<br />

<strong>und</strong> strafprozessualen Maßnahmen, die er in großer Selbstständigkeit zur<br />

Abwehr der inneren <strong>und</strong> äußeren Feinde ergriff. Seine Belohnung war die<br />

Ernennung zum ersten nichtadeligen Statthalter des Vestes.


Im verfolgungsarmen Kleve-Mark nimmt <strong>Fuchs</strong> im letzten Viertel des 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zwar eine partielle Erosion der ursprünglichen Skepsis<br />

gegenüber dem Hexenglauben wahr. Diese ging mit einer politischen<br />

Schwächung durch die Regierungsunfähigkeit der Herzöge, das<br />

Aussterben des Hauses <strong>und</strong> die folgenden Erbausein<strong>an</strong>dersetzungen<br />

einher. Gleichwohl blieben die Räte dauerhaft auf Dist<strong>an</strong>z zu größeren,<br />

das Gemeinwesen destabilisierenden <strong>Hexenverfolgung</strong>en <strong>und</strong> waren stets<br />

mächtig genug, das durchzusetzen. Die zentralisierte (<strong>und</strong><br />

professionalisierte) staatliche Justiz des frühmodernen Staates wirkte<br />

verfolgungshemmend. M<strong>an</strong> könnte diese Beobachtung über die deutschen<br />

Grenzen hinaus bestätigen. [1] <strong>Fuchs</strong>, durch diverse Studien mit der<br />

Reichsjustiz vertraut, r<strong>und</strong>et seine Betrachtungen mit einem Blick auf das<br />

Eingreifen des Reichskammergerichts im Bereich des heutigen<br />

<strong>Ruhr</strong>gebiets ab. Das Reichskammergericht griff den Hexenglauben nicht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>an</strong>, st<strong>an</strong>d aber mit seinem Festhalten <strong>an</strong> einem korrekten<br />

Verfahren den <strong>Hexenverfolgung</strong>en entgegen.<br />

<strong>Fuchs</strong> liefert mit seiner Studie eine wertvolle Best<strong>an</strong>dsaufnahme des<br />

Prozessgeschehens in seiner Region. Das ist ein umso wichtigerer<br />

Mosaikstein, als sich im Augenblick eine g<strong>an</strong>ze Gruppe von<br />

Hexenforschern mit Territorien beschäftigt, die im <strong>Ruhr</strong>gebiet zusammen<br />

stießen. [2] <strong>Fuchs</strong>' Ursachen<strong>an</strong>alyse konzentriert sich auf die<br />

herrschaftlichen Verhältnisse, ohne diese allein ver<strong>an</strong>twortlich zu machen.<br />

Angesichts einer großenteils sehr schlechten Quellenlage muss sich der<br />

Autor m<strong>an</strong>chmal mit seinen Erklärungs<strong>an</strong>sätzen weit nach vorne wagen<br />

oder die Segel sogar fast g<strong>an</strong>z streichen (wie im Fall Dortm<strong>und</strong>s, 112).<br />

Das Dilemma postuliert er aber deutlich. So erweitert das Buch nicht nur<br />

unsere Kenntnisse von der Gestalt der <strong>Hexenverfolgung</strong>, es k<strong>an</strong>n auch bei<br />

der Be<strong>an</strong>twortung der aktuellen Frage nach den Zusammenhängen von<br />

Staatsbildung <strong>und</strong> Hexenprozess nützliche Hinweise geben.<br />

Anmerkungen:<br />

[1] Alfred Som<strong>an</strong>: Decriminalizing Witchcraft: Does the French Experience<br />

Furnish a Europe<strong>an</strong> Model?, in: Criminal Justice History 10 (1989), 1-22;<br />

Bri<strong>an</strong> P. Levack: State-building <strong>an</strong>d witch hunting in early modern<br />

Europe, in: Jonath<strong>an</strong> Barry u.a. (Hg.): Witchcraft in early modern Europe.<br />

Studies in culture <strong>an</strong>d belief, Cambridge 1996, 96-115; vgl. auch<br />

Joh<strong>an</strong>nes Dillinger: <strong>Hexenverfolgung</strong>en in Städten, in: Gunther Fr<strong>an</strong>z /<br />

Fr<strong>an</strong>z Irsigler (Hg.): Methoden <strong>und</strong> Konzepte der historischen<br />

Hexenforschung (= Trierer Hexenprozesse, Quellen <strong>und</strong> Darstellungen;<br />

Bd. 4), Trier 1998, 129-165.<br />

[2] Münster: Gudrun Gersm<strong>an</strong>n; Kurköln / Köln: Thomas Becker, <strong>Peter</strong><br />

Arnold Heuser, Gerd Schwerhoff; Herzogtum Westfalen: Rainer Decker;<br />

Jülich-Kleve-Berg: Erika Münster-Schröer.<br />

Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser


Empfohlene Zitierweise:<br />

Jürgen Michael Schmidt: Rezension von: <strong>Ralf</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Fuchs</strong>: <strong>Hexenverfolgung</strong> <strong>an</strong> <strong>Ruhr</strong><br />

<strong>und</strong> Lippe. Die Nutzung der Justiz durch Herren <strong>und</strong> Untert<strong>an</strong>en, Münster: Ardey-<br />

Verlag 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: <br />

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