Katrin Moeller / Burghart Schmidt (Hg.): Realität und ... - Sehepunkte
Katrin Moeller / Burghart Schmidt (Hg.): Realität und ... - Sehepunkte
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<strong>Katrin</strong> <strong>Moeller</strong> / <strong>Burghart</strong> <strong>Schmidt</strong> (<strong>Hg</strong>.): <strong>Realität</strong> <strong>und</strong> Mythos.<br />
Hexenverfolgung <strong>und</strong> Rezeptionsgeschichte (=<br />
Veröffentlichungen des Arbeitskreises für historische Hexen- <strong>und</strong><br />
Kriminalitätsgeschichte in Norddeutschland; Bd. 1), Hamburg:<br />
Dobu 2003, 330 S., ISBN 3-934632-04-1, EUR 28,80<br />
Rezensiert von:<br />
Jürgen Michael <strong>Schmidt</strong><br />
Institut für Geschichtliche Landesk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Historische<br />
Hilfswissenschaften, Universität Tübingen<br />
In dem ersten Band seiner Schriftenreihe thematisiert der "Arbeitskreis<br />
für Norddeutsche Hexen- <strong>und</strong> Kriminalitätsforschung", der von <strong>Burghart</strong><br />
<strong>Schmidt</strong>, <strong>Katrin</strong> <strong>Moeller</strong> <strong>und</strong> Rolf Schulte 2001 gegründet wurde, vor<br />
allem die Rezeptionsgeschichte <strong>und</strong> die Konstruktion von<br />
Verdächtigungen in der Verfolgungszeit.<br />
Sektion I widmet sich der Hexenverfolgungszeit selbst <strong>und</strong> dem "Umgang<br />
mit Hexerei im frühneuzeitlichen [Verfolgungs-] Alltag". Die ersten drei<br />
Beiträge von Jürgen Macha, Uta Nolting <strong>und</strong> Elvira Topalovic sind aus<br />
einem münsterischen DFG-Projekt zu Kanzlei-Sprachen des 17.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts erwachsen. Der gleichermaßen sprach- <strong>und</strong><br />
kommunikationswissenschaftliche wie quellenk<strong>und</strong>liche Ansatz geht auf<br />
die Frage des Verhältnisses zwischen dem Verhör der angeblichen Hexen<br />
(der "Wirklichkeit") <strong>und</strong> den Verhörprotokollen ein. Dass in den<br />
Protokollen keine "objektive Wiedergabe" erfolgte, sondern eine neue<br />
Wirklichkeit absichtsvoll konstruiert wurde, ist schon länger unbestritten,<br />
doch noch nie wurde dies für die Hexenverfolgung derart systematisch<br />
<strong>und</strong> detailliert untersucht. Insofern sind die Beiträge ein echter Gewinn,<br />
zumal die gewählten Beispiele außergewöhnlich gute Einblicke<br />
ermöglichen.<br />
Im anschließenden Beitrag fragt Ursula-Maria Krah nach der Fiktionalität<br />
<strong>und</strong> Faktizität in Einblattdrucken <strong>und</strong> Flugschriften aus der<br />
Hexenverfolgungszeit. Aufgr<strong>und</strong> der häufigen Unzuverlässigkeit dieser<br />
Quellen empfiehlt sie, deren Aussagen stets anhand der Akten zu<br />
überprüfen. Die "Neuen Zeitungen" behalten ihren Wert aber als Quelle<br />
für die Deutungsmuster der frühmodernen Gesellschaft in Bezug auf die<br />
Hexerei.<br />
Ingrid Ahrendt-Schulte <strong>und</strong> <strong>Katrin</strong> <strong>Moeller</strong> wenden sich dem gelehrten<br />
Diskurs <strong>und</strong> zwei Prozesskritikern aus dem Pfarrerstand zu. Ahrendt-<br />
Schulte widmet sich Jodocus Hocker (gest. 1566), dessen Traktat "Der<br />
Teufel selbs" zunächst als kämpferischer lutherischer Beitrag zum Diskurs<br />
über den Teufel <strong>und</strong> den Streit um die Wirksamkeit der Sakramente<br />
entstand. Erst in der zweiten Auflage von 1627 verorteten die
Herausgeber das Buch primär im Kontext des Hexereidiskurses. Zudem<br />
veränderten sich die Artikulationsmöglichkeiten. Während der Lemgoer<br />
Pfarrer Hocker noch gänzlich ungefährdet Kritik an der Hexenverfolgung<br />
äußern konnte, wurde sein Nachfolger Andreas Koch 1666 deswegen<br />
hingerichtet.<br />
<strong>Katrin</strong> <strong>Moeller</strong> beschäftigt sich mit Michael Freude, der als religiöser<br />
Rigorist zwar engagiert an einer Kampagne in Mecklenburg-Güstrow zur<br />
religiösen Erneuerung <strong>und</strong> konfessionellen Sozialdisziplinierung teilnahm,<br />
sich jedoch in seinen Traktaten von 1667 <strong>und</strong> 1671 von der laufenden<br />
Hexenverfolgung distanzierte. Die Prozesse transportierten seiner<br />
Meinung nach zu viele häretische (Volksglaubens-) Vorstellungen; auch<br />
erschien ihm die Prozesspraxis ungerecht. Freude ging es also weniger<br />
um einen Beitrag zum allgemeinen Hexereidiskurs als vielmehr darum,<br />
aufgr<strong>und</strong> seiner Prozesserfahrungen auf ein Ende der Verfolgungen vor<br />
Ort hinzuwirken.<br />
Die zweite Sektion "Funktionalisierung durch Forschung <strong>und</strong><br />
Wahrnehmung" eröffnet Robert Zagolla, der sich mit der Folter sowohl im<br />
Hexenprozess als auch im allgemeinen Strafprozess beschäftigt. Zunächst<br />
relativiert Zagolla die Meinung, die Foltermissbräuche seien vor allem im<br />
Bereich der Hexenprozesse anzusiedeln. Im Weiteren diskutiert er das<br />
Verhältnis der Gerichtsakten zur Wahrheit, allerdings nicht von Protokoll<br />
zu Aussage, sondern von erfolterter Aussage zur Tat. Geht man für die<br />
Hexenprozesse davon aus, dass nahezu alle Geständnisse in ihrem Kern<br />
"falsch" waren <strong>und</strong> sich einer für die Mitlebenden plausiblen Konstruktion<br />
unter Folter, Folterandrohung oder versteckter Folter verdankten, so<br />
sollte konsequenterweise, wie Zagolla betont, auch bei anderen<br />
Verbrechenstatbeständen aus den Geständnissen nicht unmittelbar auf<br />
die Schuld der Angeklagten geschlossen werden.<br />
Um die Deutung der Hexenprozesse im engeren Sinne in der historischen<br />
Literatur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geht es in den folgenden zwei Beiträgen.<br />
Nils Freytag skizziert für die Rezeptionsgeschichte drei Stränge: 1. die<br />
spätaufklärerischen Quellen- <strong>und</strong> Literatursammlungen, 2. die<br />
konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken <strong>und</strong><br />
Protestanten beziehungsweise zwischen Kirche <strong>und</strong> säkularem Staat,<br />
schließlich 3. die medizinisch-psychologischen Deutungsversuche. In allen<br />
Fällen wurde das Hexenthema für Polemiken in gr<strong>und</strong>legenden<br />
Diskussionen genutzt, die den Umbruch zur Moderne hin begleiteten.<br />
Jörg Haustein vertieft in seiner Tendenzanalyse den Blick auf die<br />
Instrumentalisierung des Hexenthemas in der konfessions- <strong>und</strong><br />
kirchenpolitischen Debatte. Dabei verweist er allerdings auch auf den bis<br />
heute gültigen historischen Erkenntnisgewinn jenseits der Polemik <strong>und</strong><br />
den Übergang zu einer wertneutralen Betrachtung um 1900.<br />
Rainer Walz diskutiert in seinem sozialtheoretisch anspruchsvollen Beitrag<br />
gängige Theorien der Funktion von Sündenböcken <strong>und</strong> vergleicht, darauf<br />
aufbauend, die Sündenbockfunktion von Juden <strong>und</strong> Hexen. Während der
Jude deutlich sinnlich wahrnehmbar war <strong>und</strong> konkretere Verbindungen<br />
zwischen Krise <strong>und</strong> Schuldzuschreibung ermöglichte, war die Hexe ein<br />
äußerlich nicht mehr erkennbarer innerer Feind. Die Hexe konnte für weit<br />
mehr verantwortlich gemacht <strong>und</strong> stärker dämonisiert werden, die<br />
Aufklärung überstand diese Sündenbock-Konstruktion aber nicht. So<br />
befruchtend Walz´ Beitrag sein mag, passt er allerdings kaum in den<br />
vorliegenden Band.<br />
Rolf Schulte weist dann darauf hin, dass der abendländischen<br />
Hexenverfolgung zwar überwiegend Frauen zum Opfer gefallen sind, im<br />
Reich aber durchschnittlich 24 % der Opfer Männer waren. Mit der<br />
Romantik wurde diese Tatsache aus dem Geschichtsbild weitgehend<br />
ausgeblendet. Diese Verdrängung bestimmt bis heute nicht nur das<br />
triviale Geschichtsbewusstsein stark, sondern teilweise auch die neuere<br />
Forschung, die so zu falschen Schlüssen kommt. Schultes<br />
Bestandsaufnahme betont die regionalen Unterschiede, verweist auf<br />
Territorien mit überdurchschnittlichem Männeranteil <strong>und</strong> arbeitet einen<br />
signifikant höheren Männeranteil in katholischen Verfolgungen heraus.<br />
Die Charakterisierung der Trierer Hexenverfolgungen vor 1600 als<br />
"Germany´s first 'superhunt'" hinterfragt Rita Voltmer im Kontext der<br />
Rezeptions- <strong>und</strong> Forschungsgeschichte. Sie plädiert nach einer ersten<br />
Sichtung der schwierigen Überlieferungslage dafür, das bisherige Bild der<br />
Verfolgungen zu revidieren, die Ausmaße nach unten zu korrigieren <strong>und</strong><br />
Kurfürst Johann von Schönenberg zu entlasten. Kurtrier sei vom<br />
hochgerichtlich unabhängigen Umland zu unterscheiden. Das Bild der<br />
ungeheuerlichen Hexenverfolgung in "Trier" gehe schon bei den<br />
Zeitgenossen im Wesentlichen auf die unabhängige Reichsabtei St.<br />
Maximin zurück, das Bild der Prominenten-Verfolgung nur auf die Stadt<br />
Trier.<br />
Sektion III gilt dem 20./21. Jahrh<strong>und</strong>ert. Anhand der vergleichsweise gut<br />
aufgearbeiteten Nördlinger Hexenprozesse mit den beiden bekannten<br />
Fällen der Rebecca Lemp <strong>und</strong> der Maria Holl untersucht Sonja Kinzler das<br />
Verhältnis zwischen der wissenschaftlichen Aufarbeitung, der literarischen<br />
Rezeption sowie der lokalen Erinnerungskultur. Im Gegensatz zu anderen<br />
Orten kann Kinzler für Nördlingen auch im nichtwissenschaftlichen<br />
Bereich bei allem Hang zur Komplexitätsreduktion doch eine<br />
ungewöhnliche Seriosität <strong>und</strong> eine Orientierung an den von den<br />
Historikern (vor allem dem Stadtarchiv) bereitgestellten Fakten<br />
feststellen.<br />
Erika Münster-Schröer zeigt demgegenüber anhand von regionalen wie<br />
internationalen Beispielen, wie der Hexenverfolgung in Denkmälern,<br />
Gedenkfesten, Gedenkbüchern <strong>und</strong> Internetpräsentationen mit ganz<br />
unterschiedlichen gegenwartsbezogenen Intentionen gedacht wird. Sie<br />
warnt dabei besonders vor ahistorischen Analogien zum Holocaust <strong>und</strong><br />
plädiert eindringlich für eine Einbettung in die Stadt- <strong>und</strong><br />
Regionalgeschichte mit einer dauernden Rückkoppelung an die moderne<br />
Forschung.
Jürgen Scheffler stellt anhand von Bildern <strong>und</strong> gegenständlichen Objekten<br />
die Schaffung eines lokalen Hexenverfolgungs-Mythos im "Hexennest"<br />
Lemgo dar. Die Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzende touristischfolkloristische,<br />
mitunter auch politische Beschäftigung mit dem Thema<br />
war (anders als in Nördlingen) lange durch viel Fiktion <strong>und</strong><br />
Enthistorisierung bei gleichzeitigem Bemühen um scheinbare Authentizität<br />
gekennzeichnet.<br />
Aus dem Rahmen wissenschaftlicher Aufsätze fällt schließlich der Beitrag<br />
des evangelischen Pfarrers Hartmut Hegeler insofern heraus, als der<br />
Initiator des Arbeitskreises "Hexenverfolgungen in Westfalen" die<br />
Schuldfrage an die Kirche(n) stellt <strong>und</strong> eine innerkirchliche Bewegung zur<br />
Aufarbeitung der Hexenverfolgung initiiert hat. Mit dieser nicht nur<br />
institutionengeschichtlich höchst komplexen Frage schreibt er natürlich<br />
zugleich ein Stück Rezeptionsgeschichte <strong>und</strong> passt so trefflich in den<br />
Band.<br />
Der Sammelband vereint so unterschiedliche diskursgeschichtliche,<br />
rezeptions- <strong>und</strong> forschungsgeschichtliche, aber auch sprach- <strong>und</strong><br />
quellenk<strong>und</strong>liche Ansätze <strong>und</strong> Fragestellungen, dass ein näher<br />
bestimmbarer gemeinsamer Nenner im großen Feld der Konstruktion von<br />
Gegenwart <strong>und</strong> Vergangenheit mitunter kaum mehr zu erkennen ist.<br />
Dabei hilft auch die Einleitung <strong>Burghart</strong> <strong>Schmidt</strong>s nur bedingt, die ebenso<br />
weit ausgreift, wenn sie die Hexenforschung ins Spannungsfeld von<br />
Aktualitätsbezug, Rezeptionsgeschichte <strong>und</strong> frühneuzeitlicher<br />
Kontextualisierung stellt. Abgesehen von einem mäßigen Lektorat <strong>und</strong><br />
dem unbefriedigenden Referenzsystem in den Fußnoten ist somit eine<br />
gewisse konzeptionelle Schwäche zu konstatieren. Das breite Spektrum<br />
einer ganzen Reihe wichtiger <strong>und</strong> anregender Aufsätze ist aber zugleich<br />
auch die große Stärke des Unternehmens. Insofern ist dem Arbeitskreis<br />
mit dem ersten Band seiner Schriftenreihe ein ausgezeichneter Start<br />
gelungen.<br />
Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser<br />
Empfohlene Zitierweise:<br />
Jürgen Michael <strong>Schmidt</strong>: Rezension von: <strong>Katrin</strong> <strong>Moeller</strong> / <strong>Burghart</strong> <strong>Schmidt</strong> (<strong>Hg</strong>.):<br />
<strong>Realität</strong> <strong>und</strong> Mythos. Hexenverfolgung <strong>und</strong> Rezeptionsgeschichte, Hamburg: Dobu<br />
2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: <br />
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