Wo stehen wir in der Grammatiktheorie? - Seminar für ...
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Es ist klar, dass hier genau jener quantitative Aspekt <strong>der</strong> Abweichung zwischen vorhergesagten<br />
und tatsächlichen Werten bzw. Daten im Vor<strong>der</strong>grund steht, den es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong> Rede <strong>stehen</strong>den<br />
Art von L<strong>in</strong>guistik gerade nicht gibt: nirgendwo f<strong>in</strong>det sich im Buch von Epste<strong>in</strong> und<br />
Seely e<strong>in</strong>e quantifizierbare Vergleichbarkeit zwischen beobachteten Daten und e<strong>in</strong>er irgendwie<br />
gearteten Realität. Stattdessen <strong>wir</strong>d hier offen ausgesprochen, wozu die falsche Analogie<br />
dient, nämlich als Immunisierungsstrategie: alles kann empirisch falsch se<strong>in</strong> (wie <strong>in</strong><br />
Theorie 2), und dennoch halten <strong>wir</strong> an unserer Theorie fest – obwohl es e<strong>in</strong>e entsprechende<br />
Rechtfertigung quantitativer Art (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> gezeigten Abbildung) hier<strong>für</strong> gar nicht gibt und<br />
nicht geben kann.<br />
Nun könnte man e<strong>in</strong>wenden, dass jenseits <strong>der</strong> ideologischen Verpackung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Grammatiktheorie</strong><br />
faktisch kont<strong>in</strong>uierlich Fortschritte erzielt wurden. Dies ist jedoch ke<strong>in</strong>esfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
trivialen S<strong>in</strong>ne richtig. Dass etwa die zentralen organisatorischen Pr<strong>in</strong>zipien des jetzigen<br />
M<strong>in</strong>imalismus <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne besser wären als die <strong>der</strong> GB-Theorie <strong>der</strong> 80er Jahre, darf<br />
bezweifelt werden (was naturgemäß hier nicht materialiter ausgeführt werden kann 4 ). Dass<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igem Umfang neue Daten und dadurch neue Erkenntisse gewonnen wurden, lässt sich<br />
nicht bestreiten, sche<strong>in</strong>t aber zugleich gar nicht relevant <strong>für</strong> die jeweiligen Theorien. Wenn<br />
diese sich durch e<strong>in</strong>en Kern <strong>in</strong>tendierter Anwendungsfälle (und ihr Verhältnis zu sogenannten<br />
Anomalien) def<strong>in</strong>ieren, zeigt e<strong>in</strong> kursorischer Blick <strong>in</strong> die gängigen Lehrbücher, dass <strong>der</strong><br />
oben genannte Kern seit über e<strong>in</strong>em viertel Jahrhun<strong>der</strong>t aus demselben Datensatz besteht. 5<br />
E<strong>in</strong>e gewisse Flexibilität gibt es lediglich, wenn es darum geht, ungewohnte neue Analysen<br />
empirisch zu rechtfertigen, beispielsweise die These vom VP-<strong>in</strong>ternen Subjekt o<strong>der</strong> die Kopiertheorie<br />
<strong>der</strong> Bewegung. Entscheidend aber ist, dass die <strong>in</strong> den Kern neu aufgenommenen<br />
Daten (also etwa zum Quantifier Float<strong>in</strong>g o<strong>der</strong> zur B<strong>in</strong>dungstheorie) an sich aber ke<strong>in</strong>eswegs<br />
neu s<strong>in</strong>d, sie werden nur an<strong>der</strong>s analysiert, wenngleich unter Vernachlässigung alternativer<br />
Analysen o<strong>der</strong> Gegenevidenzen, welche, wenn man Pullum o<strong>der</strong> Postal (op. cit.) glauben<br />
darf, kollektiver Amnesie zum Opfer gefallen s<strong>in</strong>d.<br />
Die verschiedenen Analysen e<strong>in</strong>es immer wie<strong>der</strong>kehrenden empirischen Kerns und die<br />
weite Entfernung von diesem Kern qua Abstraktion erzeugen e<strong>in</strong>e explodierende Hilfshypothesenflut,<br />
die letztlich sogar Ästhetik und Rationalität selber über Bord gehen lässt. Damit<br />
e<strong>in</strong>her geht nicht nur e<strong>in</strong> Wildwuchs von neuer Term<strong>in</strong>ologie, welche die Er<strong>in</strong>nerung an<br />
Althergebrachtes zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n sucht, son<strong>der</strong>n auch die systematische Hypostasierung <strong>der</strong><br />
größeren Abstraktheit selbst, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong> „m<strong>in</strong>imalistischsten” aller Fragen,<br />
<strong>der</strong> Frage nach dem Warum, besteht (s. z.B. Hornste<strong>in</strong> et al. 2005). Jede Antwort, auch<br />
ohne Vergleich mit früheren Theorien, <strong>wir</strong>d als konsequenter, bruchloser Fortschritt darge-<br />
4 Hierzu passt die Bemerkung e<strong>in</strong>es anonymen Gutachters: „In <strong>der</strong> Tat schreitet die MSGG nicht fort und<br />
es gibt mittlerweile auch mehr o<strong>der</strong> weniger prom<strong>in</strong>ente Vertreter dieser Richtung, die den Ansatz nun nur<br />
noch transformational grammar nennen und wie<strong>der</strong> zu den Analysen im Stile von Barriers zurückkehren (<strong>der</strong><br />
letzten Zuckung <strong>der</strong> repräsentationellen Variante von GB).”<br />
5 Dieser wurde schon zu Zeiten <strong>der</strong> GB-Theorie als „Gruselkab<strong>in</strong>ett” <strong>der</strong> generativen L<strong>in</strong>guisten bezeichnet<br />
(s. Stechow & Sternefeld 1988, S. 7). Die Rede war von jenen ca. 20 Knoonstruktionstypen, welche theoretisch<br />
erfasst und auf immer wie<strong>der</strong> neue Art analysiert wurden.<br />
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