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Jahresbericht 2012 - Spitex Verband Kt. St. Gallen

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F A C H A R T I K E L<br />

F A C H A R T I K E L<br />

8 9<br />

Hallo, hallo, wo bin ich?<br />

Emotionsorientierte Kommunikationsansätze<br />

im Umgang mit<br />

Menschen mit Demenz<br />

Äusserungen demenzkranker Menschen deuten<br />

Kommunikation bildet die Kernkomponente<br />

des pflegerischen Handelns im Umgang mit<br />

Menschen mit Demenz. Dies entspricht der<br />

aktuellen pflegerischen und gesellschaftlichen<br />

Auffassung. Aber wie können wir die Kommunikation<br />

mit Menschen mit Demenz gestalten?<br />

Wünsche und Absichten von Menschen mit<br />

Demenz zu erfassen, ist nicht einfach. Denn<br />

‚normalerweise‘ können wir bei einem Gespräch<br />

von einer ‚Reziprozität der Perspektiven‘<br />

(Schütz 1971) ausgehen. Dies kann in der<br />

Begegnung mit Menschen mit Demenz nicht<br />

mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Die<br />

kontinuierliche Abnahme des Erinnerungs- und<br />

Konzentrationsvermögens sowie die Beeinträchtigung<br />

des sprachlichen Ausdrucksvermögens<br />

und des Sprachverständnisses erschweren<br />

zunehmend den Umgang mit demenzkranken<br />

Menschen. Die ‚üblichen‘ Regeln einer Konver ­<br />

sation verlieren ihre Gültigkeit oder verfehlen<br />

ihre Wirkung, weil gewissermaßen ‚aneinander<br />

vorbei‘ geredet wird. Eine ‚Passung‘ zwischen<br />

den Interaktionspartnern ist schwer herzustellen.<br />

Nichtsdestoweniger verfügen Menschen mit<br />

Demenz über individuelle Ausdrucksformen,<br />

die es zu deuten gilt: So ist nach letztem<br />

Kenntnisstand davon auszugehen, dass ihre<br />

Handlungen bedeutungserfüllt und durchaus<br />

Dr. Thomas Beer<br />

Fachhochschule <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong><br />

Fachbereich Gesundheit<br />

Tellstrasse 2<br />

9001 <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong><br />

Thomas.Beer@fhsg.ch<br />

situationsangemessen sind. Menschen mit<br />

Demenz sind demnach zu sinnhafter Kommunikation<br />

fähig und in der Lage, sich durch<br />

nonverbale Ausdrucksformen wie Mimik,<br />

Gestik, Blickkontakt, Haltung oder <strong>St</strong>immhöhe<br />

auszudrücken. Zum Teil bis in die Spätstadien<br />

der Krankheit hinein lassen sich verschiedenste<br />

Gefühlszustände erkennen (Bär et al. 2003;<br />

Kontos 2004; 2005, Re 2003, Magai et al.<br />

2002). Geht es darum, Sinn in den Äusserungen<br />

eines Menschen mit Demenz zu erfassen, ist<br />

die Haltung des gesunden Interaktionspartners<br />

ersterem gegenüber von besonderer Bedeutung.<br />

Wenn neuropathologische Prozesse auch<br />

einige Verhaltensprobleme nach sich ziehen, so<br />

sind doch manche Verhaltensweisen auch von<br />

demenzerkrankten Personen eher als Reaktion<br />

auf bestimmte ungünstige soziale ‚Umweltbedingungen‘<br />

zurückzuführen als in direkter<br />

Linie auf die Krankheit selbst. Insofern muss<br />

der sozialen Dynamik zwischen Pflegefachperson<br />

und Person mit Demenz besondere Aufmerksamkeit<br />

gewidmet werden. Würde man<br />

daher mit demenzerkrankten Menschen auf<br />

eine ihnen angemessene Weise umgehen und<br />

kommunizieren, so die Annahme, würde ein<br />

Teil der allseits bekannten Problem- und<br />

Gewaltsituationen erst gar nicht auftreten:<br />

Verstehensschwierigkeiten würden sich<br />

reduzieren und insbesondere das Problem des<br />

Herausfordernden Verhaltens würde nur noch<br />

selten auftreten. Folgerichtig müssten dann<br />

auch hieraus resultierende Konfliktsituationen<br />

eine verminderte Rolle spielen.<br />

Hallo, Hallo, wo bin ich?<br />

Herausforderndes Verhalten,<br />

eine Herausforderung für Pflegende<br />

Forschungsergebnisse sowie Praxiserfahrungen<br />

veranschaulichen, dass vor allem Menschen mit<br />

Demenz, die sogenannte vokale Disruptionen<br />

zeigen, als herausfordernd empfunden werden.<br />

Auch Personen, die von Unruhe getrieben<br />

sind, vermehrt aufstehen und umher laufen,<br />

vor allem, wenn dies mit häufigem Aufsuchen<br />

und Ansprechen von Pflegenden einhergeht,<br />

werden als ‚schwierig‘ erlebt. Pflegende zeigen<br />

insbesondere dann Überforderungsreaktionen,<br />

wenn Sie sich von einzelnen Bewohnern<br />

wiederholt mit denselben W-Fragen konfrontiert<br />

sehen, zum Beispiel: „Wo bin ich?“, „Was<br />

soll ich tun?“, „Wo muss ich hin?“, „Wer bin<br />

ich?“, „Wer sind Sie?“.<br />

Die Reaktionen der Pflegenden auf die<br />

gestellten Fragen sind ebenso vielfältig wie die<br />

Fragen selbst: vom Nachäffen und Gegenfragen<br />

stellen, sich abwenden und ignorieren,<br />

auffordern sich wieder zu setzen, zum Platz<br />

begleiten über eine Nahrungs-, Getränke- oder<br />

Beschäftigungsangebot bis hin zu (innig<br />

erscheinendem) Körperkontakt (Beer & Keller<br />

<strong>2012</strong>). Die Reaktionen der Pflegenden geben<br />

die gesamte Spannbreite zwischen beruhigendzusprechenden<br />

und erzieherisch-korrigierenden<br />

Reaktionen wieder. Sie haben den<br />

Anschein einer Hilflosigkeit der Pflegepersonen<br />

und scheinen den ‚Fragensdurst‘ der Personen<br />

mit Demenz nicht zu stillen.<br />

Warum Menschen mit Demenz immer und<br />

immer wieder dieselben Fragen stellen, ist<br />

noch ungeklärt. Welche Reaktionen ihres Umfeldes<br />

eine positive Wirkung auf ihre unzähligen,<br />

repetitiven Fragen zeigt, ist ebenfalls<br />

noch unklar. Die monoton wirkenden, wiederkehrenden<br />

subjektiven Wichtigkeiten der<br />

Menschen mit Demenz scheinen aber für die<br />

Pflegenden eine Herausforderung – mitunter<br />

sogar eine ‚Überforderung‘ zu sein. Besonders<br />

dann, wenn diese einen orientierungssuchenden,<br />

fragenden Charakter aufweisen. Die<br />

offensichtliche Suche nach Orientierung, Selbstaktualisierung,<br />

und <strong>St</strong>rukturierung scheint, mit<br />

dem (zusätzlichen) Vergessen temporaler<br />

<strong>St</strong>rukturen und der reduzierten zeitlichen<br />

Kontinuität übereinzustimmen. Das Bedürfnis<br />

und die Suche nach Orientierung und <strong>St</strong>rukturierung<br />

einerseits und die fehlenden Antworten<br />

andererseits scheinen nach ersten Erkenntnissen<br />

das vom Umfeld als herausfordernd empfundene<br />

Verhalten bei Menschen mit einer<br />

Demenz zu evozieren und zu provozieren<br />

(vgl. Beer & Keller 2011). Emotionsorientierten<br />

Kommunikationsansätzen, wie dem der<br />

Integrativen Validation (IVA) wird nachgesagt,<br />

dass sie diese Orientierungslosigkeit mindern<br />

können.<br />

Die Integrative Validation – ein emotionsorientierter<br />

Kommunikationsansatz?<br />

Seit Mitte der 1990er Jahre befasst sich die<br />

pflegewissenschaftliche Debatte mit der Frage,<br />

wie sich professionelles Handeln in der Pflege<br />

darstellt. Zentral für professionelles Handeln<br />

ist die ‚stellvertretende Deutung‘ (Oevermann<br />

1996) des Falles, in dessen wohlverstandenem<br />

Interesse und unter Wahrung seiner „Autonomie<br />

der Lebenspraxis“ (Behrens 2005: 118).<br />

Genau hier setzt das Konzept der Integrativen<br />

Validation (IVA) an: Vor dem Hintergrund der<br />

Annahme, dass Menschen mit Demenz ‚in ihrer<br />

eigenen Welt‘ leben, sollen sich besonders<br />

professionell Pflegende auf diese ‚Welt‘ einlassen,<br />

statt an Normalitätsvorstellungen orientiert,<br />

korrigierend einzugreifen. Der emotionsorientierte<br />

Ansatz der IVA legt besonderen<br />

Wert auf den Erhalt bzw. die Förderung von<br />

Selbstbestimmung, Selbstaktualisierung und<br />

Eigenentwicklung einer Person mit Demenz.<br />

Die IVA wird von ihrer Begründerin, Nicole<br />

Richard, als mehrdimensional, gegenwartsorientiert<br />

und personenzentriert beschrieben.

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