Osteopathie in der Pädiatrie: Wirkprinzip und Indikation
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Fortbildung | „Artikel Des Monats“<br />
<strong>Osteopathie</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pädiatrie:<br />
Wirkpr<strong>in</strong>zip <strong>und</strong> <strong>Indikation</strong><br />
Heike Philippi | SPZ Frankfurt Mitte<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Die <strong>Osteopathie</strong> ist e<strong>in</strong>e komplementäre<br />
Behandlungsform, die von Eltern für ihre<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> immer häufiger <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />
wird. Auch wenn es ke<strong>in</strong>er ärztlichen<br />
Überweisung bedarf, s<strong>in</strong>d die Eltern<br />
dankbar für e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>isch-fachliche<br />
Beratung bezüglich Wirkpr<strong>in</strong>zip,<br />
Verträglichkeit <strong>und</strong> <strong>Indikation</strong> von <strong>Osteopathie</strong>.<br />
Wissenschaftliche Daten zum<br />
Thema <strong>Osteopathie</strong> s<strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong> spärlich<br />
<strong>und</strong> die vorhandenen Informationen<br />
meistens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eher befremdlich wirkenden<br />
Fachsprache formuliert, was den Wissenszugang<br />
erschwert. Während <strong>der</strong> letzten<br />
12 Jahre habe ich mich e<strong>in</strong>gehend mit<br />
<strong>der</strong> Wirkungsweise <strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt.<br />
Zunächst habe ich e<strong>in</strong>en<br />
kritischen Dialog mit verschiedenen Osteopathen<br />
<strong>und</strong> Ausbil<strong>der</strong>n unterschiedlicher<br />
<strong>Osteopathie</strong>schulen geführt <strong>und</strong> empfohlene<br />
Literatur durchgearbeitet. Als zweites<br />
habe ich mich fortgesetzt von Osteopathen<br />
verschiedener Ausbildungsrichtungen im<br />
Selbsterk<strong>und</strong>ungsversuch behandeln lassen.<br />
Schließlich habe ich e<strong>in</strong>e randomisierte<br />
Therapiestudie bei haltungsasymmetrischen<br />
Säugl<strong>in</strong>gen zur Evaluation des<br />
therapeutischen Effekts von <strong>Osteopathie</strong><br />
durchgeführt. Die folgende Zusammenstellung<br />
me<strong>in</strong>er Erfahrungen könnte den<br />
E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e eigene kritische Prüfung<br />
dieser Behandlungsform erleichtern. Ich<br />
habe mich bemüht die Fachbegriffe <strong>der</strong><br />
<strong>Osteopathie</strong> best möglich <strong>in</strong> die ärztliche<br />
Sprache zu übersetzten, wenngleich e<strong>in</strong>zelne<br />
Vorstellungen so <strong>in</strong> <strong>der</strong> ärztlichen<br />
Gedankenwelt nicht vorkommen. Die<br />
Komplexität <strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong> ergibt sich<br />
aus dem Selbstverständnis, nicht bloß e<strong>in</strong>e<br />
Behandlungstechnik son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e umfassende<br />
Heilk<strong>und</strong>e zu se<strong>in</strong>.<br />
Hypothetisches Wirkpr<strong>in</strong>zip<br />
<strong>und</strong> Philosophie<br />
<strong>Osteopathie</strong> ist e<strong>in</strong>e empirisch begründete<br />
Behandlungsmethode, bei <strong>der</strong> durch subtilen<br />
palpatorischen E<strong>in</strong>fluss auf das Gewebe<br />
sowohl arterieller, venöser <strong>und</strong> lymphatischer<br />
Fluss als auch <strong>der</strong> Stoffwechsel<br />
<strong>der</strong> Zellen spezifisch (also Bef<strong>und</strong> abhängig)<br />
angeregt werden soll. Dadurch<br />
könnten Funktionse<strong>in</strong>schränkungen verschiedenster<br />
Art <strong>und</strong> pr<strong>in</strong>zipiell aller Organe<br />
direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt verbessert werden.<br />
Als Beobachter e<strong>in</strong>er osteopathischen<br />
Behandlung sieht man, wie <strong>der</strong> Osteopath<br />
für ungefähr 45 – 60 m<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hände <strong>in</strong><br />
wechselnden Lokalisationen für e<strong>in</strong>ige<br />
M<strong>in</strong>uten auflegt <strong>und</strong> dort sche<strong>in</strong>bar untätig<br />
verharrt (Abb.1). In <strong>der</strong> Vorstellung<br />
des Osteopathen erspürte dieser dabei die<br />
Qualität verschiedener Gewebsarten. So<br />
identifizierte E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Gewebsbeweglichkeit<br />
löse <strong>der</strong> Organismus<br />
selbst unter beharrlichem <strong>und</strong> gezieltem<br />
palpatorischen E<strong>in</strong>flusses des Osteopathen<br />
auf. Während <strong>der</strong> Behandlung werde <strong>der</strong><br />
Lösungsrozess angestoßen <strong>und</strong> setze sich<br />
im Intervall bis zur nächsten Behandlung<br />
fort. In welchen Positionen <strong>der</strong> Osteopath<br />
se<strong>in</strong>e Hände auflege, h<strong>in</strong>ge vom diagnostischen<br />
Palpationsbef<strong>und</strong> ab. Dabei orientiere<br />
sich <strong>der</strong> Osteopath an anatomischen<br />
Bezugspunkten, physiologischen sowie embryologischen<br />
Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien <strong>und</strong> folge<br />
e<strong>in</strong>er übergeordneten osteopathischen Philosophie.<br />
Anatomische Bezugspunkte<br />
Bezugspunkte im Bereich des Knochens,<br />
als härtestes Gewebe im Körper, gäben e<strong>in</strong>e<br />
wichtige Orientierung [5]. Beispielhaft<br />
sei auf Strukturen am Schädel, dem Sakrum<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Wirbelsäule h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
Vorausgeschickt sei die Annahme <strong>der</strong><br />
Osteopathen, dass bis <strong>in</strong>s Erwachsenenalter<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Bewegungen im Bereich von Suturen<br />
des Schädels möglich seien [11]. Das<br />
Os occipitale stünde mit dem Os sphenoidale<br />
über die Sutura sphenobasilaris (SSB)<br />
<strong>in</strong> Wechselwirkung. Nach Vorstellung <strong>der</strong><br />
Osteopathen führen die Atmung, <strong>der</strong> Puls<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e oszillatorische Gewebs- <strong>und</strong><br />
Organverän<strong>der</strong>ungen zu permanent ablaufenden<br />
rhythmischen Bewegungen,<br />
Abb. 1: Bil<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er osteopathischen Behandlung.<br />
© PD Dr. med. Heike Philippi<br />
290 K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de
„Artikel Des Monats“ | Fortbildung<br />
die e<strong>in</strong>e charakteristische Auf-e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zu-<br />
<strong>und</strong> Von-e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-weg-Bewegung des<br />
Os occipitale <strong>in</strong> Relation zum Os sphenoidale<br />
bed<strong>in</strong>ge. Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt sei<br />
die SSB. Diese Bewegungen könne man<br />
durch Auflage <strong>der</strong> Hände auf den H<strong>in</strong>terkopf<br />
spüren. Diese Auf-e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-zu- <strong>und</strong><br />
Von-e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-weg-Bewegung übertrage<br />
sich über die Wirbelsäule auf das Os sacrum<br />
<strong>und</strong> führe hier auch zu e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />
Vor- <strong>und</strong> Zurückkippbewegung.<br />
An<strong>der</strong>sherum ließe sich die Bewegungen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> SSB durch Auflage e<strong>in</strong>er Hand unter<br />
das Sakrum wahrnehmen. Im Falle e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>seitigen Blockierung im HWS-Bereich<br />
ließen sich diese durch e<strong>in</strong>e verän<strong>der</strong>te<br />
Bewegungsrichtung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige<br />
E<strong>in</strong>schränkung <strong>der</strong> Beweglichkeit<br />
sowohl occipital als auch sacral palpieren<br />
<strong>und</strong> behandeln.<br />
Als e<strong>in</strong> weiteres Beispiel sei die Betrachtung<br />
<strong>der</strong> Schädelbasis <strong>und</strong> ihre Foram<strong>in</strong>a<br />
genannt. Im Falle e<strong>in</strong>es Plagiocephalus, <strong>der</strong><br />
die Schädelbasis mit e<strong>in</strong>bezieht, komme es<br />
zur asymmetrischen Ausprägung <strong>der</strong> Foram<strong>in</strong>a<br />
mit relativen E<strong>in</strong>engungen, wie aus<br />
pathologischen Präparaten bekannt sei. E<strong>in</strong>e<br />
asymmetrische E<strong>in</strong>engung im Foramen<br />
jugulare könne zur funktionellen Irritation<br />
des Nervus vagus <strong>und</strong> so beispielsweise<br />
zu e<strong>in</strong>em unphysiologischen gastrooesophagealen<br />
Reflux o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Pylorushypertrophie<br />
führen. Gut geschulte Osteopathen<br />
könnten durch Auflage ihrer Hände<br />
auf den Schädel e<strong>in</strong>e solche Verfestigung<br />
<strong>und</strong> Irritation im Bereich des Foramen jugulare<br />
wahrnehmen <strong>und</strong> behandeln. Dabei<br />
arbeiteten sie auf unterschiedlichen Gewebsebenen:<br />
knöchern, fascial, muskulär<br />
<strong>und</strong> fluidal. Verän<strong>der</strong>ungen im knöchernen<br />
Bereich zu bewirken sei wegen <strong>der</strong> hohen<br />
Gewebsdichtigkeit am schwierigsten<br />
<strong>und</strong> gelänge nur durch mehrfache Behandlungen<br />
über Wochen bis Monate.<br />
E<strong>in</strong>e Behandlung auf fascialer Ebene<br />
folge im wesentlichen den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physiotherapie<br />
<strong>und</strong> Manualtherapie bekannten<br />
Fascienketten. Dabei wird e<strong>in</strong>e Organkapsel<br />
nicht isoliert als Abgrenzungsstruktur<br />
des Parenchyms betrachtet, son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong>e<br />
Fortsetzung <strong>in</strong> die Umgebung per Ligamente<br />
mitberücksichtigt. So gesehen seien alle<br />
Wesentliches für die Praxis . . .<br />
◾<br />
◾<br />
◾<br />
Die <strong>Osteopathie</strong> ist e<strong>in</strong>e komplementäre Behandlungsmethode <strong>der</strong>en Effekte<br />
bisher überwiegend empirisch begründet s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> sich auf anatomische, physiologische<br />
<strong>und</strong> embryologische Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien beziehen.<br />
Vor allem bei funktionellen Störungen wie Kopfschmerzen, frühk<strong>in</strong>dlichen Regulationsstörungen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>fantilen Haltungsasymmetrie lohnt sich e<strong>in</strong> Behandlungsversuch,<br />
weil zum e<strong>in</strong>en erste Daten für e<strong>in</strong>e Wirksamkeit sprechen<br />
<strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en unerwünschte Wirkungen aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Sanftheit <strong>der</strong> Methode<br />
nicht zu erwarten s<strong>in</strong>d.<br />
Die <strong>Osteopathie</strong> ist familienfre<strong>und</strong>lich, weil es ke<strong>in</strong>er häuslichen Beübung bedarf<br />
<strong>und</strong> Behandlungen im Abstand von 2 – 3 Wochen ausreichend s<strong>in</strong>d. Im E<strong>in</strong>zelfall<br />
sollte <strong>der</strong> Arzt sicherheitshalber den Effekt vor <strong>und</strong> nach e<strong>in</strong>em Behandlungsblock<br />
überprüfen.<br />
Organe <strong>und</strong> Strukturen untrennbar mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
über Fascien <strong>und</strong> Ligamente verb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Erkrankung e<strong>in</strong>es Organs<br />
habe u. a. über diesen Weg e<strong>in</strong>e Auswirkung<br />
auf die Nachbarorgane. Im Falle<br />
e<strong>in</strong>er unilateralen Nierendysplasie könne<br />
dieser Schrumpfungsprozess durch se<strong>in</strong>e<br />
Wirkung über retroperitoneale Fascien <strong>und</strong><br />
Ligamente e<strong>in</strong>e lumbale Skoliosehaltung<br />
bewirken. E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Fortsetzung des<br />
fascialen Systems sehen die Osteopathen im<br />
Bereich des Schädels. Nach ihrer Sicht setzten<br />
sich die Halsfascien untrennbar <strong>in</strong> die<br />
harten Hirnhäute des Schädels e<strong>in</strong>schließlich<br />
<strong>der</strong> Falx cerebri <strong>und</strong> dem Tentorium<br />
fort. Dadurch sei auch <strong>der</strong> akute Schiefhals<br />
bei e<strong>in</strong>em ZNS-Tumor erklärbar.<br />
Physiologische Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipen<br />
Der Osteopath bezieht sich auf physiologische<br />
Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipen mit eigenem Fokus<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretiere die Pr<strong>in</strong>zipien an<strong>der</strong>s.<br />
Auf dem Niveau <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Zelle<br />
<strong>und</strong> dem Zellverb<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d Stoffwechselpr<strong>in</strong>zipien<br />
wie Diffusion, Osmose, Ionenkanalfluxe,<br />
Rezeptor vermittelte Fluxe,<br />
Exozytose, Endozytose, Filtration, Resorption,<br />
Sekretion bekannt. Die Vorstellung,<br />
dass diese Vorgänge <strong>in</strong> Summe organ- bzw.<br />
gewebsspezifisch u.a. rhythmisch ablaufen<br />
<strong>und</strong> als sog. Stoffwechselbewegungen<br />
im Großen von außen palpabel se<strong>in</strong> sollen,<br />
mutet befremdlich an [1 – 3, 10]. Bezogen<br />
auf e<strong>in</strong> bestimmtes Organ spricht<br />
<strong>der</strong> Osteopath von <strong>der</strong> Motilität (Eigenbewegung)<br />
e<strong>in</strong>es Organs. Osteopathen<br />
gehen sogar soweit, dass sie über E<strong>in</strong>schränkungen<br />
<strong>der</strong> Motilität (oszillierende<br />
Eigenbewegung des Organs) zusammen<br />
mit <strong>der</strong> Mobilität (passive Beweglichkeit,<br />
durch Bewegungen bei <strong>der</strong> Untersuchung<br />
prüfbar o<strong>der</strong> z. B. über Atemverschiebung<br />
<strong>der</strong> Leber wahrnehmbar) Rückschlüsse auf<br />
die Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>der</strong> Organfunktion<br />
ziehen <strong>und</strong> diese osteopathisch behandeln<br />
könnten.<br />
Die komplexen physikalischen Erklärungsmodelle<br />
autonomer oszillatorischer<br />
Rhythmen im menschlichen Organismus<br />
bleiben trotz umfangreicher wissenschaftlicher<br />
Daten schwer verständlich. Dies gilt<br />
ebenso für die Entstehung <strong>der</strong> Aktivität des<br />
S<strong>in</strong>usknoten, des Atemzentrums <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Hirnströme, wenngleich die Akzeptanz<br />
dieser autonomen Rhythmen durch die Visualisierung<br />
per EKG, EEG o<strong>der</strong> Atemkurve<br />
erleichtert wird. Schwerer fällt es, die<br />
von Osteopathen genutzten Gewebsrhythmen,<br />
die <strong>der</strong>zeit nicht so e<strong>in</strong>fach visualisierbar<br />
s<strong>in</strong>d, als existent <strong>und</strong> palpatorisch<br />
spürbar zu akzeptieren. Je nach <strong>Osteopathie</strong>schule<br />
werden diese Rhythmen unterschiedlicher<br />
Frequenz (meist im Bereich<br />
von 1 – 12 / M<strong>in</strong>ute) u. a. als CRI = cranial<br />
rhythmic impulse, PRM = primär respiratorischer<br />
Mechanismus o<strong>der</strong> Long tide bezeichnet<br />
[2, 3, 7, 10, 11]. Die Amplitude <strong>und</strong><br />
Frequenz dieser Rhythmen gäbe vor allem<br />
im Seitenunterschied o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Relation benachbarter<br />
Gewebe dem Osteopathen Information<br />
über Funktionse<strong>in</strong>schränkungen,<br />
die er dadurch positiv bee<strong>in</strong>flussen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de<br />
291
Fortbildung | „Artikel Des Monats“<br />
Bauchlage<br />
Rumpfkonvexität<br />
HWS-Rotationsdefizit<br />
Rückenlage<br />
Rumpfkonvexität<br />
HWS-Rotationsdefizit<br />
Gesamtscore<br />
Abb. 2: Asymmetriebewertungs-Skala.<br />
könne. Beson<strong>der</strong>s hilfreich seien diese<br />
Rhythmen um E<strong>in</strong>fluss auf die Liquorzirkulation<br />
zu nehmen, wovon K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit<br />
Hydrocephalus profitierten.<br />
1 6<br />
1<br />
1<br />
1<br />
4<br />
symmetrisch<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
6<br />
6<br />
6<br />
24<br />
Punkte<br />
Punkte<br />
Punkte<br />
Punkte<br />
Punkte<br />
asymmetrisch<br />
Embryologische Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipen<br />
Mit <strong>der</strong> Nutzung embryologischer Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien<br />
verhält es sich ähnlich wie mit<br />
den physiologischen Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien.<br />
Der Osteopath schaue aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en<br />
Blickw<strong>in</strong>kel darauf. Aus dem Studium ist<br />
den meisten Ärzten die Embryologie als<br />
e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> deskripitives Fach bekannt. Über<br />
die Kräfte, die sich h<strong>in</strong>ter den Verän<strong>der</strong>ungsprozessen<br />
verbergen, wurde wenig<br />
berichtet. Zudem spielt für den Arzt <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> alltäglichen Behandlung die embryologische<br />
Entstehungsgeschichte e<strong>in</strong>es Organs<br />
kaum noch e<strong>in</strong>e Rolle. Dies sei an<strong>der</strong>s<br />
für den Osteopathen. Angelehnt an<br />
die embryologischen Erkenntnisse von<br />
Prof. Blechschmidt (ehem. Ord<strong>in</strong>arius<br />
des anatomischen Institutes <strong>der</strong> Universität<br />
Gött<strong>in</strong>gen), <strong>der</strong> Kräfte h<strong>in</strong>ter den Differenzierungsprozessen<br />
aufgezeigt habe,<br />
blieben die Organe e<strong>in</strong> Leben lang über<br />
die geme<strong>in</strong>same embryologische Herkunft<br />
mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> bee<strong>in</strong>flussbar<br />
[1]. E<strong>in</strong>e Erkrankung e<strong>in</strong>es mesenchymalen<br />
Organs bee<strong>in</strong>flusse die Funktion vieler<br />
an<strong>der</strong>er mesenchymaler Organe über diese<br />
embryonale Verb<strong>in</strong>dung. E<strong>in</strong>e osteopathischen<br />
Behandlung beziehe sich günstiger<br />
Weise auf diese Zusammenhänge.<br />
Bei e<strong>in</strong>er osteopathische Behandlung unter<br />
Nutzung <strong>der</strong> embryologischen Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien<br />
würden die Organgrenzen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> mentalen Vorstellung des Osteopathen<br />
aufgegeben <strong>und</strong> <strong>der</strong> Körper als e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum<br />
verschiedener Gewebe unterschiedlicher<br />
embryonaler Abstammung wahrgenommen<br />
<strong>und</strong> behandelt. Von daher wird<br />
verständlich, dass <strong>der</strong> Osteopath je nach<br />
Behandlungsebene eher von Organen o<strong>der</strong><br />
viel mehr von Geweben spreche.<br />
Übergeordnete Pr<strong>in</strong>zipien –<br />
osteopathische Philosophie<br />
Ungeachtet welche Behandlungstechniken<br />
<strong>und</strong> welche Behandlungsebene <strong>der</strong> Osteopath<br />
auswählte, folge er bestimmten übergeordneten<br />
Behandlungspr<strong>in</strong>zipien [2, 7,<br />
10]. Dazu gehöre, dass es im Körper e<strong>in</strong>e<br />
untrennbare Verb<strong>in</strong>dung zwischen Funktion<br />
<strong>und</strong> Struktur gebe. Diese Wechselbeziehung<br />
werde über den Faktor Zeit gestaltet.<br />
E<strong>in</strong>e Stoffwechsele<strong>in</strong>schränkung bewirke<br />
<strong>in</strong> Abhängigkeit <strong>der</strong> Wirkzeit e<strong>in</strong>e<br />
reversible o<strong>der</strong> irreversible Funktionsbee<strong>in</strong>trächtigung<br />
des Gewebes <strong>und</strong> führe<br />
konsekutiv zur Strukturverän<strong>der</strong>ung. Je<br />
länger e<strong>in</strong>e Funktionsbee<strong>in</strong>trächtigung bestünde,<br />
desto mehr gestalte sie die Struktur.<br />
Der Arzt würde meist erst dann tätig,<br />
wenn die Strukturverän<strong>der</strong>ung so ausgeprägt<br />
seien, dass Krankheitssymptome<br />
aufträten, die e<strong>in</strong>e Diagnose erlaubten. Der<br />
Osteopath würde idealerweise schon während<br />
<strong>der</strong> funktionellen Entstehungsphase<br />
tätig. Das Wirkpr<strong>in</strong>zip das wächst sich<br />
aus kenne <strong>der</strong> Osteopath nicht. Es müsse<br />
immer e<strong>in</strong>e Kraft wirken, damit Verän<strong>der</strong>ung<br />
stattf<strong>in</strong>den könne. E<strong>in</strong>e Unterscheidung<br />
zwischen Heilung <strong>und</strong> Kompensation<br />
sei ihm wichtig. Im Falle e<strong>in</strong>er Haltungsasymmetrie<br />
wäre e<strong>in</strong>e Heilung die<br />
Lösung des verkürzten <strong>und</strong> überlasteten<br />
Muskelstrangs, e<strong>in</strong>e Kompensation würde<br />
die tra<strong>in</strong>ierte Mehrarbeit <strong>der</strong> antagonistischen<br />
Muskulatur bedeuten. Auf den gesamten<br />
Organismus <strong>und</strong> die Lebensspanne<br />
gesehen, könnten w<strong>in</strong>zige palpatorische<br />
Details große funktionelle Bedeutung gew<strong>in</strong>nen,<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite verfüge<br />
<strong>der</strong> Gesamtorganismus über vielfältige<br />
„Selbstregulationsprozesse“ um Details<br />
zu heilen. Die Kunst <strong>der</strong> Osteoapthie sei<br />
es, bei <strong>der</strong> Behandlung diese Zusammenhänge<br />
zu berücksichtigen <strong>und</strong> nur dort tätig<br />
zu werden, wo <strong>der</strong> Organismus es selbst<br />
nicht schaffe. In jedem Falle rege <strong>der</strong> Osteopath<br />
mit se<strong>in</strong>en Techniken „Selbstregulationsprozesse“<br />
an <strong>und</strong> unterscheide sich<br />
hierdurch von <strong>der</strong> Manualmediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Chiropraktik, die <strong>in</strong>vasiver sei. Man könne<br />
sagen, <strong>der</strong> Manualtherapeut „mache etwas<br />
am Körper“ wo <strong>der</strong> Osteopath „den Körper<br />
machen lasse“. Dadurch erklärten sich<br />
auch die großen Behandlungs<strong>in</strong>tervalle für<br />
die Nachwirkung <strong>und</strong> die Unbedenklichkeit<br />
e<strong>in</strong>er osteopathischen Behandlung. Es<br />
würde bei e<strong>in</strong>er osteopathischen Behandlung<br />
nichts angestoßen, was <strong>der</strong> Organismus<br />
nicht verkraften könne.<br />
Wie funktioniert nun e<strong>in</strong>e<br />
osteopathische Behandlung?<br />
Die Lektüre des Artikels bis hierher gibt<br />
dem Leser möglicherweise den E<strong>in</strong>druck,<br />
als seien lediglich e<strong>in</strong>ige Details unter<br />
Aussparung des konkreten Behandlungspr<strong>in</strong>zips<br />
zusammengetragen worden.<br />
Wie funktioniert <strong>Osteopathie</strong> denn<br />
nun wirklich? Was macht denn <strong>der</strong> Osteopath<br />
wirklich? Das s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat die<br />
brennenden Fragen. Warum sich je<strong>der</strong> Leser<br />
nur selbst mit gebühren<strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong><br />
Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong><br />
292 K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de
„Artikel Des Monats“ | Fortbildung<br />
diese Fragen beantworten kann, versuche<br />
ich mit folgendem Bild zu veranschaulichen:<br />
Wie funktioniert denn e<strong>in</strong>e Symphonie?<br />
Was macht denn <strong>der</strong> Musiker?<br />
Im vorherigen Kapitel habe ich Ihnen erläutert,<br />
das e<strong>in</strong>e Symphonie aus Noten besteht,<br />
dass Notenanordnung bestimmten<br />
Gesetzmäßigkeiten folgt, dass es verschiedene<br />
Rhythmen, Notenlängen, Tonarten,<br />
Lautstärken <strong>und</strong> Taktarten gibt. Der Musiker<br />
muss all diese D<strong>in</strong>ge beherrschen <strong>und</strong><br />
zum Teil zur gleichen Zeit zusammen <strong>und</strong><br />
zum Teil ganz isoliert anwenden. In se<strong>in</strong>em<br />
Musikstudium übt er durch Nachahmung<br />
sowie mentale <strong>und</strong> emotionale<br />
Vorstellung, wie er se<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ger bewegen<br />
muss, damit e<strong>in</strong> Ton bzw. e<strong>in</strong>e Melodie so<br />
kl<strong>in</strong>gt, wie sie kl<strong>in</strong>gen soll. Er kann diese<br />
Fähigkeiten nicht durch die Lektüre e<strong>in</strong>es<br />
Artikels aneignen. Im Falle e<strong>in</strong>es Musikstückes<br />
<strong>in</strong>teressiert uns meistens nicht so<br />
sehr, wie es entsteht, als vielmehr, wie das<br />
Gespielte wirkt. Wie wirkt die Symphonie?<br />
Auch diese Wirkung ist nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel<br />
zu fassen. Man muss sich die Symphonie<br />
anhören, um sie beurteilen zu können.<br />
Vergleichbar verhält es sich mit dem Erfassen<br />
<strong>der</strong> Entstehungs- <strong>und</strong> Wirkungsweise<br />
<strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong>; nur kann man sich die<br />
<strong>Osteopathie</strong> nicht anhören, son<strong>der</strong>n muss<br />
sie anfühlen. Dazu bedarf es meistens erst<br />
e<strong>in</strong>e Schärfung des Körpers<strong>in</strong>ns, weil wir<br />
recht ungeübt s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
subtiler eigener Körpersignale.<br />
GSP Punkte<br />
<strong>Indikation</strong>en<br />
Osteopathen behandelten per se ke<strong>in</strong>e<br />
Krankheiten [7]. Sie würden im Falle e<strong>in</strong>er<br />
Erkrankung e<strong>in</strong>en palpatorischen Bef<strong>und</strong><br />
erheben <strong>und</strong> könnten dann unter Zusammenschau<br />
von Anamnese <strong>und</strong> den sonstigen<br />
Bef<strong>und</strong>en e<strong>in</strong>e Aussage treffen, welche<br />
Hypothese sich für die Pathogenese ergäbe<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>wieweit e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>flussnahme auf<br />
die Erkrankung durch e<strong>in</strong>e osteopathische<br />
Behandlung möglich ersche<strong>in</strong>e. Das<br />
Ausmaß <strong>der</strong> E<strong>in</strong>flussnahme ergäbe sich<br />
im Verlauf wie gut <strong>der</strong> Organismus bzw.<br />
das Gewebe auf die Behandlung reagiere.<br />
Folgende exemplarische Beispiele für plausible<br />
<strong>Indikation</strong>en seien genannt (Tab. 1).<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich gelte, dass e<strong>in</strong>e kurative Behandlung<br />
durch e<strong>in</strong>e osteopathische Behandlung<br />
möglich sei, je mehr funktionell<br />
<strong>und</strong> weniger strukturell verfestigt die Störung<br />
sei. Beispiel: Haltungsasymmetrie,<br />
Kopfschmerzen (u. a. Migräne), Obstipation,<br />
frühk<strong>in</strong>dliche Regulationsstörung<br />
des Säugl<strong>in</strong>gs, Pseudotumor cerebri. Sek<strong>und</strong>är<br />
präventiv könne <strong>Osteopathie</strong> im<br />
Falle e<strong>in</strong>er frühen Behandlung <strong>der</strong> Haltungsasymmetrie<br />
für e<strong>in</strong>e spätere Skoliose,<br />
Zahnfehlstellung <strong>und</strong> Nahtsynostose<br />
se<strong>in</strong>. An manchen Orten würde auch e<strong>in</strong>e<br />
primäre Prävention betrieben, <strong>in</strong>dem je<strong>der</strong><br />
Säugl<strong>in</strong>g nach Geburt nicht nur von e<strong>in</strong>em<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>arzt son<strong>der</strong>n auch von e<strong>in</strong>em Osteopathen<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich untersucht würde.<br />
Dabei sei nicht die Prävention von bestimmten<br />
Erkrankungen das Ziel, son<strong>der</strong>n<br />
dem Organismus die bestmöglichen Entwicklungsmöglichkeiten<br />
zu geben, <strong>in</strong>dem<br />
frühzeitig palpatorische „Dysfunktionen“<br />
(e<strong>in</strong>geschränkte Mobilität, Motilität, Stoffwechselbewegungen,<br />
Rhythmen) gelöst<br />
würden. Bei manchen organmanifesten<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
-5<br />
-10<br />
Kontrollgruppe<br />
<strong>Osteopathie</strong>gruppe<br />
Abb. 3: Gesamtscoresdifferenz (GSD) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kontroll- <strong>und</strong><br />
<strong>Osteopathie</strong>gruppe als Box- <strong>und</strong> Whisker-Plots. E<strong>in</strong>e positive<br />
Differenz entspricht e<strong>in</strong>er Verbesserung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e negative<br />
e<strong>in</strong>er Verschlechterung. Die Ergebnisse s<strong>in</strong>d als Box- <strong>und</strong> Whisker-Plots<br />
dargestellt. Die mittlere horizontale L<strong>in</strong>ie entspricht<br />
dem Median. Die Unter- <strong>und</strong> Oberkanten <strong>der</strong> Box markierten<br />
jeweils die 25. <strong>und</strong> 75. Percentile. Die Whiskers zeigen die Spannweite,<br />
soweit die Werte <strong>in</strong> das 1,5-fache <strong>der</strong> Boxlänge fallen.<br />
Störungen könne e<strong>in</strong>e Heilung durch <strong>Osteopathie</strong><br />
erreicht werden. Beispiele: Pylorusstenose,<br />
Tränengangstenose, Hüftdysplasie<br />
I – II. Bei an<strong>der</strong>en sehr ausgeprägten<br />
organischen Störungen mit z. T. irreversibler<br />
Pathogenese sei <strong>Osteopathie</strong> nur adjuvant<br />
anzuwenden. Beispiele: Cerebralparese,<br />
Thoraxdeformität nach OP am offenen<br />
Herzen, Hydrocephalus, chronische<br />
Bronchitis.<br />
Behandlungsdauer <strong>und</strong> -<strong>in</strong>tensität<br />
Die <strong>Osteopathie</strong> f<strong>in</strong>det ausschließlich durch<br />
den Osteopathen selbst statt. Die Eltern<br />
müssen zu Hause ke<strong>in</strong>e Übungen durchführen.<br />
Zwischen 2 Behandlungen sollten<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel m<strong>in</strong>destens 10 Tage liegen, damit<br />
die angestoßenen Prozesse ungestört<br />
ablaufen könnten. Je nach Bef<strong>und</strong> empfehle<br />
<strong>der</strong> Osteopath nach <strong>der</strong> jeweiligen Behandlung,<br />
wann die nächste Behandlung <strong>in</strong>diziert<br />
sei. Je nach Pathogenese ergäbe sich<br />
für e<strong>in</strong> Symptom o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Erkrankung von<br />
K<strong>in</strong>d zu K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuell unterschied-<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de<br />
293
Fortbildung | „Artikel Des Monats“<br />
liche Behandlungsdauer <strong>und</strong> –<strong>in</strong>tensität. Bei<br />
manchen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit Tränengangsstenose<br />
genügten 3 Behandlungen. Bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
mit ausgeprägter Haltungsasymmetrie sei<br />
e<strong>in</strong>e das Wachstum begleitende Therapie<br />
bis nach <strong>der</strong> Pubertät s<strong>in</strong>nvoll. Erfahrungsgemäß<br />
seien bei e<strong>in</strong>er Haltungsasymmetrie<br />
im ersten Behandlungsjahr 12 – 15 Behandlungen,<br />
<strong>in</strong> den darauf folgenden Jahren<br />
3 – 6 Behandlungen <strong>und</strong> möglicherweise<br />
nach präpubertären Wachstumsschübe<br />
wie<strong>der</strong> 10 Behandlungen im Jahr nötig. Die<br />
<strong>Osteopathie</strong> ergänze sich mit an<strong>der</strong>en Behandlungsformen,<br />
<strong>in</strong>s Beson<strong>der</strong>e mit Physiotherapie,<br />
hervorragend. Man könnte sagen,<br />
die <strong>Osteopathie</strong> löse, was die Physiotherapie<br />
anschließend tra<strong>in</strong>iere.<br />
Qualitätssicherung<br />
Wie geschil<strong>der</strong>t stellt e<strong>in</strong>e osteopathische<br />
Behandlung e<strong>in</strong> kunstvolles Handwerk dar,<br />
Tab. 1: Behandlungs<strong>in</strong>dikationen (ausgewählte Beispiele)<br />
Diagnose<br />
Funktionelle Störungen<br />
Evidenz<br />
kurativ Haltungsasymmetrie doppelbl<strong>in</strong>d randomisierte Studie [9]<br />
frühk<strong>in</strong>dliche Regulationsstörung doppelbl<strong>in</strong>d randomiserte Studie [4]<br />
Kopfschmerzen (u. a. Migräne)<br />
Obstipation<br />
Empirie<br />
präventiv Skoliose Empirie<br />
Zahnfehlstellungen<br />
Nahtsynostosen<br />
Organisch manifeste Störungen<br />
Empirie<br />
Empirie<br />
kurativ Tränengangsstenose Empirie<br />
Hüftdysplasie I-II<br />
Empirie<br />
adjuvant Otitis media e<strong>in</strong>fach verbl<strong>in</strong>dete randomiserte Studie [6]<br />
Cerebralparese<br />
Hüftdysplasie III-IV<br />
Hydrocephalus<br />
Chronische Bronchitis<br />
Thoraxdeformität nach Herz-OP<br />
Empirie<br />
Empirie<br />
Empirie<br />
Empirie<br />
Empirie<br />
das auf den jeweiligen Patienten immer <strong>in</strong>dividuell<br />
angepasst wird <strong>und</strong> sehr stark von<br />
den Fähigkeiten des Osteopathen abhängt.<br />
Insofern stellt die berechtigte For<strong>der</strong>ung<br />
nach Qualitätssicherung e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
dar. Aktuell ist zu beobachten, dass<br />
<strong>der</strong> Qualitätssicherung <strong>in</strong> zweifacher Weise<br />
begegnet wird. Zum e<strong>in</strong>en bemühen sich<br />
die Berufsverbände <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen <strong>Osteopathie</strong>richtungen<br />
um die Anerkennung des<br />
Berufsbildes mit Festlegung verb<strong>in</strong>dlicher<br />
Ausbildungs<strong>in</strong>halte. Die Berufsverbände<br />
veröffentlichen Therapeutenlisten, die bestimmte<br />
Ausbildungswege durchlaufen haben.<br />
Zum an<strong>der</strong>en schließen die meisten<br />
<strong>Osteopathie</strong>ausbildungen mit e<strong>in</strong>er sog.<br />
Diplomarbeit ab, <strong>in</strong> <strong>der</strong> osteopathische Effekte<br />
wissenschaftlich untersucht werden.<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er Kooperation zwischen<br />
Ärzten, Statistiker, Physiotherapeuten<br />
<strong>und</strong> Osteopathen ist die folgende wissenschaftliche<br />
Untersuchung an <strong>der</strong> Universitätsk<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik<br />
Ma<strong>in</strong>z entstanden. Mit<br />
Hilfe e<strong>in</strong>er videobasierten standardisierten<br />
Asymmetrieskala wurde <strong>der</strong> Effekt e<strong>in</strong>er<br />
osteopathischen Behandlung auf die <strong>in</strong>fantile<br />
Haltungsasymmetrie evaluiert [8]. Die<br />
Auswertung des Schweregrads <strong>der</strong> Asymmetrie<br />
erfolgte anhand von Videos durch<br />
unabhängige verbl<strong>in</strong>dete Beobachter. Es<br />
wurde e<strong>in</strong>e 20 Punkte-Skala verwendet<br />
(Abb. 2) [9].<br />
Für die doppelt bl<strong>in</strong>d randomisierte Therapiestudie<br />
wurde e<strong>in</strong> adaptives Studiendesign<br />
mit Parallelgruppenbildung gewählt.<br />
Die Säugl<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Verumgruppe erhielten<br />
e<strong>in</strong>mal pro Woche für 45 M<strong>in</strong>uten e<strong>in</strong>e<br />
osteopathische Behandlung für 4 Wochen.<br />
Die Säugl<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Kontrollgruppe erhielten<br />
nach gleichem Zeitschema e<strong>in</strong>e osteopathische<br />
Sche<strong>in</strong>behandlung. Vor <strong>und</strong> nach den<br />
Behandlungsblöcken wurde die Haltungsasymmetrie<br />
gemäß den Vorschriften <strong>der</strong><br />
Asymmetrieskala videodokumentiert <strong>und</strong><br />
anschließend von drei unabhängigen, gebl<strong>in</strong>deten<br />
Beurteilern bewertet. Die Fallzahlkalkulation<br />
ergab e<strong>in</strong>e Fallzahl für die<br />
erste Stufe <strong>der</strong> Studie von 16 Patienten pro<br />
Behandlungsarm. Die Zwischenauswertung<br />
<strong>der</strong> Therapiestudie nach E<strong>in</strong>schluss<br />
von <strong>in</strong>sgesamt 32 asymmetrischen Säugl<strong>in</strong>gen<br />
ergab bereits e<strong>in</strong>en signifikanten Gruppenunterschied<br />
(p = 0,001, t-test) zu Gunsten<br />
<strong>der</strong> Behandlungsgruppe, so dass die<br />
Studie bereits nach <strong>der</strong> ersten Stufe beendet<br />
werden konnte. In <strong>der</strong> Kontrollgruppe<br />
verbesserten sich Säugl<strong>in</strong>ge um im Mittel<br />
1,2 Punkte (SD + / -3,5), <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behandlungsgruppe<br />
um 5,9 Punkte (SD +/- 3,8) (Abb. 3).<br />
Der mittlere Gruppenunterschied betrug<br />
damit 4,7 Punkte <strong>und</strong> belegt e<strong>in</strong>en signifikanten<br />
Therapieeffekt <strong>der</strong> osteopathischen<br />
Behandlung gegenüber dem Spontanverlauf.<br />
Abb. 4 zeigt die Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Rumpfkonvexität <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kopfdrehung<br />
<strong>in</strong> Bauchlage vor <strong>und</strong> nach Intervention bei<br />
e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Kontrollgruppe <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />
<strong>der</strong> Behandlungsruppe exemplarisch.<br />
Kosten<br />
Die Behandlungskosten werden aktuell<br />
von den gesetzlichen Krankenkassen<br />
nicht übernommen, weil sie im Heilmit-<br />
294 K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de
„Artikel Des Monats“ | Fortbildung<br />
Abb. 4 a: Säugl<strong>in</strong>g <strong>der</strong> Kontrollgruppe vor (erste Reihe)<br />
<strong>und</strong> nach Intervention (zweite Reihe).<br />
Literatur<br />
1. Blechschmidt E (2008) Wie beg<strong>in</strong>nt das menschliche Leben:<br />
Vom Ei zum Embryo. Chistiana-Verlag, Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong>,<br />
Schweiz<br />
2. Frymann, VM (2007) Die gesammelten Schriften von Viola<br />
M. In: Frymann DO: Das Erbe <strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong> für K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />
Hartmann C (ed), Jolandos, Paehl Deutschland<br />
3. Handoll N (2004) Die Anatomie <strong>der</strong> Potency: Grenzbereiche<br />
<strong>der</strong> osteopathischen Therapie. Hartmann C (ed), Jolandos,<br />
Paehl Deutschland<br />
4. Hayden C, Mull<strong>in</strong>ger B (2006) A prelim<strong>in</strong>ary assessment of<br />
the impact of cranial osteopathie for the relief of <strong>in</strong>fantile<br />
colic. Complementary Therapies <strong>in</strong> Cl<strong>in</strong>ical Practice 12:<br />
83 – 90<br />
5. Magoun HI (1976) Osteopathy <strong>in</strong> the cranial field. Sutherland<br />
Cranial Teach<strong>in</strong>g Fo<strong>und</strong>ation, Texas<br />
6. Mills VM, Henley CE, Barnes LL, Carreiro JE, Degenhardt<br />
BF (2003) The use of osteopathic manipulative treatment<br />
as adjuvant therapy <strong>in</strong> children with recurrent acute otitis<br />
media. Arch Pediatr Adolec Med 157: 861 – 866<br />
7. Möckel E, Mitha N (2005) Handbuch <strong>der</strong> pädiatrischen<br />
<strong>Osteopathie</strong>. Urban & Fischer, Elsevier, München<br />
8. Philippi H, Faldum A, Bergmann H, Jung T, Pabst B, Schleupen<br />
A (2004) Idiopathic <strong>in</strong>fantile asymmetry, proposal of<br />
a measurement scale. Early Hum Dev 80: 79 – 90<br />
9. Philippi H, Faldum A, Schleupen A, Pabst B, Jung T, et al.<br />
(2006) Infantile postural asymmetry and osteopathic treatment:<br />
a randomized therapeutic trial. Dev Med Child Neurol<br />
48: 5 – 9<br />
10. Sergueef N, Magoun HI (2007) Cranial Osteopathy for Infants,<br />
Children and Adolescents: A Practical Handbook.<br />
Churchill Liv<strong>in</strong>gstone, New York<br />
11. Sutherland WG, Sutherland AS, Möckel E, Mitha N, Pöttner<br />
M (2004) Das große Sutherland-Kompendium: Die Schädelsphäre.<br />
E<strong>in</strong>ige Gedanken. Unterweisungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
<strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong>. Mit klugen F<strong>in</strong>gern. Hartmann<br />
C (ed) Jolandos, Paehl Deutschland<br />
Abb. 4 b: Säugl<strong>in</strong>g <strong>der</strong> <strong>Osteopathie</strong>gruppe vor (erste Reihe)<br />
<strong>und</strong> nach Intervention (zweite Reihe).<br />
Korrespondenzadresse<br />
PD Dr. med. Heike Philippi<br />
– Ärztliche Leiter<strong>in</strong> –<br />
SPZ Frankfurt Mitte <strong>und</strong> Epilepsieambulanz<br />
Theobald-Christ-Str. 16<br />
60316 Frankfurt am Ma<strong>in</strong><br />
Tel.: 069 / 94 340 95 – 0<br />
Fax.: 069 / 94 340 95 – 99<br />
E-Mail: hphilippi@vae-ev.de<br />
www.spz-frankfurt.de<br />
© PD Dr. med. Heike Philippi<br />
telkatalog nicht aufgenommen s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e<br />
ärztliche Überweisung zu e<strong>in</strong>er osteopathischen<br />
Behandlung ist nicht notwendig.<br />
Die Behandlung wird entwe<strong>der</strong> von<br />
e<strong>in</strong>em osteopathisch tätigen Arzt o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>em Osteopathen mit dem Status e<strong>in</strong>es<br />
Heilpraktikers durchgeführt. Viele Osteopathen<br />
s<strong>in</strong>d ehemalige Physiotherapeuten,<br />
die nach aktueller Gesetzeslage<br />
die Heilpraktikerprüfung ablegen müssen<br />
um selbstständig tätig zu se<strong>in</strong>. Die meisten<br />
privaten Krankenkassen übernehmen<br />
die Kosten. Für e<strong>in</strong>e 45-60 m<strong>in</strong>ütige<br />
Behandlung werden ca. 50-100 Euro<br />
<strong>in</strong> Rechnung gestellt. Vere<strong>in</strong>zelt können<br />
dem K<strong>in</strong>d osteopathische Techniken im<br />
Rahmen e<strong>in</strong>er regelhaften Physiotherapiebehandlung<br />
durch Physiotherapeuten<br />
zu Gute kommen, wenn dieser e<strong>in</strong>zelne<br />
Kurse zu osteopathischen Techniken absolviert<br />
hat. In manchen Städten (z. B.<br />
Hamburg <strong>und</strong> Ma<strong>in</strong>z) gibt es das kostengünstige<br />
Modell <strong>der</strong> „Osteopathischen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>sprechst<strong>und</strong>e“. Hier haben sich<br />
Osteopathen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>getragenen<br />
Vere<strong>in</strong> zusammengeschlossen <strong>und</strong> bieten<br />
regelmäßig geme<strong>in</strong>same Sprechst<strong>und</strong>en<br />
für sozial schwächere Familien an.<br />
Für die Behandlung wird an Stelle e<strong>in</strong>er<br />
Rechung um e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Spende gebeten.<br />
Von diesem Geld f<strong>in</strong>anzieren sich die Osteopathen<br />
eigene Fortbildungen.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztliche Praxis 79, 290 – 295 (2008) Nr. 5 www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>aerztliche-praxis.de<br />
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