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Heinrich Böll Ansichten eines Clowns

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<strong>Heinrich</strong> Böll<br />

<strong>Ansichten</strong> <strong>eines</strong> <strong>Clowns</strong><br />

Biographische Skizze<br />

Er war ein Autor, der wie kaum ein zweiter die Geschichte<br />

der Bundesrepublik Deutschland von der<br />

Nachkriegszeit bis zur frühen Kanzlerschaft Helmut<br />

Kohls in seinem Œuvre begleitete und kommentierte<br />

und dessen Werk damit eine repräsentative zeitgeschichtliche<br />

Zeugniskraft gewann, die einzigartig<br />

sein dürfte. Zudem existiert kaum eine Rede, ein<br />

Interview oder Essay, kaum ein literarisches Werk,<br />

in der nicht der christlich-religiöse Hintergrund aufleuchtete,<br />

vor dem <strong>Heinrich</strong> Böll (1917-1985) dachte,<br />

sprach und schrieb.<br />

Böll, in Köln als Sohn <strong>eines</strong> Tischlermeisters geboren, unternimmt seine frühesten<br />

Schreibversuche bereits nach dem Abitur und dem Abbruch einer<br />

Buchhändlerlehre – beeinflusst von französischen Romanciers des ‚renouveau<br />

catholique’ wie Bloy oder Bernanos. Tief geprägt vom Dienst in der<br />

‚Wehrmacht’, den er nach Abbruch des Studiums mit Kriegsbeginn 1939 antritt,<br />

verstört durch die Nazi-Diktatur, dann unter dem Leseeindruck vor allem<br />

von Dickens, Dostojewskij, Joyce und den amerikanischen Realisten (wie<br />

Hemingway, Faulkner) stehend, intensiviert er sofort nach Kriegsende seine<br />

schriftstellerische Tätigkeit und kann bereits 1947/48 erste Kurzgeschichten<br />

veröffentlichen. Mit den Erzählungen und Romanen „Der Zug war pünktlich“<br />

(1949), „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953 –<br />

dem eigentlichen literarischen Durchbruch), „Das Brot der frühen Jahre“<br />

(1955) und „Billard um halbzehn“ (1959) erreicht Böll, seit 1942 mit der Lehrerin<br />

Annemarie Cech verheiratet und seit 1951 preisgekröntes Mitglied der<br />

„Gruppe 47“, zusehends ein breiteres Publikum und erhält zahlreiche Literaturpreise<br />

im In- und Ausland. Neben der längeren Prosa dokumentieren<br />

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auch Kurzgeschichten, Satiren und Hörspiele sein vielfältiges Talent, künden<br />

von den sensibel und kritisch beäugten Entwicklungen und Zuständen der<br />

schweren Nachkriegsjahre, der politischen und gesellschaftlichen Restauration<br />

nach der Währungsreform, der Sorge über die Remilitarisierung.<br />

Mit der wachsenden literarischen Wirkung einher geht Bölls kontinuierlich<br />

zunehmende politische Aktivität. Seine engagierte wie kritische Zeitgenossenschaft<br />

spiegelt sich literarisch in dem Roman „<strong>Ansichten</strong> <strong>eines</strong> <strong>Clowns</strong>“<br />

(1963) ebenso wie in den Erzählungen „Entfernung von der Truppe“ (1964)<br />

und „Ende einer Dienstfahrt“ (1966) und gipfelt in jenem Roman, der wohl<br />

ausschlaggebend für die Verleihung des Literaturnobelpreises 1972 wurde:<br />

„Gruppenbild mit Dame“ (1971). Bölls langer Kampf gegen die Springer-Presse<br />

und sein Einsatz für eine Verständigung mit den RAF-Häftlingen bilden den<br />

Hintergrund der Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974).<br />

Noch für seinen letzten Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ (1985) wählt<br />

Böll, dessen weltweite Anerkennung sich in der Wahl zum Präsidenten des<br />

Internationalen Schriftstellerverbandes PEN niederschlägt (1971-1974), erneut<br />

das Verfahren, zu hinterfragende gesellschaftspolitische Verhältnisse<br />

nie ohne geheime biblische Bezugsgestalten und -texte zu zeichnen. Bölls<br />

Enga gement in der Friedensbewegung der 80er Jahre und seine konsequente<br />

Ablehnung des NATO-Nachrüstungsbeschlusses werden ebenso nachdrücklich<br />

mit der jesuanischen Ethik begründet wie seine Kritik an der Verschmelzung<br />

von Wertvorstellungen der katholischen Amtskirche und der Bonner<br />

Politszene. Als Böll nach längerer schwerer Krankheit 1985 in Langenbroich<br />

stirbt, ist er längst aus der Kirche ausgetreten (1976), und doch wird der Ausgetretene<br />

kirchlich beerdigt: Symbol einer spannungsgeladenen Beziehung<br />

zum Katholizismus und gleichzeitig Ausdruck seiner tiefen Verwurzelung im<br />

christlichen Glauben (G. Langenhorst 2002, 8).<br />

Kontexte<br />

Böll hat in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen (1964) ausführlich sein ästhetisches<br />

Konzept vorgelegt. Ausgangspunkt dafür war die Beobachtung,<br />

dass eine tatsächliche Bewältigung des Vergangenen, von Böll bewusst mit<br />

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eligiösem Vokabular wie Schuld, Buße und Reue umschrieben, gesellschaftlich<br />

nicht stattfand. Seine Poesie versuchte demgegenüber Sprachfindung zu<br />

betreiben, die „Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren<br />

Land“ – gemeint waren die Skizzen von Lebenszusammenhängen, die<br />

eine menschenwürdige Existenz inmitten <strong>eines</strong> von Fortschrittsoptimismus<br />

und seelenloser Prosperität getragenen Zeitgeistes garantierten. Böll wollte in<br />

seiner Variante der so genannten ‚Trümmerliteratur’ festhalten an den menschlichen<br />

‚Ruinen’, die die Nazi-Zeit physisch und psychisch hinterlassen hatte.<br />

Liebe, Religion, Heimat, Familie und immer wieder die Mahlzeiten waren<br />

Fixpunkte seiner ‚Ästhetik des Humanen’.<br />

Im Rahmen dieses Konzeptes, dessen Humanität darin bestand, „das von der<br />

Gesellschaft für Abfall Erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit<br />

zu bestimmen“ (H. Böll, in V. Garske 1998, 73), rückte vor allem Jesus von<br />

Nazareth ins Blickfeld. Er diente Böll nachweislich als große Schreibmotivation.<br />

Zeit s<strong>eines</strong> Lebens wählte Böll zudem die rheinisch-katholische Lebenswelt<br />

zum Horizont seiner Werke. Die Kritik an der katholischen Amtskirche<br />

entzündete sich im gesamten Werk Bölls eben an dieser ‚Ästhetik des Humanen’,<br />

dem kontinuierlichen Versuch, in seiner literarischen Welt einen humanen<br />

Lebensraum und Alltag gegen die unmenschlichen Alltäglichkeiten<br />

einzuklagen. Bis heute von Belang sind daher für die theologische Forschung<br />

und für alle an Jesus von Nazareth Interessierten seine provozierend literarisierten<br />

Christus- und Gottesbilder, seine kritische und innovative Sicht der<br />

katholischen Amtskirche, ihrer Liturgie und Sakramente (vgl. M. Helm 2005),<br />

seine Hinterfragung jeder Form veräußerlichten Christentums und seine kompromisslosen<br />

Einstellungen zu Fragen der gesellschaftspolitischen Moral,<br />

letztlich seine „Vision von einer anderen Katholizität“ (K.- J. Kuschel, in G. Langenhorst<br />

2002, 97).<br />

„<strong>Ansichten</strong> <strong>eines</strong> <strong>Clowns</strong>“ (1963)<br />

„Im Grunde interessieren mich nur 2 Themen: die Liebe und die Religion.“<br />

(H. Böll, in V. Garske 1998, 94) Tatsächlich erfüllen sich die Hinweise Bölls<br />

zum Gehalt s<strong>eines</strong> Schreibens gerade in „<strong>Ansichten</strong> <strong>eines</strong> <strong>Clowns</strong>“. Erzählt<br />

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wird die Liebesgeschichte des Anti-Helden Hans Schnier, 27 Jahre alter atheistischer<br />

Industriellensohn und auf Grund s<strong>eines</strong> Künstlerdaseins schwarzes<br />

Schaf der protestantischen Familie, mit der Katholikin Marie Derkum. Der<br />

Roman spielt in Bonn an einem Märzabend des Jahres 1962. Der Clown bietet<br />

dem Leser Einblicke in die beruflichen und privaten Probleme durch in<br />

den epischen Monolog eingestreute Erinnerungen, Träume, Telefon gespräche<br />

und ein geschildertes Gespräch mit seinem Vater. Danach verließ Hans mit<br />

21 Jahren sein Elternhaus, um mit der Primanerin Marie, Tochter <strong>eines</strong> armen<br />

Ladenbesitzers, zusammenzuleben. Die doppelte Weigerung Schniers, sich<br />

vor einer kirchlichen Heirat auch standesamtlich trauen zu lassen und die<br />

katholische Erziehung der gemeinsamen Kinder schriftlich zu bestätigen,<br />

nahm Marie zum Anlass, ihn zu verlassen.<br />

Als er nun von Bonn aus Freunde und Verwandte um finanzielle Unterstützung<br />

bittet, muss er erfahren, dass sich Marie mit Heribert Züpfner auf Hochzeitsreise<br />

befindet. Das Pikante an dieser Situation: Der Clown durchschaut<br />

den Druck, unter den Marie einst wegen ihres unehelichen Lebens vom „Kreis<br />

fortschrittlicher Katholiken“ (zu dem auch Züpfner zählt) gesetzt worden ist,<br />

und wirft den aus seiner Sicht bigotten, von Macht und Besitzstreben besessenen<br />

Mitgliedern des Gesprächszirkels nun seinerseits „Ehebruch“ vor. Auf<br />

dieser religiösen Ebene des Romans entwickelt Schnier dabei die von Böll<br />

des Öfteren beschworene ‚Sakramentalität des Alltags’, welche die kirchenrechtliche<br />

Perspektive fragwürdig erscheinen lässt und ein unmenschliches<br />

kirchliches Gesetzesdenken bloßlegt. Gedeckt werden die der christlichen<br />

Gesellschaft vorgehaltenen Impertinenzen des <strong>Clowns</strong> besonders durch das<br />

polemisch gewendete Romanmotto, das Böll dem Römerbrief entnommen<br />

hat: „Die werden es sehen, denen von Ihm noch nichts verkündet ward, und<br />

die verstehen, die noch nichts vernommen haben.“ (Röm 15, 21)<br />

Ausgerechnet der ‚ungläubige’ Clown, der zwischen die Mühlsteine des<br />

kirchlichen Rechtssystems gerät, bezieht sich auf die Botschaft des Jesus von<br />

Nazareth, wenn sich Hans Schnier im überscharfen, prophetischen Tonfall<br />

der Anklage mit den Katholiken über die Themen Liebe, Ehe, Sexualität auseinander<br />

setzt. Die Konsequenz dieses kompromisslosen Widerspruchs lässt<br />

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nicht lange auf sich warten und wird unter geschickter Anspielung auf das<br />

tödliche Prophetenschicksal des Nazareners vorgestellt: Da er die Aussichtslosigkeit<br />

seiner Situation erkennt, begibt sich Hans Schnier im Finale des<br />

Romans schließlich unter der <strong>Clowns</strong>maske als Narr unter Narren im Karneval<br />

auf die Bonner Bahnhofstreppe, um hier bettelnd auf die Rückkehr Maries<br />

aus Rom zu warten: Er ist – zeitgleich mit dem Roman – am Ende: beruflich,<br />

physisch und psychisch.<br />

Bibliographische Hinweise<br />

Textausgabe:<br />

<strong>Heinrich</strong> Böll: <strong>Ansichten</strong> <strong>eines</strong> <strong>Clowns</strong> (Köln 1963)<br />

Zur weiteren Information:<br />

Garske, Volker: Christus als Ärgernis. Jesus von Nazareth in den Romanen<br />

<strong>Heinrich</strong> Bölls (Mainz 1998)<br />

Helm, Melanie: Spes contra spem – Ansätze zu einem Kirchenbild bei <strong>Heinrich</strong><br />

Böll (Münster 2005)<br />

Langenhorst, Georg (Hrsg.): 30 Jahre Nobelpreis <strong>Heinrich</strong> Böll. Zur literarisch-theologischen<br />

Wirkkraft <strong>Heinrich</strong> Bölls (Münster 2002)<br />

VG<br />

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