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Liebe Familie und Angehörige von Karl-Rainer ... - bei der IGUMED

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<strong>Liebe</strong> <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Angehörige <strong>von</strong> <strong>Karl</strong>-<strong>Rainer</strong> Fabig, liebe Trauergäste,<br />

Ich danke für die Ehre, hier vor allen Angehörigen <strong>und</strong> für sie, <strong>und</strong> vor seinen<br />

Fre<strong>und</strong>en <strong>Karl</strong>-<strong>Rainer</strong> Fabigs gedenken zu dürfen, eines Fre<strong>und</strong>es, über dessen<br />

Leben ich nach seinem Tod viel mehr erfahren habe als zu seinen Lebzeiten. Mich<br />

verband mit ihm vor allem eine Ar<strong>bei</strong>tsbeziehung. Gemeinsam waren wir engagiert in<br />

<strong>der</strong> Solidaritätsar<strong>bei</strong>t für Vietnam. Für mich war er einer, auf den man sich verlassen<br />

konnte, <strong>und</strong> <strong>der</strong> wesentliche wissenschaftliche Kenntnisse in unsere Ar<strong>bei</strong>t<br />

einbrachte. Es ist gerade zwei Monate her, daß ich zum ersten Mal Näheres über<br />

seine Herkunft, seine <strong>Familie</strong> erfuhr: Kalle, wie wir ihn nannten, mußte seine<br />

Teilnahme an unserer Mitglie<strong>der</strong>versammlung absagen, <strong>und</strong> am Telefon sagte er mir,<br />

daß seine Mutter gestorben sei, <strong>und</strong> daß seine Mutter, genannt „Mariechen“ in dem<br />

kleinen Ort, in dem er auch geboren wurde, „eine Institution“ gewesen sei, o<strong>der</strong>, wie<br />

er damals in seiner Trauerrede formuliert hat: ein Mensch „mit außergewöhnlicher<br />

Schaffenskraft“. Und er erzählte ein wenig <strong>von</strong> ihr. Es entstand das Bild einer starken<br />

Frau, mutig <strong>und</strong> ausdauernd in <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t <strong>und</strong> im Engagement für die menschliche<br />

Würde.<br />

Es war für mich auch <strong>der</strong> erste Hinweis darauf, daß Kalle in einer ländlichbäuerlichen<br />

Lebenswelt aufgewachsen ist. Ich hörte, daß er in dieser Zeit morgens<br />

schon vor <strong>der</strong> Schule auf dem Feld gear<strong>bei</strong>tet, <strong>und</strong> daß die Ar<strong>bei</strong>t in <strong>der</strong><br />

Landwirtschaft auch den Rest <strong>der</strong> schulfreien Zeit oft ganz ausgefüllt hat, manchmal<br />

schlich er sich auch zum Fußballspielen da<strong>von</strong>. Von <strong>der</strong> Schule nach Hause sei er<br />

mit dem Wagen gefahren, den seine Lieblingskuh Line gezogen habe, <strong>und</strong> er<br />

brauchte nicht auf den Weg zu achten, den sie auswendig kannte. Und da, auf dem<br />

Wagen, habe er gelesen o<strong>der</strong> Schulaufgaben gemacht. Das ist ein Bild, das zu dem<br />

Eindruck paßt, den ich in langen Jahren <strong>von</strong> ihm gewonnen habe: Die Herkunft aus<br />

dem fast archaischen Bereich bäuerlicher Produktion <strong>und</strong> zugleich <strong>der</strong> unbedingte<br />

Wille, zu lesen, zu lernen, Verwurzelung <strong>und</strong> Wissensdurst, das Zu Hause Sein in<br />

<strong>der</strong> Kleinen <strong>und</strong> in <strong>der</strong> weiten Welt des Wissens – das hat sein ganzes Leben<br />

geprägt.<br />

Geboren wurde Kalle am 28. 11. 1943 in Heringen/ Hessen an <strong>der</strong> Werra als mittlerer<br />

<strong>von</strong> drei Brü<strong>der</strong>n. Sein Leben wurde vom Krieg selbst, <strong>der</strong> knapp zwei Jahre später<br />

zu Ende gehen sollte, nicht geprägt, wohl aber durch seine Folgen: Der Vater Robert,<br />

Zimmermann <strong>von</strong> Beruf, war in den letzten Kriegstagen schwer verw<strong>und</strong>et worden.


Er verlor nicht nur seine Hand, son<strong>der</strong>n war auch <strong>von</strong> da an blind. Der Sohn hat<br />

schon damals – zunächst wohl eher aus <strong>Familie</strong>nsinn, dann aber in bewußtem<br />

Engagement, dem Vater eine Hilfe zu sein versucht. Er unterstützte ihn nicht nur <strong>bei</strong><br />

den Ar<strong>bei</strong>ten auf dem Hof <strong>und</strong> am elterlichen Haus, begleitete ihn auf Spaziergängen<br />

<strong>und</strong> Wan<strong>der</strong>ungen, son<strong>der</strong>n er – las ihm auch aus Büchern vor, was sicher nicht zu<br />

den normalen Kin<strong>der</strong>pflichten in einer ländlichen Gesellschaft gehört. Die Schule war<br />

für ihn, wohl ebenfalls im Gegensatz zu vielen seiner Mitschüler, keine<br />

aufgezwungene Fron, son<strong>der</strong>n elementares Bedürfnis. Er war ein guter Schüler, <strong>und</strong><br />

sein Lehrer meinte damals, aus ihm würde vielleicht mal ein Pastor werden.<br />

Trotzdem mußte er nach Absolvierung <strong>der</strong> Volksschule um seine Weiterbildung<br />

kämpfen. Da das Geld nicht reichte, wollten die Eltern ihm den Besuch des<br />

Gymnasiums nicht ermöglichen. In einer ziemlich spektakulären Aktion zwang er sie<br />

dazu, einzulenken: Er verließ das Haus, unter Mitnahme <strong>von</strong> Wurst <strong>und</strong> Brot aus <strong>der</strong><br />

Speisekammer, <strong>und</strong> versteckte sich im Wald, bis seine Vorräte aufgebraucht waren.<br />

Der Besuch des Realgymnasium Werratalschule, so kann man vermuten, war für ihn<br />

<strong>der</strong> erste große Schritt hinaus in eine Welt, die er sich sofort nach seinen eigenen<br />

Vorstellungen eroberte: nicht nur als Ort des Erwerbs <strong>von</strong> Wissen <strong>und</strong><br />

Lebenserfahrung, son<strong>der</strong>n auch als Feld gesellschaftlichen Handelns: Er war<br />

Klassensprecher, Schulsprecher <strong>und</strong> hielt <strong>bei</strong> seiner Abitursfeier 1963 eine<br />

vielbeachtete Rede.<br />

Nach dem Abitur wurde er sofort zum Wehrdienst eingezogen. Kurze Zeit später<br />

stellte er einen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer. Dieser wurde<br />

bewilligt, aber da hatte er seine Dienstzeit schon abgeleistet. Inzwischen stand für<br />

ihn fest, daß er Medizin studieren wollte, eine Berufsentscheidung, die<br />

möglicherweise durch das Schicksal des Vaters beeinflußt war, aber auch <strong>von</strong><br />

seinem Denken her konsequent war: Es ist diejenige Wissenschaft, <strong>der</strong>en Wirken am<br />

direktesten dazu bestimmt ist, Menschen zu helfen. Er schrieb sich 1964 an <strong>der</strong><br />

Universität Marburg ein, wechselte dann zwei Jahre später nach Hamburg. Während<br />

des Studiums intensivierte sich sein gesellschaftliches Engagement: In Marburg war<br />

er Mitglied des Studentenparlaments, in Hamburg nahm er an vielen politischen<br />

Protestaktionen teil: gegen die Notstandsgesetze, gegen den Besuch des Schahs<br />

<strong>von</strong> Persien, gegen den Vietnamkrieg. Häufig war er Hauptredner <strong>bei</strong>


Demonstrationen <strong>und</strong> Veranstaltungen, auch eine Zeit lang Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

örtlichen SDS.<br />

Bis zu diesem Zeitpunkt mag Kalles Werdegang dem vieler sogenannter „68er“<br />

gleichen, vielleicht aber mit einem entscheidenden Unterschied: Er kam nicht aus<br />

dem klassischen Bürgertum, son<strong>der</strong>n aus „kleinen“, zudem ländlichen Kreisen.<br />

Intellektuelle Bildung hat er sich selbst erwerben, um nicht zu sagen: erkämpfen<br />

müssen. Wahrscheinlich war deshalb er nie in <strong>der</strong> Gefahr, die für viele seiner<br />

Weggenossen zum Verhängnis wurde, nämlich sich zu isolieren, elitär zu werden,<br />

o<strong>der</strong> schließlich ins Abseits zu geraten.<br />

1970 beendete er sein Medizinstudium mit dem Staatsexamen. Er wurde zunächst<br />

Assistenzarzt im Krankenhaus St. Georg in Hamburg <strong>und</strong> übernahm dann 1977 eine<br />

ärztliche Praxis, die er bis zu seinem Tod weitergeführt hat. Das ist ein sehr<br />

unspektakulärer beruflicher Werdegang, den man kaum als eine Karriere bezeichnen<br />

kann. Kalle hat bewußt sein Ziel in <strong>der</strong> Rückkehr zur Praxis im doppelten Sinne<br />

gesehen, dies war für ihn offenbar wichtiger als eine wissenschaftliche o<strong>der</strong><br />

medizinische Laufbahn in <strong>der</strong> Forschung o<strong>der</strong> als Oberarzt, mächtiger Klinikleiter<br />

o<strong>der</strong> „Halbgott in Weiß“. Später hat er es gelegentlich bereut, damals nicht<br />

wenigstens promoviert zu haben, aber dieser Titel verlor nach <strong>und</strong> nach an Relevanz<br />

gegenüber einem wissenschaftlichen Engagement, das bald weit mehr Bedeutung<br />

gewann als eine gedruckte Untersuchung über ein vielleicht begrenztes<br />

Spezialproblem.<br />

In dieser Zeit hat er auch seine erste <strong>Familie</strong> gegründet. 1971, als er noch im<br />

Krankenhaus ar<strong>bei</strong>tete, heiratete er Petra Sellenschloh, die Töchter Jenny <strong>und</strong> Ines<br />

wurden 1972 <strong>und</strong> 1975 geboren <strong>und</strong> im März 2004 Enkeltochter Polly. Aber die Ehe<br />

scheiterte, <strong>und</strong> nachdem Kalle schon einige Zeit <strong>von</strong> seiner Frau getrennt gelebt<br />

hatte, lernte er Anita Podlesch kennen, die noch mit dem vietnamesischen Ingenieur<br />

Ho Phu Duc verheiratet war. Beide ließen sich scheiden <strong>und</strong> heirateten im November<br />

1984. Kalle adoptierte die 1980 geboreneTochter Nathalie aus <strong>der</strong> ersten Ehe seiner<br />

Frau Anita, ein gemeinsamer Sohn Pascal wurde 1985 geboren. Diese Ehe war, wie<br />

Kalles Fre<strong>und</strong>e auch aus <strong>der</strong> Ferne sehen konnten, sehr glücklich, eine <strong>Liebe</strong>s- <strong>und</strong><br />

Ar<strong>bei</strong>tssymbiose in <strong>der</strong> die familiäre <strong>und</strong> die unmittelbare Ar<strong>bei</strong>tssphäre, die Praxis,<br />

eine Einheit bildeten, obwohl die Entscheidung, als Arzthelferin in <strong>der</strong> Praxis


mitzuar<strong>bei</strong>ten, statt das abgebrochene Fremdsprachenstudium wie<strong>der</strong> aufzunehmen<br />

seiner Frau nicht leicht gefallen ist.<br />

Kalle hatte seine Frau Anita <strong>bei</strong> einem Sommer-Ferienlager für Vietnamesen kennen<br />

gelernt, <strong>und</strong> das war kein Zufall. Inzwischen hatte er nämlich neben seiner Arztpraxis<br />

sein wissenschaftliches <strong>und</strong> sein politisches Engagement weitergeführt <strong>und</strong><br />

präzisiert. 1983 gab es in Hamburg den Skandal um die Firma Böhringer, auf <strong>der</strong>en<br />

Gelände <strong>und</strong> in <strong>der</strong>en Fabrikgebäuden Dioxin gef<strong>und</strong>en worden war. Da dies seine<br />

Stadt <strong>und</strong> einige seiner Patienten betraf, hat sich Kalle in diese<br />

Krankheitsgeschichten eingear<strong>bei</strong>tet, unermüdlich nach Ursachen geforscht <strong>und</strong><br />

wurde, dank seiner stets kompromißlosen Sorgfalt <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t, bald zum<br />

anerkannten Experten auf diesem Gebiet <strong>und</strong>, im weiteren Sinne, zum<br />

Umweltmediziner. Da war es unvermeidlich, daß für ihn das Thema Vietnam relevant<br />

wurde. Die USA hatten in den 60er Jahren in diesem Land sogenannte „Herbizide“<br />

benutzt, um, wie sie behaupteten, den Wi<strong>der</strong>standskämpfern den natürlichen Schutz<br />

<strong>der</strong> Dschungellandschaft zu nehmen. Sie versprühten mit Flugzeugen chemische<br />

Substanzen wie das Dioxin enthaltende Agent Orange, die nicht nur sofort die<br />

gesamte Vegetation zerstörten, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Bevölkerung ihre<br />

Nahrungsgr<strong>und</strong>lage entzogen, ein eindeutiges Kriegsverbrechen. Bei den direkt<br />

betroffenen Teilen <strong>der</strong> Bewohner traten sofort schlimme Krankheitssymptome auf,<br />

<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Folgezeit stellte sich heraus, daß auch die Generationen danach, bis<br />

heute, betroffen sind, indem Mißbildungen, Fehl- <strong>und</strong> Totgeburten noch unabsehbar<br />

weit in <strong>der</strong> Zukunft auftreten können. So wurden nicht nur die Fel<strong>der</strong> <strong>und</strong> Wäl<strong>der</strong><br />

verseucht, son<strong>der</strong>n auch genetische Verän<strong>der</strong>ungen verursacht, die dazu geführt<br />

haben, daß noch heute diese Kriegsfolgen das Land <strong>und</strong> die Menschen belasten.<br />

Kalle hat zur Erforschung dieser Kriegsfolgen, die heute weltweit immer noch <strong>von</strong> nur<br />

wenigen engagierten Spezialisten betrieben wird, viel <strong>bei</strong>getragen. Er reiste<br />

mehrmals nach Vietnam, wurde zum Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Berater <strong>der</strong> vietnamesischen<br />

Kollegen. Diese konnten aus Mangel an finanziellen Mitteln <strong>und</strong> wegen <strong>der</strong><br />

Weigerung amerikanischer Institutionen, die nötigen Informationen zur Verfügung zu<br />

stellen, we<strong>der</strong> den Opfern umfassende Hilfe leisten, noch Forschungen zur<br />

Eindämmung o<strong>der</strong> wenigstens zur Vorausberechnung <strong>der</strong> weiteren Folgen<br />

unternehmen. Sie waren ganz auf die Hilfe <strong>von</strong> Menschen wie Kalle angewiesen,<br />

<strong>der</strong>en Gerechtigkeitssinn ebenso stark ist wie ihre fachliche Kompetenz. Kalle half


dort <strong>und</strong> klärte hier auf, reiste unermüdlich <strong>von</strong> Veranstaltung zu Veranstaltung <strong>bei</strong><br />

Vietnamfre<strong>und</strong>en, Umweltgruppen, politischen Organisationen, stellte sein Wissen in<br />

den Dienst einer immer weitere Kreise erfassenden Bewegung des Protests <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Hilfe.<br />

Aber auch hierzulande mehrten sich die Skandale: Ein Müllberg in Georgswer<strong>der</strong>,<br />

dessen Sickerwasser Dioxin enthielt, hatte den Boden rings umher verseucht, an<br />

einer an<strong>der</strong>en Stelle war eine Neubausiedlung auf Giftmüll erbaut worden, in<br />

Kin<strong>der</strong>gärten wurden Holzschutzmittel eingesetzt, die die Ges<strong>und</strong>heit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

Kin<strong>der</strong>gärtnerinnen gefährdeten. Alle diese Fälle wurden ihm durch seine Praxis<br />

bekannt, er begegnete Krankheitssymptomen <strong>und</strong> –verläufen, <strong>bei</strong> <strong>der</strong>en Bekämpfung<br />

er medizinisches Neuland betreten mußte. Seine Ar<strong>bei</strong>t als praktischer Arzt <strong>und</strong> sein<br />

medizinisches Ethos verlangten <strong>von</strong> ihm, den Patienten zu helfen. Seine<br />

wissenschaftliche Redlichkeit führte ihn dazu, die allgemeinen Ursachen auch auf <strong>der</strong><br />

gesellschaftlich-politischen Ebene zu analysieren, <strong>und</strong> sein humanitäres<br />

Engagement hatte zur natürlichen Folge, daß er aufklärte, protestierte, den<br />

Wi<strong>der</strong>stand mit seinem Wissen unterstützte <strong>und</strong> zum selbstbewußten Herausfor<strong>der</strong>er<br />

wurde für viele eingefahrene, angepaßte o<strong>der</strong> bewußt verfälschende Denkmuster.<br />

Als solcher bekannt <strong>und</strong> geachtet, hat er auch in verschiedenen Fachverbänden <strong>und</strong><br />

Organisationen mitgewirkt. Hierzu werden heute noch Dr. med. Kurt Müller, für die<br />

umweltmedizinischen Verbände dbu, DGUHT, <strong>IGUMED</strong> <strong>und</strong> Ökologischer Ärzteb<strong>und</strong><br />

sowie Dr. med. Albrecht zum Winkel, Kalles Stellvertreter im Ausschuss<br />

Umweltmedizin <strong>der</strong> Ärztekammer Hamburg sprechen.<br />

Und genauso wie es in Politik <strong>und</strong> Wirtschaft allmählich dazu kam, daß nationale<br />

Probleme kaum mehr innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>von</strong> Län<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Nationen zu lösen<br />

sind, daß sie stets eine globale Bedeutung haben, „internationalisierte“ sich auch die<br />

umweltpolitische Aktivität <strong>von</strong> Kalle Fabig. In seinem umweltpolitischen Engagement<br />

fand Kalle bald Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Mitstreiter in aller Welt, wurde als prof<strong>und</strong>er Kenner auf<br />

internationalen Kongressen zu Vorträgen eingeladen (in Vietnam ebenso wie etwa in<br />

Stockholm o<strong>der</strong> Indianapolis).<br />

Da es für Kalle keinen Unterschied gab zwischen wissenschaftlichem, menschlichem<br />

<strong>und</strong> politischem Engagement, ist er ganz selbstverständlich auch in <strong>der</strong><br />

Fre<strong>und</strong>schaftsgesellschaft aktiv geworden. Er war anfangs lange Zeit im Vorstand,<br />

dann hat sein Interesse an den „deutschen“ Dioxinskandalen ihn ein wenig <strong>von</strong> uns


entfernt, wir nutzten dennoch seine Sachkenntnis für Beiträge in unserer Zeitschrift.<br />

Dann, vor etwas mehr als zwei Jahren war er wie<strong>der</strong> einmal zu unserer<br />

Mitglie<strong>der</strong>versammlung gekommen <strong>und</strong> erklärte sich plötzlich, als wir einen neuen<br />

Vorstand wählten, zu unserer Überraschung <strong>und</strong> großen Freude bereit, zu<br />

kandidieren. Seither ist die Zusammenar<strong>bei</strong>t immer intensiver geworden, zu je<strong>der</strong><br />

Nummer <strong>der</strong> Zeitschrift trug er Anregungen, Meldungen <strong>und</strong> Artikel <strong>bei</strong>, stets in<br />

gewohnter wissenschaftlicher Sorgfalt. Kalle hatte es nicht nötig, einen<br />

propagandistischen Ton anzuschlagen, seine Kritik ergab sich als logische<br />

Konsequenz für jeden denkenden Menschen aus den Erkenntnissen einer im besten<br />

Sinn aufklärerischen wissenschaftlichen Seriosität. Darin, daß dies <strong>der</strong> einzig<br />

sinnvolle Weg ist, um bewegende Kritik zu üben, waren wir stets mit ihm einig. Seine<br />

letzten Beiträge sind vor jetzt einer Woche veröffentlicht worden, den letzten<br />

Mailkontakt hatte ich mit ihm wenige Tage vor seinem Tod.<br />

Das sind die Eindrücke, die sein Bild in mir geprägt haben. Uns verband eine<br />

Fre<strong>und</strong>schaft, die sachlich <strong>und</strong> weniger persönlich geprägt war. Diese Beziehung<br />

gehörte zu jener Sphäre in seinem Wirken, die wissenschaftlich, ethisch <strong>und</strong><br />

kosmopolitisch geprägt war. Die Verbindung dieses solidarischen <strong>und</strong><br />

internationalistischen Engagements mit seiner privaten Sphäre verwirklichte er nach<br />

dem Muster, das sich schon früh in <strong>der</strong> Kleinstadt gezeigt hatte. Und wenn man wie<br />

ich nur in <strong>der</strong> einen, öffentlichen Weise mit ihm verb<strong>und</strong>en war, so war dies nicht<br />

weniger intensiv, nicht weniger persönlich als die familiären Bindungen. Wenn ich<br />

über diese nun etwas sage, dann bediene ich mich <strong>der</strong> Informationen, die mir aus<br />

seiner <strong>Familie</strong>, übermittelt worden sind:<br />

„Er liebte die Natur, hat immer für Wasser in den Vogeltränken gesorgt <strong>und</strong><br />

Nistkästen aufgehängt. Er kletterte gern auf Berge, er wan<strong>der</strong>te gern <strong>und</strong> nahm gern<br />

Abkürzungen, die dann oft länger dauerten als <strong>der</strong> normale Weg, aber es hat immer<br />

Spaß gemacht <strong>und</strong> führte zu Entdeckungen. Er war immer ein neugieriger Mensch,<br />

z.B. war er fast böse, wenn er eine Zeitung nicht als erster lesen konnte, o<strong>der</strong> wenn<br />

die Post mal später kam.“<br />

Das Lesen war für ihn ein lebenswichtiges Gr<strong>und</strong>bedürfnis. „Und während <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t<br />

(nach <strong>der</strong> Praxis) hörte er immer klassische Musik, um besser denken <strong>und</strong> ar<strong>bei</strong>ten<br />

zu können. Es war immer ein turbulentes Leben, niemals langweilig. Mit seinem<br />

reichen Erfahrungsschatz hat er vielen Patienten – weit über die normalen


medizinischen Probleme hinaus – helfen können. Durch das Leben im Elternhaus<br />

war er gewohnt, mit unterschiedlichsten Menschen zurecht zu kommen, was ihm im<br />

Beruf eine große Hilfe war. In <strong>der</strong> <strong>Familie</strong> haben wir uns gegenseitig unendlich viel<br />

geben können.“<br />

Ich versuche zusammenzufassen: Die <strong>von</strong> mir schon für seine Schulzeit konstatierte<br />

Einheit zwischen Bodennähe <strong>und</strong> Aufbruch hat sich später, auf an<strong>der</strong>er Ebene,<br />

fortgesetzt. Der einfache Dienst am Menschen, als Hausarzt, <strong>und</strong> <strong>der</strong> einfache Dienst<br />

an <strong>der</strong> Menschheit, als engagierter Kritiker <strong>und</strong> Verteidiger des Umweltgedankens<br />

waren für ihn identische Bezugspunkte. Das Einstehen für die allernächsten<br />

Menschen, zuerst als Sohn <strong>und</strong> dann als <strong>Familie</strong>nvater, war für ihn <strong>von</strong> keiner<br />

an<strong>der</strong>en Qualität o<strong>der</strong> Wichtigkeit wie das Einstehen für die fernen Opfer des<br />

Giftkriegs. Die seine Pflichten weit übersteigende Fürsorge für seine Patienten war<br />

für ihn ebenso selbstverständlich wie die Anprangerung <strong>der</strong> <strong>von</strong> Menschen zu<br />

verantwortenden Ursachen ihrer Krankheiten. Und das Eintreten für die Opfer <strong>der</strong><br />

Kolonial- <strong>und</strong> Interventionskriege in Vietnam war für ihn innig verb<strong>und</strong>en mit <strong>der</strong><br />

Aufklärung über <strong>von</strong> Politikern <strong>und</strong> Militärs begangenen Kriegsverbrechen. Das<br />

Menschenbild, das er verkörperte, hat viele Ähnlichkeiten mit Lebensläufen<br />

vietnamesischer Kämpfer <strong>und</strong> Intellektueller: prof<strong>und</strong>e verwurzelt in bäuerlichen <strong>und</strong><br />

dörflichen Traditionen haben sie sich aufgemacht <strong>und</strong> einen Kampf gekämpft, <strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> ganzen Welt Unterstützung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>hall gef<strong>und</strong>en hat. Der Vergleich mag<br />

unangemessen klingen, er ist aber trotzdem ein Hinweis auf die innersten <strong>und</strong><br />

zugleich äußersten Motive <strong>von</strong> Kalles Handeln, seinem Denken <strong>und</strong> seinen<br />

Ambitionen.<br />

Ein vietnamesischer Dichter, <strong>der</strong> weniger Scheu vor den einfachen aber großen<br />

Worten hat, beschrieb diese <strong>bei</strong>den Bezugpunkt in zwei schlichten Versen so:<br />

Jedes Volk braucht jedes Volk<br />

Je<strong>der</strong> Mensch braucht jeden Menschen<br />

Kalle hatte, das sagen alle, die in <strong>der</strong> letzten Zeit mit ihm geredet haben, noch viele<br />

Pläne. Gerade ist ein erster Aufsatz <strong>von</strong> ihm in einem neuen Buch erschienen, <strong>und</strong><br />

diese Schreibtätigkeit wollte er fortsetzen. Bücher schreiben in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Rente,<br />

sein Wissen aufbewahren für diejenigen, die seine Ar<strong>bei</strong>t nutzen <strong>und</strong> fortsetzen<br />

wollen. Und im Garten überlegte er, welche Äste an welchen Bäumen er nicht


absägen darf, damit später einmal seine Enkelkin<strong>der</strong> daran hochklettern können.<br />

Obwohl dies alles nun nicht mehr realisiert werden wird, ist sein Wirken schon in <strong>der</strong><br />

unfertigen Form <strong>bei</strong>spielhaft geworden, ist sein „Werk“ greifbar, sein Beispiel<br />

lebendig geblieben. Sein Wunsch, Spuren zu hinterlassen, ist in Erfüllung gegangen.<br />

Ich habe erfahren, daß er keine Angst vor dem Tode hatte, sehr wohl aber Angst vor<br />

dem Sterben. Das macht mir Mut, einen Satz hier zu zitieren, den ein Fre<strong>und</strong> auf die<br />

Nachricht <strong>von</strong> seinem überraschenden <strong>und</strong> vorzeitigen Tod gesagt hat: Es wäre, so<br />

sagte er, 20 o<strong>der</strong> 25 Jahre später ein schöner Tod gewesen. Darin ist <strong>der</strong> Gedanke<br />

enthalten, daß Kalle bis dahin seine Pläne <strong>und</strong> Projekte zum Nutzen <strong>der</strong> Nachwelt zu<br />

einem gewissen Ende hätte bringen können. Das ist ihm nun nicht vergönnt<br />

gewesen. Sein plötzlicher Tod ist in diesem Sinn ungerecht, sinnlos, sinnwidrig. Aber<br />

wir haben uns damit abzufinden. Ob wir nun unsere Zuflucht zur Vorstellung einer<br />

höheren Vernunft nehmen, in <strong>der</strong>en Plänen ein Sinn versteckt ist, o<strong>der</strong> nicht: Wir<br />

haben es hinzunehmen, daß Kalle nicht mehr da ist. Ich für mein Teil finde ein wenig<br />

Trost in den Zeilen des erwähnten Dichters:<br />

Fre<strong>und</strong><br />

Ich denke Revolution das geht so<br />

Der Morgen muß kommen<br />

An dem die tausend Verstecke aufgesprengt werden<br />

in denen sich in <strong>der</strong> Nacht das alles zusammengebraut hat<br />

Aber das ist nicht Sache eines Augenblicks.<br />

(Nguyen Dinh Thi: Revolution, 1982)<br />

Prof. Dr. Günter Giesenfeld<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fre<strong>und</strong>schaftsgesellschaft Vietnam<br />

giesenfe@mailer.uni-marburg.de

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