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Die Geschichte der Tabelle 1 - Schulformdebatte.de

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Ulrich Sprenger<br />

<strong>Die</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>Tabelle</strong> 1“<br />

Das Projekt „Schulleistung“ <strong>de</strong>s Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung (MPIB)<br />

war nach Meinung von Fachleuten die aufwendigste und gründlichste Leistungsstudie, die je in<br />

Deutschland durchgeführt wor<strong>de</strong>n ist. Sie hat etliche Millionen D-Mark gekostet.<br />

Hintergrundinformationen: Das „Max-Planck Institut für Bildungsforschung (MPIB)“ wur<strong>de</strong><br />

1964 von Dr. jur. h.c. Hellmut Becker gegrün<strong>de</strong>t, um für Theorie und Praxis <strong>de</strong>s Unterrichtens<br />

eine empirisch abgesicherte Basis zu schaffen. Professor Peter M. Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> war von 1973 bis<br />

1995 Direktor am MPIB und dort seit 1982 zuständig für <strong>de</strong>n „Forschungsbereich Schule und Unterricht“.<br />

Er war auch Mitglied in jenem Unterausschuss „Experimentalprogramm“ <strong>de</strong>s Deutschen<br />

Bildungsrates, <strong><strong>de</strong>r</strong> 1968 unter <strong>de</strong>m Vorsitz von Dr. Becker die „Empfehlung für die Einrichtung<br />

von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ konzipiert hat. Professor Jürgen Baumert ist seit<br />

1996, als Nachfolger von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>, Direktor am MPIB. Professor Olaf Köller war dort bis 2002 sein<br />

Mitarbeiter. Er ist jetzt Geschäftsführen<strong><strong>de</strong>r</strong> Direktor <strong>de</strong>s „Leibniz-Institutes für die Pädagogik <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Naturwissenschaften und Mathematik (IPN)“ an <strong><strong>de</strong>r</strong> Christian-Albrecht-Universität in Kiel.<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>s MPIB-Projektes „Schulleistung“ wur<strong>de</strong> zwischen 1968 und 1970 in <strong>de</strong>n zehn<br />

Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen Bun<strong>de</strong>srepublik und in West-Berlin an etwa 450 Gymnasien <strong><strong>de</strong>r</strong> Lernfortschritt<br />

von etwa 14.000 Gymnasiasten untersucht. Mehrköpfige Test-Teams waren je drei Tage am<br />

Anfang und am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs damit beschäftigt, die Daten zum Leistungsstand für Deutsch,<br />

Englisch und Mathematik und weitere Auskünfte einzuholen.<br />

Von <strong>de</strong>n beteiligten Schülern gab es neben Informationen zu ihrem Freizeitverhalten auch Informationen<br />

zu ihrer kognitiven Grundfähigkeit (nach IST-Amthauer) und zu ihrem familiären Hintergrund.<br />

Der war ermittelt wor<strong>de</strong>n anhand <strong>de</strong>s Bildungsstan<strong>de</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Eltern- und <strong><strong>de</strong>r</strong> Großelterngeneration.<br />

Bei gleicher Gelegenheit wur<strong>de</strong>n von etwa 1.130 Lehrern Auskünfte zu ihren Unterrichtsstrategien<br />

eingeholt. <strong>Die</strong> so gewonnene Datenbasis bestand aus „verarbeitbaren Datensätzen für 12.594<br />

Schüler aus 427 Klassen und für insgesamt 1.130 Deutsch- Englisch- und Mathematiklehrer“.<br />

(Baumert u.a., 1986, S.644)<br />

Wolfgang E<strong>de</strong>lstein vermerkt 1970 in seiner Beschreibung <strong>de</strong>s Projektes: „<strong>Die</strong> Kooperation aller<br />

Kultusministerien und <strong>de</strong>s Deutschen Philologenverban<strong>de</strong>s verdient dankbare Erwähnung. Ohne sie<br />

wäre die Untersuchung kaum möglich gewesen.“ (1970, S.517). Offenbar ist von Seiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Kultusministerien<br />

noch nie nach <strong>de</strong>n Ergebnissen dieser „Kooperation“ gefragt wor<strong>de</strong>n.<br />

Im Jahre 1965 hatte Wolfgang E<strong>de</strong>lstein, seinerzeit Assistent von Dr. Becker, das Projekt in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

O<strong>de</strong>nwaldschule in kleiner Run<strong>de</strong> vorgestellt. Mit dabei waren Peter M. Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>, Fritz Sang, Werner<br />

Stegelmann, Hartmut Zeiher und Jürgen Habermas als Mitglied <strong>de</strong>s Institutsbeirates. <strong>Die</strong> O<strong>de</strong>nwaldschule<br />

gilt als die erste Gesamtschule in Deutschland.<br />

Gegenstand <strong><strong>de</strong>r</strong> Untersuchung waren die „Determinanten von Leistung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule“. Es sollte<br />

herausgefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, welche „Faktoren <strong>de</strong>s Systems“ Schulleistungen för<strong><strong>de</strong>r</strong>n und welche sie<br />

behin<strong><strong>de</strong>r</strong>n (E<strong>de</strong>lstein, 1970, S.517 und 519). Weil in dieser Studie ausschließlich die Leistungsentwicklung<br />

von Gymnasiasten untersucht wor<strong>de</strong>n war, wird sie auch „Gymnasiastenstudie“ genannt.<br />

Genauere Auskünfte zum eigentlichen Gegenstand <strong><strong>de</strong>r</strong> Studie, zu <strong>de</strong>n „Determinanten von Leistung<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule“ gab es aus <strong>de</strong>m MPIB erstmals im Jahre 1986, und zwar in <strong>de</strong>m von Jürgen<br />

Baumert, Peter M. Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>, Fritz Sang und Bernhard Schmitz veröffentlichten Aufsatz über<br />

„Leistungsentwicklung und Ausgleich von Leistungsunterschie<strong>de</strong>n in Gymnasialklassen“.


„Leistungsentwicklung“ ist hier ein Tauschwort für „Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung“. Der Begriff „Leistungsausgleich“<br />

meint die Verringerung <strong>de</strong>s Abstan<strong>de</strong>s zwischen <strong>de</strong>m oberen Leistungsfeld und <strong>de</strong>m unteren<br />

Leistungsfeld. Er wird in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachsprache „Streuung“, „Varianz“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Divergenz“ genannt.<br />

<strong>Die</strong> Vereinbarkeit von Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leistungsausgleich ist das zentrale Problem je<strong>de</strong>n<br />

Unterrichts. Es geht darum, „Leistungsunterschie<strong>de</strong> zwischen Schülern ausgleichen zu wollen, ohne<br />

zugleich leistungsstärkere Schüler zu benachteiligen“ (Baumert u.a., 1986, S.639). Und genau dies<br />

ist das Problem <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesamtschulen und aller an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Organisationsformen <strong>de</strong>s Unterrichtes, in<br />

<strong>de</strong>nen über <strong>de</strong>n 4. Jahrgang hinaus in undifferenzierten Lerngruppen unterrichtet wird.<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Auskunft zur Vereinbarkeit von Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leistungsausgleich war<br />

die, dass es schon am Gymnasium für eine erfolgreiche Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>utliche Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Heterogenität gibt. Am effektivsten ist dort jener Unterrichtsstil, <strong>de</strong>ssen Merkmale „ein hohes Anspruchsniveau<br />

und ein zügiges Fortschreiten im Stoff“ sind (Baumert u.a. 1986, S.655).<br />

Wenn jedoch in einer Klasse die Unterschie<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorkenntnisse und <strong><strong>de</strong>r</strong> Begabungen allzu groß<br />

sind, dann zwinge das die Lehrer zu einer Verlangsamung <strong>de</strong>s Unterrichtstempos sowie zu verstärktem<br />

Üben und Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen.<br />

„<strong>Die</strong>se repetitive Unterrichtsführung nützt wi<strong><strong>de</strong>r</strong> Erwarten Schülern mit ungünstigen Eingangsbedingungen<br />

nur wenig, während die Lernfortschritte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler <strong>de</strong>s oberen Leistungsdrittels merklich<br />

beeinträchtigt wer<strong>de</strong>n.“ (Baumert u.a. 1986, S.655)<br />

„In nach Leistungsgruppen getrennten Analysen konnte gezeigt wer<strong>de</strong>n, dass bei streuungsverringern<strong>de</strong>m<br />

Unterricht erhebliche Einbußen im Lernfortschritt <strong>de</strong>s oberen Leistungsdrittels relativ<br />

schmalen Gewinnen im unteren Leistungsdrittel gegenüberstehen.“ (Baumert u.a. 1986, S.654)<br />

Fazit: Vergleiche „vergleichbarer“ Schüler haben also gezeigt: Jener Unterrichtsstil, <strong>de</strong>ssen Merkmale<br />

„ein hohes Anspruchsniveau und ein zügiges Fortschreiten im Stoff“ sind, bringt <strong>de</strong>n höchsten „Lernzuwachs“.<br />

Ein Unterricht aber, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf Leistungsausgleich angelegt ist o<strong><strong>de</strong>r</strong> - wie an Gesamtschulen - auf<br />

Leistungsausgleich angelegt sein muss, geht stets zu Lasten <strong><strong>de</strong>r</strong> leistungsstärkeren Schüler. Er bringt<br />

keine so großen Vorteile für die leistungsschwächeren Schüler, dass <strong>de</strong>swegen eine Benachteiligung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

leistungsstärkeren Schüler verantwortet wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

„Selbst unter <strong>de</strong>n günstigen Bedingungen <strong>de</strong>s Gymnasiums ist es eine schwierige Aufgabe, eine<br />

befriedigen<strong>de</strong> Balance zwischen optimaler För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leistungsausgleich zu fin<strong>de</strong>n. Sie wird<br />

nur von einer Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrer wirklich bewältigt.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.164)<br />

Weitere Informationen, zum Beispiel zum Thema „Binnendifferenzierung“, sind zu fin<strong>de</strong>n auf<br />

www.schulform<strong>de</strong>batte.<strong>de</strong> unter „MPIB-Projekte“: MPIB-Projekt „Hauptschule/Gesamtschule“.<br />

Mit ihrem Aufsatz „Über die institutionelle Verarbeitung von Leistungsunterschie<strong>de</strong>n“ von 1991<br />

liefern Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang eine genauere Erklärung, warum es schon in Gymnasialklassen bei allzu<br />

großer Heterogenität zu einer Verlangsamung <strong>de</strong>s Lerntempos kommt. Sie verweisen dazu auf eine<br />

schwedische Untersuchung von Ulf P. Lundgren zur Rolle <strong><strong>de</strong>r</strong> so genannten „Steuerungsgruppe“.<br />

Lundgren ist ein schwedischer Experte für die Rahmenbedingungen <strong>de</strong>s Unterrichtens („frame<br />

factors“) und Professor an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Uppsala.<br />

Lehrer orientieren sich, so fand Lundgren heraus, in ihrem Unterrichtsverhalten „in vieler Hinsicht<br />

an einer Gruppe von Schülern, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Intelligenzverteilung innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Klasse zwischen <strong>de</strong>m<br />

10. und <strong>de</strong>m 25. Perzentil angesie<strong>de</strong>lt sind.“ <strong>Die</strong> „Steuerungsgruppe“ rangiert also in <strong><strong>de</strong>r</strong> oberen<br />

Hälfte <strong>de</strong>s untersten Viertels (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang, S.163).<br />

„<strong>Die</strong>se Beobachtung impliziert, dass die Lehrer ihre Aufmerksamkeit auf die Schüler konzentrieren,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Leistungen zumeist <strong>de</strong>utlich unter <strong>de</strong>m Durchschnitt liegen. Ihnen ist es wichtiger, dass<br />

im Unterricht niemand auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Strecke bleibt, als die ohnehin leistungsstarken Schüler ihren Möglichkeiten<br />

entsprechend zu för<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Zu erwarten wäre also eine Angleichung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schülerleistungen<br />

in diesen Klassen, wobei die Reduktion <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsvarianz auf Kosten <strong><strong>de</strong>r</strong> leistungsstarken Schüler<br />

erreicht wird. <strong>Die</strong>se Erwartung wird durch eine ältere Untersuchung <strong>de</strong>s MPIB bestätigt (Baumert,<br />

Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>, Sang & Schmitz, 1986).“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.163; es ist dies <strong><strong>de</strong>r</strong> bereits erwähnte<br />

Aufsatz über Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leistungsausgleich in Gymnasialklassen.)<br />

2


<strong>Die</strong> „<strong>Tabelle</strong> 1“<br />

Im Anschluss an diese Ausführungen referieren Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang anhand einer <strong>Tabelle</strong> die Ergebnisse<br />

eines Vergleichs, <strong>de</strong>n sie mit Daten <strong>de</strong>s MPIB-Projektes „Schulleistung“ durchgeführt hatten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Tabelle</strong> trägt <strong>de</strong>n Namen „<strong>Tabelle</strong> 1“.<br />

Grundlage <strong>de</strong>s Vergleichs war erstens <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsstand, <strong><strong>de</strong>r</strong> am Anfang <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs bei<br />

jenen 1.049 Gymnasiasten vorgefun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n war, die bis dahin sechsjährige Grundschulen besucht<br />

hatten. Das waren Klassen mit großen Leistungsunterschie<strong>de</strong>n und hoher Streuung. <strong>Die</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Vergleichs-Grundlage war <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsstand, <strong><strong>de</strong>r</strong> am Anfang <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs bei <strong>de</strong>n mehr als<br />

11.000 Gymnasiasten vorgefun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n war, die in <strong>de</strong>n übrigen Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n nach vierjähriger<br />

Grundschule schon seit zwei Jahren Gymnasien besuchen konnten.<br />

Ein Hinweis zum Verständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahlenwerte: „<strong>Die</strong> Testleistungen sind in Prozentpunktwerten<br />

angegeben: Unterschie<strong>de</strong> können also als Differenzen in Prozent <strong>de</strong>s maximal erreichbaren Testwertes<br />

interpretiert wer<strong>de</strong>n.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.166)<br />

Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang kommentieren die <strong>Tabelle</strong> folgen<strong><strong>de</strong>r</strong>maßen:<br />

„<strong>Die</strong> Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Gruppen, die wir hier vergleichen - Gymnasiasten nach<br />

sechsjähriger Grundschule und solcher nach vierjähriger Grundschule plus zwei Jahre Gymnasium<br />

-, sind nicht nur höchst signifikant, was bei einer Stichprobe von mehr als 12.000 Schülern kaum<br />

überraschen kann, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in einer Größenordnung, die auch praktisch be<strong>de</strong>utsam ist. Im Englischen<br />

beträgt <strong><strong>de</strong>r</strong> durchschnittliche Leistungsunterschied zu Beginn <strong>de</strong>s Schuljahres etwas mehr als<br />

eine Standardabweichung, im Mathematikunterricht etwa eine dreiviertel Standardabweichungen,<br />

im Deutschen etwas weniger als eine halbe Standardabweichung.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.166/167)<br />

Auf Anfrage erhielten wir beim MPIB die Auskunft: In Mathematik und <strong>de</strong>n Naturwissenschaften<br />

entspricht eine Drittel-Standardabweichung <strong>de</strong>m Lernfortschritt eines Schuljahres. Im Fach Englisch<br />

gilt das erst für eine halbe Standardabweichung.<br />

3


Das be<strong>de</strong>utet: In <strong>de</strong>n 5. und 6. Jahrgängen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gymnasien erreichten die Schüler in bei<strong>de</strong>n Hauptfächern<br />

ein doppelt so hohes Lerntempo wie ihre Altersgenossen in <strong>de</strong>n 5. und 6. Jahrgängen von<br />

sechsjährigen Grundschulen. Infolge<strong>de</strong>ssen hatten die Gymnasiasten <strong><strong>de</strong>r</strong> Län<strong><strong>de</strong>r</strong> mit vierjähriger<br />

Grundschule am Anfang <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs in Mathematik und Englisch im Durchschnitt einen Wissensvorsprung<br />

von etwa zwei Schuljahren.<br />

Mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Worten: <strong>Die</strong> Schüler aus Berlin und Bremen hätten bei ihrem bisherigen Lerntempo<br />

erst nach zwei weiteren Schuljahren jenen Leistungsstand erreicht, <strong>de</strong>n die Gymnasiasten aus Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

mit vierjähriger Grundschule im Durchschnitt ihrer Gesamtheit am Anfang <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs<br />

bereits hatten. Nur in <strong>de</strong>n homogeneren Klassen <strong><strong>de</strong>r</strong> 5. und 6. Jahrgänge <strong><strong>de</strong>r</strong> Gymnasien konnte jener<br />

Unterrichtstil zur vollen Wirkung kommen, <strong>de</strong>ssen Merkmale „ein hohes Anspruchsniveau und ein<br />

zügiges Fortschreiten im Stoff“ sind.<br />

Als Absicherung dieser Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> Standardabweichungen nachfolgend ein Kommentar aus<br />

einer jüngeren Veröffentlichung <strong>de</strong>s MPIB: „Vergegenwärtigt man sich <strong>de</strong>n Befund, dass eine Leistungsdifferenz<br />

von 0,3 bis 0,5 Standardabweichungen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelstufe mit <strong>de</strong>m Wissenszuwachs<br />

eines Schuljahres korrespondiert, so wird das Ausmaß und die praktische Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsunterschie<strong>de</strong><br />

erkennbar.“ (Köller, Baumert u.a. 2004, S.691)<br />

<strong>Die</strong> „<strong>Tabelle</strong> 1“ enthält auch präzise Angaben zu <strong>de</strong>m Leistungsfortschritt, <strong><strong>de</strong>r</strong> dann ab Anfang <strong>de</strong>s<br />

7. Jahrgangs bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs erreicht wur<strong>de</strong>: „In <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Zeile sind die Residuen<br />

<strong>de</strong>s Leistungszuwachses unter Kontrolle <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausgangsleistung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Intelligenz und <strong>de</strong>s Familienbackgrounds<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gegeben. Sie sind ein möglichst direktes Maß für die För<strong><strong>de</strong>r</strong>ungsleistung <strong>de</strong>s<br />

Unterrichts im 7. Schuljahr <strong>de</strong>s Gymnasiums.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.166)<br />

Mit diesem Rechenverfahren kann anhand von sogenannten „Regressions-Residuen“ die reine<br />

Effektivität <strong>de</strong>s Unterrichtens beschrieben wer<strong>de</strong>n, unabhängig von <strong>de</strong>n Vorkenntnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler,<br />

ihrer kognitiven Grundfähigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong> zu erwarten<strong>de</strong>n Unterstützungsleistung <strong>de</strong>s Elternhauses.<br />

„Wie die Residualwerte für <strong>de</strong>n Leistungszuwachs belegen, bleiben die Klassen nach sechsjähriger<br />

Grundschule im Englischen und im Deutschen etwas hinter <strong>de</strong>m durchschnittlichen Leistungsfortschritt<br />

zurück; in Mathematik liegen sie etwas darüber. <strong>Die</strong>se Unterschie<strong>de</strong> sind zwar statistisch,<br />

aber kaum noch praktisch signifikant. Bei<strong>de</strong> Schülergruppen machen insgesamt durchaus vergleichbare<br />

Lernfortschritte, wodurch freilich auch die zu Beginn <strong>de</strong>s Jahres bestehen<strong>de</strong>n Leistungsunterschie<strong>de</strong><br />

weitgehend erhalten bleiben.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.167)<br />

Mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Worten und in vereinfachen<strong><strong>de</strong>r</strong> Darstellung: Das Lerntempo ist gleich, aber die Leistungsunterschie<strong>de</strong><br />

erfahren keinen Ausgleich, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n lediglich eine Parallel-Verschiebung. Wenn<br />

das so ist, dann können die Leistungs<strong>de</strong>fizite, die bei undifferenziertem Unterricht in <strong>de</strong>n 5. und 6.<br />

Jahrgängen unvermeidlich entstehen, mit PISA-Daten im 9. Jahrgang noch nachgewiesen wer<strong>de</strong>n.<br />

„<strong>Die</strong> Aussagen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrer über ihre Unterrichtsplanung für das 7. Schuljahr und über die<br />

Themen und Aufgaben, die sie späteren Schuljahren zuweisen, <strong>de</strong>uten darauf hin, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsausgleich<br />

zwischen bei<strong>de</strong>n Gruppen langsamer vonstatten gehen wird, als man bei gleich<br />

befähigten Schülern vermuten wür<strong>de</strong>.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>/Sang 1991, S.167/168)<br />

Fazit: Schon am Gymnasium ist die Vereinbarkeit von Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Leistungsausgleich ein<br />

großes Problem. Schon hier gibt es für einen effizienten Unterricht bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammensetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klassen<br />

erkennbare Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Heterogenität. Um wie viel mehr dann in <strong>de</strong>n 5. und 6. Jahrgängen von<br />

Schulen, an <strong>de</strong>nen für diese Jahrgänge eine heterogene Zusammensetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Klassen zum Prinzip<br />

erhoben wur<strong>de</strong>. Weil dann <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterricht stärker auf <strong>de</strong>n Leistungsausgleich als auf die Leistungsför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

angelegt sein muss, ist - zumin<strong>de</strong>st in Deutschland - an Einheitsschulen eine Benachteiligung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> leistungsstärkeren Schüler unvermeidbar.<br />

Dass auch die leistungsschwächeren Schüler in <strong>de</strong>n leistungsgemischten Lerngruppen <strong><strong>de</strong>r</strong> 5. und<br />

6. Jahrgänge von integrativen Schulen durch <strong>de</strong>n Bezugsgruppen-Effekt hohen psychischen Belastungen<br />

ausgesetzt sind, die ihnen an Hauptschulen erspart bleiben, war schon 1984 einer <strong><strong>de</strong>r</strong> am besten<br />

bezeugten Befun<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildungsforschung. (s. www.schulform<strong>de</strong>batte.<strong>de</strong> , unter „Hauptschule“)<br />

4


Bei einer öffentlichkeitswirksamen Bekanntgabe dieser Forschungsergebnisse hätten ab 1991 in<br />

Deutschland keine Integrierten Gesamtschulen und keine an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schulen mehr gegrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />

dürfen, an <strong>de</strong>nen über <strong>de</strong>n 4. Jahrgang hinaus in undifferenzierten Lerngruppen unterrichtet wird.<br />

Dann wäre schon das Jahr 1991 „Das Jahr <strong><strong>de</strong>r</strong> großen pädagogischen Wen<strong>de</strong>“ gewesen.<br />

Der erste Satz <strong><strong>de</strong>r</strong> „Schlussbemerkung“ zu <strong>de</strong>m Aufsatz von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang aus <strong>de</strong>m Jahre 1991<br />

lautete jedoch: „Wir wollen diesen Aufsatz bewusst nicht mit einem Plädoyer für die vierjährige<br />

Grundschule beschließen“.(S.168) Er ist in diesem Kontext ebenso unerwartet wie unverständlich.<br />

Denn er steht in offenem Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch zu <strong>de</strong>n vorgelegten Forschungsergebnissen und zu <strong>de</strong>n weiteren<br />

Mitteilungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlussbemerkung. Weil dieser Satz seit<strong>de</strong>m eine wirklichkeitsnahe Mitteilung<br />

von Ergebnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildungsforschung behin<strong><strong>de</strong>r</strong>t hat, haben wir die gesamte Schlussbemerkung<br />

als Kopie in <strong>de</strong>n Text aufgenommen.<br />

Kommentar: Der Begriff „advanced placement“ dient an amerikanischen Schulen als Bezeichnung für<br />

eine Rangstellung. Es sind das Schüler, <strong>de</strong>nen wegen ihrer überdurchschnittlichen Kenntnisse und<br />

Fähigkeiten anspruchsvollere Aufgaben zugewiesen wer<strong>de</strong>n. Hier wer<strong>de</strong>n mit dieser Bezeichnung Schüler<br />

bewertet, die nach vier Jahren Grundschule schon seit zwei Jahren Gymnasien besuchen konnten.<br />

Der erste Satz <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlussbemerkung ist ein klares Bekenntnis zu <strong><strong>de</strong>r</strong> bis dahin geübten „zurückhalten<strong>de</strong>n“<br />

Informations-Politik <strong>de</strong>s MPIB, aber in dieser Deutlichkeit neu - und daher nur schwer<br />

zu wi<strong><strong>de</strong>r</strong>rufen. Damit war eine Spur gelegt wor<strong>de</strong>n, die nicht mehr verlassen wer<strong>de</strong>n konnte, ohne<br />

das Ansehen Roe<strong><strong>de</strong>r</strong>s und die Reputation <strong>de</strong>s Institutes zu beschädigen.<br />

Im Rückblick und ins Präteritum gesetzt, wirkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Satz fast wie ein Geständnis: Wir wollten diesen<br />

Aufsatz bewusst nicht mit einem Plädoyer für die vierjährige Grundschule beschließen.<br />

<strong>Die</strong> Frage, ob die Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüchlichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> „Schlussbemerkung“ nun ein Zeichen von Unentschlossenheit<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Produkt an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Motivationen sind, ist inzwischen relativ unwichtig. Roe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gehörte 1968 immerhin zu <strong>de</strong>n Initiatoren <strong><strong>de</strong>r</strong> „Schulversuche mit Gesamtschulen“.<br />

5


Viel wichtiger ist die Tatsache, dass dieser Aufsatz - nach solchen Vorarbeiten und angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

hier gewonnenen Erkenntnisse - eigentlich nur mit einem entschie<strong>de</strong>nen „Plädoyer für die vierjährige<br />

Grundschule“ hätte en<strong>de</strong>n dürfen.<br />

„Nicht geschehene Taten lösen einen katastrophalen Mangel an Folgen aus.“<br />

(Stanislaw Jerzy Lec, polnischer Autor, 1909-1966)<br />

Dass sich schulpolitische Schlussfolgerungen „zweifellos auf neuere Erhebungsdaten stützen“<br />

sollten, ist ein klarer Hinweis auf das MPIB-Projekt „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung<br />

im Jugendalter (BIJU)“. Es wur<strong>de</strong> 1991 unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Leitung von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Baumert gestartet,<br />

ebenfalls im 7. Jahrgang, als „Teilwie<strong><strong>de</strong>r</strong>holung“ <strong>de</strong>s MPIB-Projektes „Schulleistung“ (s. BIJU<br />

1996, S.8, erste Zeile), allerdings nur in vier Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n (darunter NRW und Berlin), aber in<br />

Schulen aller Schulformen, also auch in Gesamtschulen.<br />

Erkenntnisse über Leistungsentwicklung und Ausgleich von Leistungsunterschie<strong>de</strong>n an Gesamtschulen<br />

hätten mit <strong>de</strong>n BIJU-Daten aus NRW und Berlin schon 1998 vorgelegt wer<strong>de</strong>n können. In<br />

jenem „für ein breiteres Publikum gedachten Bericht“ über die BIJU-Befun<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> von Baumert<br />

und Köller im Juni zum Jahresen<strong>de</strong> 1998 angekündigt wor<strong>de</strong>n war, hätte das schon vor mehr als<br />

zehn Jahren geschehen können (vgl. „Pädagogik“ 6/1998, S.13, oben links).<br />

<strong>Die</strong> „<strong>Tabelle</strong> XII.1“<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> 1997 von Franz E. Weinert und Andreas Helmke herausgegebenen Aufsatzsammlung<br />

„Entwicklung in Grundschulalter“ hatte Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> die Gelegenheit einer Korrektur. Er veröffentlichte<br />

dort die „<strong>Tabelle</strong> 1“ noch einmal, jetzt als <strong>Tabelle</strong> XII.1, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> gleichen Überschrift („Leistungsunterschie<strong>de</strong><br />

und .....“) und mit <strong>de</strong>m gleichen Zahlenspiegel (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> 1997, S.408).<br />

Zu Beginn <strong><strong>de</strong>r</strong> Auswertung (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> 1997, S.407) hatte es dort noch geheißen: „Ein wesentliches<br />

Ergebnis dieser Sekundäranalyse war, dass Lehrer, die ihre Schüler nach sechsjähriger Grundschule<br />

aufnahmen, im Vergleich zu <strong>de</strong>n Fachlehrern an grundständigen Gymnasien <strong>de</strong>utlich niedrigere<br />

Erwartungen hinsichtlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorkenntnisse ihrer Schüler hatten und ihren Unterricht im<br />

7. Jahrgang entsprechend planten. Wie <strong>Tabelle</strong> XII.1 zeigt, bestätigen die Testleistungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler<br />

zu Beginn <strong>de</strong>s 7. Schuljahres die Erwartungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrer.“ (Unterstreichungen wur<strong>de</strong>n nachträglich<br />

eingefügt. - Eine Primär-Analyse <strong>de</strong>s Projektes „Schulleistung“ hat es nicht gegeben.)<br />

6


„<strong>Die</strong> Leistungen nach sechsjähriger Grundschule liegen erheblich unter <strong>de</strong>nen von Schülern, die<br />

<strong>de</strong>n Wechsel aufs Gymnasium bereits nach <strong><strong>de</strong>r</strong> vierten Grundschulklasse vollzogen haben. Für Englisch<br />

und Mathematik beträgt <strong><strong>de</strong>r</strong> Abstand etwa eine Standardabweichung, für Deutsch eine halbe.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 7. Schuljahres haben sich die Leistungen bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Schülergruppen zwar ein Stück weit<br />

angeglichen, aber die verbleiben<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong> sind - vor allem im Englischen - immer noch be<strong>de</strong>utsam.“<br />

(Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> 1997, S.407;408; - 1991 war es erheblich weniger als „ein Stück weit“).<br />

Zunächst wer<strong>de</strong>n die Leistungsunterschie<strong>de</strong> noch sehr <strong>de</strong>utlich als eine Folge <strong><strong>de</strong>r</strong> verspäteten Differenzierung<br />

beschrieben. Aber dann wer<strong>de</strong>n ihre Ursachen wie<strong><strong>de</strong>r</strong> „verschleiert“: „Sie lassen sich,<br />

was ich hier nicht ausführen will, wohl im Wesentlichen auf die curricularen Entscheidungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

bei<strong>de</strong>n Lehrergruppen zurückführen.“ (Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> 1997, S.408)<br />

So entsteht <strong><strong>de</strong>r</strong> Eindruck es han<strong>de</strong>le sich hier um einen „Anti-Pygmalion-Effekt“: <strong>Die</strong> Schüler<br />

brachten nicht mehr, weil ihre Lehrer im 7. Jahrgang nicht mehr erwarteten. Gelegentlich hat man<br />

<strong>de</strong>n Eindruck, als solle bzw. müsse mit <strong><strong>de</strong>r</strong>artigen Formulierungen eine Zensur <strong>de</strong>s Zeitgeistes unterlaufen<br />

- o<strong><strong>de</strong>r</strong> überlistet wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> „<strong>Tabelle</strong> 23.2“<br />

Im Jahre 2002, also 32 Jahre nach Abschluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Datenerhebung, hatten die Professoren Baumert<br />

und Köller als erste <strong>de</strong>n Mut, die Daten <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>Tabelle</strong> 1“ zu einem entschie<strong>de</strong>nen „Plädoyer für die<br />

vierjährige Grundschule“ zu nutzen. Das geschah im Lehrbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> „Entwicklungspsychologie“ von<br />

Oerter/ Montada (2002, S.770).<br />

Sie beziehen sich dabei auf die von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> 1997 veröffentlichte „<strong>Tabelle</strong> XII.1“. Doch wird von<br />

ihnen in ihrer „<strong>Tabelle</strong> 23.2“ lediglich <strong><strong>de</strong>r</strong> obere Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>Tabelle</strong> XII.1“ übernommen, ohne die<br />

Daten zu <strong>de</strong>n am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 7. Jahrgangs vorgefun<strong>de</strong>nen Leistungen und ohne die „Residuen“ mit<br />

ihren Informationen zu <strong><strong>de</strong>r</strong> im 7. Jahrgang weiterwirken<strong>de</strong>n Benachteiligung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler von sechsjährigen<br />

Grundschulen.<br />

Der Abschnitt steht unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Überschrift: „Frühe Differenzierung för<strong><strong>de</strong>r</strong>t leistungsstarke Schüler“.<br />

Zunächst teilen Köller und Baumert mit, dass in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n eine fähigkeits-bezogene<br />

Gruppierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler nach Art <strong>de</strong>s geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Schulwesens keine Vorteile hat. Für Deutschland<br />

gelte dies jedoch nicht.<br />

Sie verweisen dann auf jene von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang veröffentlichte Auswertung <strong><strong>de</strong>r</strong> Daten <strong>de</strong>s<br />

MPIB-Projektes „Schulleistung“ und beschreiben die Problemstellung <strong>de</strong>s von Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> und Sang<br />

veröffentlichten Vergleichs: Es ging um die zentrale Frage aller Schulform-Debatten, um die Frage,<br />

„ob eine spätere Differenzierung (nach <strong><strong>de</strong>r</strong> 6. Jahrgangsstufe) bei leistungsstarken Schülern im<br />

Vergleich zur Differenzierung nach vier Schuljahren ungünstige Effekte auf die Schulleistungen hat.<br />

Dazu wur<strong>de</strong>n die Leistungen von Gymnasiasten in <strong><strong>de</strong>r</strong> 7. Jahrgangstufe in Deutsch, Mathematik und<br />

Englisch aus einem Bun<strong>de</strong>sland mit sechsjähriger Grundschule mit <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong> übrigen Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

mit vierjähriger Grundschule verglichen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Tabelle</strong> 23.2 zeigt die<br />

Resultate <strong><strong>de</strong>r</strong> Studie.“<br />

<strong>Die</strong>se <strong>Tabelle</strong> 23.2 wird von Köller<br />

und Baumert folgen<strong><strong>de</strong>r</strong>maßen<br />

kommentiert: „Unübersehbar zeigen<br />

sich <strong>de</strong>utliche Leistungsvorteile<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gymnasiasten aus <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

mit vierjähriger Grundschule.<br />

<strong>Die</strong> frühere Differenzierung<br />

scheint also leistungsstärkere Schüler<br />

in allen drei Fächern besser zu<br />

för<strong><strong>de</strong>r</strong>n.“ (S.770)<br />

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Der nachfolgen<strong>de</strong> Exkurs schließt mit <strong>de</strong>m Satz: „Zusammenfassend zeigt sich zumin<strong>de</strong>st für das<br />

<strong>de</strong>utsche Schulsystem, dass bezogen auf die Fachleistungsentwicklung leistungsstarke Schüler von<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Differenzierung im Sekundarbereich profitieren.“ (S.771) Jenes Bun<strong>de</strong>sland mit sechsjähriger<br />

Grundschule war Berlin.<br />

<strong>Die</strong>ses entschie<strong>de</strong>ne Plädoyer für die vierjährige Grundschule erfolgte allerdings an abgelegener<br />

Stelle, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachliteratur, und nicht mit jener Öffentlichkeitswirkung, die seiner Be<strong>de</strong>utung und<br />

<strong>de</strong>m Aufwand seiner Erstellung entsprochen hätte. Es ist selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachwelt kaum bekannt.<br />

Nur so war es möglich, dass im „KMK-Bildungsbericht 2003“ just diese Hinweise auf die Vorteile<br />

einer frühen Differenzierung, die von Köller und Baumert im Oerter/Montada 2002 veröffentlicht<br />

wor<strong>de</strong>n waren, innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> sonst wortgetreuen Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gabe <strong>de</strong>s Kontextes unbemerkt ausgeblen<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n konnten.<br />

Der „KMK-Bildungsbericht 2003“ wur<strong>de</strong> herausgegeben vom „Deutschen Institut für Internationale<br />

Pädagogische Forschung (DIPF)“. Wir haben mit einem Offenen Brief an Herrn Professor Dr.<br />

Eckhard Klieme, <strong>de</strong>n Direktor <strong>de</strong>s DIPF, vom 8. Januar 2008 auf diese „Ausblendung“ hingewiesen<br />

(vgl. www.schulform<strong>de</strong>batte.<strong>de</strong> „Sollte das geglie<strong><strong>de</strong>r</strong>te Schulwesen zum Opfer einer Intrige wer<strong>de</strong>n?“<br />

unter „Zur aktuellen Diskussion“). Der Brief blieb ohne Reaktionen.<br />

<strong>Die</strong> schulart-unabhängig Orientierungsstufe in Mecklenburg-Vorpommern, die sechsjährige Primarstufe<br />

in Hamburg und die fünfjährige Grundschule im Saarland sind durch die „Ausblendung“<br />

erst möglich gewor<strong>de</strong>n. Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Streit um die Element-Studie wäre an<strong><strong>de</strong>r</strong>s verlaufen.<br />

Im Oerter/Montada 2008 (S.750) wur<strong>de</strong> dann, sechs Jahre später, <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch unternommen, die<br />

Be<strong>de</strong>utung dieser wichtigen Erkenntnisse <strong>de</strong>s MPIB zum niedrigeren För<strong><strong>de</strong>r</strong>effekt <strong><strong>de</strong>r</strong> 5. und 6. Jahrgänge<br />

von Berliner Grundschulen durch eine Fußnote zu relativieren:<br />

„Problematisch für die Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> Befun<strong>de</strong> ist, dass hier lediglich ein Bun<strong>de</strong>sland gegen<br />

alle übrigen kontrastiert wird und sonstige Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Schulstrukturen (beispielsweise<br />

unterschiedliche Expansionsraten <strong>de</strong>s Gymnasiums) mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundschuljahre<br />

konfundiert sein können.“ (Oerter/Montada 2008, S.750)<br />

Dabei hätten die Erkenntnisse zu <strong>de</strong>n Vorteilen einer frühen Differenzierung an Hand <strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>m<br />

Projekt „Schulleistung“ vorliegen<strong>de</strong>n Daten zum familiären Hintergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler und zu ihren<br />

kognitiven Grundfähigkeiten ohne größeren Aufwand sogar noch weiter präzisiert wer<strong>de</strong>n können.<br />

Weil aus <strong>de</strong>m MPIB-Projekt „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter<br />

(BIJU)“ für jeweils etwa 3.000 Schüler <strong><strong>de</strong>r</strong> 7. Jahrgänge <strong>de</strong>s Jahres 1991 aus Berlin und NRW ebenfalls<br />

solche Daten vorliegen, hätten die MPIB-Befun<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n „unübersehbaren“ Vorteilen einer<br />

frühen Differenzierung, wie Roe<strong><strong>de</strong>r</strong> das empfohlen hatte, schon 1996 mit „BIJU“-Daten präzisiert<br />

und aktualisiert wer<strong>de</strong>n können. Das ist, wie wir wissen und nachweisen können, auch geschehen.<br />

Aber die Ergebnisse sind am MPIB zurückgehalten wor<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>Tabelle</strong> 1“ ist also noch nicht zu En<strong>de</strong>!<br />

Wie von Professor Baumert und seinen Mitarbeitern mehrfach erläutert und am Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Laborschule<br />

Bielefeld eindrucksvoll <strong>de</strong>monstriert wur<strong>de</strong>, sind auch mit <strong>de</strong>n PISA Daten <strong><strong>de</strong>r</strong> etwa<br />

30.000 <strong>de</strong>utschen Neuntklässler Schulformvergleiche möglich (z.B. PISA 2000/01, S.128 und PISA<br />

2000/06, S.116-123). Denn auch hier gibt es neben <strong>de</strong>n Daten zur sozialen Herkunft <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler<br />

„vorhersage-mächtige“ Daten zu ihrer kognitivem Grundfähigkeit. Aktuellere Daten als die aus<br />

PISA-E 2006 stehen zur Zeit für bun<strong>de</strong>sweite Schulformvergleiche nicht zur Verfügung. Derartige<br />

Schulformvergleiche sollten daher jetzt von Behör<strong>de</strong>n, Parteien und Verbän<strong>de</strong>n mit Nachdruck eingefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n, im Interesse <strong><strong>de</strong>r</strong> Leistungsfähigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong> Stabilität unserer Gesellschaft.<br />

Weitere Informationen unter: www.schulform<strong>de</strong>batte.<strong>de</strong><br />

Ulrich Sprenger Recklinghausen, März 2010<br />

Arbeitskreis <strong>Schulform<strong>de</strong>batte</strong> e.V. - „Forum für wissenschaftsorientierte Beiträge zu Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schulstruktur“<br />

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