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Leitlinien und ärztliche Entscheidungsspielräume - Frank Praetorius

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te der Reform eines Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />

das seit langem durch Ressourcenknappheit<br />

<strong>und</strong> die daraus resultierenden<br />

Interessenkonflikte gekennzeichnet<br />

ist. Die neuen Gesetze führen<br />

zu einer Überforderung der Akteure, die<br />

ein Verhalten im Sinne der „Kochbuchmedizin“<br />

fördert. Allerdings sind<br />

die dadurch entstehenden Probleme<br />

nicht prinzipiell neu, sondern bereits in<br />

der Gr<strong>und</strong>struktur der EbM vorgegeben.<br />

Abb. 2. Wöchentliche Arbeitszeit<br />

(ohne Bereitschaftsdienst)<br />

bei hessischen Assistenten<br />

[3].<br />

Überforderung<br />

der Entscheidungsträger<br />

Überforderung durch <strong>Leitlinien</strong><br />

im DRG-Stress<br />

Das Modell der britischen Epidemiologen<br />

scheint in der neuesten Version auf<br />

den ersten Blick ebenso ausgewogen<br />

wie einfach <strong>und</strong> unkompliziert praktikabel<br />

zu sein:<br />

• Zuerst wird der klinische Zustand<br />

festgestellt,<br />

• dann werden die möglichen therapeutischen<br />

Optionen nach ihrer efficacy,<br />

effectiveness <strong>und</strong> efficiency „abgeglichen”,<br />

• danach die möglichen Reaktionen<br />

des Patienten auf die Therapien eingeschätzt,<br />

• <strong>und</strong> schließlich soll ärztliches Fachwissen<br />

<strong>und</strong> Können all das auf einen<br />

Nenner bringen <strong>und</strong> dem Patienten die<br />

adäquaten Empfehlungen geben [2].<br />

In der realen Welt der evidence based<br />

practice von Klinikern wird das Entscheidungsverfahren<br />

nach Haynes oft<br />

Abb. 1. An updated model for evidence based<br />

clinical decisions (Haynes 2002) [2].<br />

als bürokratisch überfrachtet angesehen<br />

<strong>und</strong> deshalb nur rudimentär praktiziert.<br />

Stattdessen werden relativ bereitwillig<br />

<strong>Leitlinien</strong> verwendet, soweit sie<br />

einfach zugänglich <strong>und</strong> schnell anwendbar<br />

sind, d. h. keine zeitraubende<br />

kritische Betrachtung voraussetzen.<br />

Zu dieser Haltung führt eine in mehreren<br />

B<strong>und</strong>esländern statistisch belegte<br />

Überlastung der Ärzte. Bei hessischen<br />

Assistenzärzten fand man eine Arbeitszeit,<br />

die 10–15 St<strong>und</strong>en über den auf<br />

dem allgemeinen Arbeitsmarkt diskutierten<br />

Werten liegt: Mehr als 75% der<br />

Ärzte arbeiten länger als 45 St<strong>und</strong>en<br />

(ohne Bereitschaftsdienst, d. h. auch<br />

ohne Überst<strong>und</strong>enentgelt) [3]. Es w<strong>und</strong>ert<br />

nicht, dass Zeitdruck als ein Gr<strong>und</strong><br />

von Unzufriedenheit mit dem Beruf genannt<br />

wird – einem Beruf, in dem ständig<br />

neue Entscheidungen nach gründlicher<br />

Überlegung gefragt sind. Bei den<br />

Kassenärzten wächst aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

zeitlichen Belastung das Gefühl, „ausgebrannt“<br />

zu sein 2 . Hinzu kommt bei<br />

jüngeren niedergelassenen Ärzten eine<br />

nicht unberechtigte Existenzangst,<br />

wenn die Schuldentilgung durch die<br />

Reformrestriktionen gefährdet wird.<br />

Berufsfremde Tätigkeit macht Ärzte unzufrieden:<br />

Über 70 Prozent der hessischen<br />

Assistenzärzte beklagen ein<br />

Übermaß an Verwaltungsarbeit, zu welcher<br />

die vielfältigen Dokumentationspflichten<br />

gehören. Die Deutsche Gesellschaft<br />

für Innere Medizin (DGIM)<br />

stellt in ihrer letzten Jahresbroschüre<br />

2<br />

Auch 58% der befragten US-Ärzte geben hohe<br />

Werte von emotionaler Erschöpfung an, die eine<br />

wesentliche Burnout-Dimension darstellt (Deckard<br />

G, Meterko M <strong>und</strong> Field D, Med Care 1994;32:<br />

745–54).<br />

vor dem Zeitalter der DRG’s (Diagnosis<br />

Related Groups) fest: Der durchschnittliche<br />

Dokumentationsaufwand je Arzt<br />

<strong>und</strong> Arbeitstag im Krankenhaus beläuft<br />

sich auf 3 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> 15 Minuten in<br />

der Inneren Medizin [4]. Die Kassenärztliche<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung (KBV)<br />

geht von 12 St<strong>und</strong>en pro Woche <strong>und</strong><br />

Arzt aus 3 .<br />

Bei der Konfrontation mit diesen Daten<br />

erklären Klinikassistenten <strong>und</strong> niedergelassene<br />

Kollegen übereinstimmend,<br />

dass die „neue Komplikation“ EbM<br />

nicht die erhoffte Erleichterung, sondern<br />

nur eine weitere Form von bürokratischer<br />

Belastung bringen wird, die<br />

sich zu der bestehenden Mehrarbeit<br />

addiert. Das ist sachlich berechtigt,<br />

denn die Konvergenz von EbM <strong>und</strong><br />

DRG wird offiziell so gesehen: Das neue<br />

Entgeltsystem beruht nicht mehr auf<br />

den erbrachten Leistungen (auch Fallpauschalen<br />

<strong>und</strong> Sonderentgelten), sondern<br />

auf einem Konstrukt von Diagnose<br />

plus akzeptierter Therapie 4 . DRG’s stellen<br />

einen Anreiz für standardisierte<br />

Diagnose- <strong>und</strong> Behandlungsschemata<br />

dar, einschließlich definierter Behandlungspfade<br />

(Clinical Pathways) [4].<br />

Mit Sorge wird gesehen, dass die Regulierungen<br />

der Ges<strong>und</strong>heitspolitik den<br />

Arzt in eine double-bind-Situation<br />

führen können. Wie soll er mit Hilfe der<br />

EbM gleichzeitig methodisch <strong>und</strong><br />

3<br />

KBV (2004) http://www.kbv.de/umfrage_entbuerokratisierung/umfrage.htm<br />

[vgl. Dtsch Ärztebl<br />

101/39].<br />

4<br />

Im DRG-System führt die Suche nach Nebendiagnosen<br />

zu höheren Erlösen (durch Höherstufung bei<br />

5 Schweregradgruppen (PCCL)): Eine primär ökonomisch,<br />

weniger wissenschaftlich motivierte Dokumentation.<br />

16 ZaeFQ<br />

Z. ärztl. Fortbild. Qual. Ges<strong>und</strong>h.wes. (2005) 99; 15–23<br />

http://www.elsevier.de/zaefq

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