Leitlinien und ärztliche Entscheidungsspielräume - Frank Praetorius
Leitlinien und ärztliche Entscheidungsspielräume - Frank Praetorius
Leitlinien und ärztliche Entscheidungsspielräume - Frank Praetorius
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
te der Reform eines Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />
das seit langem durch Ressourcenknappheit<br />
<strong>und</strong> die daraus resultierenden<br />
Interessenkonflikte gekennzeichnet<br />
ist. Die neuen Gesetze führen<br />
zu einer Überforderung der Akteure, die<br />
ein Verhalten im Sinne der „Kochbuchmedizin“<br />
fördert. Allerdings sind<br />
die dadurch entstehenden Probleme<br />
nicht prinzipiell neu, sondern bereits in<br />
der Gr<strong>und</strong>struktur der EbM vorgegeben.<br />
Abb. 2. Wöchentliche Arbeitszeit<br />
(ohne Bereitschaftsdienst)<br />
bei hessischen Assistenten<br />
[3].<br />
Überforderung<br />
der Entscheidungsträger<br />
Überforderung durch <strong>Leitlinien</strong><br />
im DRG-Stress<br />
Das Modell der britischen Epidemiologen<br />
scheint in der neuesten Version auf<br />
den ersten Blick ebenso ausgewogen<br />
wie einfach <strong>und</strong> unkompliziert praktikabel<br />
zu sein:<br />
• Zuerst wird der klinische Zustand<br />
festgestellt,<br />
• dann werden die möglichen therapeutischen<br />
Optionen nach ihrer efficacy,<br />
effectiveness <strong>und</strong> efficiency „abgeglichen”,<br />
• danach die möglichen Reaktionen<br />
des Patienten auf die Therapien eingeschätzt,<br />
• <strong>und</strong> schließlich soll ärztliches Fachwissen<br />
<strong>und</strong> Können all das auf einen<br />
Nenner bringen <strong>und</strong> dem Patienten die<br />
adäquaten Empfehlungen geben [2].<br />
In der realen Welt der evidence based<br />
practice von Klinikern wird das Entscheidungsverfahren<br />
nach Haynes oft<br />
Abb. 1. An updated model for evidence based<br />
clinical decisions (Haynes 2002) [2].<br />
als bürokratisch überfrachtet angesehen<br />
<strong>und</strong> deshalb nur rudimentär praktiziert.<br />
Stattdessen werden relativ bereitwillig<br />
<strong>Leitlinien</strong> verwendet, soweit sie<br />
einfach zugänglich <strong>und</strong> schnell anwendbar<br />
sind, d. h. keine zeitraubende<br />
kritische Betrachtung voraussetzen.<br />
Zu dieser Haltung führt eine in mehreren<br />
B<strong>und</strong>esländern statistisch belegte<br />
Überlastung der Ärzte. Bei hessischen<br />
Assistenzärzten fand man eine Arbeitszeit,<br />
die 10–15 St<strong>und</strong>en über den auf<br />
dem allgemeinen Arbeitsmarkt diskutierten<br />
Werten liegt: Mehr als 75% der<br />
Ärzte arbeiten länger als 45 St<strong>und</strong>en<br />
(ohne Bereitschaftsdienst, d. h. auch<br />
ohne Überst<strong>und</strong>enentgelt) [3]. Es w<strong>und</strong>ert<br />
nicht, dass Zeitdruck als ein Gr<strong>und</strong><br />
von Unzufriedenheit mit dem Beruf genannt<br />
wird – einem Beruf, in dem ständig<br />
neue Entscheidungen nach gründlicher<br />
Überlegung gefragt sind. Bei den<br />
Kassenärzten wächst aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
zeitlichen Belastung das Gefühl, „ausgebrannt“<br />
zu sein 2 . Hinzu kommt bei<br />
jüngeren niedergelassenen Ärzten eine<br />
nicht unberechtigte Existenzangst,<br />
wenn die Schuldentilgung durch die<br />
Reformrestriktionen gefährdet wird.<br />
Berufsfremde Tätigkeit macht Ärzte unzufrieden:<br />
Über 70 Prozent der hessischen<br />
Assistenzärzte beklagen ein<br />
Übermaß an Verwaltungsarbeit, zu welcher<br />
die vielfältigen Dokumentationspflichten<br />
gehören. Die Deutsche Gesellschaft<br />
für Innere Medizin (DGIM)<br />
stellt in ihrer letzten Jahresbroschüre<br />
2<br />
Auch 58% der befragten US-Ärzte geben hohe<br />
Werte von emotionaler Erschöpfung an, die eine<br />
wesentliche Burnout-Dimension darstellt (Deckard<br />
G, Meterko M <strong>und</strong> Field D, Med Care 1994;32:<br />
745–54).<br />
vor dem Zeitalter der DRG’s (Diagnosis<br />
Related Groups) fest: Der durchschnittliche<br />
Dokumentationsaufwand je Arzt<br />
<strong>und</strong> Arbeitstag im Krankenhaus beläuft<br />
sich auf 3 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> 15 Minuten in<br />
der Inneren Medizin [4]. Die Kassenärztliche<br />
B<strong>und</strong>esvereinigung (KBV)<br />
geht von 12 St<strong>und</strong>en pro Woche <strong>und</strong><br />
Arzt aus 3 .<br />
Bei der Konfrontation mit diesen Daten<br />
erklären Klinikassistenten <strong>und</strong> niedergelassene<br />
Kollegen übereinstimmend,<br />
dass die „neue Komplikation“ EbM<br />
nicht die erhoffte Erleichterung, sondern<br />
nur eine weitere Form von bürokratischer<br />
Belastung bringen wird, die<br />
sich zu der bestehenden Mehrarbeit<br />
addiert. Das ist sachlich berechtigt,<br />
denn die Konvergenz von EbM <strong>und</strong><br />
DRG wird offiziell so gesehen: Das neue<br />
Entgeltsystem beruht nicht mehr auf<br />
den erbrachten Leistungen (auch Fallpauschalen<br />
<strong>und</strong> Sonderentgelten), sondern<br />
auf einem Konstrukt von Diagnose<br />
plus akzeptierter Therapie 4 . DRG’s stellen<br />
einen Anreiz für standardisierte<br />
Diagnose- <strong>und</strong> Behandlungsschemata<br />
dar, einschließlich definierter Behandlungspfade<br />
(Clinical Pathways) [4].<br />
Mit Sorge wird gesehen, dass die Regulierungen<br />
der Ges<strong>und</strong>heitspolitik den<br />
Arzt in eine double-bind-Situation<br />
führen können. Wie soll er mit Hilfe der<br />
EbM gleichzeitig methodisch <strong>und</strong><br />
3<br />
KBV (2004) http://www.kbv.de/umfrage_entbuerokratisierung/umfrage.htm<br />
[vgl. Dtsch Ärztebl<br />
101/39].<br />
4<br />
Im DRG-System führt die Suche nach Nebendiagnosen<br />
zu höheren Erlösen (durch Höherstufung bei<br />
5 Schweregradgruppen (PCCL)): Eine primär ökonomisch,<br />
weniger wissenschaftlich motivierte Dokumentation.<br />
16 ZaeFQ<br />
Z. ärztl. Fortbild. Qual. Ges<strong>und</strong>h.wes. (2005) 99; 15–23<br />
http://www.elsevier.de/zaefq