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Michael Schneider DIE SCHAU DES ... - Kath.de

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<strong>Michael</strong> <strong>Schnei<strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>SCHAU</strong> <strong>DES</strong> MENSCHENSOHNES IM ZEUGNIS DER IKONE<br />

Die Verklärung auf <strong>de</strong>m Berg Tabor<br />

Er ist das Ebenbild <strong>de</strong>s unsichtbaren Gottes,<br />

<strong>de</strong>r Erstgeborene <strong>de</strong>r ganzen Schöpfung.<br />

Denn in ihm wur<strong>de</strong> alles erschaffen<br />

im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n,<br />

das Sichtbare und das Unsichtbare,<br />

Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;<br />

alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.<br />

Er ist vor aller Schöpfung,<br />

in ihm hat alles Bestand.<br />

Er ist das Haupt <strong>de</strong>s Leibes,<br />

<strong>de</strong>r Leib aber ist die Kirche.<br />

Er ist <strong>de</strong>r Ursprung, <strong>de</strong>r Erstgeborene <strong>de</strong>r Toten;<br />

so hat er in allem <strong>de</strong>n Vorrang.<br />

Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle<br />

in ihm wohnen,<br />

um durch ihn alles zu versöhnen.<br />

Alles im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n<br />

wollte er zu Christus führen,<br />

<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.<br />

(Kol 1,15-20)<br />

Das erste Bild, das je<strong>de</strong>r Ikonenmaler zu "schreiben" hat, ist die Ikone von <strong>de</strong>r Verklärung <strong>de</strong>s Herrn<br />

(vgl. Mt 17,1-9; Mk 9,2-9; Lk 9,28-36): Der Maler weiß sich verpflichtet, in seinem Werk das Licht<br />

<strong>de</strong>r Verklärung zum Leuchten zu bringen. Die abgebil<strong>de</strong>te Ikone <strong>de</strong>r Verklärung <strong>de</strong>s Herrn stammt<br />

aus <strong>de</strong>r Zeit um 1403 und befin<strong>de</strong>t sich heute in <strong>de</strong>r Tretjakow-Galerie von Moskau.


Die Ikone von <strong>de</strong>r Verklärung<br />

Die Ikone zeigt die Jünger, wie sie <strong>de</strong>n Abhang <strong>de</strong>s Berges hinabstürzen, zu Bo<strong>de</strong>n gestreckt, tief<br />

erschrocken von <strong>de</strong>m überwältigen<strong>de</strong>n Geschehen: links <strong>de</strong>r Apostel Petrus, auf <strong>de</strong>n Knien liegend,<br />

und die Hand emporhebend, um sich vor <strong>de</strong>m Licht abzuschirmen; in <strong>de</strong>r Mitte Johannes, <strong>de</strong>r zu<br />

Bo<strong>de</strong>n fällt, <strong>de</strong>n Rücken zum Licht gewandt, und rechts Jakobus, <strong>de</strong>r flieht o<strong>de</strong>r nach rückwärts<br />

fällt.<br />

Christus hatte seine Jünger für diese Schau, die ihnen nun zuteil wird, vorbereitet: "Ich sage es<br />

euch in Wahrheit: Einige von <strong>de</strong>nen, die hier stehen, wer<strong>de</strong>n nicht sterben, bis sie das Reich Gottes<br />

mit Macht haben kommen sehen" (Mk 9,1), o<strong>de</strong>r noch <strong>de</strong>utlicher: "ehe sie nicht <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>s<br />

Menschen haben kommen sehen mit seinem Reich" (Mt 16,28). Petrus, Jakobus und Johannes<br />

dürfen zu Lebzeiten Augenzeugen <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Menschensohnes sein und be-kennen: "Wir<br />

waren mit ihm auf <strong>de</strong>m heiligen Berg" (2 Petr 1,16-18).<br />

Der Kontrast zwischen <strong>de</strong>m oberen und unteren Teil <strong>de</strong>r Ikone ist so über<strong>de</strong>utlich, daß <strong>de</strong>r Eindruck<br />

entsteht, <strong>de</strong>r göttliche Bereich sollte vom menschlichen getrennt wer<strong>de</strong>n. Christus steht unbe-<br />

weglich, und <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r von ihm ausgeht, überflutet die sich neigen<strong>de</strong>n Gestalten Mose und<br />

Elia, die ein vollkommener Kreis umschließt. Im unteren Teil <strong>de</strong>r Ikone dagegen herrscht die beweg-<br />

te Dynamik <strong>de</strong>r drei Jünger vor, welche sich angesichts <strong>de</strong>r göttlichen Offenbarung sehr menschlich<br />

verhalten, nämlich erschüttert und verwirrt, aber auch von Freu<strong>de</strong> erfüllt. Überwältigt von <strong>de</strong>m<br />

Geschehen, möchte Petrus "Zelte bauen". Seine Worte: "Es ist gut für uns, daß wir hier sind"<br />

scheinen um <strong>de</strong>n Urstand <strong>de</strong>r Welt zu wissen, da Gott sie betrachtete und "sah, daß sie schön<br />

war".<br />

Auf unserer Ikone steht Christus inmitten einer aus konzentrischen Kreisen gebil<strong>de</strong>ten Mandorla.<br />

Die drei Sphären stellen die Totalität <strong>de</strong>s geschaffenen Universums dar, alle Mysterien <strong>de</strong>r göttli-<br />

chen Schöpfung in sich tragend. Das Fünfeck, das oft in <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r Mandorla eingezeichnet ist,<br />

bezeichnet die "lichte Wolke", das Signum <strong>de</strong>s Heiligen Geistes. Mose und Elia symbolisieren Ge-<br />

setz und Propheten, aber auch die Toten (Mose, <strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Eintritt in das Gelobte Land starb) und<br />

die Leben<strong>de</strong>n (Elia, <strong>de</strong>r vor seinem Tod auf einem feurigen Wagen zum Himmel emporgehoben<br />

wur<strong>de</strong>). So bezeugen Elia und Mose, die bei<strong>de</strong>n großen Gestalten <strong>de</strong>s Alten Bun<strong>de</strong>s, das Wun<strong>de</strong>r<br />

Gottes auf <strong>de</strong>m Berg Tabor, zugleich aber auch die Kontinuität <strong>de</strong>r Heilsgeschichte und <strong>de</strong>r<br />

Testamente.<br />

Das Sticheron <strong>de</strong>r byzantinischen Vesper (1. Ton) erklärt Mose und Elia als die großen Visionäre<br />

<strong>de</strong>s Alten Testamentes, <strong>de</strong>nen Gott auf <strong>de</strong>m Sinai und Karmel erschienen ist. Zur Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

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Verklärung wer<strong>de</strong>n sie Zeugen <strong>de</strong>r trinitarischen Theophanie, wie es in <strong>de</strong>r byzantinischen Matutin<br />

zum Fest heißt: "Du unverän<strong>de</strong>rliches Licht <strong>de</strong>s Vaters, o göttliches Wort, in <strong>de</strong>inem aufblitzen<strong>de</strong>n<br />

Licht haben wir heute auf <strong>de</strong>m Tabor das Licht gesehen, das <strong>de</strong>r Vater ist, und das Licht, das <strong>de</strong>r<br />

Geist ist, dieses Licht, das alle Kreatur erleuchtet."<br />

Das Zeugnis <strong>de</strong>r Liturgie<br />

Auf <strong>de</strong>m Berg Tabor erkennen die Jünger auch die bei<strong>de</strong>n Seiten göttlicher Schönheit, nämlich Herr-<br />

lichkeit und Kreuz, Verklärung und Lei<strong>de</strong>n: "sie sprachen von seinem En<strong>de</strong> (éxodos), das sich in<br />

Jerusalem erfüllen sollte" (Lk 9,31). Papst Johannes Paul II. schreibt hierzu: Der Weg zum En<strong>de</strong><br />

hin, "aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Berges Tabor betrachtet, erscheint wie ein Weg zwischen zwei Lich-<br />

tern: das vorwegnehmen<strong>de</strong> Licht <strong>de</strong>r Verklärung und jenes endgültige Licht <strong>de</strong>r Auferstehung". In<br />

<strong>de</strong>r Passion wird die Verherrlichung <strong>de</strong>s Menschensohnes offenkundig. So sagt Christus von seinem<br />

Lei<strong>de</strong>nsweg: "Jetzt ist <strong>de</strong>r Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht" (Joh<br />

13,31), und zuvor: "Es kam eine Stimme vom Himmel, die sprach: Ich habe ihn verherrlicht, und<br />

ich wer<strong>de</strong> ihn noch verherrlichen" (Joh 12,28).<br />

Die Ikone von <strong>de</strong>r Verklärung zeigt Christus meist aufrecht (o<strong>de</strong>r sitzend) auf <strong>de</strong>r Höhe jenes<br />

Berges, <strong>de</strong>m die Paradiesesströme entspringen und die sich in vier Arme aufteilen. Denn <strong>de</strong>r Auf-<br />

erstan<strong>de</strong>ne, <strong>de</strong>r neue Adam, beklei<strong>de</strong>t die menschliche Natur mit ihrer ursprünglichen Schönheit.<br />

Diese Schönheit können die Jünger nun schauen, aber nur, "soweit sie dafür fähig waren", wie es<br />

im Kontakion <strong>de</strong>r byzantinischen Liturgie vom 6. August heißt: "Auf <strong>de</strong>m Berg wur<strong>de</strong>st Du verklärt,<br />

Christus, Gott. Die Jünger schauten, wie sie es vermochten, Deine Herrlichkeit, auf daß sie, wenn<br />

sie Dich gekreuzigt sehen, das Lei<strong>de</strong>n als freiwillig begreifen, <strong>de</strong>r Welt aber verkün<strong>de</strong>n, daß Du in<br />

Wahrheit bist <strong>de</strong>r Abglanz <strong>de</strong>s Vaters." Mose konnte das göttliche Antlitz nicht sehen, ohne zu<br />

sterben. Den Jüngern hingegen wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Berg <strong>de</strong>r Verklärung die Schau <strong>de</strong>r Gottheit im<br />

menschlichen Antlitz geschenkt. In dieser Stun<strong>de</strong> dürfen sie die göttliche Herrlichkeit auf einem<br />

Menschenantlitz schauen. Denselben Christus, <strong>de</strong>ssen Antlitz und Gewand sie kennen, sehen sie<br />

nun vor ihren Augen verklärt: sein menschliches Antlitz "glänzte wie die Sonne", und seine Klei<strong>de</strong>r<br />

wur<strong>de</strong>n "weiß wie Schnee" (Mt 17,2).<br />

Aber nicht Christus wan<strong>de</strong>lt sich, son<strong>de</strong>rn die Augen <strong>de</strong>r Apostel öffnen sich für einen Augenblick<br />

und schauen, was sonst ihren Augen verborgen ist. Der Mensch hat nämlich Anteil an <strong>de</strong>r Herrlich-<br />

keit <strong>de</strong>s Menschensohnes, auf <strong>de</strong>ssen "Bild" er geschaffen wur<strong>de</strong>. Er ist nicht nach einer Vorstel-<br />

lung Gottes geschaffen, son<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>m Bild Gottes (Gen 1,26-28). Nicht etwas in Gott,<br />

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son<strong>de</strong>rn Gott selbst ist das Mo<strong>de</strong>ll für <strong>de</strong>n Menschen: Die Gottebenbildlichkeit <strong>de</strong>s Menschen sagt<br />

zuerst etwas über <strong>de</strong>n Gott aus, <strong>de</strong>r sich sein Bild schafft und zu ihm in ein beson<strong>de</strong>res Verhältnis<br />

tritt, bevor sie etwas über <strong>de</strong>n Menschen aussagt, <strong>de</strong>r so geschaffen wird. Klemens von Alex-<br />

andrien sagt: "Der Mensch ist Gott ähnlich, weil Gott <strong>de</strong>m Menschen ähnlich ist." "Der Mensch ist<br />

das menschliche Antlitz Gottes", heißt es bei Gregor von Nyssa, <strong>de</strong>shalb "hat er, dazu bestimmt,<br />

die göttlichen Güter zu genießen, in seiner Natur eine Verwandtschaft mit <strong>de</strong>m erhalten müssen,<br />

an <strong>de</strong>m er einmal Anteil bekommen soll". Gottes Geburt als Mensch (Weihnachten) ermöglicht die<br />

Geburt <strong>de</strong>s Menschen als Gott (Himmelfahrt).<br />

Der Mensch - das Ebenbild Gottes<br />

Makarius <strong>de</strong>r Große bringt es kurz in die Worte: "Zwischen Gott und Mensch existiert die größte<br />

Verwandtschaft." Hier gilt nicht eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, son<strong>de</strong>rn das eine und das an<strong>de</strong>re. Deshalb<br />

müssen wir wie<strong>de</strong>r die Antonomien lernen, auf welche die Kirchenväter unentwegt hinweisen, um<br />

"nicht zu betrüben" und "<strong>de</strong>n Geist nicht auszulöschen". Der Mensch sagt: "Ich bin unvollkom-<br />

men", und Gott antwortet ihm: "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Der<br />

Mensch muß bekennen: "Ich bin Staub", und Christus sagt zu ihm: "Ihr alle seid Götter, und ihr<br />

seid meine Freun<strong>de</strong>." Sagt <strong>de</strong>r Mensch: "Geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch", so gilt<br />

ihm doch die Verheißung: "Ihr seid von Gottes Geschlecht", und: "Ihr habt die Salbung vom Heili-<br />

gen empfangen, ihr wißt alles." Der Mensch ist bei<strong>de</strong>s: "geschaffen" und "geboren aus Wasser und<br />

Heiligem Geist", Kreatur und wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Gott: "ein geschaffener Gott", so lautet eine <strong>de</strong>r paradoxe-<br />

sten Bezeichnungen. Denn "alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu be-<br />

stimmt, <strong>de</strong>m Bild seines Sohnes gleichzuwer<strong>de</strong>n" (Röm 8,29). Somit zeigt sich in <strong>de</strong>r Menschheit<br />

Christi auch die göttliche Wirklichkeit <strong>de</strong>s Menschen, <strong>de</strong>r im Menschensohn seine ursprüngliche<br />

Wür<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rerhält. In <strong>de</strong>r Menschwerdung <strong>de</strong>s Logos wird endgültig offenbar, daß die irdische<br />

Wirklichkeit Trägerin überirdischer Wirklichkeit ist. Deshalb ist <strong>de</strong>r Mensch nur insofern wahr und<br />

wirklich, als er das Himmlische zurückstrahlt: "Wir alle spiegeln mit enthülltem Antlitz (ausgeführt<br />

in seinen Mysterien) wie in einem Spiegel die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn (die auf <strong>de</strong>m Antlitz Christi<br />

liegt), und wer<strong>de</strong>n in dieses selbe Bild hineinverwan<strong>de</strong>lt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch das<br />

Wirken <strong>de</strong>s Geistes" (2 Kor 3,18; und 4,6).<br />

Die vollkommene Schönheit Jesu geht auf seine Jünger über. Diese Erfahrung bringt Symeon <strong>de</strong>r<br />

Neue Theologe in die Worte: "Ich sehe die Schönheit <strong>de</strong>iner Gna<strong>de</strong> und versenke mich in ihr Licht;<br />

ich betrachte voll Staunen diesen unsagbaren Glanz; ich bin außer mir, während ich doch über mich<br />

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selber nach<strong>de</strong>nke: was ich war und was ich gewor<strong>de</strong>n bin. O Wun<strong>de</strong>r! Ich bin aufmerksam, erfüllt<br />

von heiliger Achtung vor mir selbst, von Ehrfurcht, von Angst, als stün<strong>de</strong> ich vor dir, und weiß<br />

nicht, was ich tun soll, <strong>de</strong>nn mich hat die Angst ergriffen; ich weiß nicht, wo ich mich nie<strong>de</strong>rlassen,<br />

wohin ich mich wen<strong>de</strong>n soll, wohin diese Glie<strong>de</strong>r legen, die <strong>de</strong>ine sind; für welche Taten, für<br />

welche Werke sie verwen<strong>de</strong>n, diese überraschen<strong>de</strong>n göttlichen Wun<strong>de</strong>r."<br />

Auf Gott hin geschaffen, ist <strong>de</strong>r Mensch dazu berufen, auch in seinen Lebensvollzügen am Ge-<br />

heimnis Gottes teilzunehmen. Dies be<strong>de</strong>utet für <strong>de</strong>n Menschen zunächst eine leidvolle Erfahrung,<br />

<strong>de</strong>nn er ist "ein Abbild <strong>de</strong>s unaussprechlichsten trinitarischen Geheimnisses, bis in jene Tiefen<br />

hinein, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Mensch für sich selbst ein Rätsel wird". Der göttlichen Apophatik entspricht<br />

eine menschliche Apophatik, ist es doch "leichter, <strong>de</strong>n Himmel zu erkennen, als dich selbst".<br />

Gregor von Nyssa sagt sogar: Wir können nicht einmal das Wesen auch nur <strong>de</strong>s kleinsten<br />

Grashalms kennen. Nicht an<strong>de</strong>rs Thomas von Aquin: "ne muscam qui<strong>de</strong>m": nicht einmal eine<br />

Mücke können wir adäquat erkennen. Erst wenn <strong>de</strong>r Mensch sich und die Welt als Ort Gottes sieht,<br />

wer<strong>de</strong>n ihm die sichtbaren Dinge mittels <strong>de</strong>r unsichtbaren erkennbar. So ist die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ver-<br />

klärung auf <strong>de</strong>m Berg Tabor die wesentliche Schule für die wahre Schau <strong>de</strong>s Menschen und <strong>de</strong>r<br />

Welt.<br />

Der Mensch ist größer als alles, was er unmittelbar von sich erkennt. Zur vollen Erkenntnis über<br />

sich gelangt er in <strong>de</strong>m Augenblick, wo er sich in all seinen Vollzügen von Gott her versteht und sein<br />

Leben gestaltet. Nikolaus Kabasilas sagt: "Durch Christus ist das Menschenherz geschaffen<br />

wor<strong>de</strong>n, ein ungeheures Schmuckkästchen, groß genug, um Gott selbst zu fassen. Das Auge ist für<br />

das Licht geschaffen, das Ohr für die Töne, alle Dinge für ihren eigenen Zweck, das Sehnen <strong>de</strong>r<br />

Seele aber, um sich emporzuschwingen zu Christus."<br />

Verwandlung <strong>de</strong>s Menschen in <strong>de</strong>r Schau <strong>de</strong>s Menschensohnes<br />

Christus eröffnete <strong>de</strong>m Menschen nicht nur eine neue Verhaltensweise, er macht <strong>de</strong>n Menschen zu<br />

einem Freund Gottes, eingeweiht in das innerste göttliche Geheimnis. Das Leben in Christus geht<br />

über eine Gesinnungsnachfolge hinaus, es entfaltet sich in <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m Herrn als eine<br />

neue Weise <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>m Sein Gottes. Jesus Christus ist mehr als das I<strong>de</strong>albild mensch-<br />

lichen Lebens und das Vorbild menschlicher Tugen<strong>de</strong>n, er führt unmittelbar auf <strong>de</strong>n Weg zu seinem<br />

Vater. Deshalb kann Augustinus schreiben: Christus fuhr auf in <strong>de</strong>n Himmel: Folgen wir ihm!<br />

Das Leben im Glauben be<strong>de</strong>utet somit ein stetes Ringen um die Gottfähigkeit <strong>de</strong>s Menschen. Alles<br />

Tun im Glauben bleibt <strong>de</strong>m Sein nachgeordnet, und was immer <strong>de</strong>r Mensch in <strong>de</strong>n Sakramenten<br />

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und in <strong>de</strong>r Liturgie empfängt, ist mehr, als er je <strong>de</strong>nken und verwirklichen kann. "Wer<strong>de</strong>t Nach-<br />

ahmer Gottes!", heißt es in Eph 5,1. Damit steht das ganze Leben im Glauben unter <strong>de</strong>m Primat<br />

<strong>de</strong>s Logos vor <strong>de</strong>m Ethos.<br />

Wenn von <strong>de</strong>r Verklärung gesagt wur<strong>de</strong>, daß sich nicht Christus wan<strong>de</strong>lte, son<strong>de</strong>rn die Augen <strong>de</strong>r<br />

Jünger für einen Augenblick schauen durften, was ihnen sonst verborgen war, so läßt sich dies<br />

auch von <strong>de</strong>r Feier <strong>de</strong>r Eucharistie sagen: Sie wird mit <strong>de</strong>n Gaben <strong>de</strong>r Schöpfung gefeiert, ohne daß<br />

sie zerstört wer<strong>de</strong>n, vielmehr ist alles in Christus umgewan<strong>de</strong>lt und erneuert - in Vorausschau auf<br />

die endzeitliche Verklärung <strong>de</strong>s ganzen Kosmos. Dieser Prozeß <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Verwandlung in<br />

Christus ist epikletisch, ganz vom Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes getragen. In <strong>de</strong>n Worten: "Eine<br />

leuchten<strong>de</strong> Wolke warf ihren Schatten auf sie" (Mt 17,5), sieht die frühe Kirche ein Bild <strong>de</strong>s<br />

Heiligen Geistes. Der Heilige Geist führt unmittelbar in das göttliche Leben in Christus ein, alles in<br />

<strong>de</strong>r Neuschöpfung trägt seine "Handschrift", auch wenn er selbst hinter seiner Gabe verborgen<br />

bleibt. "Er ist in uns, ohne unsere Stelle einzunehmen; er glaubt, betet, hofft und liebt in uns so,<br />

daß er es uns 'vormacht' und 'vorsagt', es uns überhaupt erst ermöglicht; aber zugleich sind wir<br />

es, die glauben, beten, hoffen und lieben" (M. Kunzler). Die Offenbarung seines Antlitzes erfolgt<br />

erst am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeiten, wenn das Werk <strong>de</strong>s Heiligen Geistes vollen<strong>de</strong>t und das Antlitz <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

erneuert ist. Dann ist die Schöpfung in die verklärte Lebensfülle Gottes hinübergeführt, und wir<br />

dürfen für immer schauen, was die Jünger auf <strong>de</strong>m Berg Tabor für einen Augenblick sehen durften.<br />

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