Alles Lüge? – Ein Weihnachtsbuch - BookRix
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Rudolf Wolter<br />
ALLES LÜGE?<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Weihnachtsbuch</strong>
Rudolf Wolter<br />
ALLES LÜGE?<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Weihnachtsbuch</strong><br />
ebook-bibliothek.org<br />
(2005)<br />
eBOOK<br />
BIBLIOTHEK<br />
littera scripta manet
Bitte beachten Sie: Der Text und die Titelphotographie<br />
dieses Erzählbandes unterliegen dem Urheberrecht.<br />
<strong>Ein</strong>e kommerzielle oder auch nicht-kommerzielle,<br />
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1. Ausgabe, November 2005<br />
© Rudolf Wolter 2005 für den Text<br />
© Luis Höger 2005 für das Titelbild<br />
© eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe<br />
Das Titelbild zeigt eine Höger-Krippe, entworfen und geschnitzt von<br />
Holzbildhauer Luis Höger (http://www.bildhauer-hoeger.de).
Inhalt<br />
<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>?<br />
Advent, Advent …<br />
Adventslicht<br />
<strong>Ein</strong> Stück vom Stern<br />
Fünf oder mehr<br />
Warum der Nikolaus nur zu den Kindern kommt<br />
Vier Wochen Zeit zum Vertragen<br />
Mareille sucht Weihnachten und findet es auch<br />
Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren<br />
<strong>Ein</strong>e Frau steigt aus<br />
Heimlichkeiten<br />
Christiane spielt nicht mit Rolands Spielzeug<br />
Wo sind nur die Lichter?<br />
Die schönsten Tage im Jahr<br />
Das betriebsbedingte Weihnachten<br />
Der blaue Planet<br />
Das ganz andere Weihnachten<br />
Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn<br />
Der Stern zieht weiter<br />
Der verwünschte Weihnachtsbaum<br />
<strong>Ein</strong> frommer Wunsch<br />
Menschen hinter dem Zaun<br />
Der verlegte Schlüssel
Die Menschen in Dosen …<br />
Die schlimme Geschichte von Weihnachten<br />
<strong>Ein</strong> kleines schwarzes Mädchen<br />
Kein Ersatz für Weihnachten<br />
Lucies Wahrheit<br />
Josephs Tod<br />
Man muß doch einmal tief atmen können<br />
Nur Papier<br />
Marzipankartoffeln<br />
Um der Hirten willen<br />
Weihnachten läßt sie kalt<br />
Wie Christoph mit Weihnachten anfängt<br />
Krippenspiele<br />
• Erstes Krippenspiel<br />
• Zweites Krippenspiel<br />
• Drittes Krippenspiel
<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>?<br />
<strong>Ein</strong>e weihnachtliche Geschichte zu 2. Korinther 1, 18 <strong>–</strong> 22<br />
Der letzte Schluck Bier schmeckte bitter und schal. Aber das lag<br />
nicht an der Brauerei und nicht am Ausschank. Es waren auch<br />
nicht die Biere davor, die den schlechten Nachgeschmack verursachten.<br />
Das Gespräch war schuld, mein Freund war schuld.<br />
Der bittere Klang seiner Stimme, seine gallige Abrechnung<br />
war’s. Wir hatten über Gott und die Welt geredet, wie man es<br />
eben macht, wenn man sich mit einem Freund nach langer Zeit<br />
einmal wieder zum Bier verabredet. Wir waren uns bei vielen<br />
Themen einig, wie früher auch schon, er hatte sich wenig verändert,<br />
aber dann wechselte der Wirt die heruntergebrannte<br />
Kerze des kleinen adventlichen Gestecks auf dem Tisch. In<br />
wenigen Tagen war Weihnachten. Wir sollten auch etwas davon<br />
haben. Als die Flamme der frisch angezündeten Kerze so<br />
langsam zu Kräften kam, brach es aus meinem Freund hervor.<br />
Mit einer heftigen zornigen Armbewegung wischte er die<br />
Tannenzweige samt Adventslicht von Tisch. „<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>, alles<br />
<strong>Lüge</strong>!“ belferte er. Ich erschrak, sah mich ängstlich um, ob die<br />
anderen Gäste diese Verachtung, diese Wut in seiner Stimme<br />
gehört hatten. Doch ringsum lachten nur freundliche Gesichter,<br />
allein das Mädchen, das einsam am Ecktisch saß, schaute<br />
ungerührt ernst in sein Glas Guinness, wie sie es schon den
ganzen Abend getan hatte. Niemand hatte das Attentat auf<br />
die vorweihnachtliche Stimmung mitbekommen.<br />
Und dann erzählte er. Wie sie sich alle unter dem Tannenbaum<br />
träfen und mit süßlichem Lächeln „Frohe Weihnachten!“<br />
wünschten und allen Schmutz unter den Teppich gekehrt<br />
hätten, jeden Streit aus dem Weg gingen, aber nur für<br />
diesen einen Abend, schon am nächsten Morgen ginge das<br />
Gezänk und der Betrug weiter. Seine Kinder würden sich<br />
über die diesmal schmäleren Weihnachtsgeschenke aufregen,<br />
seine Frau würde sich bei ihren Freundinnen über sein<br />
Versagen beklagen, seine Schwiegereltern versicherten ihrer<br />
Tochter, sie wäre ihnen die Liebste, aber das Geschäft bekäme<br />
doch der Älteste, schließlich sei er ein Mann, was man nicht<br />
von jedem sagen könne … Ja, verlogen alle, genau wie sein<br />
Chef, der ihn noch vor einem Jahr als besten Verkäufer geehrt<br />
hatte, und nun hatte er seine Papiere bekommen. Das Geschäft<br />
verkauft — und niemand hatte eine Ahnung davon gehabt.<br />
Mitte fünfzig arbeitslos, das war doch hoffnungslos. Und die<br />
mitleidigen Gesichter der anderen, ihre Beileidsbekundungen,<br />
ihre Trostversuche. Er wäre doch ein geborener Verkäufer,<br />
er hätte es doch zu etwas gebracht, aber er sah hinter ihren<br />
Stirnen das unausgesprochene Wort: Loser! Er freue sich<br />
schon auf die Ansprache des Kanzlers zum Heiligen Abend,<br />
ob wohl dieser Kanzler mit weniger <strong>Lüge</strong>n auskäme als sein<br />
Vorgänger? Etwas tun gegen die Arbeitslosigkeit, das sagten<br />
sie alle, und er zählte nur die vier Millionen, die ihn bisher<br />
nichts angingen. Sie lügen alle, wie in der Werbung, bei der<br />
einem speiübel werden könne, wenn man es ansähe in diesen<br />
Wochen vor Weihnachten, all dieses Glück durch unsinnige
Produkte, er hatte ja jetzt Zeit genug, das Fernsehen anzuschalten,<br />
sie lügen alle, und er selbst auch, wenn die Nachbarn ihn<br />
sahen, wie er in seinen Golf stieg, den er sich erst im Februar<br />
gekauft hatte und den er sich eigentlich nicht mehr leisten<br />
könne.<br />
Ich wollte ihn nicht vorschnell mit billigen Worten besänftigen.<br />
Ich hob nur das Gesteck vom Boden auf und entzündete<br />
die Kerze aufs neue. Und ich versprach, ihn bald anzurufen,<br />
zwischen den Tagen vielleicht oder auch eher. Auf dem Heimweg<br />
durch die regnerischen Straßen mit dem bitteren Geschmack<br />
im Mund ging es mir durch den Kopf. Hatte er nicht<br />
recht, mein vergrätzter, enttäuschter Freund? Oder stahl er<br />
mir nur in der Maske des Freundes meine Weihnachtsfreude,<br />
die mich ein Leben lang begleitet hatte? Der warm leuchtende<br />
Weihnachtsbaum mit seinen bunten Kugeln, dem glitzernden<br />
Lametta, den Kringeln aus Fondant und Spritzschokolade,<br />
und die weiß-rot-beperlten standen vor meinen Augen. Ich sah<br />
mich auf der Erde liegen und mit dem Mountainexpress spielen,<br />
einem lärmenden Blechspielzeug aus Nachkriegstagen,<br />
ich sah mich später den langen Flur entlangrutschen mit dem<br />
ersten Fernlenkauto, einem Porsche, die großen Weihnachtsgeschenke<br />
der Kindheit. War gelogen, was Mutter sich von ihrer<br />
Rente absparte, und sie brauchte zwei Jahre, um sich einen<br />
neuen Mantel leisten zu können? War es gelogen, wenn uns<br />
bei der Bescherung nie die Frage gestellt wurde: Bist du auch<br />
immer artig gewesen? Erst als Helfer im Kindergottesdienst<br />
lernte ich verstehen, warum auch die ungezogenen Kinder<br />
Geschenke bekommen, trotzdem, und eben dies der Sinn der<br />
Weihnacht sei, trotzdem. War das <strong>Lüge</strong>?
Die verbitterten Worte meines Freundes hatten mich erschüttert,<br />
ohne Frage. Es war mir, als ob das feste Pflaster unter<br />
mir wankte. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>. Gibt es unter unseren<br />
Füßen denn keinen festen Grund mehr? Die Bilder von den<br />
letzten Erdbeben geisterten vor meinen Augen, die schiefstehenden<br />
Häuser, die zusammengebrochenen Gebäude, die<br />
weinenden und schreienden Menschen, die keinen festen Boden<br />
mehr unter ihren Füßen hatten. Ist das unsere Lebenswirklichkeit?<br />
<strong>Ein</strong>e Erde, die sich schüttelt, um uns loszuwerden,<br />
bodenlose Verzweiflung und hilfloses Erschrecken? Gibt<br />
es denn nichts anderes? Ich dachte an meinen Konfirmationsspruch,<br />
der mich all die Jahre enger begleitet hatte, als ich es je<br />
von einem Satz erwartete. „Fürchte dich nicht, ich habe dich<br />
erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“<br />
Später, wenn ich Grund hatte zur Angst, wenn ich mit Recht<br />
verzweifelt war, dann hörte ich diesen Satz, und ich hörte das<br />
weihnachtliche „Trotzdem“ dahinter klingen. Ich mag dich<br />
trotzdem. Ohne dieses Versprechen hätte ich mein Leben<br />
nicht durchgestanden. Das war der Boden unter meinen Füßen,<br />
eine unerschütterliche Zuversicht kam aus diesen Worten.<br />
Ohne dieses „Trotzdem“ könnte ich doch vor keinen Spiegel<br />
treten. Aber konnte man sich ernsthaft darauf verlassen?<br />
Vor dem Schaufenster des Blumengeschäftes blieb ich stehen.<br />
Tannengrün und rote Kerzen und Bänder, Amaryllis<br />
in weißer und rotglühender Pracht, silberne Kugeln spiegelten<br />
die Straße und meine Gestalt verzerrt. In der Ecke war<br />
eine Krippe aufgebaut, alles war da: Ochse und Esel, Maria<br />
und Joseph, die knienden Hirten, der Stern und die Könige<br />
auf ihren Kamelen und eben die Krippe, das kleine Kind in
dem Futtertrog. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>? Dieser kleine Mensch in dem<br />
Futtertrog, er wenigstens stand für sein Wort. Das steht fest.<br />
Er blieb bei seinem Wort, als sie ihn alle verließen, als selbst<br />
seine Freunde schliefen. Er blieb standhaft in den Verhören,<br />
er starb aufrecht am Kreuz. Auch er hatte seine Zweifel, gewiß,<br />
fühlte sich von Gott verlassen, aber er überwand diese<br />
Schwäche. Und nur weil er den festen Boden unter seinen<br />
Füßen spürte, feiern wir nach zweitausend Jahren noch dieses<br />
Fest. Auf dem Dach des kleinen Stalls schwang ein Engel<br />
ein Spruchband. Ich konnte die Schrift nicht entziffern, aber<br />
ich stellte mir vor, es stünden darauf die Versprechen, die in<br />
dieser Nacht gemacht wurden. Sind sie denn wahr geworden?<br />
Wo ist der Friede geblieben, der bei allen Menschen sein soll?<br />
Unter meinen Kinderbüchern ist auch eines von der Kriegsweihnacht<br />
1943, und noch nicht einmal diese Erinnerung verhinderte<br />
einen neuen Krieg in Europa. Der löcherige Stall, das<br />
Kind in der Krippe, der Ruf an die Hirten, all das singt das<br />
Hohe Lied der Armut. Haben wir sie besiegt? Wie viele Kinder<br />
in unserem Land feiern Weihnachten von Sozialhilfe und wie<br />
viele Kinder verhungern oder müssen ihre Körper verkaufen?<br />
In einem schwachen Kind erscheint der Herr der Welt. Aber<br />
wie viele Kinder wurden von den Herren der Welt vergast und<br />
von Tretminen verkrüppelt? Sind die vor dem Kind auf die<br />
Knie gefallenen Könige nicht auch eine <strong>Lüge</strong>? Wann werden<br />
schon einmal die Mächtigen vom Thron gestürzt? Wir warten<br />
noch immer darauf.<br />
Ich wandte mich ab von dem Schaufenster und der Krippe<br />
und lauschte in mich hinein. In mir erklangen plötzlich Weihnachtslieder,<br />
trotzdem. Das ist es eben. An diesem „Trotzdem“
liegt es. Wir feiern trotzdem Weihnachten. Auf das Wort eines<br />
Freundes muß man sich verlassen können. Er hat sein Wort gehalten,<br />
nun liegt es an uns. Er hat uns Frieden geschenkt, nun<br />
müssen wir den Frieden schließen. Er hat uns reich gemacht,<br />
nun müssen wir die Armut tilgen. Er stärkt uns den Rücken,<br />
nun müssen wir den Schwachen unsere Hand reichen. Es ist<br />
nur dann alles <strong>Lüge</strong>, wenn wir nicht die Wahrheit sagen.<br />
Ich werde ihn anrufen, meinen mutlosen Freund. Ich werde<br />
ihm dieses Wort sagen, das mein Leben beherrscht hat. Es<br />
ist nicht mein Wort. Es ist das Wort, in dem Weihnachten<br />
und Ostern zusammenfallen. Es ist Gottes Wort: „Trotzdem“.
Advent, Advent<br />
oder<br />
Das schrecklich schöne Warten auf Weihnachten<br />
Wer kennt es nicht? Jeder kennt es. Mike kennt es auch. „Advent,<br />
Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann<br />
drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür.“ Mike<br />
kennt es sogar noch anders. „Advent, Advent, ein Lichtlein<br />
brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, und wenn<br />
das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“<br />
Mike weiß nicht so ganz genau, was „verpennt“ bedeutet,<br />
aber das muß etwas Lustiges sein.<br />
Von diesem Vers hatte Mike auch seine Idee. Es war ja<br />
nicht mehr auszuhalten mit der Spannung. Zuerst lagen in<br />
Papas Zeitung Spielzeugprospekte. Die bekam immer Mike.<br />
Er konnte sie immer wieder anschauen, Bild für Bild. Und er<br />
konnte sich vorstellen, wie alle diese schönen Dinge einmal<br />
unter dem Christbaum lagen. Dann sah er immer öfter in<br />
der Werbung, heimlich natürlich, wenn Mama in der Küche<br />
war und vergaß, nach der Sesamstraße den Fernseher auszuschalten,<br />
dann sah er also in der Werbung tolles Spielzeug<br />
mit lauter lachenden Kindern. Er wollte auch lachen. Mit neuem<br />
Spielzeug gibt es keine Langeweile mehr. Bestimmt nicht.<br />
Dann kam auch noch Mama und sagte, er solle mal einen<br />
Wunschzettel malen. Malen mag Mike nicht, aber kleben. So
schnitt er aus den Prospekten alles aus, von dem er glaubte, er<br />
könne es gebrauchen. Am meisten wünschte er sich die Weltraumstation<br />
mit den Wesen von anderen Sternen. Er schnitt<br />
alles aus — gar nicht so leicht ist das, wenn man nichts abschneiden<br />
möchte — und klebte es auf einen weißen Bogen.<br />
Die Klebe war noch abends an seinen Fingern und ging ganz<br />
schwer ab.<br />
Von jetzt ab war dies Mikes liebste Frage: „Wie lange ist es<br />
noch bis Weihnachten? Wie viele Tage noch? Wie oft muß ich<br />
noch schlafen?“ Er fragte es immer wieder. Er fragte Mama<br />
und Papa, er fragte Oma und Opa, er fragte Christel im Kindergarten.<br />
„Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“ Dann<br />
gab es den Adventskalender. <strong>Ein</strong>e Tür für jeden Tag, und hinter<br />
jeder Tür war eine Leckerei. Doch erst der Adventskranz<br />
brachte ihn auf seine Idee. Jeden Morgen zündet Mama eine<br />
Kerze an. Heute morgen sogar zwei. Jede Woche eine mehr.<br />
Advent, Advent …<br />
Wenn es so ist, denkt Mike, wenn es so ist … Die Streichhölzer<br />
liegen im Bücherregal, ganz oben, aber wozu gibt es<br />
Stühle? Auf Stühle kann man klettern, dann ist man ganz<br />
groß. Das Anzünden ist gar nicht so einfach, wenn man sich<br />
nicht brennen will. Man muß sie ganz hinten anfassen, aber<br />
dann reibt es sich schlecht an der Schachtel. Aber es klappt.<br />
Die erste Kerze brennt, die zweite brennt, die dritte, er muß<br />
mit beiden Backen pusten, ih, ist das heiß, er muß noch ein<br />
neues Streichholz nehmen, die vierte brennt. Jetzt ist es soweit.<br />
Mit klopfendem Herzen geht Mike zur Tür. Aber da steht niemand<br />
davor. Erwachsene lügen. Das steht fest. Oder muß er<br />
erst noch die Türen im Adventskalender aufmachen? Das ist
auch schnell getan. Nur der Mund ist so voll mit Schokolade.<br />
Er muß sich noch etwas aufheben, sonst kann er gar nicht kauen.<br />
Aber wieder steht niemand vor der Tür. Die Erwachsenen<br />
lügen. Das muß er Mama sagen. „Ihr lügt alle. Alle lügt ihr.“<br />
Mama sieht die brennenden Kerzen und den Adventskalender<br />
mit den offenen Türen. Mike hält ihn in der Hand. „Es<br />
wird gar nicht Weihnachten“, sagt Mike. Mama versteht. „Auf<br />
Weihnachten muß man warten“, sagt Mama. „Maria hat auch<br />
gewartet, neun Monate hat sie gewartet, bevor das Christkind<br />
kam.“ „Ich will nicht warten“, sagt Mike. Jetzt hält Mama eine<br />
Rede. Wenn es schwierig wird, hält Mama immer Reden.<br />
„Auf Weihnachten muß man warten“, sagt sie. „Und das<br />
ist das schönste Warten überhaupt. Wir sitzen zusammen vor<br />
dem Adventskranz, wir essen leckere Kekse, morgen wollen<br />
wir auch welche zusammen backen, übermorgen kommt der<br />
Nikolaus, morgen mußt du schon die Schuhe rausstellen, aber<br />
sie müssen vorher noch geputzt werden, hörst du, wir erzählen<br />
uns Geschichten von Weihnachten früher, die du so gerne<br />
magst, wir reden von deinen Wünschen, nächste Woche holen<br />
wir einen Tannenbaum, wir schmücken ihn dieses Jahr zusammen,<br />
du bist ja schon groß. Und weißt du, was am schönsten<br />
ist? Wir überlegen, was wir den anderen schenken können,<br />
weil wir sie lieb haben. Hast du schon deine Geschenke<br />
für Oma Hamburg und Oma Kiel?“<br />
Mike hat sie noch nicht fertig. Er will Bilder kleben für seine<br />
Omas. Opa Hamburg kriegt zwei Hustenbonbons in Goldpapier<br />
eingewickelt. Den Opa Kiel gibt es nicht mehr. Der kriegt<br />
nichts. Mike hat etwas verstanden. Zu keiner Zeit im Jahr gibt<br />
es jeden Tag so leckere Kekse. Zu keiner Zeit im Jahr klopft
das Herz so schön, wenn die Kerzen angezündet werden, und<br />
Mama zum Kaffee ruft, zum Kaffee mit warmem Kakao. Es<br />
könnte auch sein, daß Mama etwas weniger schimpft in dieser<br />
Zeit. Sie hatte noch gar nichts gesagt zu den vier brennenden<br />
Kerzen, obwohl sie sonst immer schimpft, wenn er Streichhölzer<br />
anzünden möchte. Es gibt auch ein schönes Warten. Sonst<br />
lag er nicht jeden Abend im Bett und sah all die schönen Dinge<br />
vor sich, die er sich wünschte. Wünschen ist schön. Es wird<br />
einem dabei ganz warm in der Brust und man kann sein Herz<br />
schlagen hören. Mike sieht auf die brennenden Kerzen. Ja, so<br />
ist es. Im Dämmerlicht der Stube scheinen sie ganz hell. Das<br />
Licht erinnert ihn an den Christbaum. Wenn die Kerzen am<br />
Christbaum brannten, machte Mama immer das große Licht<br />
aus. Der Christbaum war hell genug. So ist es mit Weihnachten.<br />
Es wirft sein Licht voraus. Es strahlt auf alle Tage vorher<br />
und hinterher. Es macht alles hell.<br />
Noch immer sagte Mama nichts zu den brennenden<br />
Kerzen. Sie sagte nur: „Warten und Wünschen ist so schön.<br />
Manchmal ist es schade, wenn es soweit ist. Wollen wir nächste<br />
Woche mal in die Stadt fahren und all die Weihnachtslichter<br />
sehen?“ Da war schon wieder etwas zum Freuen. Mama ging<br />
bestimmt mit ihm in alle Spielzeugabteilungen. Es stimmte.<br />
Warten ist schön.
Adventslicht<br />
Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends durch das<br />
Fenster ins Zimmer. Die Straßenlaternen setzten goldleuchtende<br />
Kronen auf, die harten Konturen des Bettgestells und<br />
des Schrankes verschwammen zu weichen Linien, der trokkene<br />
Blumenstrauß formte sich zu einem geheimnisvollen<br />
Gespinst. Sie liebte die Stunde vor der Nacht, die wachsende<br />
Dämmerung, die das matte Grau des Tages in das beruhigende<br />
Blau der Nacht verzauberte. Das war immer die Stunde des<br />
Gespräches gewesen, damals am Küchentisch, wenn man sich<br />
näher kam, wenn die Herzen sich zu öffnen schienen, als wäre<br />
alle Härte des Tageskampfes vergessen und vergeben.<br />
Damals, als die Kinder noch klein waren, damals, als Maxl<br />
selig noch lebte, damals, als sie noch eine Familie hatte, damals,<br />
als alles gar nicht so einfach war, denn in Maxls Lohntüte<br />
war nicht immer genug drin, und es war so viel Arbeit, das<br />
Waschen, das Bügeln, das Flicken, das Nähen, und sie wußte<br />
oft nicht, was sie auf den Tisch bringen sollte, damals war<br />
das eine schöne Zeit. Auch Schweres kann schön sein, jawohl,<br />
auch wenn sie es heute nicht wahrhaben wollen, auch Schweres<br />
kann schön sein. Damals waren die Taschen so schwer<br />
nach dem <strong>Ein</strong>kauf, und alles zu Fuß, die Kartoffeln und die
Milch, was haben die für Milch getrunken damals, sie hätte<br />
sich manchmal einfach in einen Vorgarten fallen lassen und<br />
einschlafen können, einfach so einschlafen, so müde war sie<br />
gewesen, so lang waren ihr die Arme geworden vom Schleppen,<br />
aber wie war es doch schön, das nach Hause zu tragen, wovon<br />
sie leben würden, wieder einen oder zwei Tage würden leben<br />
können. Es ging ja manches Mal nur mit Anschreiben, wenn<br />
der Kaufmann es wollte, der Schlachter tat sich am schwersten<br />
damit, aber Fleisch brauchte man auch nicht jeden Tag. Heute<br />
mochte sie gar kein Fleisch mehr. Auspacken und Wegräumen<br />
— das war immer wie ein kleines Fest gewesen, als ob<br />
sie die Sachen geschenkt bekommen hätte, obwohl doch der<br />
Maxl selig schwer hat arbeiten müssen dafür, ziemlich schwer,<br />
so daß er dann verbraucht war, als es hätte schön werden können<br />
für sie beide, aber da waren dann nur noch die Kinder.<br />
Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends in ihr<br />
Zimmer. Die Kinder kamen auch nur noch selten. Kein Wunder,<br />
da sie doch ausgeflogen waren in alle Welt, kaum daß sie<br />
flügge waren. Das müßt ihr selbst wissen, hatte Maxl selig gesagt,<br />
was für euch gut ist, das müßt ihr selbst wissen, das ist<br />
euer Leben. So waren sie nun verstreut über die Welt, in München,<br />
in Berlin, in Rom und in Amerika. Nur die Irmtraut war<br />
noch in Hamburg, aber sie hatte es auch schwer genug ohne<br />
Mann und dazu die drei Kinder, der Beruf und die Sorgen um<br />
den Ältesten, der die Hand nicht von der Flasche lassen konnte<br />
und nun wohl auch noch Drogen nahm, nein, die Irmtraut<br />
hatte genug zu tun und den Kopf voll, und sie kam immerhin<br />
jede Woche, wenn auch nur kurz, aber das konnte ihr keiner<br />
verdenken. Und die Enkel — nun ja, was sollen die mit einer
alten Frau schon anfangen, die haben doch ganz andere Probleme<br />
in dieser Zeit, als eine Dämmerstunde bei einer alten<br />
Frau zu machen. Die hätten auch gar keine Ruhe dazu, der<br />
Walkman würde ihnen fehlen oder das Fernsehen.<br />
Außerdem gab es etwas, das half gegen jedes Gefühl der<br />
<strong>Ein</strong>samkeit an den langen Abenden der Weihnachtszeit. Sie<br />
wußte es und hütete es wie einen Schatz. Angefangen hatte<br />
sie damit, als die Irmi aus dem Haus war. Zuerst dacht sie,<br />
was soll so ein Quatsch, für mich allein so einen Kranz, wo<br />
doch keine Kinder mehr da sind, und so ein Kranz kostet<br />
doch schließlich Geld, und nicht wenig, und war das nicht<br />
sentimental, so allein vor einem Kranz sitzen und sich auf<br />
Weihnachten freuen? Aber dann wußte sie, das war richtig. So<br />
einen Kranz brauchte sie, und sie brauchte die Lichter, erst eines,<br />
dann zwei und dann drei und dann vier. Wenn die Lichter<br />
am Kranz entzündet waren, dann waren sie alle wieder da,<br />
die Gefährten ihres Lebens, ihre Kindheit, ihre Geschwister,<br />
ihr Bruder gefallen und die Schwester unter den Trümmern,<br />
sie waren alle wieder da. Ihre Familie, der Maxl selig, den sie<br />
vielleicht doch nicht genommen hätte, wäre der Margarinefabrikant<br />
noch da gewesen, den sie verschmäht hatte, weil<br />
Margarine doch falsche Butter war und bestimmt kein gutes<br />
Geschäft, und später hatte sie dann doch nur Margarine aufs<br />
Brot kaufen können, und die Kinder so laut und lärmend wie<br />
immer, sie waren alle wieder da. In der Vorfreude auf Weihnachten<br />
waren sie alle wieder da, wo immer sie auch waren.<br />
<strong>Ein</strong> Pastor hatte einmal gesagt, Advent hieße Ankunft, und<br />
man müsse sich freuen, daß Jeseus käme, und sie freute sich<br />
auch darüber. Denn genau das war es doch.
Wenn das Licht am Kranz brannte, dann konnte sie ganz<br />
leise für sich sagen, wofür sie so dankbar war. Für ihr Leben,<br />
für ihre Kinder, für die Enkel, und sie konnte auch sagen, was<br />
ihr Herz schwer machte, was ihr Angst bereitete, sie konnte<br />
alles vor ihm ausbreiten, dessen Ankunft das Licht ansagte.<br />
Mit dem Licht am Adventskranz konnte sie reden, wie ein<br />
Strom konnte sie reden, wie ein reißendes Wasser flossen die<br />
Gedanken aus ihrem Herzen. Das hatte sie schon am Anfang<br />
erfahren, als Irmi gerade aus dem Haus war, und das stimmte<br />
immer noch, auch wenn es nun kein Kranz mehr war, sondern<br />
nur ein Tannenzweig und eine Kerze auf dem Nachttisch.<br />
Wenn das Licht der Ankunft entzündet war, dann war<br />
sie nicht mehr allein. Dann war einer da, dem sie alles sagen<br />
konnte, der extra deshalb gekommen war, damit sie alles sagen<br />
konnte, was in ihrer Brust war, was ihr das Atmen schwer<br />
machte, dann war jemand da, der nur gekommen war, um zu<br />
hören, und dessen Gegenwart wie ein Streicheln war, wie eine<br />
warme Hand. Wäre es nicht grausam, wenn die Menschen allein<br />
wären für immer, und keiner da, dem sie ihre Sorgen vor<br />
die Füße legen könnten und ihre Freude, ihren Dank?<br />
Gleich, einen Augenblick noch, dann wird sie die Kerze<br />
anzünden, und dann wird er wieder da sein und sie wird<br />
ihm alles sagen könen, und auch sie werden wieder da sein<br />
in ihren Gedanken, all die Gefährten ihres Lebens. Wie eine<br />
wärmende Freude war es in ihrem Herzen in dieser Dämmerstunde,<br />
bevor sie das Licht entzündete. Solange die Menschen<br />
Advent und Weihnachten feiern, dachte sie, solange ist kein<br />
Mensch allein. Im Glanz des Lichtes hört einer zu.
<strong>Ein</strong> Stück vom Stern<br />
Mama sagt: „Fernsehen ist nichts für Kinder. Du sitzt viel zu<br />
lange vor dem Kasten!“ Papa sagt: „Du bekommst noch viereckige<br />
Augen! Schau in den Spiegel, zwei Ecken haben deine<br />
Augen schon!“ Tine aber denkt, ihr Käsebrot schmeckt nirgends<br />
so gut wie vor dem Fernseher. Doch heute gibt’s kein<br />
Fernsehen zum Abendbrot. Mama sagt: „Vor Weihnachten<br />
essen wir immer mit dem Kranz.“ Darum sitzen sie heute alle<br />
am Tisch und in der Mitte steht der Adventskranz. Zwei Kerzen<br />
brennen. Wenn Tine die Augen zusammenkneift, senden<br />
die Flammen Strahlen aus. Wie Sterne werden sie, sie leuchten<br />
wie Weihnachtssterne. Mama sagt: „Nun seht doch mal, wie<br />
müde unsere Kleine ist, ihr fallen schon die Augen zu!“ Tine<br />
ärgert sich: „Ich bin nicht müde. Ich sehe nur die Weihnachtssterne.“<br />
Sie verrät aber nicht, wo sie die Sterne schimmern<br />
sieht. Sie kneift weiter die Augen zu.<br />
Und dann sind plötzlich die Bilder da, die Bilder aus dem<br />
Fernsehen. Häuser sieht sie, die haben keine Dächer mehr<br />
und die Fenster sind wie tote Augen. <strong>Ein</strong> kleiner Junge läuft<br />
durch ein Zimmer, in dem nichts mehr heil ist. Der Tisch ist<br />
umgekippt, weil er nur noch drei Beine hat. Die Stühle sind<br />
zerbrochen. Überall glitzern Scherben. Der Junge hebt ein
zerrissenes Buch auf. Er blättert traurig die zerfetzten Seiten.<br />
In seiner Stadt ist Krieg. Soldaten haben das Haus kaputtgemacht.<br />
Soldaten dürfen das. Tine denkt an ihre Weihnachtsfreude.<br />
Sie wünscht sich ein Video vom König der Löwen. Der<br />
Junge wird kein Video bekommen. Bestimmt nicht.<br />
Sie sieht Kinder mit brauner Haut. Die nackten Körper zeigen<br />
alle Knochen. Sie sind so mager wie Gespenster. Sie haben<br />
ganz große Augen. Ihre Arme und Beine sind wie dürre<br />
Stöckchen. <strong>Ein</strong> Mädchen ißt mit den Fingern trockenen Reis<br />
aus einer Schale. Tine denkt an ihren Adventskalender und<br />
die leckeren Schokoladenfiguren. Das Mädchen stopft sich<br />
trockenen Reis in den Mund. Ob sie weiß, wie Schokolade<br />
schmeckt?<br />
Tine sieht auch einen alten Mann. Er deckt sich gerade mit<br />
einer schmutzigen Wolldecke zu, aber er ist nicht Zuhause.<br />
Er ist in der U-Bahn, in einem Tunnel. Menschen hasten an<br />
ihm vorbei. <strong>Ein</strong> Wächter mit Hund bleibt stehen. Er stößt den<br />
Mann mit dem Fuß an, und der Mann muß wieder aufstehen.<br />
Er sieht müde aus. Tine denkt an ihr Bett mit den Kuscheltieren.<br />
Der alte Mann hat nur eine Flasche.<br />
Jetzt muß Tine etwas wissen. Zwei Kerzen brennen am<br />
Adventskranz, zwei Weihnachtssterne. Sie kennt das Lied, das<br />
jedes Kind kennt. „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst<br />
eins, dann zwei, dann drei dann vier, dann steht das Christkind<br />
vor der Tür …“ Sie fragt: „Wenn nun Weihnachten wird,<br />
wird dann überall Weihnachten?“ „Natürlich“, sagt Mama,<br />
„Weihnachten wird auf der ganzen Welt.“ Aber Tine glaubt das<br />
nicht. Sie sieht auf die Weihnachtssterne am Adventskranz<br />
und glaubt es nicht.
Nach dem Abendessen geht sie ins Wohnzimmer. Papa<br />
macht den Fernseher an. Erwachsene bekommen keine viereckigen<br />
Augen vom Fernsehen. Tine geht zum Fenster. Sie löst<br />
vorsichtig den goldenen Stern vom Fenster, den Mama jedes<br />
Jahr vor Weihnachten an die Scheibe klebt. Aus der Küchenschublade<br />
holt sie sich die große Küchenschere. Sie schneidet<br />
den goldenen Stern in viele kleine Sternensplitter. Als Mama<br />
ins Wohnzimmer kommt, schreit sie laut auf: „Joachim, paß<br />
doch mal auf! Wenn du fernsiehst, dann siehst du nichts<br />
mehr! Sieh doch mal, was das Kind macht! Tine macht unseren<br />
Stern kaputt! Unseren schönen Weihnachtsstern!“<br />
Tine verteidigt sich: „Das ist nicht unser Stern. Das ist der<br />
Weihnachtsstern.“ „Und warum machst du den denn kaputt?“<br />
fragt Mama. Tine sagt: „Ich mache ihn nicht kaputt. Ich verteil<br />
ihn nur. Damit jeder etwas davon abbekommt.“<br />
Tine muß das erklären. Manchmal verstehen die Erwachsenen<br />
rein gar nichts. Sie erzählt von dem Jungen im kaputten<br />
Haus, von dem Mädchen mit der Schale voll trockenem Reis,<br />
von dem alten Mann, der sein Bett im U-Bahnhof machen<br />
will. Niemand beschwert sich, daß sie zuviel fernsieht. Sie beraten<br />
nun alle zusammen, wer alles etwas von dem Stern abbekommen<br />
müßte. Mama und Papa wissen ganz viele. Mama<br />
hat vorhin beim Abendbrot geflunkert. Weihnachten wird<br />
doch nicht überall. Weihnachten muß man erst überall hinbringen.<br />
Tine meint, auch Carola müsse einen Sternensplitter<br />
haben, weil sie nie von Weihnachten redet, sondern nur von<br />
der Kelly-Familie.
Fünf oder mehr<br />
Sie sind vier bei Tisch, Thomas weiß das genau, vier, keiner<br />
mehr und keiner weniger, vier: die Mama, natürlich kommt<br />
sie zuerst, obwohl sie immer zuletzt kommt, denn sie bringt<br />
ja das Essen, der Papa, Ulli und ich, vier sind das. Aber nun<br />
stehen fünf Stühle rund um den Tisch, fünf. In der Mitte auf<br />
dem Tisch steht der Adventskranz.<br />
Vier Lichter sind darauf. Thomas denkt sich: für jeden eins.<br />
Aber eigentlich weiß er, daß das die Wochen sind, die Wochen<br />
vor Weihnachten.<br />
Heute brennen zwei Lichter. Wenn alle vier brennen — Thomas<br />
mag gar nicht weiter denken, denn dann ist bald Weihnachten,<br />
und Weihnachten möchte er ganz viel Geschenke haben,<br />
riesenschlangenlang war sein Wunschzettel, ganz oben<br />
stand ein Fahrrad und ein Dino, am besten ein Tyrannosaurus<br />
Rex.<br />
Mama deckt den Tisch. Fünf Tassen stellt sie hin und fünf<br />
Kuchenteller. In der Küche schneidet sie den Honigkuchen.<br />
Ulli darf die Krümel essen und Thomas die Mandeln. Thomas<br />
mag Mandeln. Am liebsten nähme er auch welche aus der<br />
Mitte der Kuchenstücke, aber Mama sieht immer hin, und auf<br />
jedem Stück ist nur eine drauf. Mama rückt den Adventskranz
zur Seite, ganz nahe an das fünfte Gedeck, die Tasse und den<br />
Kuchenteller.<br />
Nun sitzen sie alle am Tisch, die Mama, aber sie steht noch<br />
und gießt Kaffee ein und warme Schokolade, der Papa, der<br />
Thomas und Ulli. Papa muß auch noch mal aufstehen und<br />
holt sein Feuerzeug. Doch er will nicht rauchen, was so stinkt,<br />
sondern zündet die Kerzen an. Thomas und Ulli zählen mit:<br />
eins, zwei. Bald ist Weihnachten. Zwei Wochen noch und zwei<br />
Tage, sagt Papa. Sie fangen an zu essen.<br />
Thomas schaut immer zum fünften Stuhl hinter dem Adventskranz.<br />
„Kommt noch einer?“ fragt er endlich, als er den<br />
Mund leer gekaut hat. Er greift nach dem zweiten Stück Honigkuchen.<br />
Mama blickt Thomas an und lacht. „Darf denn noch<br />
jemand kommen?“ fragt sie. Thomas sieht auf seinen Teller<br />
und auf die Kuchenplatte in der Mitte. „Ist noch Kakao da?“<br />
fragt Ulli und hält seinen Becher hoch. Mama gießt ein. Es ist<br />
noch genug warme Schokolade da. Thomas sieht auf den Honigkuchen<br />
und denkt an die Mandeln, die so weiß glänzend<br />
leuchten. Eigentlich … , denkt er, und es tut ihm nur um die<br />
Mandeln leid.<br />
„Ja“, sagt Thomas dann, „es ist ja noch genug da.“<br />
„Ihr meint also, wir haben noch Platz?“ fragt Mama.<br />
Ulli schaut sich um und nickt.<br />
„Es könnte also noch einer kommen?“ sagt Mama, und sie<br />
erzählt den Kindern eine Geschichte:<br />
„Wißt ihr, Freitag beim <strong>Ein</strong>kaufen, da war ich bei der Pro.<br />
Neben dem Parkplatz steht doch die Mauer, auf der Ulli immer<br />
balancieren will, und ich soll ihn immer hochheben,<br />
obwohl mir der Rücken weh tut. Auf diese Mauer hat jemand
geschrieben in so großen Buchstaben: Ausländer raus! In Rot<br />
steht das da, in riesigen roten Buchstaben: Ausländer raus!<br />
Und da hab’ ich mir gedacht, wir feiern doch jetzt Advent. Wir<br />
freuen uns, daß jemand kommt, wir zünden Kerzen an und<br />
warten auf Weihnachten, wo Jesus geboren wurde. Da können<br />
wir doch nicht sagen: Ausländer raus! Jesus war doch auch<br />
Ausländer, und da hab’ ich gedacht, wo vier satt werden, da<br />
werden auch fünf satt, und ich wollte nun mal sehen, ob ihr<br />
das auch meint.“<br />
Thomas sieht auf den Kuchenberg und nickt. Ulli möchte<br />
noch eine Tasse Kakao.<br />
„Und wann kommt er denn, dein Ausländer?“ fragt Papa.<br />
„So schnell habe ich keinen gefunden“, entschuldigt sich<br />
Mama, „so viele gibt’s ja gar nicht bei uns, und ich wollte erst<br />
mal sehen, ob wir denn auch Platz haben für ihn.“ Mama<br />
macht eine Pause. „Das ist das wichtigste“, sagt sie dann, „daß<br />
wir Platz haben.“<br />
Thomas und Ulli freuen sich auf den Besuch, aber Thomas<br />
will nachher in der Küche noch schnell die Mandeln vom Kuchen<br />
abpuhlen, denn ein Ausländer weiß ja nicht, daß Mandeln<br />
auf den Honigkuchen gehören, oder? Auf jeden Fall: Zu<br />
Weihnachten, wenn Jesus geboren wird, werden sie fünf sein<br />
oder mehr, und sie freuen sich darauf.
Warum der Nikolaus nur<br />
zu den Kindern kommt<br />
Das ist jedes Jahr so. Wenn Niki die erste Tür in ihrem Adventskalender<br />
öffnet, dann möchte sie springen, singen, tanzen,<br />
lachen und weinen zugleich. Ihr Herz klopft ganz laut und<br />
im Bauch kribbelt es. Die Weihnachtsfreude wächst in ihrem<br />
Bauch, sie wächst so schnell, daß Niki kaum noch Luft bekommt.<br />
Und Niki läuft zum Schuhschrank und holt die größten<br />
Schneestiefel hervor, um sie zu putzen. Denn nun bald,<br />
bald ist Nikolaus. Schade, daß sie nicht Vatis Stiefel nehmen<br />
darf, da geht doch viel mehr rein! Und Vati braucht die Stiefel<br />
doch gar nicht. Kein Vater stellt seinen Stiefel ans Fenster zum<br />
Nikolaustag und keine Mutter. Der Nikolaus kommt zu den<br />
Kindern. Niki sitzt vor dem Schuhschrank und denkt nach.<br />
Warum eigentlich kommt der Nikolaus nicht zu den Großen?<br />
Warum stellt kein Großer seine Stiefel vor’s Fenster?<br />
Eigentlich möchte Niki gerne groß sein. Dann kann sie die<br />
„Schwarzwaldklinik“ sehen und die „Lindenstraße“. Große<br />
dürfen immer fernsehen. Und sonnabends gäbe es dann<br />
„Sesamstraße“ und nicht so eine langweilige Sportschau mit<br />
Fußball. Und außerdem gäbe es dann nur das zum Mittag,<br />
was Niki auch mag, nicht Suppe und so etwas mit Dingern<br />
drin. Die Großen mögen immer alles, was es gibt. Niki nicht.
Außerdem mögen die Großen abends allein im Haus sein.<br />
Niki nicht. Niki wäre eigentlich gerne groß. Eigentlich. Aber<br />
über die Sache mit dem Nikolaus muß sie noch nachdenken.<br />
Warum stellen die Großen keine Schuhe raus?<br />
Wenn man etwas wissen will, muß man fragen. Also fragt<br />
Niki; Niki fragt Frau Kluge im Kindergarten. Frau Kluge weiß<br />
fast alles. Frau Kluge nimmt Niki bei der Hand und geht mit<br />
ihr auf den Flur. Vor einem Bild bleibt sie stehen. Niki will es<br />
genauer sehen. Frau Kluge nimmt sie auf den Arm, und da ist<br />
es weich und gemütlich.<br />
Auf dem Bild sieht Niki ein Kind. Das Kind ist fast ganz<br />
nackt und guckt sehr traurig. Das Kind ist auch ganz dünn.<br />
Niki sieht alle Knochen.<br />
„Hat das Kinder Hunger?“ fragt Niki.<br />
„Ja“, sagt Frau Kluge, „das Kind hat Hunger. Viele Kinder<br />
haben Hunger in der Welt. Sie brauchen Brot.“<br />
„Warum kriegt es denn kein Brot?“ fragt Niki.<br />
„Weil die Großen ihm nichts geben“, sagt Frau Kluge. „Und<br />
solange Kinder Hunger haben, Niki, so lange dürfen die Großen<br />
keine Stiefel ans Fenster stellen!“<br />
Als Niki nach Hause kommt, ist Mama ganz aufgeregt und<br />
traurig. In der Stresemannallee, fast vor Nikis Haus, ist ein<br />
Kind überfahren worden.<br />
„Paß bloß auf“, sagt Mama, „paß bloß auf! Die Straße ist so<br />
gefährlich. Die Autos fahren so schnell. Du darfst nur bei der<br />
Ampel gehen! Hörst du, nur bei der Ampel!“<br />
Ganz laut redet Mama, und Niki merkt, Mama hat Angst.<br />
Und Niki denkt, so lange die Autos so schnell fahren und<br />
Kinder übergefahren werden, so lange dürfen die Großen
estimmt keine Stiefel rausstellen zum Nikolaus. Niki findet<br />
es gemein, wenn die Autos so schnell fahren und nicht halten,<br />
wenn da Kinder sind.<br />
Nachmittags kommt Oma. Oma kommt oft zu Weihnachten.<br />
Niki mag das. Mit Oma kann sie so gut reden, weil Oma<br />
immer Zeit hat. Niki sagt Oma, daß sie ihr leid tut, weil sie<br />
keine Schuhe rausstellen darf.<br />
„Bist du traurig“, fragt Niki, „weil du nichts zum Nikolaus<br />
kriegst?“<br />
Aber Oma ist nicht traurig. Und als Niki ihr erzählt, warum<br />
die Großen keine Schuhe ans Fenster stellen dürfen, da<br />
sagt Oma: „Ja, das ist so, aber es wird nicht immer so sein.<br />
Irgendwann, Niki, stellen auch die Großen ihre Schuhe wieder<br />
ins Fenster. Dann nämlich werden keine Kinder mehr<br />
überfahren und alle Kinder kriegen Brot. Irgendwann, das<br />
hat Jesus versprochen, werden wir Großen wieder mit euch<br />
Kindern zusammen die Stiefel rausstellen. Ich freu mich darauf.<br />
Weißt du, Niki, Jesus ist nämlich ein Freund der Kinder.<br />
Und wenn wir Großen auch Freunde der Kinder sind, wenn<br />
wir allen Kindern in der Welt genug zu essen geben, wenn wir<br />
unsere Autos langsam fahren, dann dürfen wir uns mit ihnen<br />
freuen. Das hat er uns versprochen.“<br />
Niki findet das in Ordnung und sie mag Jesus. Sie stellt<br />
ihre Schneestiefel auf das Fensterbrett und kann gar nicht<br />
einschlafen, weil sie sich so freut.
Vier Wochen Zeit zum Vertragen<br />
Sophie hat Christian gezeigt, wann Weihnachten ist. Du<br />
nimmst einen Kalender, sagt Sophie, da gibt es für jeden Tag<br />
ein Blatt. Wenn der Tag vorbei ist, dann reißt du das Blatt ab,<br />
und der nächste Tag fängt an. Und schau mal da, wenn hier<br />
eine 2 und eine 4 steht, 24, weißt du, dann ist Weihnachten.<br />
Christian mag Weihnachten. Zu Weihnachten wünscht er<br />
sich den Zoo von Playmobil mit Nilpferden und Büffeln. Und<br />
mit Krokodilen, die haben nämlich ganz viel Zähne und können<br />
sogar Menschen fressen. Vielleicht auch Schwestern wie<br />
Sophie, die immer alles wissen.<br />
Nun sitzt Christian in seinem Zimmer und will, daß nun<br />
Weihnachten ist. Den Kalender hat er sich aus der Küche geholt.<br />
Mit einem Hocker kommt er da schon dran. Er möchte<br />
nicht mehr warten auf den Zoo. Und das Krokodil.<br />
Christian zupft Blatt um Blatt von Kalender. Wie Schneeflocken<br />
fallen sie rund um ihn zu Boden. <strong>Ein</strong>s zwei drei … ,<br />
zehn, elf, zwölf … , zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig,<br />
dreiundzwanzig. Nun ist Weihnachten.<br />
Heute ist Weihnachten. Aber Papa geht zur Arbeit. Er zieht<br />
die alte Hose an und nimmt seine Werkzeugtasche und geht<br />
aus der Tür.
Heute ist Weihnachten, aber Mama nimmt die Gardinen<br />
ab und geht in den Keller zur Waschmaschine. Zieh dich an,<br />
ruft sie noch, du mußt in den Kindergarten!<br />
Heute ist Weihnachten, aber es gibt Müsli zum Frühstück<br />
und keine Kekse, Haferflockenmüsli mit Milch.<br />
Christian schleicht ins Wohnzimmer. Bei dem Fenster<br />
steht die alte Leiter. Kein Tannenbaum mit Kringeln und bunten<br />
Kugeln und dem goldenen Stern obendrauf. Nur die Leiter.<br />
Heute ist Weihnachten und da steht nur die alte Leiter vom<br />
Gardinenabnehmen.<br />
Es liegen auch keine Geschenke unter dem Baum, der nicht<br />
da ist. Da liegen nur seine Legosteine von gestern unter der<br />
Leiter, und Mama hat sie zusammengeschoben und sie wird<br />
gleich sagen: Räum deine Sachen weg! Du hast doch eine Spielkiste!<br />
Heute ist Weihnachten und es gibt keine Geschenke!<br />
Auf dem Wohnzimmerschrank stand zu Weihnachten<br />
doch immer der Stall mit den Hirten, den Schafen und den<br />
Ochsen mit den großen Hörnern. In den Stall konnte man<br />
hineinsehen, da war eine kleine Krippe drin mit einem winzigen<br />
Baby und das trug eine Krone. Und Maria und Joseph, die<br />
Eltern des Königskindes, standen davor und staunten, und Joseph<br />
hatte einen schwarzen Bart und schielte, die Maria aber<br />
war wunderschön mit einem blauen Mantel und Strahlen um<br />
den Kopf. Über dem allen schwebte ein Engel, aber in Wirklichkeit<br />
hing er an einem Faden, der zwischen die Bücher im<br />
Regal geklemmt war.<br />
Aber es gab keinen Stall auf dem Wohnzimmerschrank. Da<br />
lagen nur Papas Sportzeitungen. Papa darf immer alles liegenlassen.<br />
Heute war doch Weihnachten, oder?
Sophie ist dumm. Auf dem Kalender steht die 24, und es ist<br />
gar nicht Weihnachten.<br />
Christian überlegt. Also, zuerst einmal muß die Leiter da<br />
weg und dann muß der Stall mit dem Kind da stehen und ein<br />
Christbaum muß mit vielen Kerzen leuchten. Papa und Mama<br />
müssen auf der Couch sitzen und sich freuen, bunte Teller mit<br />
Keksen und Schokolade müssen auf dem Tisch stehen, dann<br />
erst ist Weihnachten.<br />
Als Mama aus dem Keller kommt, fragt Christian: „Mama,<br />
wann ist denn endlich Weihnachten?“ Mama muß auch nachdenken.<br />
Dann sagt sie: „Weihnachten? Weihnachten feiern<br />
wir erst, wenn du dich mit Sophie vertragen hast, denn Weihnachten<br />
ist das Fest des Friedens. Deswegen wurde doch das<br />
Kind geboren, damit die Menschen sich vertragen.“<br />
Christian erschrickt: „Aber, aber … ich will mich nicht<br />
mit Sophie vertragen. Sie läßt mich nie in ihr Zimmer und sie<br />
nimmt sich immer meine Kassetten ohne mich zu fragen.“<br />
„Du hast auch noch vier Wochen Zeit“, sagt Mama, „vier<br />
Wochen feiern wir Advent vor Weihnachten. Das ist lange genug,<br />
um sich zu vertragen.“<br />
Christian weiß nicht, ob das reicht. Er muß sich auch noch<br />
mit Tobias im Kindergarten vertragen und mit Jochen, der<br />
ihn immer umschubst beim Fußballspielen.
Mareille sucht Weihnachten<br />
und findet es auch<br />
Bald ist Weihnachten. Oma hat’s gesagt. Mutti hat’s gesagt.<br />
Vati hat’s gesagt. Bald ist Weihnachten. Und sie haben die<br />
erste Kerze angezündet am Adventskranz. Aber Mareille<br />
merkt gar nichts von Weihnachten. Mutti schimpft über die<br />
Unordnung im Kinderzimmer. Vati ist abends immer unterwegs.<br />
Niemand hat Zeit, niemand will mit ihr spielen. Da beschließt<br />
Mareille, Weihnachten zu suchen. Denn Warten ist<br />
langweilig, wenn niemand Zeit hat und mit ihr spielen will<br />
und Mutti schimpft. Wenn alle sagen: Bald ist Weihnachten,<br />
dann will Mareille Weihnachten suchen, und sie will es herbeiholen,<br />
denn Weihnachten ist schön. Da haben alle Zeit und<br />
Lust zum Spielen und niemand schimpft.<br />
Zuerst sucht Mareille in allen Zimmern zu Hause. Aber<br />
im Wohnzimmer baut Vati noch ein Regal für Weihnachten,<br />
in der Küche backt Mutti noch Kuchen für Weihnachten<br />
und sagt: „Steh nicht im Weg!“ und im Schlafzimmer fehlen<br />
die Gardinen, die sind in der Wäsche für Weihnachten, und<br />
in ihrem Kinderzimmer kann Weihnachten auch nicht sein,<br />
weil es da so unordentlich ist, und Oma hat gesagt, in solcher<br />
Unordnung wird nie Weihnachten. Nein, zu Hause ist Weihnachten<br />
nicht.
Mareille nimmt ihr Fahrrad und fährt los. Der Regen stört<br />
sie nicht, auch wenn ihre Hosenbeine ganz kalt und naß werden.<br />
Sie sucht Weihnachten. Dort, wo die Lichter sind, dort<br />
muß es sein. Lichterketten, Tannenbäume, Engelbabys, Sternenlicht,<br />
dort ist Weihnachten. Es riecht auch schon so nach<br />
Lebkuchen und Süßigkeiten, und Spielzeug ist in den Schaufenstern<br />
und Weihnachtslieder sind zu hören.<br />
Mareille muß ihr Fahrrad schieben. Lauter nasse Mäntel<br />
drängeln sich um Mareille herum. Mareille wird geschubst<br />
und ein Mann schimpft. Er hat sich an ihrem Fahrrad gestoßen.<br />
Mareille will den Mann fragen, der an seinem Stand Kerzen verkauft,<br />
große und kleine, dicke und bunte. Wo ist Weihnachten,<br />
will sie fragen, aber der Mann sagt nur: „Geh mal weg da, Kleine,<br />
laß die Leute ran!“ Mareille merkt: hier ist Weihnachten nicht.<br />
Da schiebt sie weiter ihr Fahrrad durch die eiligen Beine<br />
und sieht den Weihnachtsmann. <strong>Ein</strong>en langen weißen Bart<br />
hat er und einen großen Sack. Ob darin wohl Weihnachten<br />
ist? Er hält ein Kind auf dem Arm. Mareille zupft an seinem<br />
nassen roten Mantel. „Hast du Weihnachten in deinem Sack?“<br />
will sie fragen. Aber der Weihnachtsmann reißt ihr nur den<br />
nassen Mantelzipfel aus der Hand. Er wird jetzt fotografiert.<br />
Und er nimmt das nächste Kind auf den Arm und das nächste,<br />
aber Mareille nie, nie Mareille. Mit jedem Kind wird er<br />
geknipst. Und dann klappt der Weihnachtsmann sein Gesicht<br />
hoch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Da weiß<br />
Mareille: der hat Weihnachten auch nicht. Er ist blaß und<br />
müde und lächelt gar nicht.<br />
Traurig macht Mareille sich wieder auf die Suche. Im Wartehaus<br />
an der Bushaltestelle will Mareille sich ausruhen. Da
kann sie sich hinsetzen und ihr Rad anlehnen. Da ist es nur<br />
noch kalt, aber nicht mehr naß. Auf der Bank im Wartehaus<br />
sitzt eine alte Frau, sie ist so alt, daß ihr Kopf schon wackelt.<br />
Oder sie friert, denkt Mareille.<br />
„Ja, setz dich, Kind“, sagt die alte Frau, „setz dich. Du bist ja<br />
ganz durchgefroren“, sagt sie, „setz dich zu mir.“<br />
Mareille rückt an die alte Frau heran. Die kramt in ihrer<br />
riesigen Ledertasche und knistert mit einer Tüte. Und dann<br />
reicht sie Mareille einen braunen Kuchen hin. An ihrer Nase<br />
hängt ein silberner Tropfen. Zusammen essen sie braune Kuchen,<br />
die beiden, die Alte und die Junge.<br />
„So war es wohl auch in dem Stall“, sagt die alte Frau, „weißt<br />
du, damals mit Maria.“ Mareille kaut und nickt.<br />
„Aber das Kind hatte es warm“, sagt Mareille, als ihr Mund<br />
leer ist. „Ja, das Kind hatte es warm“, wiederholt die alte Frau,<br />
„nur die Mütter frieren.“<br />
Und die alte Frau erzählt von dem Stall und den Hirten,<br />
von dem Kind und dem Stern und dem Frieden. Mareille sitzt<br />
gar nicht mehr in dem Wartehaus an der Bushaltestelle. Sie<br />
sitzt jetzt mitten in dem Stall und das Kind ist da, und die<br />
Leute mit den Schirmen sind wie die Hirten, und mit einem<br />
Mal ist alle Traurigkeit weg und Mareille weiß: dies ist Weihnachten.<br />
Sie hat es gefunden.<br />
Als sie nach Hause kam, hat sie es allen erzählt, wie sie<br />
Weihnachten gefunden hat: den Stall, die Hirten, Maria, das<br />
Kind, und daß Weihnachten ist wie eine alte Frau und wie<br />
eine große Ruhe. Aber niemand hat es ihr geglaubt.
Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren<br />
Das Volk, das noch im Finstern wandelt<br />
Als sie die dritte Kerze anzündete, zitterte leicht ihre Hand.<br />
Macht nichts, dachte sie, mit fünfundsiebzig darf eine Hand<br />
zittern. Drei Kerzen, dachte sie, bald ist es wieder soweit. Sie<br />
mochte diese Zeit vor dem großen Fest, sie hatte sie immer<br />
gemocht. Sie mochte auch Weihnachten, auch wenn die anderen<br />
ihr immer weismachen wollten, das wäre nichts besonderes,<br />
sondern eben auch nur ein Fest, an dem man allein<br />
bleibt. Sie aber hatte Weihnachten immer gefeiert, sogar in<br />
den schlimmsten Zeiten. Sie sah die drei Flammen, die sich<br />
aufgerichtet hatten und ihren Schein verschwendeten. Fünfundsiebzig<br />
bin ich nun, und drei Kerzen sind es, eine für fünfundzwanzig<br />
Jahre. Immer eine für ein Drittel meines Lebens.<br />
Was waren das für Zeiten gewesen, in denen sie mit fast<br />
heiliger Scheu die Kerzen des Kranzes entzündet hatte. Seit<br />
damals ihre Mutter ihr die Streichhölzer in die Hand gegeben<br />
hatte, ließ sie es sich nie nehmen, die Adventskerzen zu<br />
entzünden. Ihre Mutter, die magere, immer ein wenig müde<br />
Frau, die ihr viertes und fünftes und sechstes hatte wegmachen<br />
lassen von der Engelmacherin in Altona in der Bürgerstraße,<br />
sie hatte es schwer gehabt in schwerer Zeit. Golden waren<br />
diese Jahre für andere, nicht für die, die ihre Männer bei
Johannsens von der Theke holen mußten, am Freitag. Golden<br />
waren sie für die, deren Männer nicht nach dem Stempeln<br />
einer Fahne hinterherliefen und ihre Wunden mit Bier begossen.<br />
Golden waren sie für andere, die nicht mit schmerzendem<br />
Rücken über der Ruffel standen und im schwelenden Dampf<br />
des Waschkessels die Wäsche wrangen. Sie mußte schon früh<br />
der Mutter helfen, nicht nur beim Anzünden der Kerzen, sondern<br />
beim Kohlentragen und Brikettstapeln, an der Mangel<br />
und am heißen Herd. Wenn sie nicht in der Schule war oder<br />
bei den Jungmädels, dann mußte sie ran. Sie schämte sich so<br />
ihrer roten Hände, als sie zum Tanzen ging, aber der nette<br />
Schwarzhaarige störte sich nicht daran. Aber er wollte ihr<br />
seine Adresse nicht geben. Es ist nicht gut, wenn du das weißt,<br />
sagte er, ich bin nämlich Jude. Da ist sie nicht mehr zu den<br />
Jungmädels gegangen, weil ihr so einiges klar wurde, und sie<br />
mußte noch öfter ihrer Mutter zur Hand gehen. Wie schön,<br />
sagte ihre Mutter, daß sie dir nicht mehr den Kopf verdrehen.<br />
Man darf die Hoffnung nie aufgeben. Aber ihre Überzeugung<br />
hatte ihrer Mutter nicht geholfen, als die Engländer<br />
die Bomben warfen, sie warfen sie einfach auf alle. Man darf<br />
die Hoffnung nie aufgeben, das war es, was sie nie vergaß. Die<br />
Adventszeit war so eine Zeit der Hoffnung, die man nicht aufgeben<br />
darf. Der Friede wird kommen, er wird kommen für<br />
alle, dachte sie auch in den schrecklichen Adventszeiten; als<br />
sie ihre Mutter so sehr vermißte, hielt sie diesen Gedanken<br />
fest und entzündete die Kerzen mit fast heiliger Scheu.<br />
Das Tannengrün für den ersten Adventskranz im Frieden<br />
hatte sie aus dem Volkspark mitgenommen. Sie mußte einfach<br />
einen Kranz haben, einen Kranz für die Hoffnung. Und
dann ging es auch bergauf. Das Wohnungsamt schickte ihr<br />
den Günther ins Haus, und das war das einzige Mal, daß sie<br />
einem Amt dankbar war. Auch wenn Günther nur ein Bein<br />
hatte, das andere lag in Rußland unter dem Schnee, auch<br />
wenn er hin und wieder trinken mußte gegen die Gespenster<br />
aus diesem Krieg, sie war dankbar, daß es ihn gab. Aber die<br />
Kinder mußte sie großziehen, und es war wirklich ein schwieriges<br />
Ziehen. Zwei Hände hat mit der liebe Gott gegeben, aber<br />
es sind doch drei Kinder, sagte sie manchmal, ich glaube, er<br />
kann nicht zählen. Als die Kinder endlich aus dem Gröbsten<br />
heraus waren, als sie einmal verreisen wollten, es sich gut sein<br />
lassen wollten, da fand ihr lieber Günther eine andere, und<br />
war weg von einem Tag zum anderen. Man darf die Hoffnung<br />
nicht aufgeben, dachte sie damals, einmal kommt die Zeit,<br />
in der alle satt werden, und sie nahm die Putzstelle an auf<br />
dem Flughafen, wo die anderen in den Urlaub flogen. <strong>Ein</strong>mal<br />
glaubte sie, auch ihren Günther zu sehen, sehr vornehm im<br />
dunkelblauen Dufflecoat von Ladage und Oelke und lauter<br />
hellen schweinsledernen Koffern, aber sie kann sich auch getäuscht<br />
haben, es ging alles so schnell und sie mußte noch die<br />
Treppe machen bis morgens um sechs.<br />
Als sie fünfzig war, saß sie zum ersten Mal wieder allein<br />
vor dem Adventskranz. Nun war der Jüngste auch ausgezogen.<br />
Aber sie ließ sich den Kranz nicht nehmen. <strong>Ein</strong> Zeichen<br />
der Hoffnung braucht der Mensch. Es wird eine Zeit kommen,<br />
in der niemand mehr allein ist, das wußte sie mit Bestimmtheit.<br />
Das Kind war nicht umsonst geboren worden. Zumindest<br />
ihr hatte es immer geholfen. Die Leute sagen immer: Die<br />
Alten werden fromm. Aber sie war es immer gewesen, eben
auf ihre Art. Und wenn es auch fast nur in dieser Zeit war,<br />
vor Weihnachten im Advent, aber es machte sie stark für das<br />
ganze Jahr. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.<br />
Das hatte sie auch nie getan. Sie war es, die zu Fischscholz<br />
ging und bettelte, weil sie doch etwas zu essen brauchten. Der<br />
Scholz gab ihr die Schellfischköpfe und sie kochte Suppe darauf.<br />
Nach dem Krieg bekam sie den Lebertran von der alten<br />
Kaasbohm unten im Haus, die immer so nach Fisch roch. Ich<br />
glaube, sie trinkt den Lebertran wie andere Bier, sagte sie, aber<br />
sie hatte etwas für ihre Kleinen. Man darf die Hoffnung nicht<br />
aufgeben. Sie dachte an die langen Nächte voller Tränen, als<br />
der Günther weg war, und die Kinder durften nichts hören,<br />
denn sie vertrauten ihr doch. Ihre Nachbarin war es, die mit<br />
einem Wermut zu ihr rüberkam und sagte, Sie schaffen das<br />
schon, Sie schaffen das auch allein. Das war zu Weihnachten<br />
gewesen, an diesem schrecklichen ersten Weihnachten, als sie<br />
immer daran dachte, wie Günther mit der anderen feierte. So<br />
hatte sie es auch durchgestanden, als sie ganz allein war im<br />
Advent, und dachte, es ist ganz gleich, ob ich tot umfalle oder<br />
nicht, ob ich einschlafe und der Kranz brennt ab und ich mit<br />
ihm, wen kümmert es schon. Da klingelte das Telefon und die<br />
Große war dran und sagte, es werde ein Kind geboren, wenn<br />
sie nichts dagegen täte, denn es wäre doch viel zu früh, und sie<br />
wollte doch ihren Doktor machen und außerdem hätten sie<br />
sich gerade die Wohnung gekauft. Da war sie ganz glücklich<br />
und sagte, das wäre doch ein schönes Weihnachtsgeschenk,<br />
das schönste, das sie sich denken könnte, und sie solle nur<br />
ihren Doktor machen, wozu gäbe es denn Großmütter in der<br />
Welt, denen die Männer weggelaufen sind.
Nein, die Hoffnung muß man festhalten. Und es ist schön,<br />
daß es eine Zeit dafür gibt im Jahr, die alle daran erinnert.<br />
Sie saß vor den drei Kerzen, sah in das goldene Licht und<br />
dachte: Lichter der Hoffnung sind das, alle drei. Und die Zeit<br />
wird kommen, hat sie ihrer Enkelin neulich erzählt, der ältesten,<br />
die sie damals so lange bei sich gehabt hatte, damit die<br />
Tochter den Doktor machen konnte. Schön hört sich das an,<br />
Dr. Homeyer, und der Doktor ist eine Frau. Die Zeit wird<br />
kommen, hat sie ihr erzählt, in der die Menschen vernünftig<br />
werden und alle Waffen im den tiefsten Stollen eines Bergwerks<br />
versenken, und dann werden sie keine schlimmen Versuche<br />
machen mit grausamer Strahlenkraft, und sie werden<br />
Wale und Haie zu ihren Geschwistern zählen, und die Wälder<br />
werden gesunden und wachsen, du wirst es sehen. Gott hat<br />
diese Welt nicht aufgegeben, hatte sie gesagt, und die Anja<br />
hatte gerufen: Du wirst ja fromm, Oma, du bist süß, und hat<br />
sie geküßt.<br />
Es ist schon eine arge Zeit, dachte sie, wenn die Hoffnung<br />
in der Hand der alten Leute liegt. Aber vielleicht müssen sie<br />
nur häufiger mit den Jungen reden und mit ihnen Advent feiern,<br />
damit sie es auch wieder lernen, daß man die Hoffnung<br />
nicht aufgeben darf.
<strong>Ein</strong>e Frau steigt aus<br />
Eigentlich ist dies ein günstiges Jahr. Das war ihr erster Gedanke<br />
gewesen, als Weihnachten nach den Herbstferien der<br />
Kinder in ihren Blick geriet. Sechs Tage nach dem vierten Advent,<br />
bevor es Heiligabend wird. Das war ein Gefühl von ganz<br />
viel Zeit. Ganz viel Zeit ist ein schönes Gefühl, wenn ständig<br />
zwei Kinder durch die Stadt zu kutschieren sind und eine alte<br />
Mutter jeden Tag besucht und bekocht werden muß, weil sie<br />
nicht mehr laufen kann mit ihren offenen Beinen. Sechs Tage<br />
noch.<br />
Morgen wird sie erstmal Fenster putzen. Man kann ja<br />
kaum noch rauskucken, die Tage sind sowieso so dunkel. Was<br />
in einer Stadt alles für Dreck in der Luft ist, es regnet nicht<br />
weiches Wasser, Brühe regnet es. Im Grunde müßte sie alle<br />
drei Wochen fensterputzen. Dienstag will sie das Wohnzimmer<br />
umräumen, es muß ja Platz da sein für den Tannenbaum.<br />
Hoffentlich hat er diesmal Zeit, den Baum zu holen. Letztes<br />
Jahr war das eine schöne Schinderei, alles zu Fuß, das Auto<br />
hatte er mit im Betrieb, und der kleine Stand in der Nähe war<br />
nicht mehr da, sie mußte bis zum Markt laufen. Nur Till hatte<br />
ihr geholfen, nun ist er ja doch schon groß. Seine Oberlippe<br />
schimmert schon dunkel. Mittwoch kommen die Gardinen
dran, waschen, naß aufhängen, hoffentlich werden ihr die<br />
Arme nicht wieder so lahm. Donnerstag will sie die Gans holen<br />
und all das andere. Vielleicht ist es dann noch nicht so<br />
voll. Diese Fresserei zum Fest ist fürchterlich. Freitag wollte<br />
sie backen und den Rotkohl kochen. Wenn der schmecken<br />
soll, dann muß er aufgewärmt werden.<br />
Als sie sich dies alles zurechtlegte, sah sie sich von riesigen<br />
Mauern umgeben, wie ein tiefer trockener Brunnen kam es<br />
ihr vor, sie war ein kleines Mädchen, das auf dem Grunde saß,<br />
rings um sich die himmelhohen Mauern, nur hoch oben ein<br />
kleiner Lichtfunken. Wie kalter Schweiß lag es auf ihrer Stirn,<br />
und Hitzewellen stiegen in ihr auf. Wer hatte sie in diese Tiefe<br />
verbannt? Warum wurde es nicht auch für sie Weihnachten?<br />
Warum gehörte Weihnachten nur den anderen? Da war ein<br />
Erinnern in ihr, an die schönen Tage, als sie selbst noch ein<br />
Kind war, als ihr Herz vor Aufregung schneller schlug, als sie<br />
sich an den Kachelofen schmiegte und schmökerte, alles um<br />
sie herum versank, alles war nur noch schön und gemütlich.<br />
Weihnachten, ein Zauberwort, eine Erlösung aus den diesigdunklen<br />
Alltagen. All das war so weit fort, so weit wie der<br />
Lichtfunke da oben, nahe waren nur die kalten nassen Wände<br />
ihres Gefängnisses.<br />
Nein. So nicht. Auch wenn es keine Sprossen und Stufen<br />
gab, sie wollte hinaus. Sie wollte sich ein Stück von Weihnachten<br />
zurückerobern. „Nein!“ sagte sie so laut, daß er von seiner<br />
Sportschau hoch sah. „Nein! Was ist Nein?“ fragte er und sah<br />
beunruhigt aus. Sie mußte innerlich lachen. Aber sie verzog<br />
keine Miene. Er sah aus, als wäre ihm ein Teller heruntergefallen<br />
und zersprungen. Dabei wußte er noch gar nichts von
seinem Glück. So gut verstanden sie sich immerhin noch nach<br />
all den Jahren.<br />
„Ich mache nicht mehr mit“, sagte sie fest und bestimmt.<br />
„Was machst du nicht mehr mit?“ Er hatte ein schlechtes<br />
Gewissen. Sie sah es ihm an. „All dieses Hetzen und Jagen<br />
vor den Tagen“, sagte sie. „Morgen gehe ich in die Stadt und<br />
schaue mir in aller Ruhe die Lichter an. Ich will Kaffeetrinken<br />
und den Leuten zusehen, wie sie durch die Geschäfte hasten.<br />
Übermorgen treffe ich Christiane, ich rufe nachher an, ob sie<br />
Zeit hat. Mittwoch gehe ich zum Frisör. Donnerstag könnte<br />
ich ins Kino gehen. Du hast ja doch keine Lust. Ich war schon<br />
so lange nicht mehr im Kino, ich weiß gar nicht mehr, ob man<br />
im Kino klatscht, wenn es einem gefällt. Freitag will ich mal<br />
in aller Ruhe Briefe schreiben. Du weißt, ich schreibe so gerne,<br />
aber ich bin abends immer so müde. Ich brauche Zeit für so<br />
etwas.“<br />
Sie sah es ihm an, wie es langsam in ihm dämmerte. Noch<br />
sagte er nichts. Die Pause wurde lang. Nur die Leute beim<br />
Eishockey schrien, und der Sprecher war heiser. Dann sagte<br />
er: „Sonnabend ist Heiligabend.“ Das war schon fast eine Drohung.<br />
Es ist weit gekommen, wenn man mit dem Wort Heiligabend<br />
jemanden erschlagen kann. „Ich weiß,“ sagte sie, „deswegen<br />
ja.“ Und dann sagte sie: „Du bist dran. Dieses Jahr bist<br />
du dran.“ Als sie die Stube verließ, hörte sie noch das Knacken<br />
des Fernsehers. Er hatte ausgeschaltet.<br />
Wenig später hörte sie ihn rufen. „Till! Marlene!“ Die Kinderzimmertüren<br />
klappten. Sie vermeinte, eine leichte Panik<br />
in seiner Stimme zu vernehmen. Es dauerte lange, fast zwei<br />
Kapitel lang, als es leise an der Tür klopfte. Sie ließ das Buch
sinken und sie dachte, Weihnachten wäre schon heute, es war<br />
genau das Gefühl in ihr, wie damals am Kachelofen. Marlene<br />
stand in der Tür mit einem Tablett. Heiße Schokolade<br />
dampfte im Becher und auf dem kleinen Teller lagen die weißen<br />
Spekulatiuskekse, die sie so gerne mochte. Jetzt muß ich<br />
stark sein, dachte sie, sonst bleibt alles beim alten. Aber dann<br />
stand er hinter Marlene und sagte: „O. K.“ Mehr nicht. Er sagte:<br />
„O. K.“, und lächelte. „Du bist dran“, sagte er noch.<br />
Dann saßen sie alle auf dem Bett, und sie dachte, die Steppdecke<br />
wird ganz kraus, aber sie schob den Gedanken schnell<br />
weg. Heiligabend — kein Fondue mit zig Saucen. Würstchen<br />
und Salat tun’s auch. Die Gans und der Rotkohl, nun ja, es<br />
war schon etwas Schönes, so eine Gans. Aber Hawaii-Toast<br />
ging schneller. Den konnte Marlene auch schon. Also Heiligabend<br />
Papa, am ersten Feiertag Marlene und am zweiten? Till<br />
stimmt für die Tiefkühlpizza. Die traut er sich zu. Papa verspricht<br />
einen trockenen Rotwein dazu. Fensterputzen? Muß<br />
das sein? Dann aber nicht die Gardinen. Das hat doch Zeit<br />
bis zum Frühjahr. Drei zu eins. Demokratie lebt von Kompromissen.<br />
Wenn das alles so einfach war, dann wußte sie nur<br />
nicht, warum sie sich so schwer getan hatte in all den Jahren.<br />
„Ich komme mir vor wie die Maria“, sagte sie. Die anderen<br />
sahen sie erstaunt an. „Nein“, sagte sie, „so nicht. Nicht wie<br />
die in dem Stall. Da gibt es noch etwas anderes. Marlene, hol<br />
doch mal die Bibel!“ Sie hatte die Stelle schnell gefunden. Lobgesang<br />
der Maria. Das war ihr schon immer so toll erschienen.<br />
Nicht so sanft und kitschig. „Nun hebt er seinen gewaltigen<br />
Arm“, las sie, „und fegt die Stolzen hinweg samt ihren<br />
Plänen. Nun stürzt er die Mächtigen vom Thron und richtet
die Unterdrückten auf …“ „Du gehst ganz schön hart mit uns<br />
um“, sagte er. „Aber vielleicht hast du recht.“<br />
„Backen werde ich trotzdem“, sagte sie. „Etwas will ich auch<br />
für Weihnachten tun. Ich glaube, dies wird unser erstes richtiges<br />
Weihnachten, eines, das wir alle vorbereitet haben. Ich<br />
freue mich“, sagte sie. Aber in ihrer Freude war und blieb eine<br />
kleine Traurigkeit. Für sie konnte Weihnachten werden. Doch<br />
da waren die anderen, deren müde Gesichter ihr letztes Jahr<br />
aufgefallen waren, als sie sich in der Stadt wunderte, warum<br />
so kurz vor Weihnachten die Menschen so wenig fröhlich<br />
aussahen. Sie stellte sich ein Heer von Sklaven vor, die für ein<br />
Fest ihrer Herren sich plagten und rackerten. Es saßen noch<br />
viele Schwestern im Brunnen. Zu viele …
Heimlichkeiten<br />
Es gibt eine Menge Leute, die schwärmen von der schönen<br />
Vorweihnachtszeit. Ich nicht. Die gemütlichen Stunden im<br />
Schein der Adventskerzen, der dampfende Kaffee — oder<br />
Grog wäre noch besser —, die leckeren knusprigen Kekse, die<br />
schon seit dem Herbst in den Regalen liegen, die verwunschene<br />
Zeit der Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse. Da freut<br />
man sich doch das ganze Jahr drauf. Ich nicht.<br />
Seit der alte Burmeister im Altersheim ist, hasse ich die Tage<br />
vor Weihnachten. Nicht etwa, weil wir nun für die Kinder keinen<br />
Weihnachtsmann mehr hätten. Der alte Burmeister hatte<br />
zwar einen gewaltigen weißen Bart, aber als Weihnachtsmann<br />
war er nie zu gebrauchen. Die Kinder hätten ihn sofort am<br />
Geruch erkannt. Er strömte stets eine dicke Schwade Knoblauchdunst<br />
aus, denn er aß diese Wunderzwiebeln stückweise,<br />
um nicht alt zu werden, aber das hat ihm nachweislich auch<br />
nicht geholfen. Jedenfalls ist er nun wegen seiner Verkalkung<br />
im Altersheim, und wir haben niemanden mehr, bei dem wir<br />
unsere Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse verstecken<br />
können. Die neue junge Nachmieterin ist zwar schön, aber<br />
auch schön neugierig, neugierig und geschwätzig. Sie wußte<br />
vor mir, daß wir in diesem Jahr keine Lohnsteuererstattung
vom Finanzamt bekommen, der Brief war aus Versehen bei<br />
ihr gelandet. Sie hat meiner Frau auch meine Nachnahme vom<br />
Versandhaus verraten. Ich hatte große Mühe, meiner Frau zu<br />
erklären, daß es sich nicht um das anrüchige Versandhaus der<br />
Hilfsmittel handele, sondern nur um einen neuen Schachcomputer,<br />
den ich mir von der Autoreparatur abgespart hatte.<br />
So ein Versteck wie den alten Burmeister braucht man,<br />
wenn man zwei Töchter hat, die nicht auf dem Kopf gefallen<br />
sind. Sie finden alles. Sie haben auch meine Briefe von früher<br />
gefunden und ihrer Mama auf den Schreibtisch gelegt. Tagelang<br />
nervten sie mich mit solchen Fragen, wer denn nun die<br />
Kuschelmaus wäre und wer der wilde Tiger, von denen in den<br />
Briefen die Rede war. Dabei wußten sie das schon, weil sie<br />
die Briefe in meiner untersten Nachttischschublade entdeckt<br />
hatten, und zwar in meiner alten Kassette, für die es leider<br />
keinen Schlüssel mehr gab. Aber sie freuten sich, weil ich<br />
jedesmal rot wurde. Drei Tage brauchte ich, bis meine Frau<br />
wieder mit mir sprach, und das auch nur, weil sie mich darüber<br />
informierte, von jetzt an wäre die Speisekammer stets<br />
verschlossen zu halten, denn das Fahrrad für die Jüngste und<br />
die anderen Geschenke für die Mädchen müsse sie da hineinstellen,<br />
weil der alte Burmeister doch nun im Altersheim<br />
sei. Den Schlüssel würde sie in die Kaffeedose stecken, aber<br />
ich war mir nicht sicher, ob unsere Töchter nicht plötzlich<br />
auf die Idee kämen, uns an einem Adventsmorgen mit einer<br />
Tasse Kaffee zu überraschen, obwohl sie sich ansonsten stets<br />
schon um das Abtrocknen drückten. Wir einigten uns auf die<br />
Schuhputzkiste. Die mieden sie wie den bissigen Hund der<br />
Nachbarn.
Für meine Frau war das Problem der Heimlichkeiten und<br />
süßen Geheimnisse damit gelöst, aber was soll ein Familienvater<br />
machen? Es begann schon mit dem reizenden Granatarmband<br />
aus dem exklusiven Laden am Jungfernstieg. Ich<br />
verbarg es in der Jackettasche. Im Büro würde ich es schon<br />
nicht verlieren. Aber ich hatte nicht mit ihrer Fürsorge gerechnet.<br />
Sie bürstete das Jackett aus. Zornentbrannt stand sie<br />
vor mir: „Seit wann machst du deiner Kollegin solche teuren<br />
Geschenke!?“ Natürlich klebte auf der Verpackung das edle<br />
Siegel des Juweliers. Meine lange Erklärung klang selbst in<br />
meinen Ohren ziemlich unglaubwürdig. Zwei weitere Tage<br />
Schweigen waren angesagt.<br />
Aber dabei blieb es nicht. Was kann ich dafür, wenn unser<br />
Elektrogroßmarkt außer Espressomaschinen auch Computer<br />
führt? Ich hatte mir diesen chromblitzenden Apparat zurücklegen<br />
lassen, zwei Tage vor dem Fest wollte ich ihn abholen,<br />
aber die Quittung mußte ich doch mitnehmen, nicht wahr?<br />
Und dann brauchte sie Geld, und ich sagte, in meinen Portemonnaie<br />
wäre noch etwas, und da fiel der Kassenbon heraus.<br />
Wie ein Fahrstuhlführer aus früheren Tagen leierte ich daher,<br />
was alles in diesem Laden zu kaufen wäre: Waschmaschinen,<br />
Tümmler, Küchenherde, Bügeleisen und Computer, Fernseher,<br />
Radios und Kameras. Aber es half nichts. Es blieb der Verdacht,<br />
ich hätte mir heimlich eine neue Festplatte für meinen<br />
PC geleistet. „Du liebst deinen Computer eben mehr als mich“,<br />
schluchzte sie. Erst das Bettenüberziehen für Weihnachten<br />
befreite mich von dem Makel. Ich hatte das Prunkstück in<br />
Chrom nämlich hinter der Bettwäsche verstaut. Schließlich<br />
hatte sie die Betten erst letzte Woche frisch überzogen.
Und die Sache mit dem zauberhaften Kostüm war meine<br />
Schuld. Seit Jahren stand auf unserem Schlafzimmerschrank<br />
die alte große Blechdose mit dem pausbäckigen, bezopften<br />
Mädchen darauf. Kemm’s Braune Kuchen stand auf der<br />
Trumm. Meine Frau sammelt solche Altertümer. Und darin<br />
war Wolle und Strickzeug. Sie haßt das Stricken, ich war mir<br />
ganz sicher. Nach der Entsorgung von Wolle und Nadeln<br />
paßte das Kostüm da wundervoll hinein. Wenn es ein wenig<br />
kraus würde, nun ja, etwas aufbügeln könnte sie es ja, bevor<br />
sie es anzieht. Doch am Tag vor Heiligabend sagt sie doch zu<br />
unseren beiden Süßen, die vor Aufregung nicht mehr still sitzen<br />
konnten vor dem Fernseher: „Wollen wir nicht diesmal<br />
noch vor Weihnachten ein paar Kekse backen? Das wollte ich<br />
schon immer einmal, aber es war immer viel zu viel zu tun.<br />
Habt ihr nicht Lust?“ Natürlich hatten sie Lust. Allein schon,<br />
um mich in Bedrängnis zu bringen. Denn selbstverständlich<br />
sollten die Kekse in genau diese alte Blechdose. So stand ich<br />
dann mit dem Rücken an der Küchentür und verteidigte eine<br />
alte Blechbüchse.<br />
Jedenfalls weiß ich diesmal schon am Heiligen Abend bei<br />
der Bescherung, was ich mir zum nächsten Weihnachtsfest<br />
wünschen werde. <strong>Ein</strong>en alten Sekretär, und den werde ich mir<br />
selbst aussuchen und ganz allein. Denn nur ich weiß, was für<br />
ein Sekretär es sein soll. Es ist egal, wie er aussieht, er kann<br />
sogar rosa gestrichen sein. Nur ein Geheimfach muß er haben,<br />
ein Geheimfach.
Christiane spielt nicht<br />
mit Rolands Spielzeug<br />
„Ich wünsche mir ein Rennrad!“ sagte Christiane. „Und ich<br />
möchte Soldaten haben!“ rief Roland. „Und einen Panzer und<br />
Kampfflugzeuge und ein Kriegsschiff!“ Roland ist Christianes<br />
Bruder.<br />
„Was du alles haben willst!“ wunderte sich Christiane und<br />
sie fragte vorsichtig: „Ob ich wohl auch den Kaufmannsladen<br />
bekomme?“<br />
„Sicher“, meinte Roland.<br />
Bald, bald ist Weihnachten! dachte Christiane. Mutti sagt,<br />
beim Schlafen vergeht die Zeit schneller. Christiane wühlte<br />
sich in ihre Decke und kniff ihre Augen zu.<br />
Bald, bald ist Weihnachten.<br />
Christiane sah den Tannenbaum vor sich. Er war heller<br />
und höher als sonst, seine Spitze war spitzer als sonst, die Kugeln<br />
bunter und mehr Kringel hingen an den Zweigen als jemals<br />
zuvor. Aber das war noch langst nicht alles.<br />
Unter dem Tannenbaum, man glaubt es kaum, türmten<br />
sich zu Bergen die Geschenke. Da blitzte und funkelte das<br />
Fahrrad für Christiane, ein rotes Rennrad. Von Waren bunt<br />
gefüllt war der Kaufmannsladen, den sie sich gewünscht. Mollig<br />
und weich wellte sich der Wintermantel über die Berge von
Büchern. Christiane konnte sich nicht satt sehen an all diesen<br />
Herrlichkeiten.<br />
Neben ihr sprang vor Freude der Roland wie ein Gummiball<br />
auf und nieder. Roland ist, wie gesagt, Christianes Bruder. Er<br />
wußte kaum, wohin er schauen sollte. Alle seine Wünsche waren<br />
Wirklichkeit geworden: <strong>Ein</strong> Panzer, der wirklich schießen konnte,<br />
die Soldaten in grünen Uniformen, das Kriegsschiff und die<br />
Kampfflugzeuge. Roland hatte eine ganze Armee bekommen.<br />
Ja, noch nie war Weihnachten so schön gewesen. Vati hatte<br />
so viel Zeit zum Spielen, wie noch nie an einem Heiligen Abend.<br />
Mutti war lustig und lachte, obwohl sie doch so viel kochen<br />
mußte, die Oma erzählte eine Geschichte aus der Zeit, als sie<br />
noch ein kleines Kind war. Ganz warm wurde Christiane vor<br />
Freude, und sie sang aus vollem Halse: „Stille Nacht, Heilige<br />
Nacht …“<br />
Aber dann verstummte sie plötzlich. Da war ein Geräusch,<br />
ein Rattern und Rasseln, ein Summen und Brummen, ein Sirren<br />
und Klirren, und es wurde lauter und lauter …<br />
Christiane traute ihren Augen kaum, sie sah wie Rolands<br />
Panzer mit der großen Kanone sich langsam bewegte und vorwärts<br />
rollte, der Motor brüllte, die Ketten rasselten, die sanfte<br />
Weihnachtsmusik wurde verschluckt vom Motorengebrumm,<br />
das Ungetüm wälzte sich über den Wintermantel, rollte mitten<br />
hinein in den Kaufmannsladen, rempelte gegen die Regale,<br />
brach durch die Rückwand, rollte über das blanke Fahrrad,<br />
walzte es platt, platt wie ein Blatt Papier.<br />
Und Christiane hörte den Schritt und Tritt von Soldatenstiefeln<br />
und Donnergrollen von Kanonenschlägen. Rote Flammen<br />
tanzten vor ihren Augen, Funken sprühten, zuerst brannte
der Kaufmannsladen, dann brannte der Tannenbaum — aber<br />
seltsam, sonderbar : es wurde nicht warm in dem Flammenmeer.<br />
Wild loderten die Flammen, aber sie wärmten nicht. Eisig<br />
wehte der Wind, kein Dach, keine Wand bot mehr Schutz<br />
vor dem Winterwind. Christiane fror. Sie zitterte in Angst<br />
und Kälte. Sie begriff, wie nun der Krieg das Weihnachtsfest<br />
auffraß und sie schrie vor Schreck und Schmerz.<br />
„Aufwachen, aufwachen, es ist Weihnachten!“ Die Stimme<br />
der Mutter war weich und warm. „Du hast dich ja ganz bloß<br />
gestrampelt, Christiane!“<br />
Christiane rieb sich die Augen. Was war Traum, und was<br />
war wahr …? „Es ist Weihnachten!“ sagte die Mutter. Christiane<br />
mußte schlucken.<br />
Und dann fragte sie: „Du Mutti, ist jetzt kein Krieg?“<br />
„Nein, Mädchen, bei uns ist jetzt kein Krieg. Bei uns ist<br />
Weihnachten“, sagte Mutter. Christiane dachte nach. Mutter<br />
hatte „bei uns“ gesagt, „bei uns“.<br />
Und sie fragte ihre Mutter: „Bei anderen Kindern, ist denn<br />
bei anderen Kindern Krieg?“ Die Mutter strich Christiane<br />
über das Haar. „Ja, Christiane, bei anderen Kindern ist Krieg.<br />
Sie weinen, hungern und sterben in Südafrika, weit weg von<br />
uns, in Namibia und Zimbabwe, in Argentinien, Brasilien<br />
und Chile, in Irland und Israel und …“<br />
Christiane ließ ihre Mutter nicht ausreden: „Überall ist<br />
Krieg?“ rief sie, „überall rollen Panzer und schießen Soldaten<br />
und werfen Bomben?“ Christiane überlegte lange. „Wird<br />
denn da nie Weihnachten?“ fragte sie schließlich.<br />
Die Mutter schüttelte den Kopf: „Noch nicht, Christiane“,<br />
sagte sie, „noch nicht.“
Christiane schloß traurig ihre Augen.<br />
„Warum fragst du danach, Christiane?“ Aber Christiane<br />
gab keine Antwort. An diesem Weihnachtsfest, so nahm sie<br />
sich ganz fest vor, fasse ich Rolands Spielzeug nicht an. Doch<br />
dann dachte sie: Ich werde Roland von meinem Traum erzählen,<br />
nicht gleich, aber irgendwann, und irgendwann wird<br />
Weihnachten dann überall sein. Und sie sagte laut: „Du, Mutti,<br />
weißt du was, ich freue mich auf Weihnachten!“
Wo sind nur die Lichter?<br />
Zum ersten Advent wollte sie fertig sein, fertig mit allem.<br />
Dann wollte sie in der neuen Wohnung sein, den Umzug hinter<br />
sich haben, die Kartons ausgepackt. Sie wollte wieder die<br />
Sterne in den Fenstern hängen haben und den Leuchtstern im<br />
Flur. Sie wollte einen Adventskranz haben mit roten Kerzen<br />
und dem Schmuck von früher. <strong>Alles</strong> sollte so sein wie immer,<br />
wenn sie fertig war.<br />
Nur die Scheidung würde noch nicht durch sein, aber das<br />
ließ sich nicht ändern. So vieles läßt sich nicht ändern. Vielleicht<br />
zahlte er ja endlich im Dezember. Sie wenigstens wollte es<br />
schön machen für die Kinder. Ihnen sollte nichts fehlen, ihnen<br />
nicht. Darum wollte sie auch alles fertig haben zum Advent.<br />
Sie hatte es ja auch fast schon geschafft. Nur die Gardinen<br />
mußte sie noch ändern im Wohnzimmer, sie waren zu kurz.<br />
Man kann nicht alles mitnehmen in einen neuen Anfang.<br />
Wenn sie jetzt nur wüßte, wo die roten Kerzen sind, die<br />
dicken, die sie vor dem Umzug gekauft hatte. Sie hatte doch<br />
schon alle Kartons ausgepackt. Wo waren sie nur? Im Küchenschrank?<br />
Nein. In der Abseite bei den Reinigungsmitteln?<br />
Nein. Im Wohnzimmer, ganz hinten im Schrank, wo auch die<br />
Krippe war und die Weihnachtssachen, die sie mitgenommen
hatte, ganz einfach ohne zu fragen, wie ihre Kinder, das war<br />
doch selbstverständlich. Auch nicht. Wo hatte sie nur die<br />
Lichter gelassen, alles hatte sie fertig, nur die Lichter noch.<br />
Sie ging über den Flur. Das Atmen des Kleinen im Schlaf<br />
war sanft zu hören in der stillen Wohnung, wie ein Streicheln,<br />
so weich. Da war doch noch Licht bei Christian — oder nicht?<br />
Das Licht flackerte.<br />
„Christian!“ rief sie und stieß die Tür auf. Da saß ihr Großer<br />
auf dem Teppich, mitten im Zimmer saß er, und vor ihm<br />
auf dem Fußboden brannten Kerzen, alle vier dicken roten<br />
Kerzen standen vor ihm auf dem Boden und brannten.<br />
„Was machst du denn da“, rief sie in Panik, „gib sofort die<br />
Streichhölzer her, du sollst doch nicht mit Feuer spielen!“<br />
Da hob ihr Großer seinen Kopf und sagte ganz ernst: „Ich<br />
spiel nicht mit Feuer. Wirklich nicht, Mama!“<br />
Sie beugte sich herunter, griff nach der Streichholzschachtel,<br />
riß sie an sich, stopfte sie in ihre Jeans und blies auf die<br />
Flammen.<br />
„Nein, nicht, Mama, nicht“, schrie Christian, und die Kerzenflammen<br />
zuckten und fauchten. „Nein, Mama“, sagte<br />
Christian noch einmal leise, und sie sah leuchtende Tränen in<br />
seinen Augen. „Ich habe Angst im Dunklen“, sagte er tapfer.<br />
Da blies sie die Kerzen nicht aus, sondern kniete sich auf<br />
den Boden und zog den Christian an sich, nahm seine leichten<br />
fünf Jahre auf den Arm. „Warum denn, du Dummchen“,<br />
sagte sie, „ich bin doch da!“ Christian schüttelte den Kopf<br />
und biß die Lippen zusammen.<br />
Da fiel es ihr wieder ein, alles war wieder so wie früher, als<br />
wäre es gestern gewesen oder eben erst, der Zank, der Streit,
der Haß, das Schreien, das Türenschlagen, und immer war es<br />
nachts passiert, die Kinder waren schon im Bett, und als sie<br />
einmal nach ihnen sah, weil der Streit so hart und so laut gewesen<br />
war, da lag Christian in seinem Bett und biß die Lippen<br />
zusammen. <strong>Alles</strong> war wieder da, obwohl sie doch fertig war<br />
mit allem, bis auf die Lichter, die nun vor Christian brannten.<br />
Sie drückte ihren Großen ganz fest. „Komm mit in die Küche“,<br />
sagte sie, „und die Kerzen nehmen wir mit“, sagte sie.<br />
Über den finsteren Flur trugen sie die Kerzen in die Küche.<br />
Vorsichtig steckte sie die Kerzen in die Halter am Kranz. Die<br />
Kerzen leuchteten hell wie ein Versprechen, und sie glaubten<br />
die Wärme zu spüren, als sie vor dem Kranz saßen, Christian<br />
auf ihrem Schoß, und sie tranken das Licht in sich hinein.<br />
„Christian“, sagte sie, „weißt du … Mama hat vieles falsch<br />
gemacht, bestimmt. Aber nun wird bald Weihnachten. Nun<br />
fangen wir neu an. Wir wollen uns lieb haben, uns und alle,<br />
die wir kennen. Wir wollen allen Streit vergessen und von vorn<br />
anfangen, Mama, du und unser kleiner Niki. Wir schaffen es<br />
bestimmt“, sagte sie, und sie dachte: Lieber Gott, hilf mir!<br />
Christian schlang die Arme um sie, und sie sahen in die<br />
Lichterflammen, lange saßen sie so und schauten, und irgendwann<br />
sagte sie noch: „Wenn du lange in dieses Licht siehst,<br />
Christian, ganz lange, dann nimmst du es mit, wohin du auch<br />
gehst, und wenn es noch so dunkel ist, du hast es dabei, in dir<br />
drin, da leuchtet es weiter.“<br />
Sie wollte noch etwas sagen vom Spielen mit Feuer, aber sie<br />
ließ es dann. Ihre Gedanken trieben davon, weit zurück in ihre<br />
Kinderzeit. Hatte sie nicht eben sogar gebetet? Da mag schon<br />
etwas dran sein: Das einmal entzündete Licht, wir nehmen
es mit in jede Nacht, in jeden Morgen. Amen, sagte sie bei sich,<br />
Amen.<br />
Nur Christian hatte noch etwas zu sagen vor dem Schlafengehen.<br />
Er sagte: „Zu Weihnachten wünsche ich mir eine Taschenlampe,<br />
eine ganz große!“
Die schönsten Tage im Jahr<br />
Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut! Heiligabend,<br />
Karpfen blau mit zerlassener Butter und Sahne — Meerrettich,<br />
dazu einen Weißwein. Morgens ganz früh, noch in der<br />
Dämmerung zu Fisch-Scholz, den Karpfen holen. Gleich nach<br />
dem Krieg mußte sie hintenrum gehen und ein Pfund Kaffeee<br />
mitbringen, Fisch-Scholz hatte dann immer etwas für sie. Und<br />
dann, daheim, die Tränen, was mußte sie immer weinen beim<br />
Meerrettichreiben, aber es geht nun einmal nichts über frisch<br />
geriebenen Meerrettich. <strong>Ein</strong>e Schuppe vom Karpfen kam jedes<br />
Jahr in ihr Portemonnaie, damit das Geld nicht ausgeht.<br />
Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut, Heiligabend.<br />
Heute schmeckte ihr nicht einmal mehr der Karpfen.<br />
Sie sah es immer noch vor sich. Weihnachten in der Wohnküche.<br />
Der Tannenbaum auf dem Tisch in der Ecke und darunter<br />
die Geschenke für die Kinder. Das war gar nicht leicht<br />
damals. sie wußte ja nicht, was sie schenken sollte, sie hatte ja<br />
nichts, es gab ja nichts. Da bekam ihr Junge die Soldatenburg<br />
ihres Bruders, die auf dem Boden bei ihrer Mutter den Krieg<br />
überstanden hatte. Nie wollte sie Kriegsspielzeug verschenken.<br />
Bruder und Mann gefallen, die Wohnung ausgebombt — aber<br />
wenn sie doch nichts anderes hatte, dann mußte es eben die
Soldatenburg sein für ihren Jungen. Er war doch noch ein<br />
Kind, und er mußte etwas haben zu Weihnachten, zum Heiligen<br />
Abend.<br />
Ihre Gedanken flogen zurück, von Weihnachtsfest zu<br />
Weihnachtsfest. Das Weihnachten, als sie den Puppenwagen<br />
mit den hohen Rädern bekam, sie im Matrosenkleid, und<br />
das Kleid kniff in den Hüften, es war zu eng geschnitten. Das<br />
Weihnachten mit ihrem Mann, zur Untermiete noch, und<br />
keine Geschenke, nur Sekt aus vornehmen Gläsern, und in<br />
der Stube standen nur Bett, Tisch und Stuhl. Weihnachten auf<br />
dem Bauernhof, bei der Ausquartierung, und sie aßen fettige<br />
Bratkartoffeln, sie, die Städter, und die Bauern feierten in der<br />
Stube mit schwarzgeschlachtetem.<br />
Da kam es wie ein tiefer Friede über sie. Sie sah die glitzernden<br />
Lichter am Weihnachtsbaum und wie ein warmes<br />
Bad umspielte sie das Licht der Weihnachtskerzen. Das war<br />
schon so. Diese Tage waren immer die schönsten im Jahr gewesen,<br />
nicht der Urlaub in Spanien oder Portugal, nicht die<br />
anderen Glanzlichter ihres Lebens, sondern diese Tage. Und<br />
war es nicht komisch, nicht sonderbar und geheimnisvoll: Wo<br />
immer das Leben sie hingetrieben hatte, welche Stürme auch<br />
immer die Geschichte durchtosten, Weihnachten war immer<br />
geworden. Als Vater keine Arbeit hatte, im Luftschutzkeller,<br />
in ihrer neuen Wohnung und wieder zur Untermiete mit den<br />
Kindern, und auch jetzt in der <strong>Ein</strong>samkeit ihres Alters, Weihnachten<br />
war immer geworden. Wie ein Zauber waren die<br />
Worte: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging …<br />
Sie wußte, so sehr sie auch nachdachte, keine Worte, die sich<br />
so wenig abnutzten, wie diese: Es begab sich aber zu der Zeit,
daß ein Gebot ausging … Sie klangen wie ein Akkord, und sie<br />
entfalteten sich zu einer volltönenden Sinfonie, Jahr um Jahr.<br />
Sie stand nicht mit Gott auf Du und Du. Dazu, dachte sie,<br />
hab ich zuviel erlebt. Wo war denn Gott, als Rudi fiel, in Rußland<br />
im Schnee, wo war er denn da? Nein, sie stand nicht mit<br />
Gott auf Du und Du. Sie war immer eher kritisch gewesen, und<br />
in der Kirche war sie auch nicht oft. Auch für so etwas muß<br />
man erst einmal Zeit haben, hatte sie immer gesagt, Sonntags<br />
morgens um zehn. Am Grab ihres Bruders wußte der Pastor<br />
auch nichts zu sagen. Aber der Zauber dieser Worte wirkte<br />
immer wieder auf sie: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein<br />
Gebot ausging …<br />
Mit diesem Kind da in Armut geboren, im windschiefen<br />
Stall, da hatte etwas angefangen, das nie mehr aufhörte. Ihr<br />
fiel nicht ein, wie sie es nennen könnte. Es war wie ein Strom<br />
aus lauter Licht, wie eine Quelle, aus der reines Wasser fließt,<br />
oder sollte sie sagen: Liebe? Jedes Jahr fließt es zusammen in<br />
diesen Tagen, in den Menschen, und es wäscht hinweg, was<br />
weh tut, die Tränen, die Not, die <strong>Ein</strong>samkeit, die Sorge, alles<br />
spült es hinweg.<br />
Was freute sie sich immmer wieder auf diesen Tag, Heiligabend.<br />
Und jetzt, gerade in diesem Augenblick vor dem Christbaum<br />
mit strahlendem Licht, da wußte sie es genau: Dies war<br />
ein wunderschönes Leben, in dem es immer wieder Weihnachten<br />
wird. Im Grunde, dachte sie, im tiefsten Grunde, bin<br />
ich nie groß geworden. Jedes Jahr habe ich es wieder gefühlt,<br />
dieses warme Empfinden aus Kindertagen: Es hat mich jemand<br />
lieb, was immer auch ist, es hat mich jemand lieb. Und<br />
sie wagte zu sagen: Ich dank dir, Gott, ich danke dir.
Das betriebsbedingte Weihnachten<br />
Das Radio hatte er ausgeschaltet nach dem vierten White<br />
Christmas. Irgendwann reicht es. Nun ist es still um ihn,<br />
friedhofsstill, totenstill. Vier nackte Wände sind nicht sehr gesprächig.<br />
Er hatte es vorher gewußt, dieser Tag würde schwer<br />
werden. Dies war immer ein schwerer Tag für die Menschen,<br />
die keine Schulter haben, an die sie sich lehnen können. An<br />
solchem Tag kann niemand seine Gedanken festketten und<br />
einsperren. Sie laufen davon, ob man es will oder nicht, sie<br />
erheben sich in die Luft und fliegen in das Land von Gestern.<br />
Er sitzt an dem Tisch, dessen Furnier sich abhebt, und dessen<br />
Beine wackeln, wenn er sich zu fest auflehnt. Das Muster<br />
des verschlissenen Teppichs gibt ihm Rätsel auf. Welche Farben<br />
mochte er gehabt haben, als er aus dem Laden getragen<br />
wurde? <strong>Alles</strong> fängt anders an als es endet. Er empfindet so<br />
etwas wie Zuneigung zu diesem alten Teppich. Werd’ nicht<br />
sentimental, schilt er sich, aber er ist es schon.<br />
Letztes Jahr um diese Zeit war er breit gewesen. Das Jahr<br />
davor auch. Eigentlich immer an diesem Tag. Was soll man<br />
auch sonst tun an einem solchen Tag ohne Kinder, ohne<br />
Christbaum, ohne Bescherung, ohne ein vertrautes Lächeln.<br />
Weihnachten ist eine Gemeinheit für Menschen, die man
allein gelassen hat. Was blieb einem schon anderes übrig, als<br />
die Gefühle wegzuknallen. Die lärmende Musik aus der Box,<br />
das melodiöse gleichförmige Dudeln der Spielautomaten, selten<br />
nur, viel zu selten, das Klappern fallender Geldstücke, der<br />
Geruch von Rauch und Bier, das Brennen des Klaren in der<br />
Kehle, das schwebende Gefühl wachsender Trunkenheit, das<br />
alles, bis auch dieser Wirt seinen Laden zumacht, um Weihnachten<br />
zu feiern mit seinen Lieben.<br />
Danach lag er dann immer auf seinem Bett und wartete<br />
auf den Schlaf, der nicht kommen wollte, die Flasche in der<br />
Hand, und jedes Mal dachte er immer an Menschen, die mit<br />
einer brennenden Zigarette im Bett einschliefen, und er war<br />
neidisch auf sie. Seit sie ihm seine Kinder gestohlen hatte, seit<br />
sie ihm die Tür wies, hatte er nichts mehr für diesen Tag.<br />
Und heute hatte er noch nicht einmal eine Flasche. Zum<br />
vierten Mal zieht er sein altes Portemonnaie hervor und zählt<br />
nach. Dreizehn fünfunddreißig. Es wird nicht mehr. Das<br />
wäre schon eine Flasche gewesen, aber das Jahr ist ja nicht<br />
mit Weihnachten zu Ende. Da kommen noch ein paar Tage.<br />
Nun hatte man ihm selbst das noch genommen, die Flasche<br />
am Heiligen Abend. Es war eine betriebsbedingte Kündigung<br />
gewesen, da kann man nichts machen. Wenn sie den Laden<br />
zumachen, brauchen sie keine Buchhalter mehr. Und wer<br />
braucht heutzutage überhaupt noch Buchhalter? Vor allem so<br />
alte. Er glich dem alten Teppich. Abgelatscht. Sperrmüll. Das<br />
war’s.<br />
So ist er also zu diesem betriebsbedingten Weihnachten<br />
gekommen, ohne Flasche, eingesperrt in vier Wände, festgehalten<br />
am wackeligen Tisch und keine Chance, die Gedanken
festzuhalten. Weihnachten. Um diese Zeit, wenn die Dämmerung<br />
sich senkte, war immer Bescherung gewesen. Die Kinder<br />
hielten es nicht länger aus. Die Kerzen anzuzünden, war seine<br />
Sache gewesen, und dann das Läuten mit der kleinen Glocke.<br />
Sie bestand darauf, daß die Weihnachtsgeschichte gelesen<br />
wurde, bevor die Kinder sich auf die Geschenke stürzten. „Es<br />
geschah aber zu der Zeit, das ein Gebot ausging von dem Kaiser<br />
Augustus …“ Er kannte die Worte noch auswendig. Diese<br />
Art Weihnachten hatte sie in der Familie eingeführt. In seiner<br />
Kinderzeit hatte Weihnachten nichts mit der Bibel zu tun.<br />
Sein Vater hielt nichts davon.<br />
Dies war schon ein komischer Tag. Alle Gefühle strömen<br />
zusammen, bilden einen tiefen See, in dem Menschen ertrinken<br />
am Tag der Liebe. Ob die Erfinder dieses Tages das bedacht<br />
hatten? Grausamer kann man es gar nicht machen — alle, die<br />
reich sind, die Menschen haben, die sie lieben, die werden mit<br />
Glück und Liebe überhäuft, und die anderen, die <strong>Ein</strong>samen,<br />
die Verlassenen, sie dürfen zuschauen, sich sattsehen am Glück<br />
der anderen. Und haben vielleicht nicht einmal eine Flasche,<br />
so wie er mit seinem betriebsbedingten Weihnachten.<br />
Die alten Worte gingen ihm wieder durch den Kopf. Die<br />
Kinder hörten kaum noch zu, sie schielten nach den Paketen<br />
unter dem Baum. Sie dachten nicht an den Stall und das<br />
Paar ohne Wohnung. Sie sahen nur die Geschenke und wollten<br />
endlich freigelassen werden zur großen Freude. Er hätte es<br />
nicht für möglich gehalten, daß diese Worte sich so tief in ihn<br />
eingegraben hatten. Nun geht ihm dieser Stall nicht mehr aus<br />
dem Sinn. Stall. Tiefer kann niemand fallen. Stall. Kein Geld.<br />
Kein Dach. Nur ein Stall.
Seine Augen gleiten über die verschossenen Tapeten. Mühsam<br />
steht er auf vom wackeligen Tisch. Irgendwo muß ich<br />
doch noch eine Kerze haben. Für den Fall, daß die Sicherung<br />
durchgeht. Da ist sie. Die Schublade klemmt auch. Lang ist sie<br />
ja nicht und angebrannt auch. Aber Kerze ist Kerze. Er legt<br />
sie auf den Tisch, wo sie weiterrollt, bis der Riß im Furnier sie<br />
aufhält. Er sieht sich im schummerigen Zimmer um. Wenn<br />
schon, denn schon, sagt er, und er macht das Bett, schüttelt es<br />
ordentlich auf, deckt die blaue Wolldecke darüber und zieht<br />
sie glatt. Sie wird sich wundern, denkt er, als er den Staubsauger<br />
aus der Flurgarderobe holt. Den ganzen Monat macht er<br />
nichts, aber am Heiligen Abend. Aber die Wirtin steckt den<br />
Kopf nicht vor die Tür. Wahrscheinlich ist sie eingeschlafen.<br />
Ist auch ein armes Luder. Der Sohn in Australien, der Mann<br />
in Ohlsdorf. Nur sie ist übriggeblieben. <strong>Ein</strong>en Staubsauger<br />
hatten die im Stall nicht. Ich fege den Stall mit dem Staubsauger<br />
aus, denkt er. <strong>Ein</strong>e seltsame Erregung breitet sich in ihm<br />
aus. Wie ein Aufbruch ist es.<br />
Er erinnert sich an das Weihnachten, als er sein Fahrrad<br />
bekam. Damals fühlte er sich auch wie ein neuer Mensch.<br />
Er hatte es gleich ausprobieren müssen auf der Straße, und<br />
er weiß noch heute, wie enttäuscht er war, weil niemand ihn<br />
sah mit seinem blitzenden Rad mit der Gangschaltung wie<br />
ein Auto. Aber die waren alle zu Hause am Heiligabend, die<br />
Straßen waren leer. So leer wie heute, denkt er. Aber das ist<br />
gut so. Niemand schaut zu, wie er sich von der Tanne auf dem<br />
Platz einige Äste abbricht. Als die Nadeln ihn stechen, muß<br />
er lachen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß er heute<br />
noch einmal lachen kann. Das hatte sich also nicht geändert.
Jedesmal vergaß er seine Handschuhe, wenn er den Tannenbaum<br />
holte. Und wie immer regnet es, wenn er den Baum holt.<br />
Das Tannengrün und die Kerze verwandeln selbst seinen<br />
Stall. Er hält einen kleinen Zweig in die Flamme. Es knistert,<br />
und der alte Geruch verbreitet sich im Zimmer. „Es geschah<br />
aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus<br />
…“ Er schämt sich nicht, diese alten Worte laut zu<br />
sagen. Mit diesen Worten fängt etwas neues an. Mit diesen<br />
Worten ist Armut keine Schande mehr. Mit diesen Worten<br />
wird die Welt auf den Kopf gestellt. Eigentlich ist es nicht fair,<br />
daß auch die anderen, die alles haben, diese Worte hören. Die<br />
Hirten liefen ja nicht zu den Palästen. Zum Stall liefen sie und<br />
fielen auf die Knie. Aber das soll ihm egal sein. Ihm ist es für<br />
diesen Augenblick genug, daß er ein Gefühl der Brüderlichkeit<br />
in sich empfindet, ein Gefühl der Brüderlichkeit mit dem<br />
Kind in der Krippe.
Der blaue Planet<br />
Der blaue Planet drehte sich in majestätischer Ruhe. Im gleißenden<br />
Sonnenlicht leuchteten weiße Wolkenbänder auf. Das<br />
schwarzdunkle Kleid der Nacht war mit goldenen Punkten<br />
übersät. Der Pracht dieses universellen Schauspiels fehlte nur<br />
noch die Fülle himmlischer Harmonien, um vollendet zu sein.<br />
Aber im Himmel schlugen die Türen. Gottvater war zornig.<br />
Der Heilige Geist saß muksch in hintersten Winkel der<br />
ewigen Wohnstube und zog einen Schmollmund. Ab und zu<br />
schluchzte er auf, wenn es wieder mit mächtiger Stimme tönte:<br />
„Umsonst, umsonst war das doch alles! Sie kapieren’s nicht! Sie<br />
begreifen es einfach nicht! Zweitausend Jahre hatten sie Zeit.“<br />
Der Herr der Welt war wirklich erbost. Vergeblich versuchte<br />
der Sohn, den Vater zu besänftigen. „Es war doch schön damals<br />
mit der Geburt im armen Stall. Weißt du noch, wie die<br />
Hirten kamen, diese diebischen Bösewichter und Gauner,<br />
und vor Andacht wurden sie ganz still? Und dann kamen die<br />
Machthaber, die prächtigen Könige, und sie fielen vor einem<br />
nackten Kind in die Knie! Das war doch ein guter Anfang!“<br />
„Guter Anfang“, äffte der alte Herr die sanfte Stimme des<br />
jungen Mannes nach, „ein guter Anfang für die Scheiterhaufen,<br />
auf denen sie Frauen und Männer verbrannten, fürwahr!
<strong>Ein</strong> guter Anfang für den Mord an meinen lieben indianischen<br />
Völkern! Und was haben sie mit meinem erwählten<br />
Volk gemacht, he?“ Seine Stimme schlug höhnisch über. Der<br />
Sohn probierte es noch einmal. Begütigend sagte er: „Aber<br />
das siehst du nicht richtig. Denk doch einmal an den Heiligen<br />
Franz, an die Klöster und die vielen anderen Hilfswerke!<br />
In jedem der zwanzig Jahrhunderte gab es Menschen, die aus<br />
meiner Krippe Konsequenzen zogen!“<br />
Der Heilige Geist in seiner Ecke blickte hoffnungsvoll auf.<br />
Er liebte solche Fremdworte nicht, aber er war dankbar, daß<br />
wenigstens der Sohn seine Arbeit anerkannte, schwer genug<br />
war sie ja gewesen. Doch die Wut des großen Vaters erstickte<br />
den Hoffnungsfunken schnell. Mit spitzem Finger zeigte der<br />
Herr auf den still vorbeitreibenden Erdball. Der bedrohliche<br />
Finger wies auf den Südosten Europas. „Seht euch diese<br />
zerschossenen Häuser an, da hätten wir keine Mühe, einen<br />
Stall zu finden für die Geburt des Gotteskindes! Das waren<br />
einmal blühende Dörfer, und was haben sie daraus gemacht?<br />
Und da“, sein richtender Finger zeigte auf den Osten Afrikas,<br />
„seht doch meine Kinder, die sich der Fliegen nicht mehr<br />
erwehren können, weil sie vor Hunger zu schwach geworden<br />
sind! Und da, dieser Bengel“, sein Finger streckte sich<br />
auf Hamburg, „dieser Flegel, der sauer ist, weil er zu seinem<br />
Gameboy nicht auch noch die Rollerblades bekommen hat!<br />
Hat der Joseph sich deshalb mit Maria auf den weiten Weg<br />
gemacht? Um jeden Schritt der schwangeren Frau tut es mir<br />
leid! Und da, schaut euch das Computerspiel an! Nur Schießerei<br />
und Vernichtung, was glaubt ihr denn, warum ich die<br />
Engel hab vom Frieden singen lassen!“
Jetzt wurde es dem Sohn zuviel. „Du siehst das zu negativ“,<br />
sagte er mit allem Respekt zu seinem Vater. „Genau dahin<br />
werde ich gehen. Und du wirst sehen, daß sie sich immer<br />
noch der ethischen und spirituellen Werte aus der Tradition<br />
bewußt sind.“ Er nickte dem Heiligen Geist im Winkel des<br />
Himmels zu. „Komm, wir versuchen es noch einmal!“ Der<br />
schmollende Geist erhob sich zögernd. „Aber red’ nicht so geschwollen<br />
daher“, verlangte er, „das verstehen sie nicht.“ Der<br />
Sohn sah liebevoll auf den Geist herab. „Ich werde gar nichts<br />
sagen“, meinte er. So machten sich die beiden auf den Weg.<br />
In der Halle des Flughafens tobte das Leben. Mitten darin<br />
leuchtete aus hunderten von Glühbirnen ein riesiger Weihnachtsbaum,<br />
unter ihm und um ihn herum wimmelten die<br />
Reisenden zwischen den Koffern. In den Shops klingelten die<br />
Kassen pausenlos für die vergessenen Geschenke. An den<br />
Schaltern drängten sich Ratlose und Eilige. Die geschminkten<br />
Damen nahmen professionell lächelnd Flugkarten entgegen,<br />
hämmerten auf Tasturen, blinzelten auf Bildschirme, gaben<br />
Auskunft. Sie mußten so viel Lächeln vorweisen, daß sie Mühe<br />
haben würden, daheim unter dem Christbaum die schmerzenden<br />
Wangen zu glätten. „Bloß weg aus dem Rummel“,<br />
sagte die jungen Frau zu ihrem Begleiter, der hastig an seiner<br />
Zigarette zog. „Wie schön, daß wir dem Weihnachtstrubel<br />
entkommen“, meinte die saubere rundliche Dame zu ihrem<br />
Mann. „Wenn ich allein schon daran denke, wie lange ich<br />
letztes Jahr noch Nadeln im Teppich gefunden habe.“ Dicht<br />
neben diesem Paar wischte sich eine ältere Frau Tränen aus<br />
den Augen. „Nun komm, Mutti, mach es uns doch nicht so<br />
schwer, wir brauchen die Erholung, wir müssen mal raus hier,
das verstehst du doch! Wir rufen dich auch an am Heiligen<br />
Abend! Du kannst doch auch die Frau Schuster von oben einladen,<br />
die ist ebenso allein zu Weihnachten. Feiert doch zusammen!“<br />
Die alte Frau schluckte tapfer.<br />
In all dem Gerenne, Gerede und Getümmel fiel das kleine<br />
braune Mädchen gar nicht auf, das vor dem Tresen der<br />
Fluggesellschaft kauerte. Die eiligen Erwachsenen beugten<br />
sich über sie hinweg, verhandelten mit der rougegepflasterten<br />
lächelnden Servicedame vor dem Bildschirm. Wann geht der<br />
Flieger, Raucher oder Nichtraucher, werden wir abgeholt vom<br />
Flughafen, so wirbelten die Worte über das Mädchen hinüber<br />
und herüber. Silberhell rannen Tränen über die dunklen<br />
Wangen der Kleinen. Sie kauerte am Boden, stumm, still, unbewegt<br />
und weinte.<br />
Es war eine blauhaarige junge Frau, deren Augen den<br />
Kontakt zum Erdboden nicht verloren hatten. „Du, schau<br />
mal Norbert, das Mädchen!“ Noch bevor der Norbert irgend<br />
etwas sagen konnte, ging sie vor dem Kind in die Knie. Sie<br />
strich mit scheuer und behutsamer Hand dem Kind über das<br />
krause Haar. „Wo kommst du denn her, du Schöne?“ fragte<br />
sie. Und sie grub in ihrer Tasche nach einer Näscherei, hielt<br />
sie dem Mädchen hin. „Möchtest du?“ Das Mädchen schaute<br />
unter seinen Tränen nicht auf. Norbert verhandelte unterdes<br />
mit dem Grinsen hinter dem Schalter über das Gewicht des<br />
Gepäcks. Die junge Frau aber sprach leise auf das wortlos<br />
schluchzende Mädchen ein. Suchend sah sie sich um, aber<br />
nirgends war jemand, der Anspruch auf dieses Kind erhob.<br />
Wieder wandte sie sich dem Kind zu. So langsam wurde ihr<br />
klar, daß ihre Freundlichkeit nicht ausreichte, diese kleine
Frage im riesigen Terminal zu beantworten. Sie nahm das<br />
Kind aus seinem Winkel, barg es in ihrem Arm. „Du, Norbert,<br />
das Kind hat niemanden hier. Wir müssen uns kümmern!“<br />
Was half dem Norbert sein Hinweis auf das abgehende<br />
Flugzeug, auf die immer dringender klingenden Aufrufe, sich<br />
bei der Abfertigung einzufinden. Was half ihm sein Klagen,<br />
sie würden noch den Flug verpassen und daheim bleiben müssen,<br />
in der nassen Kälte, statt in südlicher Sonne zu braten. Er<br />
mußte mit zur Dienststelle der Polizei, er mußte sein Taschentuch<br />
hergeben, die Tränen zu trocknen, er wurde geschickt,<br />
ein Brot zu holen, Milch und eine Mandarine, Flugzeug hin<br />
oder her, das Kind mußte etwas zu essen haben.<br />
Dann war das Flugzeug weg. Sie saßen auf der harten Bank<br />
der Dienststelle, zwischen sich das kauende Findelkind. Der<br />
Notdienst würde schon kommen, wurden sie wieder vertröstet,<br />
und sie sollten sich doch nicht aufhalten lassen, es ginge<br />
nun alles seinen Gang mit dem unbegleiteten minderjährigen<br />
Flüchtling. Aber die beiden jungen Leute wollten nun nicht<br />
mehr weggehen von diesem Kind. In einem unbeobachteten<br />
Augenblick schlichen sie sich aus der Hektik des Wachzimmers,<br />
das Kind mit seinem dünnen Kleidchen unter ihren<br />
Mänteln wärmend. War es nicht gleichgültig, ob der Notdienst<br />
heute oder in drei Tagen kam …? Sie jedenfalls waren<br />
sich später bewußt, noch nie so ein schönes Weihnachten erlebt<br />
zu haben, wie dieses unerwartete Fest mit ihrer kleinen<br />
Himmelskönigin.<br />
Der Heilige Geist war sichtlich stolz. „Siehst du, es war doch<br />
gar nicht so schwer“, bemerkte er triumphierend. „Und ich habe<br />
nichts gesagt“, pflichtete der Sohn bei. „Das wird den Vater
überzeugen.“ Der aber lächelte längst. Es war doch eine gute<br />
Idee mit dem Kind und dem Stall, dachte er bei sich. Und eine<br />
gute Idee setzt sich schon durch. Ich muß nur Geduld haben<br />
mit meinen Menschen.
Das ganz andere Weihnachten<br />
Kinderaugen sehen alles. Er hatte sich erst daran gewöhnen<br />
müssen. Aber als die beiden Kleinen eines Morgens vor dem<br />
Ehebett standen, mitten während des Kuschelns, manchmal<br />
möchte man einen Tag ja auch gut beginnen, so wie die Helden<br />
aus der Zeitung, da konnte er nur hektisch wie in vergessenen<br />
jungen Tagen das Deckbett hochziehen, und er wußte: Kinderaugen<br />
sehen alles. Kinderaugen finden den Bußgeldbescheid<br />
wegen zu schnellen Fahrens, sie finden den <strong>Ein</strong>kaufszetttel<br />
für ihren Geburtstag, sie entdecken mit unfehlbarer Sicherheit<br />
das heimlich gekaufte und auf dem Autobahnparkplatz<br />
schnell eingebaute Autoradio. Viel schneller als seine Eheliebste<br />
entdecken sie in unermüdlichem Forscherdrang den neuen<br />
Laptop auf dem Schreibtisch. Kinderaugen sehen alles.<br />
Natürlich will er wache Kinder, die sich im Leben nichts<br />
vormachen lassen. Wenn jeder Bürger so aufmerksam wäre<br />
wie seine Kinder, dann traute sich kein Politiker mehr Geld<br />
zu nehmen. Aber zu Weihnachten sind wache Kinder ein Problem.<br />
Doch es wäre ja gelacht, wenn ein Vater nicht schlauer<br />
wäre als seine Brut. Nach der <strong>Ein</strong>kaufsfahrt in Berlin, während<br />
die Kinder bei der Oma geparkt waren, schlug er den<br />
neugierigen Kinderaugen ein Schnippchen. Er ließ einfach
alle die Pakete und Tüten im Kofferraum. Den konnte er abschließen<br />
und den Schlüssel bekamen auch die Kinder nicht<br />
in die Hand. Nun gut, weil der Kofferraum voll war, mußte er<br />
den Weihnachtsbaum auf den Rücksitzen transportieren, und<br />
auch ein frischer Weihnachtsbaum nadelt, und Harzflecke<br />
macht er auch. Aber sei’s drum, wenigstens wußten die Kinder<br />
nicht, was für sie unter diesem Baum liegen würde.<br />
<strong>Ein</strong>e leichte Unruhe bei seinen Kindern bewies ihm, wie<br />
recht er getan hatte. Nirgendwo im Haus war ein Schrank abgeschlossen<br />
— die Schrankschlüssel waren eh austauschbar.<br />
Nirgendwo türmten sich auf den Schränken irgendwelche dikken<br />
Taschen. Alle Kellertüren standen offen. Sie hatten nichts<br />
zu verbergen. Und der Heilige Abend kam immer näher. Die<br />
Kinder wurden immer unruhiger.<br />
Dann war es soweit. Leidlich gerade stand der Weihnachtsbaum<br />
in seinem Fuß. <strong>Ein</strong> bißchen drehen und man konnte<br />
ihn fast kerzengerade nennen. Nur zwei Glaskugeln waren<br />
zerbrochen, die mit den Wachstropfen hängte er einfach nach<br />
hinten. Die Kringel für den Baum mundeten ausgezeichnet<br />
und weckten in ihm die Erinnerung an die schönen Weihnachtstage<br />
der Kindheit. Er freute sich, daß Fondant auch nach<br />
fünfundzwanzig Jahren noch genauso künstlich schmeckte.<br />
Zu Mittag bestand er trotz aller Sorge um gesundes Fleisch<br />
auf dem Rindswürstchen zum Kartoffelsalat, sollten Frau und<br />
Kinder doch Buletten essen aus Schweinefleisch. Während<br />
seine Frau in der Küche die Soßen zum Fondue rührte, die<br />
Kinder in ihrem Zimmer Weihnachtsgeschenke einwickelten,<br />
ging er nach draußen, um die Geschenke zu holen. Sorgfältig<br />
sah er noch mal nach, ob seine neugierigen Kleinen auch
eschäftigt waren. Als er sie hinter der Tür streiten hörte,<br />
wußte er, jetzt wäre ein günstiger Augenblick. Also: raus auf<br />
die Straße und alles reintragen. Er würde mindestens dreimal<br />
gehen, nein, laufen müssen, denn ein feiner Regen machte<br />
diesen Heiligen Abend vollkommen. Weiße Weihnacht gibt<br />
es nur in Liedern.<br />
Das Auto. Die Parkbucht war leer! Sein Auto! Hatte er weiter<br />
unten geparkt? Menschenleer dehnte sich in der Dämmerung<br />
die Straße. Vor jedem Haus ein parkendes Auto, nur vor<br />
seinem nicht, als hätte er seine Rechnungen nicht bezahlt. Wo<br />
war sein Auto? Langsam dämmerte es ihm. Gestohlen. Man<br />
hatte sein Auto gestohlen! Am Heiligen Abend gestohlen.<br />
Schöne Bescherung! Er lief noch einmal die Straße rauf und<br />
runter, aber es war nicht da, sein Auto. Mit müden Schritten<br />
schlich er ins Haus. In die Küche. Der Mixer surrte. Seine<br />
Liebste hatte vor Eifer rote Bäckchen.<br />
„Du, Doris!“<br />
Sie mixte weiter die Soßen.<br />
„Du, Doris!“<br />
Jetzt drückte sie Tomatenmark unter die Creme für das<br />
Fondue.<br />
„Du, Doris, mach doch mal den Mixer aus!“<br />
Jetzt erst sah sie auf, der Mixer verstummte.<br />
„Du, unser Auto wurde gestohlen, ich muß die Polizei<br />
rufen.“<br />
Sie war gar nicht erschüttert, im Gegenteil. Sie lachte. „Wir<br />
brauchen doch heute am Heiligen Abend kein Auto.“<br />
„Sag mal, verstehst du nicht, unser Auto wurde gestohlen,<br />
ich muß die Polizei anrufen.“
„Quatsch“, sagte sie lapidar. Quatsch. <strong>Ein</strong> Auto wurde gestohlen<br />
am Heiligen Abend, und sie hatte nicht mehr zu bemerken<br />
als: Quatsch. Fast hätte er gebrüllt. Am Heiligen Abend<br />
gebrüllt. Sein Auto war weg.<br />
„Thomas hat unser Auto, Thomas von nebenan.“<br />
Er starrte sie ungläubig an. „Wieso hat Thomas …?“<br />
„Stell dich doch nicht so an! Er wollte seine Freundin in<br />
Berlin besuchen, da hab ich ihm unser Auto geliehen. Morgen<br />
abend bringt er es zurück. Schließlich ist Weihnachten.“<br />
Aber das war’s ja, es war Weihnachten und die Geschenke<br />
fuhren in Berlin spazieren und da oben warteten die Kinder<br />
auf die Bescherung!<br />
Als seine Frau begriff, was Sache war, wurde sie bleich.<br />
„Mann, wie kannst du nur!“<br />
Aber wozu hat man eine Frau, eine Frau für alle Fälle. Sie<br />
hatte sich gleich wieder im Griff. „Dann müssen wir eben dieses<br />
Jahr anders feiern“, meinte sie trocken.<br />
Und so machten sie es auch. Sie machte alles fertig für das<br />
Fondue, ganz so, als wäre nichts passiert, dann ging sie nach<br />
oben und er hörte sie kramen. Mit einem Stapel Bücher und,<br />
tatsächlich, mit ihrer alten Gitarre kam sie die Treppe wieder<br />
herunter. Sorgsam wischte sie den Staub von dem dunklen<br />
Holz. „So, ich glaube, es ist schon dunkel genug, du kannst die<br />
Kerzen anzünden und die Kinder rufen. Wie immer mit der<br />
Weihnachtsglocke. Sie warten bestimmt schon.“<br />
Folgsam trottete er ins Weihnachtszimmer. Beim Anzünden<br />
der Kerzen zitterten ihm die Finger. Polternd rannten<br />
die Mädchen die Treppe herunter, stürmten herein. Wie<br />
jedes Jahr fing der Glanz des Weihnachtsbaums ihre Augen.
Noch kam kein Schrei, weil der Platz unter dem Baum leer<br />
war.<br />
Mit sanftem Lächeln schaffte Doris es. Seine Bewunderung<br />
wuchs von Minute zu Minute. Sie brachte die Kinder<br />
dazu, sich auf den Teppich zu setzen, dann schlug sie das alte<br />
Buch auf und begann mit langsamer, leiser Stimme zu lesen:<br />
„Es begab sich aber zu der Zeit …“ Und immer wieder legte<br />
sie das Buch zur Seite, griff nach der Gitarre, und dann kam<br />
ein Lied. Die Mädchen lasen die Texte aus den Büchern, die<br />
Doris ihnen reichte. Der Klang der Gitarre und der jungen<br />
Stimmen füllte das Haus. Es brauchte zwei Lieder und drei<br />
Strophen, dann sang er mit. Sie mochten gar nicht aufhören<br />
zu singen, verstohlen hatte er auf die Uhr gesehen, die Minuten<br />
wurden fast zu Stunden. Dann bauten die Mädchen mit<br />
Doris die Krippe auf, den schiefen Stall, die Schafe und Ochsen,<br />
das Heilige Paar, die kleine Krippe mit dem Kind, die<br />
dunklen Hirten und die prächtigen Könige. Ganz leise und<br />
still ersetzte er die heruntergebrannten Kerzen im Baum. Als<br />
sie die Hirten in die Krippe einstellten, begann Doris zu erzählen.<br />
Sie redete von den Straßenkindern in Rio und bei uns<br />
in den Städten, von den Weihnachtsfeiern bei Kaviar und Sekt<br />
in den feinen Wintersportorten.<br />
Es war halb zehn geworden, als die Mädchen zum ersten<br />
Mal nach ihren Geschenken fragten. Da mußte er erzählen.<br />
Hinterher schmausten sie alle beim Fondue. Nicht eine einzige<br />
Träne versalzte die leckeren Soßen.
Eigentlich hatte er mit<br />
der Kirche nichts im Sinn<br />
Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn. Die reden<br />
zuviel. Er hielt es mehr mit seinen zupackenden Händen.<br />
Wenn er eine zentnerschwere Pleuelstange ausgebaut und eingesetzt<br />
hatte, und wenn die Maschine dann wieder anfing zu<br />
leben, die schweren Teile sich wieder bewegten, dann wußte<br />
er, was er getan hatte. Mit Schönreden ist das nicht gemacht.<br />
Im Konfirmandenunterricht, ja, er hatte das alles hinter sich,<br />
seine Mutter war so eine, die dem Pastor hinterherlief, Kanzelschwalben<br />
nannte er das bei sich, damals in diesen Stunden<br />
im Pfarrhaus sah er lieber den Mädchen auf die Beine,<br />
das war allemal besser als das eintönige Gerede da vorn. Was<br />
hatten die auch schon verändern können, zweitausend Jahre<br />
hatten sie Zeit gehabt. Wenn er so gearbeitet hätte, wäre keine<br />
Schiffsmaschine wieder ins Laufen gekommen. Vom Zuschauen<br />
allein und von guten Worten bewegt sich kein Zylinder<br />
wieder. Nein, er hatte mit diesem ganzen Kram nichts im<br />
Sinn.<br />
Nur eines mußte er ihnen lassen, diese Sache mit Weihnachten,<br />
die machte ihnen keiner nach. Auch wenn er jetzt<br />
mit zitternden Händen die dritte Kerze an seinem Adventskranz<br />
ansteckte, waren es nicht die Tannenbäume mit ihrem
Lametta, die leuchtenden Kinderaugen, die sich in den Weihnachtskugeln<br />
spiegelten, die ihn beeindruckten. Es ging ihm<br />
nicht um Schmalzkekse und Klöben, obwohl so ein saftiger<br />
Gänseschenkel und der mulschige Rotkohl nicht zu verachten<br />
war, aufgewärmt muß er sein und richtig fett, dann schmeckt<br />
er am besten. Nein, das ganze Drumrum konnte ihm gestohlen<br />
bleiben. Er schüttelte seinen Kopf über das Gerenne nach<br />
den Geschenken, über die Weihnachtslieder auf dem Markt,<br />
die armen Verkäuferinnen, was wollten die sich für Musik<br />
anmachen zur Bescherung, denen mußte doch das „White<br />
Christmas“ zu den Ohren rauskommen. Wenn er seinen Enkelkindern<br />
zusah, wie sie das bunte Papier von den Geschenken<br />
rissen, fragte er sich, ob sie wohl noch in seinem Alter wissen<br />
würden, was sie in welchem Jahr geschenkt bekommen hätten.<br />
Er konnte es noch aufzählen. In einem Jahr war es die Angel<br />
gewesen, davor hatte er den Roller bekommen. Er konnte sich<br />
auch an das Schuco-Auto erinnern, das niemals vom Tisch<br />
fiel. An der Tischkante fuhr es einfach eine scharfe Kurve. Im<br />
Laden schien es Zauberei zu sein; als er es in der Hand hatte,<br />
sah er sofort das querlaufende Rad in der Bodenplatte, und<br />
das Geheimnis hatte seinen Reiz verloren.<br />
Seine Gedanken liefen immer wieder zu dem Stall nach<br />
Bethlehem. Das war es, was ihnen niemand nachmachen<br />
konnte. Er hatte Ställe genug gesehen in seinem Leben. Es gibt<br />
sie bei jeder Hafenstadt, wie mit magischer Kraft zogen sie<br />
ihn an seit damals. Damals, das war seine erste Reise gewesen,<br />
zum erstenmal Weihnachten nicht zu Hause. Weihnachten<br />
in Rio, kein Regen, kein Schnee, fünfunddreißig Grad im<br />
Schatten. Das Schiff liegt drei Tage fest und man hat Zeit, Zeit
und Durst. Zu mehreren sind sie durch die Kneipen gezogen,<br />
warmes Bier an der Copa Cabana, weißer Strand und braune<br />
Haut, einer nach dem anderen konnte den nackten Busen<br />
nicht widerstehen.<br />
Zum Schluß waren sie allein, Jochen und er. Jochen war<br />
nicht so einer und er nahm ihn dann mit auf die Berge hinter<br />
der Stadt. Zuerst dachte er, Jochen wolle ihm die Hochhäuser<br />
von oben zeigen. Aber das war es nicht. Aus den Villen und<br />
herrschaftlichen Häusern wurden Bretterbuden. Mühsam<br />
wühlten sich ihre Füße durch den Staub der Wege, es stank<br />
bestialisch. Wie lästige Fliegen umschwärmten sie Wolken<br />
von lärmenden Kindern, nackt, in zerrissenen Kleidern, dünne<br />
Ärmchen und schmutzige Füße. Viel Geschrei und Krach<br />
aus den Hütten. So langsam beschlich ihn ein komisches Gefühl,<br />
halb Angst, halb Ekel. Er schloß seine Hand um die restlichen<br />
Münzen und Scheine in seiner Hosentasche, die ihm<br />
noch geblieben waren.<br />
Dann war da eine Ansammlung an einer der stinkenden<br />
Wegkreuzungen. Viele Kinder und Frauen drängten sich im<br />
Schein einer Lampe. Er wunderte sich noch, wie sich eine<br />
Straßenlaterne in dieses Elend verirrt hatte, aber wie gut das<br />
war, denn den wenigen Männern in der Menge hätte er nicht<br />
im Dunklen begegnen mögen, sie sahen nicht gerade vertrauenswürdig<br />
aus und es war auf einen Schlag Nacht geworden.<br />
Aus der Hütte drang schrilles Schreien. Als ob ein Schwein geschlachtet<br />
wird, dachte er. Jochen machte nicht den <strong>Ein</strong>druck,<br />
als wolle er weitergehen. Mitten in der Menge waren sie stehengeblieben.<br />
Seine Hand krampfte sich noch fester um das<br />
Geld in seiner Tasche. Er traute sich noch nicht einmal, sich
eine Zigarette anzuzünden, denn dazu hätte er seine Hand<br />
aus der Hosentasche nehmen müssen. Jochen blieb eisern stehen.<br />
Aber dann, in all dem Gedränge und Geschiebe, wurden<br />
sie an die Tür der Hütte gespült. Es war eine Hütte aus modrigem<br />
Holz und alten Autoblechen. Der <strong>Ein</strong>gang war niedrig.<br />
Sie mußten sich tief bücken, um in das Halbdunkel des Stalls<br />
zu sehen, nein, Stall, das war noch geprahlt. So lebt kein Tier<br />
bei uns, dachte er noch, und da hörte er schon das leise Wimmern<br />
unter den fremden Lauten des Geredes und Geschreis.<br />
So langsam dämmerte es ihm: hier war ein Kind geboren<br />
worden. Jochen schob ihn durch die niedrige und schiefe Tür.<br />
Noch nie hatte er so viel Blut gesehen, wie auf dem schmutzigen<br />
Lager der erschöpften und schwitzenden Frau. Jochen<br />
sagte nichts, er stieß ihn nur in die Seite und dann kramte er<br />
aus seinen Hemdtaschen alles, was er hatte. Reals und Centavos,<br />
Dollars waren auch dabei, sein Feuerzeug, die Zigaretten,<br />
die Armbanduhr aus seiner Hosentasche. <strong>Alles</strong> das legte er<br />
lächelnd der Frau auf das fleckige Laken. Es blieb ihm nichts<br />
anderes übrig, als er Jochen so auspacken sah, da mußte er<br />
es ihm gleichtun. Auch er leerte seine Taschen. Bei seinem<br />
Taschenmesser mit silbernem Heft zögerte er ein wenig, er<br />
hatte es von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen, weil<br />
er doch nun schon groß sei, es hatte nämlich seinem Vater<br />
gehört. Aber hier war es richtig. Hier gehörte es hin. Es würde<br />
schon einige Real auf dem Markt bringen.<br />
Auf dem Rückweg schwiegen sie beide. Vor ihnen, unten<br />
an der Küste, lag die golden leuchtende Stadt. Als sie so über<br />
die holperigen Wege stolperten, ging es ihm durch den Kopf.<br />
Ja, er hatte etwas gesehen, was all die da unten in dem Glanz
noch nie geschaut hatten. Er hatte Weihnachten gesehen. Die<br />
hatten doch gar keine Ahnung, was diese Sache mit dem Stall<br />
bedeutete. Er kannte die Geschichte von den Eltern, die keinen<br />
Platz für sich und ihr Kind hatten, und ihm war nun klar<br />
geworden, was die Erzähler mit dieser Geschichte hatten sagen<br />
wollen. Das wehrlose Kind in der Armut als König der<br />
Welt — wenn sie das verstünden, dann wäre es der Himmel<br />
auf Erden. Sie beide hier, auf dem staubigen Weg in die Stadt,<br />
mit keinem Centavo in der Tasche, sie waren reich.<br />
So richtig wurde ihm dieser Reichtum erst später bewußt,<br />
als es ihn in jeder Hafenstadt dieser Erde in die Vorstädte trieb.<br />
Er machte kein Wesens drum, er tat es einfach, weil es richtig<br />
war. Er kam, schenkte und ging reicher, als er gekommen war.<br />
Er fühlte sich einfach leichter, wenn er dort gewesen war. Andere<br />
mögen so denken, wenn sie aus der Kirchentür kommen.<br />
Seit diesem Spaziergang in Rio, als sie zu Weihnachten arm wie<br />
Kirchenmäuse wieder an Bord kamen, seit diesem besonderen<br />
Abend, nahm er die Weihnachtslieder wortwörtlich, und immer,<br />
wenn sie vor dem Kind in der Krippe sangen, wenn sie es<br />
König nannten und Herr der Welt, dann wurde ihm komisch.<br />
Man sagt, Seeleute wären fromm, weil sie die Mächte und<br />
Allgewalt der Naturkräfte erlebten. Für ihn war das nicht der<br />
Punkt. Das war mehr eine Sache der Technik, und er war ein<br />
guter Ingenieur. Für ihn waren es diese Vorstädte in den Häfen,<br />
die streunenden Kinder, die Mädchen, die sich verkaufen.<br />
Er war auch nicht eigentlich fromm. Das hätte er immer weit<br />
von sich gewiesen. Es war nur so: er wußte, was falsch lief in<br />
dieser Welt. Sie hätten sich alle bücken sollen und in den Stall<br />
hineingehen, dann wäre es anders gekommen.
Der Stern zieht weiter<br />
Zuerst hatte er auf dem Balkon gestanden und war nichts anderes<br />
als ein Tannenbaum. Seine Zweige waren naß und grün<br />
und bewegten sich im kalten Wind. Mama war begeistert: wie<br />
gerade er gewachsen ist, wie schöne Zweige er hat und was für<br />
eine herrliche Spitze und gar keine braunen Nadeln! Für Kristin<br />
aber war es nur ein Tannenbaum, der da im nassen Wind<br />
in der Balkonecke stand.<br />
Aber dann war er weg, der Tannenbaum, und das Wohnzimmer<br />
war zugeschlossen. Selbst durch das Schlüsselloch<br />
konnte Kristin nichts mehr sehen, Mama hatte da etwas vorgehängt,<br />
gestern abend hatte sie das wohl gemacht, Kristin in<br />
ihrem Bett hörte Kramen und Rascheln, Lachen und Klirren,<br />
als sie nicht einschlafen konnte, weil doch nun bald Weihnachten<br />
ist. Jetzt war es wohl doch schon ein Christbaum, da<br />
im verschlossenen Wohnzimmer, mit Kugeln, Kerzen, glitzernden<br />
Sternen, mit Lametta und Kringeln, und darunter<br />
lagen gewiß schon …<br />
Ob sie da schon lagen, die Geschenke, von denen Kristin<br />
träumte, ein Gameboy vielleicht, vielleicht auch ein Fahrrad<br />
mit 18 Gängen oder die Puppe, die sogar in die Windeln machen<br />
kann? <strong>Ein</strong>es wußte Kristin bestimmt, auch wenn das
Schlüsselloch verhängt war, die Krippe würde wieder da sein<br />
mit dem zierlichen Kind, dem bärtigen Joseph und der Maria<br />
im Goldhaar, über das sich so schön streicheln ließ, weil es<br />
so glänzend seidig und glatt war. Auch der Esel würde dabeistehen<br />
mit echtem Fell, von dem Kristin einmal gesagt hatte,<br />
der sieht aus wie Opa, weil Opa doch auch graue Haare hatte,<br />
und der Ochse, der aber einen Euter hatte, und die Könige<br />
in bestickten Gewändern, die würden wieder zu Füßen des<br />
Christbaums stehen.<br />
Bald, bald, gleich ist es soweit. Gleich klingt die Glocke<br />
und die Tür geht auf. Kristin sah das zierliche Kind in der<br />
Krippe, sah das Licht um seinen Kopf. Aber wo war die Maria<br />
im Goldhaar, wo war der bärtige Joseph, wo waren Ochs und<br />
Esel und auch der Stern?<br />
Die dunklen Hirten waren wohl gegangen, bis auf einen,<br />
der nun bei der Krippe stand und Wache hielt. Natürlich waren<br />
die Hirten gegangen, sie mußten doch die Herden hüten,<br />
den Wolf vertreiben, die Schafe zusammenhalten im Dunkel<br />
der Nacht. Die Hirten konnten nicht stehen und staunen, loben<br />
und beten die Nacht hindurch. In der Ferne heulten unheimlich<br />
die Wölfe, und die Schafe blökten ängstlich. Waren<br />
die Könige auch weitergezogen, nachdem sie ihre Gaben niedergelegt<br />
und das Kind gesehen hatten, lichtumglänzt in seiner<br />
Krippe? Kristin verwunderte sich und wagte zuerst nicht<br />
zu fragen. Der Hirte bei der Krippe sah so finster und fremd<br />
aus, aber dann faßte sie sich ein Herz und sie fragte: „Wo —<br />
wo sind sie denn alle hin? Warum sind sie nicht mehr da?“<br />
Der Hirte schaute Kristin an, und sie sah, daß er ganz gütige<br />
Augen hatte über dem schwarzen Bart. „Weißt du das nicht?“
fragte er, und weil Kristin ihren Kopf schüttelte, erzählte der<br />
Hirte ihr die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte, die Kristin<br />
schon so oft gehört hatte. Die Geschichte war immer damit<br />
zu Ende gewesen, daß die Hirten und die drei heiligen<br />
Könige kamen. Der Hirte aber wußte, wie es weiterging.<br />
„Weißt du, Kristin, der Stern, der Stern über dem Stall, der<br />
ist nicht stehengeblieben. Der hatte nur eine Pause gemacht.<br />
Dann ist er weitergezogen. Die drei heiligen Könige, Maria<br />
und Joseph sahen das, und da packten sie die Gaben, vor allem<br />
das Gold zusammen, beluden den Ochsen und den Esel<br />
und zogen dem Stern hinterher, nur ein wenig ließen sie liegen,<br />
so viel, wie das Kind wohl brauchte. Sie zogen dem Stern<br />
hinterher — und sieh, er blieb stehen über drei Bettlern, die<br />
kein Bett und kein Brot hatten, und Maria und Joseph ließen<br />
etwas Gold in deren Hüte regnen. Der Stern aber zog weiter<br />
und hielt erst vor Kindern wieder an, die vor Hunger weinten.<br />
Auch ihnen sollte geholfen werden mit den Gaben, und dem<br />
Stern hinterher zogen Maria und Joseph weit durch die Welt<br />
und brachten, was sie nicht nötig brauchten, zu den Traurigen<br />
der Erde.“<br />
Jetzt hatte Kristin aber eine Frage: „Die Welt war doch<br />
so riesengroß, reichte denn das, was Ochs und Esel trugen<br />
für alle aus? Oder zogen sie zum Schluß mit leeren Händen<br />
weiter?“ Der Hirte bei dem Kind in der Krippe lachte. „Kristin,<br />
das kennst du doch! Wenn es nicht reicht, dann muß<br />
man teilen. Die Körbe auf Ochs und Esel müssen aufgefüllt<br />
werden, immer wieder aufgefüllt, dann reicht es rund um die<br />
Welt. Der Stern zieht weiter, unentwegt, auffüllen müssen wir,<br />
der Stern zieht weiter …“
Kristin nickte. Diese Geschichte mußte sie Mama erzählen,<br />
gleich noch, vor der Bescherung. Es mußten ja nicht 18 Gänge<br />
an ihrem Fahrrad sein, eigentlich brauchte sie doch nur drei.<br />
Da wäre bestimmt etwas übrig.
Der verwünschte Weihnachtsbaum<br />
Wer durch den Winterwald wandert, kann es spüren. Wenn<br />
auf den Wegen weicher Schnee wie Watte den Ton der Tritte<br />
verschluckt, wenn ein leises Knirschen jeden Schritt verrät,<br />
wenn weiße Pelze das Tannengrün verdecken, an jenen hellen<br />
klaren Tagen träumen die jungen Fichten ihre wunderbarsten<br />
Träume. Manchmal hörst du dann ein schrilles, ein<br />
peitschendes Krachen und Knacken — dann ist so ein junger<br />
Tannenbaum erschrocken aufgewacht.<br />
Wovon träumen die junge Fichten an solchen Wintertagen?<br />
Sie träumen von warmen Weihnachtszimmern, von Kerzenglanz<br />
in Kinderaugen, von Sternen, Kringeln und Lametta.<br />
Denn jede junge Fichte kann das Glück haben, zur Weihnacht<br />
ausgesucht zu werden, um das schönste Geräusch der Welt zu<br />
hören: Kinderlachen.<br />
Da stand auch am Stadtrand gleich neben der Kaserne in<br />
einem kleinen Wäldchen eine junge Fichte. Tag für Tag gingen<br />
die Soldaten an ihr vorüber und sahen sie nicht. Aber auch<br />
die junge Fichte sah bald nicht mehr hin, wenn die Soldaten<br />
kamen; die sind ja wie ich, dachte sie, einer sieht aus wie der<br />
andere, ich kann sie nicht unterscheiden, sie tragen alle ein
grünes Kleid, eins wie das andere, mal naß und mal trocken,<br />
ganz wie das Wetter ist.<br />
<strong>Ein</strong>es Tages aber klang leises Klimpern an ihr Ohr. Es kam<br />
näher und näher, und die junge Fichte neigte sich im Wind<br />
weit über, um besser sehen zu können. Was war das? Da kamen<br />
Männer in grünen Uniformen, aber auf dem eintönigen<br />
Grün glitzerte, glänzte und funkelte es in wahrer Pracht.<br />
„Das sind Generale“, sagte ihre Nachbarin, ein alter Baum, der<br />
schon viel gesehen hatte. „Auf tausend Normale kommt einer<br />
von den Bunten“, sagte die alte Fichte, als ihre junge Schwester<br />
seufzte. „Das ist auch nichts Besonderes.“<br />
Aber die junge Fichte wußte nun, was sie gerne werden wollte:<br />
ein richtiger Generalsweihnachtsbaum, und sie wünschte<br />
sich das mit jeder Faser ihres schlanken Leibes, von den Wurzeln<br />
bis zum Wipfel hatte sie nur diesen Wunsch: ein richtiger<br />
Generalsweihnachtsbaum zu werden, und dieser Traum<br />
verfolgte sie tags und nachts. Darum war sie auch gar nicht<br />
erstaunt, als an einem regnerischen Dezembertag Soldaten<br />
kamen, es waren ganz normale grüne, einer wie der andere,<br />
mit Axt und Säge, und vor ihr stehen blieben. „Den nehmen<br />
wir“, sagte einer von den Männern, der — wenn man ganz genau<br />
hinsah — ein klein wenig Rot auf seiner grünen Uniform<br />
hatte. Mit jedem Schlag der Axt hüpfte das Herz der jungen<br />
Fichte ein wenig höher. „Jetzt werde ich ein Generalsweihnachtsbaum“,<br />
jubelte sie.<br />
Und richtig: die Soldaten trugen sie durch ein großes Tor<br />
in die Kaserne und durch eine vornehme Tür aus feinem<br />
Holz über der stand: Offiziere. In einem großen Saal mit<br />
weißgedeckten Tischen wurde sie aufgestellt. Und viele grüne
Männer eilten heran, um sie zu schmücken für ihren großen<br />
Tag.<br />
Aber was wurde da in ihre Zweige gehängt? Statt Sternen<br />
waren es Raketen; kein Kringel war darunter, nur Kanonen,<br />
für die Kugeln nahmen die Männer Flugzeuge, und Panzer<br />
für die Pracht der roten Äpfel. Laut lachten die grünen Männer<br />
über den Spaß, den sie sich machten. Die junge Fichte war<br />
zufrieden mit der kriegerischen Zier. Sie reckte ihre Zweige<br />
und war glücklich, ein Generalsweihnachtsbaum geworden<br />
zu sein. Sie freute sich aufs große Fest, und das Kinderlachen<br />
klang schon hell in ihren Ohren.<br />
Doch als es soweit war, da lachte gar kein Kind. Es waren<br />
Kinder da, doch standen sie nur stumm um diesen Baum herum<br />
und wollten sich nicht freuen über diesen Weihnachtsbaum,<br />
der so ganz anders war, als sie sich Weihnachtsbäume<br />
wünschten. So fremd erschien er ihnen, daß sie ihn nicht einmal<br />
erkannten als das, was er doch war: ein Weihnachtsbaum.<br />
„Gar keine Kringel“, klagte leise ein Kind, „und keine Kugeln.“<br />
„Nur Kanonen“, murmelte ein anderes, „und Flugzeuge“ flüsterte<br />
ein drittes. „Und Raketen“ raunte da ein viertes. Und<br />
kein Kind lachte.<br />
Da weinte unsere junge Fichte harzige Tränen und verwünschte<br />
sich und ihre Weihnachtswünsche. „Ach käme doch<br />
jemand, der mich verwandeln könnte in einen Kinderweihnachtsbaum<br />
voll Kerzen und voll Kugeln und läge doch Lametta<br />
auf meinen Zweigen und hingen Kringel drin, damit ich<br />
Kinder lachen hören könnte“, klagte die kriegerisch Gezierte.<br />
„Krieg ist doch nichts für Kinder“, hatte sie gelernt, und auch:<br />
„Zu Weihnachten muß Frieden werden“, weinte sie und wartete
mit wehem Herzen auf den, der sie verwandeln könnte in einen<br />
Weihnachtsbaum voll Frieden und Versöhnung, auf den<br />
doch alle Kinder warten in der Welt.<br />
Bist Du bereit, ihr diesen Wunsch auch zu erfüllen?
<strong>Ein</strong> frommer Wunsch<br />
Ihren achtzigsten hatte sie nicht feiern wollen. Immer lag ihr<br />
Geburtstag am Totensonntag oder am Buß- und Bettag, wenn<br />
keiner Lust hatte, fröhlich zu sein. Die Tage so grau, die Nächte<br />
so lang, jeder wartete auf den Beginn der Adventszeit, wenn<br />
es gemütlich wird mit den Kerzen und den würzigen Keksen,<br />
mit Honigkuchen und Aachener Printen. Wenn sie die doch<br />
nur noch beißen könnte … Alle hatten ihr zugeredet, aber sie<br />
wollte nicht feiern. Sie kaufte sich deshalb eine Karte für das<br />
Sinfoniekonzert, die Fünfte, die Schicksalssinfonie, sie ließ<br />
sich von einem Taxi in die Konzerthalle fahren, sie war also<br />
nicht zu Hause, da mußten sie sich fügen. Sie hatte nur einen<br />
Wunsch: Weihnachten, Weihnachten sollten sie einmal wieder<br />
alle zusammensein, nicht am ersten oder zweiten Weihnachtstag,<br />
sondern am Heiligen Abend, ob das nicht einmal<br />
möglich wäre. Sie ginge in ihrem Alter ja doch früh schlafen,<br />
und sie könnten doch gegen sechs alle nach Hause fahren und<br />
ihre eigene Weihnachtsfeier machen. Maulend oder erfreut<br />
waren die Reaktionen. Kinder sind eben verschieden, das waren<br />
sie schon immer, ihre vier. Aber alle sagten denn doch zu.<br />
Die Vorbereitungen fielen ihr nicht mehr leicht mit ihren<br />
Jahren, aber weil sie es wollte, schaffte sie es auch. Es sollte so
sein wie damals, genau so. Um eins sollten alle da sein, dann<br />
gab es heiße Wiener Würstchen mit Salat, mit ihrem Kartoffelsalat,<br />
mit selbstgemachter Mayonnaise und ausgebratenen<br />
Speckstückchen darin. Dann kam das Warten, das Reden<br />
von Weihnachten und den Wünschen, während sie mit<br />
der Ältesten zusammen im Wohnzimmer den Tannenbaum<br />
schmückte. Nur dies war anders: Sie saß im Sessel und ließ<br />
ihre Älteste machen. Die konnte das noch, stieg wie eine Junge<br />
auf den Stuhl und steckte die silberne Spitze mit dem roten<br />
Stein auf die Spitze, als wäre das nichts. Der Weihnachtsbaum<br />
sollte wieder bunt werden, so wie sie es alle am liebsten mochten,<br />
und mit viel Lametta. Von draußen hörten sie die Weihnachtsmusik<br />
aus dem Radio und die Stimmen der anderen,<br />
die mal lauter, mal leiser von ihren häuslichen Weihnachtsvorbereitungen<br />
erzählten. Sie wußte, was sie zu sagen hatten,<br />
sie kannte ihre Kinder. So schloß sie ihre Augen, hörte die da<br />
draußen reden, dachte sich ihr Teil. Nur dann und wann half<br />
sie mit Rat aus, wenn die Älteste sich nicht sicher war, an welchem<br />
Zweig die bunte Kugel oder der silberne Stern am besten<br />
passen würde.<br />
Ihr Jüngster hielt nichts von dem Getue um Weihnachten.<br />
Er gab damit an, Atheist zu sein. Das ist doch alles nur ein<br />
riesiges Geschäft. Seht auf den Buchhandel, die machen 70 %<br />
ihres Umsatzes in der Vorweihnachtszeit! Und dann nach den<br />
Feiertagen, die Sturmwelle des Umtausches in der Stadt. Hier<br />
werden doch Gefühle vermarktet.<br />
Seine ältere Schwester hatte da schon mehr für dieses Fest<br />
übrig. Für sie als Erzieherin in einem Tagesheim war es Hochsaison.<br />
Erst das Laternenbasteln, dann die Räume schmücken,
mit den Kindern die Weihnachtslieder und -gedichte lernen,<br />
dann die Geschenke für die Eltern basteln, jedes Jahr das gleiche,<br />
aber die Kinder müssen es ja irgendwo mitbekommen, in<br />
vielen Familien wird gar nicht mehr richtig gefeiert. Sie fahren<br />
lieber in den Süden oder in die Berge. Nur die Sache mit<br />
der Weihnachtsgeschichte, damit hatte auch sie ihre Probleme.<br />
Wie sollte sie den Kindern erklären, was ein Heiland ist,<br />
sie wüßte es doch selbst gern. Weihnachten mit den Kindern,<br />
das ergab einen Sinn, auch das Feiern einer Geburt, Kinder<br />
sind eben die Zukunft, aber alles andere, das Heilige, damit<br />
konnte sie nichts anfangen.<br />
Für ihren Zweiten war Weihnachten aus einem anderen<br />
Grunde wichtig. Damals, nach seiner Scheidung war er am<br />
Heiligen Abend immer zu ihr gekommen und hatte den ganzen<br />
Abend fast nur geweint, weil er nicht mit seinen Kindern<br />
feiern durfte, die er doch so sehr liebte. Aber dann hatten er<br />
sich mit seiner Frau geeinigt: am zweiten Feiertag durften die<br />
Kinder bei ihm sein, und so hielten sie es noch heute, obwohl<br />
sie schon erwachsen waren. Sie hatten ihm gestanden, daß es<br />
immer sehr schön für sie gewesen sei, zweimal Bescherung zu<br />
haben, und er hatte auch immer die Kerzen an seinem Weihnachtsbaum<br />
erst angezündet, wenn die Kinder bei ihm waren,<br />
und sie wußten das.<br />
Ihre Älteste, die jetzt das Lametta auf den Zweigen verteilte,<br />
weil sie mit den Kringeln fertig war, für sie war Weihnachten<br />
die Gelegenheit, die Welt zu verbessern. Sie wühlte fast<br />
das ganze Jahr über für den Basar zugunsten der schwarzen<br />
Kinder in Südafrika, sie kam schon im November mit den<br />
Postkarten von der Unesco und konnte nicht genug davon
loswerden, und dann brachte sie die Sammeldose von Brot für<br />
die Welt. Weihnachten, sagte sie, das hat doch alles nur einen<br />
Sinn, wenn es besser wird in der Welt. Wir können uns doch<br />
nicht nur egoistisch den Bauch vollschlagen, wenn andere<br />
hungern. Weihnachten muß man sich verdienen, sagte sie.<br />
Anfangs waren die anderen drei nicht einverstanden gewesen,<br />
am Heiligen Abend alle zusammen zur Kirche zu gehen.<br />
Was sollen wir da? Sie waren seit Jahren nicht mehr zu Weihnachten<br />
in der Kirche gewesen. Aber sie hatte darauf bestanden<br />
und die Älteste hatte sie unterstützt. Wer zu Weihnachten<br />
nicht in die Kirche geht, der dürfte eigentlich gar nicht Weihnachten<br />
feiern. So waren sie alle aufgebrochen zur Kirche, als<br />
die Glocken zum erstenmal läuteten. Und wirklich, es wurde<br />
so, wie sie es sich vorgestellt hatte.<br />
Schon der schlichte Lichterbaum neben dem Altar tat das<br />
Seine. Sie blieben wie andächtig in dem Portal stehen und sahen<br />
sein Leuchten. Und dann die feierliche, gedämpfte Orgel,<br />
das wiegende Klingen der alten Lieder, an die sie sich alle erinnern<br />
konnten, sie sah, wie sogar ihr Jüngster die Lippen bewegte.<br />
Die Predigt machte auch nichts kaputt. Die Pastorin<br />
erzählte den Kindern die Geschichte von den Menschen, die<br />
in der Kälte der Nacht sich sehnten nach Wärme und Liebe,<br />
die unter der Macht der römischen Soldaten sich den Frieden<br />
herbeiwünschten, und wie dann alles in dem kleinen Kind<br />
in der Krippe erfüllt wurde: Der Stern brachte das Licht, die<br />
Nähe der Tiere erwärmte den Stall, die rauhen armen Hirten<br />
erfuhren, was für sie Liebevolles geschehen war, die Könige<br />
fielen auf die Knie und legten die Schwerter nieder und brachten<br />
dem armen Kind der Maria ihre Geschenke. Sie sah von
der Seite, wie gebannt ihre eigenen Kinder, diese erwachsenen<br />
Menschen, fasziniert auf die Kinder schauten, die der Geschichte<br />
lauschten. Und dann erschallte brausend und jubelnd<br />
das „Oh du fröhliche“, das sie stehend sangen. Wie von selbst<br />
fanden sich ihre Hände.<br />
Wieder bei ihr daheim gab es einen starken Kaffee und<br />
sie holte die Dosen mit den Schmalzkeksen und den braunen<br />
Kuchen, den Anisplätzchen und den Haferflockenkeksen.<br />
Sonderbar still waren alle. „Irgendwie“, sagte der Jüngste, und<br />
das Wort blieb lange allein in der Stille, dann erst sprach er<br />
weiter, „irgendwie ist da doch etwas dran.“ Sie wußten alle,<br />
was er meinte, er, der Atheist unter ihnen, der aus der Kirche<br />
ausgetreten war. Aber das waren ja auch die beiden anderen.<br />
Und sie waren es, die dem zustimmten. „Ja wirklich“, pflichtete<br />
die Erzieherin ihm bei, „die Menschen müßten sich nur<br />
mehr daran halten. Ich muß immer an die vielen Kinder ohne<br />
Väter denken. Der Joseph hat seine Maria nicht im Stich gelassen.<br />
Und so ein Kind, das ist doch wie eine Hoffnung für<br />
die Welt, wenn es das Richtige lernt und sich engagiert später.“<br />
Das gefiel ihrer Ältesten. „In unserer Gemeinde arbeiten<br />
vier Wehrdienstverweigerer, und bei amnesty international<br />
haben wir eine ganz große Jugendgruppe. Das macht schon<br />
Hoffnung.“ Das konnten die anderen nur bestätigen. Es gibt<br />
viele junge Menschen, die von einer besseren Welt träumen<br />
und auch etwas dafür tun. Das war das Stichwort für ihren<br />
Zweiten. „Weihnachten, das ist wie ein Traum, aber es ist auch<br />
mehr. Wißt ihr damals, nach meiner Scheidung, als die Kinder<br />
noch klein waren, habe ich das ganze Jahr über von einer<br />
heilen Welt geträumt, und das war eben zu Weihnachten,
wenn die Kinder bei mir waren. Und zu Weihnachten war das<br />
plötzlich kein Traum mehr, dann war das Wirklichkeit.“<br />
Als sie sich danach unter den brennenden Kerzen des Weihnachtsbaumes<br />
umarmten, da spürte sie das, was sie sich von<br />
diesem Tag gewünscht hatte: Sie fühlte, wie das Kind in der<br />
Krippe sie alle verwandelt hatte. In zweitausend Jahren war<br />
dieser Zauber nicht erloschen, und sie hatte dazu beitragen<br />
können in ihren achtzig Jahren. So verschieden ihre Kinder<br />
auch waren, in dem Erleben der Weihnacht waren sie sich einig,<br />
und sie alle hatten etwas davon in sich aufgenommen, das<br />
sie weitergegeben hatten und immer weitergeben würden …
Menschen hinter dem Zaun<br />
Opa möchte schlafen, aber er kann nicht schlafen. Bei Katharina<br />
ist das anders. Jeden Abend. Katharina muß ins Bett, aber<br />
sie will nicht schlafen, Sie will lieber aufstehen, mit den Großen<br />
fernsehen oder spielen. Papa sagt:<br />
Bleib im Bett, und wenn du nicht schlafen willst, dann<br />
liegst du einfach im Bett und machst dir schöne Gedanken.<br />
Katharina will sich keine schönen Gedanken machen. Immer,<br />
wenn sie sich schöne Gedanken macht, schläft sie ein.<br />
Opa aber kann nicht schlafen. Die da drüben machen<br />
abends so viel Lärm, die halbe Nacht hindurch. Sie feiern, singen,<br />
lachen, rufen die halbe Nacht hindurch da drüben.<br />
Da drüben durfte Katharina früher nicht spielen, obwohl<br />
da so viele schöne Büsche waren und kinderhohes Gras. Es<br />
gibt eine Menge böse Menschen, sagte Oma, Mitschnacker<br />
und Kinderentführer. Deswegen durfte Katharina da drüben<br />
nicht spielen.<br />
Nun sind die Büsche weg und das Gras auch, das kinderhohe.<br />
Nun stehen da Container. Opa sagt: Blechdosen mit<br />
Fenstern. In diesen Containern leben Menschen. Asylanten,<br />
sagt Opa. Katharina findet das lustig: Menschen in Blechdosen.<br />
Katharina möchte zu gerne einmal in so eine Blechdose
hineinschauen. Aber da ist ein Zaun um die Container, und<br />
hinter dem Zaun sind die Asylanten. Asylanten sind schwarze<br />
und braune Menschen, dachte Katharina lange Zeit, aber nun<br />
sind auch hellere dabei, doch auch die waren zu lange an der<br />
Sonne gewesen, denn sie sind dunkler, brauner als Katharina,<br />
und Opa kann nicht schlafen. Die Asylanten feiern nachts<br />
und machen Lärm. Opa sagt, sie nehmen auch Autos weg.<br />
Opas Auto ist geklaut worden. Aber Katharina weiß, daß die<br />
Asylanten das Auto nicht haben. Hinter dem Zaun hat sie es<br />
nie gesehen, und in eine Blechdose geht es nicht rein. Opa<br />
sagt, man müßte die Blechdosen anzünden, dann wäre wieder<br />
Ruhe. Aber Blechdosen brennen nicht. Katharina weiß das.<br />
Katharina mag die Menschen hinter dem Zaun und schaut<br />
ihnen immer zu, wenn sie bei Opa ist. Katharina hat schon<br />
einmal so ein kleines schwarzes Baby auf dem Arm gehabt.<br />
Da war alles dran, und gelacht hat das Baby mit den braunen<br />
Augen. Katharina kennt auch ein Geheimnis. Die braunen<br />
Babys haben weiße Hände, innen sind die Hände ganz hell.<br />
So ein Schwesterchen möchte Katharina haben, aber Mama<br />
sagt, das geht nicht, weil Papa zu weiß ist.<br />
Was jetzt geschehen ist, hat Katharina gar nicht mitbekommen.<br />
Das muß passiert sein, als Katharina schlief. Mama sagt,<br />
das war so: Katharina stand am Zaun bei den Containern. Das<br />
weiß Katharina auch noch, aber dann weiß sie nichts mehr.<br />
Sie ist über die Straße gelaufen, das Auto war da, Katharina<br />
flog durch die Luft, und nun hat sie ein Bein ganz steif in einem<br />
weißen harten Verband und auf dem Kopf einen weißen<br />
Turban. Das Auto ist weggefahren. Nur die Menschen aus den<br />
Blechdosen waren da. Sie haben den Krankenwagen gerufen
und die Polizei. Sie haben Katharina auf die Seite getragen<br />
und auf eine Decke gelegt.<br />
Wenn Katharina wieder aus dem Krankenhaus kommt,<br />
dann will Opa mit ihr zu den Menschen hinter dem Zaun gehen<br />
und mit ihnen feiern. Das hat er versprochen. Und er sagt<br />
auch gar nicht mehr, daß er nicht schlafen kann. Er sagt, es<br />
gibt solche Menschen und solche. Er sagt, braune Menschen<br />
haben auch ein Herz. Katharina freut sich. Endlich wird sie<br />
einmal so eine Blechdose von innen sehen. Opa sagt, die sollen<br />
Häuser bauen für die Menschen hinter dem Zaun. Aber<br />
Katharina hofft, daß sie gesund wird, bevor die Häuser fertig<br />
sind. Denn sie möchte zu gerne einen Container von innen<br />
sehen. Opa sagt auch, sie sollen den Zaun wegmachen, das<br />
wäre eine Schande. Katharina findet das auch, und wenn sie<br />
ein Schwesterchen bekommt, dann soll es braun sein.
Der verlegte Schlüssel<br />
Die 491 Euro für die lange überfällige Inspektion seines Autos<br />
gaben ihm den Rest. Der Teppichboden für 3000, der ja unbedingt<br />
sein mußte, der alte liegt doch nun schon fünfzehn Jahre<br />
und durchgetreten ist er im Flur und unter dem Eßtisch, lag<br />
ihm auch noch im Magen, die neuen Brillen für die Kinder,<br />
zusammen auch nur 575 Euro — sie können doch nicht mit<br />
Kassengestellen rumlaufen, wenn sie schon einen Sehfehler<br />
haben, dann sollen sie wenigstens gut aussehen, nicht wahr?<br />
Schließlich war der Sommerurlaub in Dänemark auch noch<br />
nicht bezahlt, da fehlten immer noch 1500 Euro, und die vier<br />
Wochen Dänemark lagen schon fünf Monate zurück. Aber<br />
unter vier Wochen ist es doch keine Erholung, nicht wahr?<br />
Die Zahl unter seinem Kontoauszug von der Sparkasse sah<br />
beeindruckend aus, wenn nur nicht der kleine waagerechte<br />
Strich davor wäre …<br />
Aber Geld ist schließlich nicht alles. Wenn alles andere<br />
stimmt, dann kommt es auf das Geld nicht an. Aber das andere<br />
— es stimmte eben auch nicht. Seit der Voigtmann Abteilungsleiter<br />
war, quälte jeder Schritt auf dem Weg ins Büro. Es<br />
war doch reine Schikane, wenn alle stumpfsinnigen Arbeiten<br />
auf seinem Schreibtisch landeten. Eigentlich müßte er doch
jetzt die Schadensabteilung leiten, hatte er sich nicht in den<br />
letzten zwei Jahren reichlich bewährt, hatte keine Überstunde<br />
verweigert, hatte die schwierigsten Fälle zur Zufriedenheit<br />
des Chefs geklärt, sogar die Sache mit dem gestohlenen LKW<br />
und der Regreßklage wegen der versäumten Lieferfristen. Vor<br />
Gericht hätten sie vielleicht schlecht ausgesehen, es war doch<br />
sein Verhandlungsgeschick gewesen, daß sie sich verglichen<br />
hatten. Aber als der Westphal in Frührente ging, da wurde<br />
der Voigtmann Abteilungsleiter. Nur weil er studiert hatte<br />
und mit dem Chef im gleichen Club Tennis spielte. Als ob er<br />
das nicht wüßte … Aber der Voigtmann mit seiner angeberischen<br />
Hornbrille und dem Anzug von Hugo Boss konnte<br />
auch gut Tennis spielen, Kinder hatte er nicht und Freundinnen<br />
wechselte er wie das Hemd.<br />
Wenn wenigstens damit alles in Ordnung wäre, aber selbst<br />
das bekam er nicht auf die Reihe. Immer häufiger hatten sie<br />
Streit miteinander. War es seine Schuld, wenn sie ihre Stellung<br />
verlor, weil die Engländer ihre Firma aufgekauft hatten?<br />
Er war doch nicht der Erfinder der Globalisierung! Und dann<br />
diese ständige Auseinandersetzung um seine Überstunden.<br />
In jedem Kriminalfilm kann man es sehen: die Frauen haben<br />
alle keine Ahnung davon, daß man arbeiten muß, manchmal<br />
auch mehr als nur acht Stunden am Tag, wenn man es zu<br />
etwas bringen will. Er mochte seine Frau, gewiß, aber mußte<br />
sie immer hinter ihm her sein, wenn er einmal zum Kegeln<br />
wollte oder zum Fußball? Er sollte sich mehr um seine<br />
Kinder kümmern, aber er war eben zu müde, um sich nach<br />
zehn Stunden Arbeit auch mit den blödsinnigen Hausaufgaben<br />
seiner Kinder zu beschäftigen. Die Tochter — warum
kapierte sie die Textaufgaben auch nicht! Sie waren doch ganz<br />
einfach …<br />
Darum war der Brief seines Onkels wie ein Wunder gewesen.<br />
Sein Onkel, der mit fünfzig aufhören konnte, zu arbeiten,<br />
weil er genug zusammengerafft hatte, und der seitdem<br />
von seinem Ersparten lebte, und das war genug. Es mußten<br />
Millionen sein. Nun war er achtzig und hatte seinen Besuch<br />
angekündigt. Er wollte mit ihm einmal reden, weil er doch<br />
nun sein Testament machen müßte, in seinem Alter und keine<br />
Kinder … Bisher hatte er gedacht, das gäbe es nur in Romanen:<br />
Erbonkel. Aber Onkel Eduard war sein Onkel, war alt,<br />
unverheiratet und kinderlos und wollte sein Testament machen.<br />
Nach einem Gespräch mit ihm, seinem Neffen. Sonntag<br />
morgen. Um zehn. Schließlich brauche ein alter Mann nicht<br />
mehr so viel Schlaf.<br />
Nun gut, an ihm sollte es nicht liegen. Das wäre die Lösung<br />
all seiner Probleme … Er benötigte viel Überredungskunst,<br />
um seine Familie für dieses Wochenende bei Schwiegereltern<br />
einzuquartieren. Quarkende und streitende Kinder am<br />
Sonntagmorgen, das wäre für einen alten Mann bestimmt zu<br />
nervig. Und darauf konnte er wetten: es würde Streit geben<br />
und Gemecker, denn der Fernseher stand im Wohnzimmer<br />
und sie sahen doch immer das Kinderprogramm am Sonntagmorgen,<br />
und schließlich konnte er einen Erbonkel nicht in der<br />
Küche empfangen. Aber dann waren sie gefahren, er winkte<br />
ihnen zu, schloß die Wohnungstür ab und machte sich einen<br />
schönen Abend mit Bundesligafußball und Flaschenbier, mit<br />
einem Video voller Action. Den Film sah er zweimal, so großartig<br />
waren die Stunts.
Er wurde erst vom Klingeln wach. Das war nicht der Wecker,<br />
wie ihm so langsam bewußt wurde, das war die Haustür. Onkel<br />
Eduard! Blitzartig fiel es ihm ein. Scheibenkleister … Das<br />
war noch immer ein besserer Fluch, als bei jeder Gelegenheit<br />
das andere zu sagen, brachte er immer wieder seinen Kindern<br />
bei, die mit den Wörtern aus der Hose sehr freigiebig waren.<br />
Füße aus dem Bett, die Hausschuhe, wo ist denn der andere, es<br />
klingelt, natürlich unter dem Bett, schnell den Morgenmantel,<br />
wieder das Klingeln, einen Blick in den Spiegel, mit der Hand<br />
über das Haar, wieder das Klingeln, über den langen Flur zur<br />
Tür, Riegel zurück — aber was ist das? Die Tür ist abgeschlossen.<br />
Ja richtig, er hatte gestern selbst abgeschlossen. Es klingelt.<br />
Fordernder, stürmischer diesmal. Wo ist denn nur der<br />
Schlüssel, sonst läßt er ihn doch immer stecken. Diesmal eben<br />
nicht. Wo ist der verflixte Schlüssel!? Wo hat er ihn gelassen?<br />
Wieder das Klingeln. So endgültig diesmal. Auf dem Tisch in<br />
der Küche. Mein Gott sieht das hier aus! Er hätte noch abwaschen<br />
sollen, und draußen klingelt der Erbonkel. Hier ist der<br />
Schlüssel auch nicht. Im Wohnzimmer, auf dem Couchtisch.<br />
Natürlich! Zwischen all den leeren Bierflaschen und dem vollen<br />
Aschenbecher muß er liegen. Warum hat er nur nicht aufgeräumt,<br />
bevor er schlafen ging? Hier kann er doch keinen<br />
Erbonkel reinlassen! Aber erst einmal den Schlüssel finden.<br />
Wo hat er ihn nur gelassen gestern? Er hatte immer nur an<br />
das Erbe gedacht und an den freien Abend. Es klingelt wieder.<br />
Etwas verloren klingt es jetzt. Ja richtig, in seiner Anzughose,<br />
die er gestern anhatte, da wird der Schlüssel sein. Die Hose<br />
liegt hinter dem Sessel. Und seinen Kindern macht er immer<br />
Vorwürfe, wenn sie ihr Zeug nicht ordentlich weglegen, und
die schmutzigen Unterhosen auf dem Fußboden im Kinderzimmer.<br />
Es klingelt. Ziemlich abschließend schrillt die Klingel<br />
an der Haustür. Da, wie konnte es auch anders ein, in seiner<br />
Hosentasche, das Schlüsselbund. Zur Tür, mit zittrigen,<br />
hastigen Fingern den Schlüssel ins Schloß, umdrehen, die Tür<br />
aufreißen — da ist gar keiner. Das Treppenhaus ist eine gähnende<br />
Leere. Nicht einmal das Treppenhauslicht brennt. Nur<br />
ein etwas feuchter, muffiger Geruch steigt ihm in die Nase.<br />
Altbau eben. Kein Besuch. Kein Erbonkel.<br />
Schweißgebadet wacht er auf. Es braucht einige Zeit bevor<br />
er seine Augen aufbekommt und sich klarmachen kann,<br />
was geschehen ist. Das war ein Traum. Und sein Pyjama ist<br />
naß von Schweiß. Kalt klebt der Stoff auf seiner Haut. Er hat<br />
geträumt. In seinem Alter und solche Alpträume! Traumdeuter<br />
müßte man sein. Wie ist er nur auf einen solchen Traum<br />
gekommen. So nach und nach fällt es ihm ein. Das hatte mit<br />
dem Blumenladen zu tun, an dem er jeden Morgen vorbeikam<br />
auf dem Weg zur U-Bahn. Da waren ihm die Kränze aufgefallen.<br />
<strong>Ein</strong> Wort mit vier „tz“: Atzventzkrantzkertze. Außer<br />
diesem Kalauer, der ihm sofort einfiel, hatte er sich über den<br />
Preis gewundert: 25 Euro für einen Kranz mit vier roten Kerzen<br />
und einem roten Band. War es das wert? Und dann hatte<br />
er die ganze Fahrt mit der Bahn daran gedacht: warum das<br />
alle machen, diese Sache mit einer Kerze nach der anderen.<br />
Er konnte die Leute nicht leiden, die alle Kerzen gleichmäßig<br />
herunterbrennen und es nicht abwarten können: erst die<br />
eine, dann die zweite, dann die dritte, wie es sich gehört …<br />
Dieses Warten — worauf eigentlich warten sie alle? Auf Geschenke?<br />
Die Kinder bestimmt. Das ist ihr gutes Recht. Aber
die Erwachsenen? Auf die schönen Tage? Auf Frieden? Auf<br />
Glück? Auf Gerechtigkeit? Auf Vergebung? Auf dieses Kind,<br />
das da geboren wurde vor zweitausend Jahren? Daß es auch<br />
zu ihnen käme und all das mitbrächte, Frieden, Glück, Gerechtigkeit,<br />
Liebe? Viele bereiten sich in diesen Wochen vor.<br />
Wie auf einen hohen Besuch. Sie putzen, schmücken, räumen.<br />
Manche machen sich lustig darüber. Aber ist es nicht wie ein<br />
Besuch? Wenn Maria und Joseph an die Tür klopfen, dann<br />
sollten sie ins Haus kommen können und nicht nur Platz im<br />
Stall finden. Er erinnerte sich an die Krippenspiele seiner<br />
Kindheit. Und dann war er bei dem Gedanken gelandet, ob<br />
er sich denn auch auf Weihnachten vorbereiten würde, nicht<br />
nur mit dem Geschenke kaufen, sondern auch anders. Aber<br />
wie … Welchen Besuch erwartete er und wie bereitete er sich<br />
darauf vor?<br />
Das mußte der Ursprung seines Traumes vom verlegten<br />
Schlüssel sein. Er hatte gar keinen Erbonkel. Nur die Inspektion<br />
für 491 Euro, die war echt. Und die Sache mit dem verlegten<br />
Schlüssel — war sie auch echt? Vielleicht sollte er darüber<br />
mal still werden. Er hatte schon lange nicht mehr die Hände<br />
gefaltet.
Die Menschen in Dosen<br />
oder<br />
Wir haben den Stall gefunden<br />
Nun fehlten doch noch Kugeln am Tannenbaum. Das kam<br />
aber nur, weil Papa sich auf die ganze Schachtel draufgesetzt<br />
hatte. Papa blieb heil. Die Kugeln nicht. Das waren gerade die<br />
schönsten, sagte Mama, die mit den weißen Sternen überall.<br />
Heute morgen sagte sie: Ihr müßt noch einmal los, in die<br />
Osterstraße. Vielleicht hat Budni noch welche. Aber wieder<br />
so große. Tommy war es recht. Erstens geht die Zeit schneller<br />
mit Papa in der Osterstraße, zweitens kauft er vielleicht noch<br />
etwas Süßes, und drittens muß ein Weihnachtsbaum ganz<br />
viele Kugeln haben.<br />
Weil das Wohnzimmer doch schon zugeschlossen war,<br />
und weil er Mama immer zwischen den Beinen herumlief und<br />
Mama sagte: Wenn ihr nicht gleich verschwindet, hat Budni<br />
zu, und wir kommen nicht rechtzeitig in die Kirche, und ohne<br />
Kirche feiere ich kein Weihnachten; weil es auch langweilig<br />
war mit all seinen alten Sachen ohne den Zoo von Playmobil,<br />
den er sich wünschte, zogen sie sich an und gingen los.<br />
Zuerst fiel ihm der fremde Junge gar nicht auf. Es war nur<br />
ein Junge im Gedränge der Großen in den engen Gängen zwischen<br />
den Regalen. Aber dann sah er, wie eine Babyflasche<br />
unter dem Pullover verschwand. <strong>Ein</strong> Junge, der eine Nuckel-
flasche klaut, das war schon etwas Besonderes. Nun nahm<br />
er auch noch Lätzchen aus dem Regal und einen einzelnen<br />
Schnuller. Blitzschnell verschwand beides in dem Halsloch<br />
seines grauen Pullovers. Vor den Fächern mit der Babynahrung<br />
wurde der dünne Junge ganz dick. Wenn er sich bewegte,<br />
klapperte es leise. Die Großen achteten nicht auf ihn. Sie<br />
schubsten ihn nur, weil sie durchwollten.<br />
Tommy sah sich ängstlich um. Der fremde Junge klaute,<br />
und er hatte Angst. Heute ist Weihnachten, und der Junge<br />
klaut. Der kriegt bestimmt nichts zu Weihnachten, der war<br />
nicht brav. Papa wollte zuerst nichts wissen von dem Jungen.<br />
Er hatte seine großen Kugeln gefunden, nur waren sie rot<br />
diesmal, aber er dachte, das macht nichts, das ist auch einmal<br />
schön, und die anderen waren ausverkauft. Dann aber, nachdem<br />
sie durch die Kasse waren — es gab nichts Süßes, heute<br />
ist Heiligabend, heute abend gibt es vielleicht einen bunten<br />
Teller, nur rauchen darf Papa schon heute morgen — da beugte<br />
sich Papa herunter zu ihm. Du, Papa, der Junge da drin, der<br />
klaut. Welcher Junge? Na, der da drin. Gleich kommt er raus.<br />
Schnell erzählte Tommy, was er gesehen hatte.<br />
Schon kam der Junge heraus. Er drängelte sich einfach an<br />
den Großen vorbei, die vor der Kasse standen. Niemand beachtete<br />
ihn. Wer kümmert sich schon um Kinder am Heiligabend.<br />
Sie achteten auf die Waren und das Geld. Wir gehen<br />
ihm nach, Papa, bitte!<br />
Papa wollte auch noch nicht nach Hause. Da war es ihm<br />
zu unruhig. Er sollte noch den Keller aufräumen, weil Mama<br />
sonst gar nicht an die Geschenke herankäme. Keller aufräumen<br />
war für Papa wie Gemüse essen für Tommy. Es gab immer
Streit deshalb. Der fremde Junge ging schnell. Sie konnten sogar<br />
die Gläser klappern hören unter seinem Pullover. Er sah<br />
sich nicht um.<br />
Der Junge ging in das Geviert des Maschendrahtzauns,<br />
wo die Menschen in Dosen wohnen, wie Opa sagte. Er verschwand<br />
in der dritten Dose. Tommy wußte, daß das keine<br />
Dosen, sondern Container waren für Menschen, die hier wohnen,<br />
weil bei ihnen Zuhause Krieg ist oder nichts zu essen.<br />
Papa sah ihn an. Wollen wir? Atemlos nickte Tommy. Sie<br />
gingen hinein und klopften an der Tür. Irgend etwas Fremdes<br />
wurde darinnen gesagt, und die Tür ging auf. <strong>Ein</strong> großer<br />
Mann mit schwarzem Bart sah sie fragend an, lachte und<br />
machte die Tür frei. Mit einer Handbewegung lud er sie ein.<br />
Am Tisch vor dem Fenster saß Maria. Sie hatte wirklich<br />
ein blaues Kleid an und ein Kopftuch. Nur das Baby leuchtete<br />
gar nicht um den Kopf. Es lag in ihrem Arm und sabberte.<br />
Tommy fand ja, daß alle kleinen Babys sabbern und schreien.<br />
Warum denn nicht auch das Jesuskind. Nur schrie es nicht,<br />
sondern blubberte zufrieden. Der fremde Junge war auch da.<br />
Er saß auf einem Etagenbett und packte seinen Pullover aus.<br />
Er grinste sie beide an. „Meine Schwester“, sagte er. „Ausgewiesen.<br />
Sollen zurück. Verstecken sich jetzt. Wollen nicht nach<br />
Kroatien. Krieg und böse Leute. Sehr böse Leute. Gefängnis.<br />
Keine Wohnung. Nur Lager. Ihr seid auch im Laden gewesen?<br />
Seid mir nachgegangen?“<br />
Papa nickte. Tommy nickte. Aber der Junge wurde nicht<br />
rot. Er sagte nur: „Heute ist Weihnachten.“ Er sagte es so, daß<br />
es wie eine Forderung klang, so etwa wie: Laßt mich in Ruhe!<br />
Papa sagte nichts. Er nahm nur sein Portemonnaie heraus
und fingerte drei Scheine hervor. „Eben“, sagte er dann, „deshalb<br />
ja.“<br />
Sie haben noch Tee getrunken im Container, und Mama<br />
hat sich sehr gewundert, daß es bei Budni so voll war. Aber am<br />
Heiligen Abend haben viele etwas vergessen. Die Geschenke<br />
hatte sie schon selbst aus dem Keller geholt. Doch das Schlüsselloch<br />
der Wohnstube war von innen verhängt.<br />
Als sie in der Kirche waren, war Tommy das einzige Kind,<br />
das genau wußte, wo der Stall des Jesuskindes stand. Er und<br />
sein Papa, sie hatten ihn gefunden, bestimmt, er war da, wo<br />
die Menschen in Dosen leben, wie Opa sagt, und sie hatten<br />
auch Maria und Joseph gesehen. Und die Hirten, sie sahen<br />
aus wie er und Papa und wie ein fremder Junge, der bei Budni<br />
klaut … So war es und nicht anders. Ehrlich.
Die schlimme Geschichte von Weihnachten<br />
Mama putzt und putzt. Seit Tagen putzt sie die Fenster, die<br />
Schränke, den Fußboden und die Lampen. <strong>Alles</strong> was ihr unter<br />
die Finger kommt, putzt sie, im Vorbeigehen sogar des kleinen<br />
Jakobs Nase. Damit das Christkind kommen kann, sagt sie.<br />
Mama kocht und backt und kocht und backt. Seit Tagen<br />
kocht und backt sie, Kuchen und Stollen, Kekse, Braten und<br />
Pudding. Sogar eine tote Gans und ein Karpfen kommen in<br />
die Tiefkühltruhe. <strong>Alles</strong> für die Feiertage, sagt sie.<br />
Tina schreibt und schreibt. Seit Tagen schreibt Tina auf,<br />
was sie sich zu Weihnachten wünscht. <strong>Ein</strong>e Baby-Born-Puppe,<br />
einen Discman, Schlittschuhe, mehr Möbel für das Puppenhaus,<br />
einen richtigen kleinen Herd, damit sie ihren Puppen<br />
Milchsuppe kochen kann, ein rotes Fahrrad mit ganz dicken<br />
Reifen, einen Schirm, und … und … Ihr Wunschzettel ist<br />
meterlang. Die Finger tun ihr weh vom vielen Schreiben. Nur<br />
wenn sie eine Schüssel auslecken darf von Mamas Backen,<br />
macht sie eine Pause.<br />
Papa hat auch keine Zeit. Er bastelt und flucht. Die Lichterkette<br />
für den Christbaum funktioniert nicht. Dreimal hat<br />
es schon geblitzt, aber die Lämpchen wollen nicht leuchten.<br />
Aber Papa kann auch schlecht basteln mit einer Hand. Die
andere steckt in einem weißen Verband. Papa hat sich in den<br />
Finger gesägt, als er den Christbaum holte. Gestern war das.<br />
Und bald ist Weihnachten.<br />
Sechsmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag<br />
…<br />
Aber Tina kommt aus der Schule und will von Weihnachten<br />
nichts mehr wissen. Sie will keine Kekse, keinen Adventskranz<br />
und keinen Tannenbaum mit Kerzen, Kugeln und Lametta.<br />
Sie will noch nicht einmal Geschenke. Ihre Lehrerin<br />
hat es erzählt, in Wirklichkeit war alles ganz anders. Und<br />
das — das kann man nicht feiern.<br />
Mama hört auf zu putzen, setzt sich an den Küchentisch<br />
und läßt sich die schlimme Geschichte erzählen. Es war einmal,<br />
und Tina weiß sogar wann, nämlich vor 2000 Jahren, ein<br />
Kaiser, und der hieß August. Der wollte immer mehr Geld<br />
von den Leuten in seinem Reich und zwang sie alle, in die<br />
Stadt zu wandern, in der sie geboren waren. Dort sollten sie in<br />
lange Listen eingeschrieben werden. Und es war ein Zimmermann,<br />
der hieß Joseph, und er mußte wie alle anderen sich auf<br />
die weite Reise machen. Das war noch nicht schlimm, Zimmerleute<br />
müssen oft weit reisen, um Arbeit zu finden. Aber<br />
der Joseph hatte eine Frau, und die sollte ein Kind bekommen.<br />
Ihr Bauch war schon ganz dick, und die Geburt sollte schon<br />
bald sein. Maria, so hieß sie, konnte kaum noch laufen, ihre<br />
Füße waren geschwollen und sie war müde. Aber sie mußten<br />
nach Nazareth. Als Maria keinen Schritt mehr machen konnte,<br />
sahen sie in der Ferne das Licht in den Häusern der Stadt.<br />
Joseph stützte seine Frau, und sie klopften an die Tür des ersten<br />
Hotels. Aber der Wirt schickte sie weg. Alle Zimmer sind
elegt, sagte er. Maria schleppte sich mit Josef zum nächsten<br />
Gasthaus. Aber der Wirt ließ sie auch nicht rein, das Haus sei<br />
voll, sagte er. So gingen die beiden Müden von Tür zu Tür,<br />
und niemand gab ihnen ein Bett für die Nacht. In jedem Haus<br />
jagte man sie davon. Als Maria schon weinte und Joseph wütend<br />
die Lippen zusammenkniff, da klopften sie an das schäbigste<br />
Gasthaus am Stadtrand. Auch dieser Wirt wollte sie davonjagen,<br />
aber als Joseph auf den dicken Bauch seiner Maria<br />
zeigte, da hatte der Wirt ein Herz und ließ sie in den Stall.<br />
Unter dem löcherigen Dach zwischen Ochsen und Eseln, im<br />
pieksigen Stroh bekam Maria noch in dieser Nacht ihr Kind.<br />
Und weil sie kein Bett für das Baby hatte, legten sie es in eine<br />
Futterkrippe. So war das zu Weihnachten, und so böse Wirtsleute<br />
kann man doch nicht feiern, sagt Tina.<br />
Mama hört ihrer Tochter ganz gespannt zu. Das ist aber<br />
nicht die ganze Geschichte, sagt sie und streicht Tina über den<br />
Kopf. Erstaunt schaut Tina ihre Mama an. Jetzt muß Mama<br />
erzählen. Weißt du, Tina, vor der Stadt waren in dieser Nacht<br />
wieder Hirten, die waren arm, und niemand wollte mit ihnen<br />
zu tun haben, weil sie nur die Schafe hüteten. Diese finsteren<br />
Gestalten hatten von dem Kind im Stall gehört, und stell dir<br />
vor, sie rannten in die Stadt zu diesem alten Gasthaus, liefen<br />
in den Stall, und als sie das kleine Kind in dem Futtertrog<br />
liegen sahen, da wurden sie ganz still, einige fielen sogar auf<br />
die Knie, so sehr bewunderten sie das Kind. Es war der älteste<br />
der Hirten, der zu Maria sagte: Dein Kind, liebe Frau, dein<br />
armes Kind wird einmal der König aller armen Leute sein, ein<br />
König, der sie reich macht. Maria wollte das gar nicht glauben,<br />
aber dann geschah noch etwas Sonderbares: Knarrend
und quietschend ging die Stalltür auf, und drei Männer in<br />
prächtigen Kleidern stolperten in den Stall. Kaum sahen sie<br />
das Kind in der Krippe, breiteten sie Teppiche aus und legten<br />
kostbare Geschenke für das Kind darauf. Dann fielen auch<br />
sie auf ihre Knie und riefen: du sollst auch unser König sein,<br />
ein König, der uns allen endlich Frieden bringt. Und dann<br />
zeigten sie Maria und Joseph einen hellen Stern am Himmel,<br />
der in der Dunkelheit funkelte. Dieser Stern hat uns hierher<br />
geführt, sagten sie, das ist der Königstern. Meinst du nicht,<br />
Tina, das wäre doch ein Grund zum Feiern?<br />
Tina dachte nach. <strong>Ein</strong>en König, der arme Leute reich<br />
macht, das gefiel ihr. <strong>Ein</strong> König, der für den Frieden ist, auch.<br />
Das konnte man wirklich feiern, feiern mit Tannenbaum und<br />
Kerzen und mit Geschenken für Kinder.
<strong>Ein</strong> kleines schwarzes Mädchen<br />
Mama hat den Karton aus dem Keller geholt, den Karton mit<br />
dem Bild vom Fernseher drauf. Aber da ist kein Fernseher<br />
drin, Tina weiß das. In diesem Karton ist die Weihnachtskrippe,<br />
und niemand darf sie aufbauen, nur Tina darf das.<br />
Vorsichtig öffnet sie die Kiste. Da ist der Stall, sie erkennt ihn<br />
gleich wieder, aber der kommt noch nicht. Zuerst sucht sie die<br />
Maria und den Joseph. Da sind sie. Tina spielt.<br />
„Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Meine Maria ist ganz<br />
müde und kriegt ein Kind!“<br />
„Nein, haut ab, wir haben keinen Platz für euch!“<br />
„Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Maria ist müde und<br />
kriegt ein Kind!“<br />
„Ach was, geht weiter, wir haben nichts für euch!“<br />
„Mußt nicht traurig sein, Maria, wir versuchen es da drüben<br />
noch einmal.“<br />
„Haben sie nicht ein Bett für Maria, sie kann nicht mehr!“<br />
„Haut ab hier, wir geben nichts!“<br />
„Aber sie muß doch ein Kind kriegen in dieser Nacht!“<br />
„Na gut, dann geht in den Stall. Da im Mist könnt ihr schlafen!“<br />
Tina nimmt nun den Stall. Sie stellt die Tiere hinein, die<br />
Ochsen, Schafe und Esel. Maria und Joseph kommen auch in
den Stall. Dann holt Tina die Krippe aus dem Karton. Und<br />
das Jesuskind. Tina sieht das kleine Kind an. Irgendwie gefällt<br />
ihr das nicht.<br />
Schnell läuft sie ins Kinderzimmer und holt ihren Malkasten.<br />
Sie malt das Jesuskind schwarz an, und dann holt sie<br />
noch ein buntes Tuch und macht ein Kleid daraus. Nun ist es<br />
richtig. Sie legt das schwarze Mädchen in die Krippe.<br />
Mama brüllt. Sie schimpft. Auch wenn bald Weihnachten<br />
ist, schimpft sie. „Tina, was hast du nur gemacht! Du kannst<br />
doch nicht einfach das Jesuskind anmalen, ganz verhunzt hast<br />
du die Krippe!“<br />
Aber Tina findet das gar nicht. Als Mama Luft holt und<br />
das Jesuskind in ihren Fingern hin und her dreht, kann Tina<br />
etwas sagen. „Das Jesuskind ist doch arm, oder?“<br />
„Ja, sicher“, sagt Mama.<br />
„Das Jesuskind hat doch keine Wohnung, oder?“<br />
„Ja, sicher“, sagt Mama.<br />
„Dann ist es auch schwarz und ein Mädchen!“ sagt Tina.<br />
Und sie erinnert Mama an neulich abend. Da war Tina mal<br />
wieder nicht früh ins Bett gegangen, sondern noch auf, als sie<br />
die Nachrichten im Fernsehen zeigten. Und da waren lauter<br />
kleine schwarze Kinder unterwegs, alle barfuß, und die Mädchen<br />
in den bunten Kleidern trugen Bündel auf dem Kopf,<br />
und Mama hatte es Tina erklärt: „Das sind Kinder in Afrika,<br />
die fliehen vor den Soldaten. Sie haben kein Zuhause mehr<br />
und nichts zu essen. Niemand will sie haben, diese Kinder.“<br />
Mama weiß nun, warum das Jesuskind schwarz sein muß.<br />
Sie schimpft nicht mehr. Aber Oma, Onkel Theo und Mamas<br />
Freundin, die Renate, die wundern sich alle über das schwarze
Jesuskind im Mädchenkleid, und Tina muß es immer wieder<br />
erklären, sie hat schon gar keine Lust mehr. Aber Jesus war<br />
arm und hatte keine Wohnung, und zu Weihnachten feiern<br />
die Menschen seine Geburt, damit so etwas nicht wieder<br />
vorkommt: Kleine schwarze Mädchen, die vor den Soldaten<br />
fliehen, kein Zuhause mehr haben und hungern müssen. So<br />
etwas soll es nie wieder geben, darum feiern wir Weihnachten,<br />
sagt Mama. Und Mama hat recht, auch wenn sie nicht wußte,<br />
warum das Jesuskind ein schwarzes Mädchen ist.
Kein Ersatz für Weihnachten<br />
Abends, wenn kein Kind mehr Durst hat und keines mehr<br />
Hunger, abends, wenn kein Kind mehr eine Zipfelpuppe zum<br />
<strong>Ein</strong>schlafen sucht und unbedingt etwas erzählen muß, etwas<br />
ganz wichtiges, abends also, wenn die erwachsenen beieinandersitzen<br />
und sich unterhalten — was reden die nur immer! —<br />
dann wird es plötzlich ganz still … und alle lauschen auf das<br />
Tapptapp von kleinen nackten Füßen auf dem Flur: da ist er<br />
wieder, Tommy, der traurige Tommy, Tommy, der schlecht geträumt<br />
hat und aus dessen Augen leise Tränen laufen. Ja, da<br />
kann ich ihn nur in den Arm nehmen, da muß ich seine Tränen<br />
trocknen und ihn trösten. Gegen schlechte Träume hilft<br />
nur eines, und das ist Liebhaben.<br />
Neulich habe ich schlecht geträumt. Aber wohin soll man<br />
gehen, wenn man so groß ist wie ich, um sich trösten zu lassen?<br />
Auch große Leute brauchen das Liebhaben, wenn sie<br />
schlecht träumen. Ich will euch meinen Traum erzählen.<br />
Es war kurz vor Weihnachten. Wenn Weihnachten näher<br />
kommt, kann man es riechen. Es riecht nach — Zimt und<br />
Nelken, nach Marzipan, nach glimmendem Kerzendocht<br />
und — ja, und nach Harz und Tannen. Zu gern tue ich das, ich<br />
breche ein kleines Zweiglein ab und halte es über die Flamme,
ganz vorsichtig, damit nichts herunterfällt, ich sehe die Nadeln<br />
aufflackern, ich höre das Knistern und Knacken, und ich<br />
rieche Weihnachten. Aber dieses Mal war gar nichts zu riechen.<br />
Weihnachten war ganz nahe — und ich roch gar nichts.<br />
Ich hatte wirklich nicht einen einzigen Tannenzweig im Haus.<br />
Wo ich auch hinsah, wo ich auch suchte — kein Tannengrün,<br />
in der ganzen Wohnung nicht. Nun hast du alles vorbereitet,<br />
du hast schon alle Geschenke besorgt, der Nikolaus kann<br />
kommen, die Kekse sind gebacken, der Stollen angeschnitten,<br />
und keine Tanne ist im ganzen Haus!<br />
Ich lief hinaus, nur schnell, schnell, den Adventskranz und<br />
den Tannenbaum kaufen, damit Weihnachten werden kann.<br />
Ich rannte durch die Straßen, über Kreuzungen und Plätze.<br />
Es war furchtbar. Ich sah nur Steine, Asphalt und Beton. Kein<br />
Grashalm wuchs zwischen den Steinen, kein Baum behauptete<br />
sich, kein Gebüsch säumte die Straßen. Kalt und tot erstarrten<br />
Steine, Asphalt und Beton. Ich brauche Tannengrün<br />
für Weihnachten! Ich brauche einen Christbaum, ich brauche<br />
einen Adventskranz! Ich hastete weiter.<br />
Endlich! Da standen die Leute dichtgedrängt. Und zwischen<br />
den dicken Mänteln und unter dem Dach der Regenschirme,<br />
da und da, da schimmerte es grün. Da gab es Tannen!<br />
Grün und dauerhaft, platzsparend zusammenklappbar,<br />
alle Jahre wieder der gleiche Baum, fast wie echt! <strong>Ein</strong> Tannenbaum<br />
aus Plastik! <strong>Ein</strong> Plastikweihnachtsbaum! Immergrün<br />
und unverwüstlich! Was sollte ich denn machen? Ich<br />
nahm ihn mit, den Plastikweihnachtsbaum. Ich trug ihn nach<br />
Hause und stellte ihn auf. Wirklich, er sah aus wie ein echter<br />
Baum. Wenn ich die Augen ein wenig zusammenkniff, sah ich
keinen Unterschied mehr. Wie ein echter Christbaum sah er<br />
aus, mit seinen Kringeln und Kugeln, der Plastikweihnachtsbaum.<br />
Außerdem würde ich nun nie wieder Tannennadeln<br />
aufsaugen müssen. <strong>Ein</strong> Plastikbaum nadelt nicht.<br />
Und dann feierten wir Weihnachten, Weihnachten mit<br />
Keksen und Geschenken, mit Kerzenschein und Karpfenessen.<br />
Ich nahm mir einen Keks vom bunten Teller und biß hinein —<br />
und schrie auf: der Keks war aus Plastik! Ich griff zur Tasse,<br />
um einen Schluck zu nehmen vom Weihnachtskaffee: es ging<br />
nicht. Es war Plastik in der Tasse. Da fing auch Tommy an<br />
zu weinen. Der Schokoladenkringel, in den er beißen wollte:<br />
er war aus Plastik. Ich nahm Tommy in den Arm, um ihn zu<br />
trösten. Tommy war ganz leicht und steif: Tommy war aus<br />
Plastik. <strong>Alles</strong>, was ich anfaßte, wurde zu Plastik. Erschrocken<br />
wachte ich auf.<br />
<strong>Ein</strong> furchtbarer Traum! Ich bin dann zu Tommy gegangen.<br />
Zum Liebhaben und Tröstenlassen. Tommy atmete ruhig und<br />
schlief warm und fest. Pst. Er träumt von Weihnachten. Von<br />
einem Weihnachten mit Liebhaben und <strong>Ein</strong>ander-Gut-Sein.<br />
Tommy weiß, daß es keine Plastikliebe gibt und kein Plastikweihnachten.<br />
Tommy weiß: Weihnachten wächst aus dem<br />
Herzen, aus seinem Herzen, heiß und froh aus unseren Herzen.<br />
Ihr könnt es selbst spüren, wenn ihr den Duft von Harz<br />
und Tannen riecht, und in euch die Freude wächst, euch heiß<br />
durchströmt, die Freude auf Weihnachten, die Freude auf Liebe<br />
und Geschenke. Wenn ihr das in euch fühlt, dann wißt ihr<br />
genau: Weihnachten ist der schöne Traum der Menschen von<br />
Liebe, und dafür gibt es keinen Ersatz.
Lucies Wahrheit<br />
Zu 1. Korinther 2, 1 <strong>–</strong> 10<br />
Erinnerst Du Dich? Nein. Du erinnerst Dich nicht. Du warst<br />
noch nicht einmal 10 Jahre alt. Da sind Deine Eltern mit Dir<br />
beim Arzt gewesen, nicht beim Kinderarzt. Du hattest kein<br />
Fieber, kein Bauchweh, keinen Beinbruch. Aber Du warst<br />
verletzt, tief in Deiner Seele warst Du verletzt. Deine Eltern<br />
waren mit Dir beim Seelenarzt. Er sollte helfen, wo sie nicht<br />
weiter wußten. Warum fängt ein kleiner, gesunder Junge ganz<br />
plötzlich an zu weinen? Mutti, ich bin so traurig, sagtest Du,<br />
Mutti, ich bin so traurig. Mehr nicht. Nur manchmal kam<br />
noch etwas dazu: der nächste Weltkrieg, die Atomstrahlen,<br />
das Sterben der Natur, vor allem die Wale waren’s bei Dir, die<br />
Wale. Du liebtest die Wate, weiß Gott, warum. Die Wale.<br />
Ich glaube, sie waren 10 Mal mit Dir beim Seelendoktor.<br />
Aber er gab es auf. Du bist normal, sagte er, ein normaler,<br />
empfindsamer, gesunder Junge. Am liebsten mochtest Du,<br />
wie Du es nanntest, Scheiß bauen, Leute ärgern, also Streiche<br />
machen und Fußball spielen. Bettwäsche von Bayern München<br />
wünschtest Du Dir zu Weihnachten. <strong>Ein</strong> gesunder, normaler<br />
Junge, empfindsam. Irgendwann später erzähltest Du<br />
vom Pendeln und Tischerücken. Du durftest abends schon<br />
lange raus damals, und irgendwo saßet ihr beisammen und
habt Tische gerückt und mit Toten geredet, Teufelskram interessierte<br />
euch. Irgendwann kam es heraus, ihr rauchtet auch<br />
Gift. Rauschträume suchtet ihr, Traumräusche, wie Menschen<br />
auf der Flucht. Ach, wenn ich Dir nur helfen könnte, nun hast<br />
Du doch schon alles versucht. Du hast Politik gemacht, Du<br />
hast viel Geld verdient, Du hast es ausgegeben, Du hast dies<br />
gelesen und jenes. Wenn ich Dir nur helfen könnte! Aber was<br />
kann eine alte Frau schon einem jungen Mann helfen? Ich habe<br />
nur mein Leben und die Erinnerung. Mein Leben liegt hinter<br />
mir, und ich weiß, wie oft ich in die Irre ging. Aber glaub’ mir,<br />
mein Junge, ich hab’ mir auch Sorgen gemacht, und die Angst<br />
schnürte mir die Luft ab. <strong>Ein</strong>es aber weiß ich jetzt, auch wenn<br />
ich es zu nichts gebracht habe, nur achttausend Mark auf dem<br />
Sparbuch und zwei Kinder durch den Krieg gebracht, das ist<br />
gewiß nicht viel, aber eines weiß ich jetzt, die Wahrheit, Junge,<br />
die Wahrheit ist ganz einfach …<br />
Erinnerst Du Dich an Lucie, Deine Tante Lucie? Klein und<br />
verhutzelt war sie, die Lucie, und wir haben sie begraben, wir<br />
waren nicht viele am Grab. Du warst auch nicht da. Aber damals,<br />
an ihrem Grab, da wußte ich es auch. So eine wie diese<br />
alte Frau, die hat gewußt, was Sache ist, sie hat es gewußt.<br />
Sie hat nie viel reden können, das lag ihr nicht. Sie hatte<br />
ja nur Volksschule und dann die Arbeit auf dem Hof und in<br />
der Fabrik. Sie hat es nie gesagt, aber jeder konnte es sehen,<br />
es fühlen: sie wußte, worauf es ankam. Sie hatte den Werner,<br />
ihren kleinen Bruder, geistig zurückgeblieben, behindert war<br />
er, sie hat ihn nie verlassen, ein Leben lang, ihr ganzes Leben<br />
lang. Sie war nie verheiratet, sie hatte keine Kinder, nur die<br />
Arbeit hatte sie und ihren Werner. Sie war immer da für ihn,
niemand durfte ihm was tun. Erst als er starb, wurde sie alt<br />
und schwach. Weißt Du, Junge, diese Frau war eine Heldin.<br />
Sie hat es geschafft, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Als wir<br />
wenigen da an ihrem Grab standen, da wußten wir alle: nun<br />
ist es gut, hier ist nichts nachgeblieben, nichts unerledigt, kein<br />
Fragezeichen, so soll es sein, wußten wir. Die Wahrheit ist so<br />
einfach, so einfach wie Deine Tante Lucie.<br />
Ich bin mir nicht sicher, ob Du mich verstehst. Ich kann und<br />
will auch keine großen Worte machen. Das liegt mir nicht, und<br />
ihr habt ja doch immer eure Widerrede. Ihr redet und redet,<br />
und am Ende weiß ich gar nicht mehr, wovon. Aber eines will<br />
ich Dir sagen, vielleicht lachst Du darüber, vielleicht auch nicht.<br />
Ich bete zu Gott, er möge euch helfen. Eure Rechnung geht nicht<br />
auf. Sie geht nicht auf. Ihr seid immer auf der Suche nach eurem<br />
Glück, egal wie ihr es nennt. Ich will was vom Leben haben,<br />
hast Du gesagt, Selbstverwirklichung sagt ihr, ihr sagt, ihr<br />
wollt euch selbst finden, ganz bei euch selbst sein, wollt ihr. Ach,<br />
was ihr nicht alles versucht! Nichts ist euch komfortabel genug.<br />
Ich kann euch dabei nicht helfen. Ich bin nur eine alte Frau,<br />
die ihr Leben hinter sich hat. Ich hab’ nur meine Erinnerung.<br />
Was ist das schon, Glück, ihr könnt euch auf den Kopf stellen,<br />
ihr werdet es nicht finden. Nur euer Hunger wird wachsen<br />
und eines Tages schaut ihr verwundert auf eure leeren Hände.<br />
Es geht nicht ums Glück, bestimmt nicht. Mir ging’s zu Weihnachten<br />
wieder durch den Kopf. Nun singt ihr wieder und<br />
feiert das Kind. Aber schaut doch mal: neben der schönen<br />
Krippe, neben dem Weihnachtsbaum mit seinen elektrischen<br />
Kerzen, steht auf dem Altar das Kreuz, man sieht es kaum im<br />
Weihnachtsglanz, aber es ist da.
Es wird auch immer da sein, das Kreuz. Das ist die Wahrheit.<br />
Daran kommen wir nicht vorbei. Ihr seid doch sonst so<br />
realistisch und gerade Du. Wir sind wirklich nicht zu unserem<br />
Vergnügen auf der Welt. Niemand hat uns das versprochen,<br />
und niemand kann das. Das andere, das ganz andere, das Leiden,<br />
die Arbeit, das Scheitern, das Verlieren, es gehört dazu.<br />
Das ist nun mal so. Und ihr müßt trotzdem euren Weg finden,<br />
euren Sinn, euer Ziel. Wissen, wofür das alles, für wen. Weißt<br />
Du, ich hab’ jetzt keine Angst vor dem Sterben. Ich hab’ mein<br />
Lebensbuch vollgeschrieben, das letzte Kapitel, und wenn etwas<br />
falsch war, dann wird er es schon richten, er, der mich auf<br />
den Weg geschickt hat. Darauf muß ich vertrauen.<br />
Gott helfe, Dir, mein Junge, Du hast noch einen weiten Weg.
Josephs Tod<br />
Es blieb ihm nicht viel Zeit, sein Ende zu bedenken. Zuerst<br />
durchbohrte ihn wie ein Blitz das Stechen in der Brust, es<br />
wandelte sich in ein glühendes Schwert von grausamen Mächten<br />
gedreht und gewendet in seinen <strong>Ein</strong>geweiden. Ihm fiel<br />
das Beil aus der schlaffen Hand, die doch sonst so stark und<br />
zupackend war. Dann brach er neben dem Block zusammen.<br />
Zwischen den Spänen, dem Sand und dem Staub der Straße<br />
krümmte er sich wie ein verendender Hirsch, den der gerissene<br />
Jäger endlich erlegt hat. Die Knechte liefen herbei und umstanden<br />
den gefällten Mann. Ihre Augen spiegelten Schrecken,<br />
Neugier und Mitleid.<br />
Sie sahen nicht die engen Räume und sich öffnenden Weiten,<br />
die seine Seele windschnell durcheilte auf ihrem Weg zu<br />
ihrem letzten Ziel. Nur seinen zitternd mit flatternden Lidern<br />
geschlossenen Augen taten sich diese Bilder auf. Die kleine<br />
Maria, die sich schüchtern lächelnd versteckte hinter der Mauer<br />
des Hauses, wenn er einmal wieder ihren Vater besuchte. So<br />
eine wollte er haben. Sie war es, die ihn zu diesem Haus zog,<br />
ihr glänzend schwarzes Haar, das in wogenden Wellen ihre<br />
Schultern überwallte, ihre dunkel leuchtenden Augen, deren<br />
Wimpern wie Sternenstrahlen auf das Feuer ihres Blickes
wiesen. Sie wollte er zu der Seinen machen, sie und keine andere<br />
von den Mädchen am Brunnen des Dorfes, wo er sie zum<br />
ersten Mal gesehen.<br />
Dann aber jene schlimme Nacht, als sie zwischen Ziegenstall<br />
und Holzschuppen dieses schreckliche Geständnis machte.<br />
Die Dunkelheit des Neumondes ließ ihn nicht einmal ihre<br />
Augen erkennen, das machte ihn so hilflos. Er, ein anständiger<br />
Mann, ein ehrlicher Handwerker, und ein Kind ohne Vater.<br />
War das Leben nicht schwer genug in diesen kriegerischen Zeiten,<br />
der Anfang als Handwerker nicht beschwerlich genug bei<br />
diesen horrenden Steuern, den ständigen Unruhen? <strong>Ein</strong> Kind<br />
ohne Vater, und sie sagte es ihm mit hörbarem Lächeln. Ja gut,<br />
sie waren in den lauen Nächten des Frühlings in den Bergen<br />
gewesen, sie hatten einander alle Liebe ihrer jungen Herzen<br />
geschenkt im Licht der millionen Sterne. Es wußte das, und<br />
würde es nie vergessen, aber nun, wo es um die Ehe ging, um<br />
Nachbarn und Freunde, um anständige Bürger und Kunden,<br />
um das Getuschel der alten Weiber, das Spötteln der trunkenen<br />
Gesellen — Heirat mit so einer? Er redete ihr gut zu, was<br />
sollte er auch sonst tun, erst auf dem Heimweg durch die engen<br />
Gassen legte er sich alles zurecht. Sein Werkzeug wäre schnell<br />
gepackt, das Haus müßte er eben lassen, aber er würde schon<br />
wieder eine Werkstatt finden, irgendwo, in Jerusalem vielleicht,<br />
vielleicht auch in Hebron, oder sollte er in die zehn Städte gehen,<br />
zu den Griechen, die immer gut für gutes Handwerk zahlten?<br />
Im Morgengrauen würde er sich auf den Weg machen, durch<br />
das Tor der Stadt und den Staub von seinen Füßen schütteln …<br />
Aber dann, als er sein Bündel schon geschnürt hatte, da<br />
kam es über ihn. Wie eine Zentnerlast legte es sich ihm auf die
Brust. Er würde nicht nur sein Haus zurücklassen, nicht nur<br />
Steine und Balken, sondern auch sie, die kleine Maria, und es<br />
wog noch lastender als alles andere: ein Kind ohne Vater, ein<br />
Hohn und ein Spott für alle Bösen, und derer gab es viele. Wie<br />
oft wollte er sich fragen, morgens, mittags, abends, nachts, was<br />
wohl aus diesem Kind geworden wäre, dessen Lachen er nicht<br />
kennen würde, dessen Tränen er nie getrocknet hätte.<br />
Und dann sah er sich auf dem Weg aus der Stadt, aber neben<br />
ihm ging die kleine Maria, und unter dem Leinen rundete sich<br />
schon ihr Leib. Er schwitzte unter der Last seines Werkzeuges,<br />
Maria aber lächelte ihm zu, obwohl auch sie schwer beladen<br />
war mit dem bißchen Haushalt, Stoff und Erinnerung, die sie<br />
nicht zurücklassen wollte. Die staubigen Wege dehnten sich<br />
endlos über die Hügel und Berge, kaum ein Schatten kühlte<br />
sie. Sie tranken das Wasser aus den Brunnen der Dörfer, und<br />
es schmeckte ihnen wie Wein. Wie trunken lachten sie einander<br />
an und aus, und dann gingen sie weiter.<br />
Im schäbigen Bethlehem verbellten sie die Hunde, die<br />
Türen schlugen knarrend zu, wenn sie um Unterkunft baten,<br />
nur für eine Nacht, für eine Nacht nur, Sie sehen doch,<br />
wie es meiner Frau geht. Aber sie fanden keinen Platz zum<br />
Leben, sie waren fremd hier. Es schien, als hätte der Staub<br />
der Straßen alles Menschliche an ihnen verdeckt, niemand<br />
erkannte in ihnen den Bruder oder die Schwester. So war es<br />
nur recht, daß ein widerwillig gutes Herz ihnen einen Platz<br />
im Stall zuwies, neben den Schafen und Böcken. Er hielt der<br />
kleinen Maria die Hand, als sie niederkam in dieser sternenhellen<br />
Nacht, er legte das Kind in den Futtertrog, und die<br />
Schafe bliesen ihren warmen Atem über den Jungen, den
sie ihm geschenkt. Und es war wie ein Wunder, der winzige<br />
Junge, den er nicht hatte haben wollen, er war wie ein<br />
Wunder. Die polternden Hirten, die wohl Lämmer aus dem<br />
Stall stehlen wollten, sie standen atemlos leise vor dem Kind,<br />
sie holten aus ihren Beuteln und Taschen, was sie nur hatten<br />
und was den jungen Leuten vielleicht helfen könnte für<br />
die nächsten schweren Tage. Und die weisen Männer, die ihnen<br />
folgten, sie unterbrachen ihren Disput, kamen durch die<br />
windschiefe Tür herein, um zu sehen, was hier geschehen war,<br />
und sie verneigten sich vor dem neuen Leben. Ja, diese Nacht,<br />
die so abweisend begonnen hatte, sie war eine Nacht der<br />
Hoffnung.<br />
Neue Bilder flogen zitternd an seinen Augen vorüber. Fünf<br />
Söhne und zwei Töchter schenkte ihm seine kleine Maria.<br />
Er hatte wahrlich nichts zu bereuen gehabt. Aber dann war<br />
der Erstgeborene verschwunden, sang- und klanglos nahm<br />
er Abschied, wollte nicht Dächer richten und Häuser bauen,<br />
sondern wollte, nein, mußte, wie er es ausdrückte, eines anderen<br />
Meisters Zimmermann sein.<br />
Schau sie dir an, diese Welt, sagte er, muß es nicht anders<br />
werden? Glaubst du denn, daß er sie so gewollt hat, als er sie<br />
schuf? Sieh sie dir an, die Armen, die an den Feldrainen das<br />
Korn raufen, sieh dir die Krieger an, wie sie mit ihren Waffen<br />
alles kurz und klein schlagen, und nicht einmal die Kinder<br />
verschonen sie. Soll es denn ewig so bleiben? Und höre auf<br />
dein Herz, schlägt es nicht manchmal dröhnend vor Schuld?<br />
Steigt nicht auch dir manchmal Schamröte ins Gesicht und<br />
bleibt nicht auch dir manchmal die Luft weg, weil du dich<br />
erinnerst an Irrwege und Versagen?
Da dachte er an jenen Weg von der kleinen Maria in sein<br />
Haus, als er sein Bündel schnüren wollte, und war ganz still,<br />
ließ den jungen Mann ziehen. Friede sei mit dir, sagte er zu<br />
sich, Friede sei mit dir auf allen deinen Wegen. Lange sah er<br />
ihm nach, als er den schmalen Weg in die Wüste ging, seine<br />
Gestalt wurde immer kleiner unter der brennenden Sonne.<br />
Und mit einem Male war da nur noch dieses Licht, und er<br />
wußte, daß er angekommen war.
Man muß doch einmal tief atmen können<br />
Als der Pastor da vorn auf die Kanzel stieg und die Orgel ausklang<br />
im langen Nachbau, dachte sie: „Lieber Gott, laß ihn<br />
jetzt nur nicht von Weißrußland oder Somalia reden. Laß ihn<br />
nicht sagen, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr. Ich will<br />
doch nur hier sitzen und wieder atmen können.“ So war es<br />
wirklich gewesen.<br />
Sie war aufgestanden heute morgen, hatte sich gewaschen,<br />
angezogen, war hinausgestürzt aus ihrer Tür, sogar die falschen<br />
Schuhe hatte sie an, die braunen, die gar nicht zu ihrem<br />
Mantel paßten, sie hatte sich keine Zeit genommen, die Augenbrauen<br />
nachzuziehen und ein wenig Rot aufzulegen, furchtbar<br />
mußte sie aussehen, sie war in die Kirche gestürzt wie jemand<br />
das Fenster aufreißt, weil er keine Luft mehr bekommt,<br />
weil er glaubt, ersticken zu müssen. Schon der Glockenklang,<br />
das schwere, tiefe Geläut, ließ in ihr Versunkenes, Vergessenes<br />
schwingen und klingen, nahm sie auf und trug sie hinein<br />
durch das große Portal, sie war froh, in dem riesigen Raum<br />
Abstand zu haben zu den wenigen, die diesen Weihnachtsmorgen<br />
sich auf den Weg durch die im Tageslicht schlafenden<br />
leeren Straßen gemacht hatten. Sie tauchte ein in das Klangmeer<br />
der Orgel, ließ sich mitnehmen, aufnehmen und tragen
von den Läufen der Klänge, bettete und streckte sich aus auf<br />
den langgehaltenen tiefen Tönen. Sie atmete auf und ließ sich<br />
fallen in die Strophen des Liedes: Lobt Gott, ihr Christen alle<br />
gleich, in seinem höchsten Thron, der heut’ schleußt auf sein<br />
Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn und schenkt uns<br />
seinen Sohn und schenkt …<br />
Der Busfahrer sah sie richtig böse an, als sie mit ihren<br />
Taschen und Paketen kaum durch die Tür kam. Ihr Rücken<br />
tat ihr weh und die Tüten schnitten in ihre Finger, trotz der<br />
Handschuhe, die sie angezogen hatte, und die Stufen in den<br />
Bus sind so hoch, viel zu hoch eigentlich. Als sie dann endlich<br />
da war bei ihrem Sohn, konnte sie sich auch nicht setzen,<br />
sondern hatte erst mal den Salat gemacht, du weißt ja Mami,<br />
keiner kann den so wie du, und dann war sie mit den Kleinen<br />
spazierengegangen, weil die sich vor lauter Aufregung<br />
und Spannung stritten und Susanne wieder am Ende war mit<br />
ihren Nerven und schon den dritten Cognac getrunken hatte,<br />
doppelstöckig versteht sich. Sekt hatte sie trinken müssen<br />
zur Feier des Tages, im Stehen auch nur, ein Kaffee im Sitzen<br />
wäre ihr lieber gewesen, und dann mit den Kindern und der<br />
Tasche in das Johannesstift zu ihrer Mutter, denn die hatte sie<br />
ja auch noch, und wieder die Vorwürfe, die Anschuldigungen,<br />
sie hätte sie abgeschoben, sie wollte ja nur die Sparbücher<br />
und das vor den Kindern, die ganz verschüchtert guckten und<br />
dann die Kerze anzünden, das Nachthemd anprobieren, Flanell<br />
ganz warm, und das weinerliche Klagen: Faß mich nicht<br />
so hart an, du willst mich wohl umbringen.<br />
Die Bescherung war auch nicht das gewesen, was sie erwartet<br />
hatte. Die Anja fragte immerzu nach den Zimmern
für das Playmobilpuppenhaus, aber waren 249,<strong>–</strong> Mark für<br />
ein Puppenhaus nicht schon genug? Und mußte Thomas nun<br />
gleich so laut diese Musik anmachen? Überhaupt war ihr ganz<br />
schlecht geworden, wie die Kinder achtlos das Papier von den<br />
Paketen rissen und wie es kein Ende nehmen wollte mit den<br />
Geschenken, und nachher stand sie in der Küche und wusch<br />
ab und hörte dabei den Gruß auf See wie jedes Weihnachten.<br />
Aber dann mußte sie wieder rein in die Stube und Susanne<br />
trank und Robert sprach nur von seinem Auto, für das ihm<br />
noch ein paar tausend Mark fehlten.<br />
Hatte sie nicht immer alles getan, um alle glücklich zu<br />
machen? Nichts war ihr wichtiger gewesen. Wie hatte sie sich<br />
um ihren Mann gemüht, was hatten sie nicht alles versucht,<br />
aber die Krankheit war doch stärker gewesen. Zwei Jahre von<br />
Klinik zu Klinik und Pflege zu Hause und Waschen und Anziehen<br />
und Füttern … Wie lange hatte sie ihrer Mutter den<br />
bitteren Weg ersparen wollen ins Heim, und ihr Robert, sein<br />
Studium, und die Enkelkinder, die sie beaufsichtigt hatte, weil<br />
Susanne wieder arbeiten wollte, und nun trank die Susanne.<br />
… heut schleußt er auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen<br />
Sohn … Mit einem Male fühlte sie sich wie auf einer Insel.<br />
Mitten im wildbewegten Meer stand sie auf einem festen Boden.<br />
Wie alt solche Worte waren: schleußt auf … Das haben<br />
sie gesungen schon vor Jahrhunderten. Nichts war geblieben<br />
wie damals. Wie viele Menschen sind gestorben, wurden geboren,<br />
haben gelebt, gelacht, geweint, sind gestorben, und die<br />
Worte klingen gleich: … heut schleußt er auf sein Himmelreich<br />
…
Das muß schon immer so gewesen sein, daß die Menschen<br />
auf etwas warteten, sich etwas wünschten, das sie nicht erreichen<br />
konnten. Dies Gefühl, das sie auch kannte: vor einem<br />
dunklen Tor zu stehen, hinter dem alles licht und hell und<br />
klar war, und das doch nicht aufzubringen war, so sehr man<br />
auch rüttelte und drückte. Nur manchmal, das hatte sie auch<br />
erlebt, dann war das Tor aufgegangen, sie war glücklich gewesen,<br />
goldumstrahlt, voll heller Freude — und wenn sie darüber<br />
nachdachte, hatte niemals sie selbst etwas dazu getan. Ja, so wie<br />
damals, als sie den Robert in ihrem Arm hatte, zum ersten Mal.<br />
… und schenkt uns seinen Sohn … Das war auch wie ein Geschenk<br />
gewesen, ein Wunder, ein Geheimnis — sonderbar, daß<br />
viele heute keine Kinder wollen … Irgendwie war es immer so<br />
gekommen, daß alles Glück ihres Lebens Geschenk war. Sie<br />
hatte nichts dazu getan. Plötzlich war’s da. So wie damals ihr<br />
Mann vor ihr stand, zum ersten Mal. Sie wollte nur den Zaun<br />
streichen, und plötzlich stand er da und nahm ihr den Farbeimer<br />
und den Pinsel aus der Hand. Ich hab das gelernt, sagte er.<br />
Ihre Augen glitten die hohen Fenster hinauf, während der<br />
da vorn redete. Höher und höher hinauf glitten ihre Augen.<br />
Das ist schon richtig, dachte sie, daß sie die Kirchen so hoch<br />
bauen. Wie so eine Verbindung war das, von oben nach unten,<br />
wie eine Brücke. Hier, wo sie saß, hier unten auf ihrem Stuhl<br />
in der vorletzten Reihe traf sie etwas von ganz woanders her.<br />
Sie spürte, wie etwas von ihr genommen wurde, eine Decke,<br />
eine Last, ein Deckel, sie konnte durchatmen, Luft holen, sich<br />
ausdehnen. Sie fühlte sich leicht, vogelfederleicht, schwang<br />
sich hoch mit den Klängen der Orgel und saß doch fest und<br />
sicher auf ihrem Stuhl.
Dies war ihr Weihnachten. Nicht gestern abend, sondern<br />
heute morgen. Darauf hatte sie sich gefreut, jetzt sah sie es<br />
klar. Wie schön ist es doch, daß es Weihnachten gibt, wie<br />
schön. Hier sitzen, weit werden, sich beschenkt fühlen und zu<br />
wissen: Nun ist alles gut.
Nur Papier<br />
Alle Welt feiert Weihnachten am 24. Dezember. Herr Holzmann,<br />
der kleine Herr Holzmann nicht. Ihm war bewußt,<br />
daß auch die Russen ihren eigenen Termin für Weihnachten<br />
haben, aber was, dachte er, sind schon die Russen. Auch<br />
bei ihm war die Angst von Verachtung abgelöst worden. Der<br />
kleine Herr Holzmann feierte sein Weihnachten stets am<br />
16. November. Er hieß übrigens der kleine Herr Holzmann im<br />
Gegensatz zu dem großen, bei dem er beschäftigt war. Am<br />
16. November hob der kleine Holzmann das Weihnachtsgeld<br />
von seinem Konto ab, das dreizehnte Gehalt oder die Gratifikation.<br />
Am 24. Dezember gab es nichts mehr zu feiern. Dann<br />
war das zusätzliche Geld längst nur noch schmerzliche Erinnerung,<br />
hatte sich verwandelt in die Stereo-Anlage für den<br />
Sohnemann, das Rennrad für die flotte Tochter, die Spülmaschine<br />
für seine Frau und in den Schwamm für den kleinen<br />
waagerechten Strich vor seinem Kontensaldo. Am 16. November<br />
aber ging er nach der Arbeit ins Café, bestellte sich zwei<br />
Schnitten Marzipantorte und einen Becher Schokolade mit<br />
Sahne, das Ganze abgerundet mit einem großen Schwenker<br />
französischen Cognacs. Im Kopf überflog er seine Möglichkeiten:<br />
für einen Augenblick, für einen winzigen Augenblick
war er reich. Am Ende seines Festmahls war er wieder ein<br />
armer Schlucker. Er wußte, was Weihnachten kostet.<br />
In diesem Jahr war alles anders. Der große Holzmann war<br />
nämlich auch zum armen Schlucker geworden, das Weihnachtsgeld<br />
war gestrichen. Es war ein deprimierender 16. November,<br />
ohne Marzipantorte, ohne Schokolade, ohne Cognac<br />
aus Frankreich. Auf den hätte er noch am ehesten verzichten<br />
können, er schmeckte ihm immer ein wenig nach Seife. Aber<br />
das Geld! Wovon sollte er die großen Wünsche seiner Kinder<br />
bezahlen, wie seiner Frau eine Freude machen? Heutzutage<br />
kostet alles viel Geld, der Tannenbaum, die Weihnachtsgans,<br />
der Karpfen am Heiligen Abend. Das Minus auf seinem Konto<br />
wirkte wie eine militärisch scharf bewachte Schranke vor einem<br />
Atommeiler. Nichts ging mehr, rien ne va plus. Er hatte<br />
nicht einmal den Mindesteinsatz für das Kasino.<br />
Als er betrübt in der U-Bahn saß, fielen ihm die Sünden<br />
seiner Kinderzeit ein. Er sah sich und seine Schwester, wie<br />
sie am Sonntagmorgen, nach dem Kindergottesdienst mitten<br />
in der Allee suchend hin und her liefen. Immer, wenn ein<br />
Spaziergänger sich näherte, fingen sie an, zu schluchzen. Die<br />
Erfolgsquote lag bei über fünfzig Prozent. Am besten war sie<br />
bei alten Damen. Sie waren fast immer zum Mitleiden bereit.<br />
Die Geschichte war das verlorene Geldstück, für das sie dem<br />
strengen Vater die Zigaretten aus dem Automaten holen sollten.<br />
Nur selten mußten sie die Schläge mit dem Rohrstock<br />
ausmalen. Meistens glänzte das Geldstück schon vorher auf<br />
ihrer Hand, noch warm von der Manteltasche der Barmherzigen.<br />
Nur die Bösartigen beließen es bei einem ermahnenden:<br />
Ihr müßt eben besser aufpassen! Und in die Hölle kamen
estimmt diejenigen, die einfach vorübergingen und in die<br />
Wipfel der Bäume oder auf die andere Straßenseite schauten.<br />
Dort würden sie in Ewigkeit gebraten werden.<br />
Auch seine Großtante Emma würde einen fetten Braten abgeben.<br />
Reich wie sie war, hatte sie ihm noch nie etwas zukommen<br />
lassen. Das war sicherlich der Grund ihres Reichtums,<br />
von dem in der Familie nur andächtig geraunt wurde. Er hatte<br />
es schon selbst gesagt, wenn die Wünsche seiner Kinder unverschämt<br />
wurden, mitten im Jahr eine neue Reitausrüstung<br />
für die Tochter, Turnschuhe mit Luftsohle für den Sohn, man<br />
stelle sich das vor: dreihundert Mark für Luft unter den Füßen.<br />
Ich bin nicht Tante Emma, pflegte er dann zu sagen. Die<br />
könnte, aber sie tut nicht, deshalb ist sie auch so reich. Großtante<br />
Emma, die kleinzügige, denn großzügig war sie noch<br />
nie. Aber könnte er nicht …? Sollte er nicht …? Vielleicht nur<br />
auf Kredit …?<br />
So blieb er einfach sitzen, als der Zug seine Heimatstation<br />
erreichte. Er fuhr weiter in die Walddörfer, wo die kleine alte<br />
Frau eine große alte Villa bewohnte. Schon das riesige eiserne<br />
Tor machte ihn kleinlaut. Er mußte alles zusammenraffen,<br />
sein Herz, seinen Mut, seine Schulden, seine Verzweiflung<br />
angesichts fehlender Geschenke unter dem kaum zu bezahlenden<br />
Weihnachtsbaum. Die alte Dame machte es ihm leicht.<br />
Sie war schon überglücklich über seinen Besuch, als er noch<br />
an dem Kloß in seinem Hals würgte. Wie es ihm denn ginge?<br />
Was seine Frau machte und die Kinder? Ob er einen Tee mittränke?<br />
Natürlich trank er Tee, obwohl er Pfefferminztee nicht<br />
ausstehen konnte, ständig mußte er an seine Halsentzündungen<br />
von früher denken. Die dazu gereichten Kekse kannte er
auch. Sie kaufte offensichtlich auch bei Aldi. Aber vielleicht<br />
ließ sie ja liefern. Leisten könnte sie es sich. Aber er wurde seine<br />
Geschichte los. Jaja, das Geld, meinte die Alte. Mehr nicht.<br />
Also noch eine Tasse von dem wundervollen Kräutertee und<br />
noch ein krümeliger Keks aus der Dose. Weiter im Text: die<br />
fällige Inspektion, bevor das alte Auto zum TÜV konnte, die<br />
Skiklassenreise der Tochter, die Kanufahrt des Sohnes in<br />
Frankreich im nächsten Jahr. Jaja, die Ansprüche heute. Mehr<br />
nicht. Kann ich noch einen Tee? Der blitzende Goldzahn im<br />
faltigen Gesicht brache die Wende. Er erzählte mit stockender<br />
Stimme, seine Frau brauche zwei neue Kronen und eine Brükke<br />
— verzeih mir, Annemarie, dachte er —, da war der Safe<br />
geknackt. Er bekam einen Scheck. Dreitausend Mark. Wirklich,<br />
eine Großtante, diese Emma.<br />
Kaum daheim, für die Bank war es nach den Walddörfern<br />
und drei Tassen Pfefferminztee zu spät, schloß er den Scheck<br />
in seinen Schreibtisch ein. Er verriet nichts, um keine großen<br />
Wünsche zu wecken. Er versteckte das Wertpapier auch gut:<br />
in diesem Heft Glanzpapier wird schon niemand nachschauen.<br />
Nur eines ließ er sich nicht nehmen: Wenn es schon in diesem<br />
Jahr mit dem Café nichts geworden war, so lud er doch<br />
seine Annemarie auf ein Bier in die Kneipe ein. Können wir<br />
uns das denn leisten? Ach, wird schon gehen, beruhigte er ihr<br />
schlechtes Gewissen. Die dreißig Mark sollten ihm nicht leid<br />
tun, das war nur ein Prozent.<br />
Aber am nächsten Morgen war der Scheck weg. Drei Dutzend<br />
Mal blätterte er das Heft Glanzpapier durch. Nichts.<br />
Jede Seite einzeln umgeblättert. Nichts. Was nun? <strong>Ein</strong>e Staatsaktion?<br />
Diebstahl, Polizei? Seine Kinder klauten nicht. Seine
Frau entschuldigte sich hundertfach, wenn sie Wechselgeld aus<br />
seinem Portemonnaie nahm. Und sollte er wirklich gestehen,<br />
bei Großtante Emma gewesen zu sein und gebettelt zu haben?<br />
Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen. Was nun? Nichts.<br />
<strong>Ein</strong> kleineres Weihnachten eben. Heringssalat statt Karpfen.<br />
Heringssalat schmeckt wirklich nicht schlecht auf frischem<br />
Baguettebrot. Rinderbraten statt Gänsefleisch. Seine Frau hatte<br />
genau darauf geachtet, woher das Fleisch kam. Das konnte<br />
man getrost essen. Zwei Bücher und zwei CDs für die Kinder.<br />
Mehr war eben nicht drin. Sie freuten sich doch. So groß sind<br />
sie schon. Die Erwachsenen brauchten sich zu Weihnachten<br />
nichts zu schenken. Sie verlegten ihr Weihnachten vor die Bescherung.<br />
Es war sehr feierlich in der Kirche.<br />
Unter dem etwas krummen Weihnachtsbaum, den er diesmal<br />
erst am Heiligen Abend selbst gekauft hatte, er bekam ihn<br />
auch billiger so kurz vor Ladenschluß, unter dieser Kümmerkiefer,<br />
die dennoch ein schöner Christbaum geworden war,<br />
da tauchte auch der Scheck wieder auf. Er war zu einer Rose<br />
und einem Stern zerschnitten auf der wunderbaren Verpakkung<br />
des Rasierwassers von Aldi, das seine Tochter ihm in<br />
die Hand drückte. Auf der Rückseite des roten Glanzpapiers<br />
erkannte er das verheißungsvolle blaue Muster des geldwerten<br />
Papiers. Auf einem Schnipsel konnte er sogar die zitterige<br />
Unterschrift der alten Dame entdecken. Sie erschien ihm wie<br />
ein höhnischer Weihnachtsgruß aus den Walddörfern. Aber<br />
er schluckte nur einmal und sagte nichts, obwohl es heiß hinter<br />
seinen Augen war.<br />
Zwischen den Tagen kam, ein wenig verspätet, der Weihnachtsgruß<br />
der Tante Emma. Er war etwas länger ausgefallen
als sonst und steckte in einem Umschlag. An meinem Kontoauszug<br />
habe ich gesehen, schrieb sie. Du hast dich sicherlich<br />
geschämt, schrieb sie. Aber es ist kein Kredit, es ist ein Geschenk,<br />
schrieb sie und heraus flatterte ein Euroscheck.
Marzipankartoffeln<br />
Weihnachten ist nur etwas für die Kinder. <strong>Ein</strong>e alte Frau muß<br />
so denken. <strong>Ein</strong>e Greisin, die sich auf den Kerzenschein und<br />
den Tannenbaum freut, das paßt nicht. Das wäre so, als färbte<br />
sie sich ihre Haare rot und trüge einen Minirock. Schon als<br />
junges Mädchen hatte sie mit der Anständigkeit ihre Probleme.<br />
Sie hörte den undeutschen Jazz und Blues, als Frau deutsch zu<br />
sein hatte, sie rauchte auf der Straße, als ein deutsches Mädel<br />
gar nicht rauchte, sie trug Hosen, bevor der Männermangel<br />
Frauen Schaffnerinnen werden ließ. Sie war keine Freude für<br />
ihre Lehrer und Chefs. Nur ihre Mutter verstand sie, sie sagte:<br />
mach’ man, Mädchen, Mädchen mach’ man, wer weiß, wie<br />
lange du das noch kannst …<br />
Sie freute sich auf Weihnachten wie ein Kind. So leuchtete<br />
es in ihren Augen auf, als die ersten Christstollen bei Aldi im<br />
Regal erschienen. Und die Marzipankartoffeln. Marzipankartoffeln<br />
waren ihre Schwäche. Pfundweise konnte sie Marzipankartoffeln<br />
essen, aber in den Cellophantüten waren immer<br />
nur so wenig drin. Sie stopfte die appetitlichen braunen<br />
Kugeln nicht einfach in den Mund. Nein, sie nahm jede Kugel<br />
einzeln und biß hinein, ganz wenig nur, und dann gekaut, so<br />
daß sie das Rosenwasser und die Mandeln einzeln schmecken
konnte, Bißchen für Bißchen. Und braune Kuchen, braune<br />
Kuchen auf Rundstück mit Butter, braune Kuchen zum Kaffee,<br />
das war Weihnachten.<br />
Aber Weihnachten wird es nicht im Sommer, solange das<br />
Laub noch an den Bäumen hängt. Auf Weihnachten muß man<br />
warten können. Die Menschen heute können nicht mehr warten.<br />
Sie wollen Weihnachten am liebsten das ganze Jahr. So<br />
kommen die leckeren Weihnachtssachen in die Geschäfte, bevor<br />
noch die Winterkleidung, die dicken Mäntel und Jacken<br />
vom Boden geholt worden sind. Verdienen, verdienen — sie<br />
kennen nichts anderes. Sie selbst machte einen großen Bogen<br />
um Marzipankartoffeln und braune Kuchen. Nicht vor dem ersten<br />
Advent, nicht vor der ersten Kerze. Erst wird der Adventskranz<br />
gebunden, dieses Jahr hatte sie zum ersten Male einen<br />
fertigen Kranz gekauft, und sie schämte sich fast deshalb, aber<br />
ihre Finger waren so steif geworden in der letzten Zeit, dann<br />
wurde die Wohnung weihnachtlich gemacht, und dann kamen<br />
die Marzipankartoffeln und die braunen Kuchen. Eher nicht.<br />
So saß sie am diesem Morgen, als die erste Kerze auf dem<br />
gekauften Kranz brannte, vor ihrem Fenster, die Kaffeetasse<br />
auf dem Fensterbrett, die Tüte mit den Marzipankartoffeln<br />
vor sich, warum lassen sich die Tüten nur so schwer öffnen, sie<br />
mußte wieder eine Schere nehmen, und sie sah auf die verlassene<br />
Straße, in der nur sie einen adventlichen Schimmer sah.<br />
Sie war sich dessen bewußt, sie war nicht naiv, auch wenn sie<br />
sich wie ein Kind auf Weihnachten freute, sie war sich bewußt,<br />
daß dieser Schimmer aus ihrer eigenen Vorfreude kam, die<br />
anderen werden ihn nicht sehen. Aber die anderen wünschen<br />
ihr auch immer ein langes Leben, noch viele Jahre. Sie denken,
man könne nicht genug bekommen von dieser Welt, sie wollen<br />
mehr und mehr von diesem Leben haben, wie des Fischers<br />
Fru kamen sie ihr vor, Mantje, Mantje, Timpete, Buttje, Buttje<br />
in de See, mine Fru, de Ilsebill … Sie können nicht warten, sie<br />
wollen alles, und sie wollen es sofort.<br />
Langes Leben, ihr Leben war lang genug. Auch wenn sie es<br />
genoß, dieses ruhige Sitzen am Fenster mit dem Kaffee und<br />
den Marzipankartoffeln und dem Blick auf die stille Straße,<br />
beschienen vom adventlichen Glanz aus ihrem Herzen, auch<br />
wenn sie das genoß, es war lang genug. Sie fürchtete sich nicht<br />
vor dem Sterben. Der Gedanke war ihr schon vor einigen Jahren<br />
gekommen. Der Himmel, der muß sein wie Weihnachten.<br />
Schon als Kind war es ihr wie ein Schauer über den Rücken<br />
gelaufen, dieses Wort vom Frieden auf Erden und den Menschen<br />
ein Wohlgefallen. Als ihr erster Freund nach Spanien<br />
ging, um für die gute Sache zu kämpfen, hatte sie Schluß gemacht<br />
mit ihm. Sie wollte nicht um einen Freund weinen müssen.<br />
Sie wußte, dies war der falsche Weg. Blut vergießen ist der<br />
falsche Weg. Krieg ist Irrsinn. Wie kann man etwas kaputtmachen,<br />
was Menschen noch gebrauchen können. Wie kann<br />
man dieses Wunder Mensch töten und zerstückeln — auch<br />
wenn es ein Wunder mit kleinen Fehlern war. Aber schau dir<br />
nur ein Kind an, ein kleines Kind, da wird man doch stumm<br />
vor Staunen, die Schmerzen sind vergessen, wenn sie es einem<br />
in den Arm legen, wie können sie nur so etwas umbringen.<br />
Friede auf Erden — sie wollen ihn alle, aber sie schießen ihn<br />
kaputt. Das war der falsche Weg.<br />
Der richtige Weg, der hatte mit der Krippe zu tun, mit dem<br />
kleinen Kind, das da in einem Stall zur Welt kommt, arm und
hilflos, und doch kommen die Hirten und die Könige und<br />
der Stern leuchtet darüber. Wie so ein Kind, so kommt der<br />
Friede. Oder wie der König, der auf einem Esel reitet in seine<br />
Stadt, diese Geschichte hatte ihr immer gefallen, weil sie so<br />
ehrlich war, nicht mit Waffen und in prächtigen Kleidern, so<br />
kommt der Friede. Die mit den feinen Kleidern hatten noch<br />
nie viel mit Frieden im Sinn. Frieden hat etwas mit Anfangen<br />
zu tun, man muß anfangen damit. <strong>Alles</strong> andere kommt dann<br />
von selbst. So stellte sie sich das vor.<br />
Und der Himmel muß sein wie Weihnachten. Leuchtend<br />
wie die Kerzen am Tannenbaum, lächelnd wie Mutter, wenn<br />
sie die kleine Glocke läutete, ein Gefühl der freudigen Spannung,<br />
die das Herz schier platzen lassen will — so muß der<br />
Himmel sein. Oder wie Marzipankartoffeln oder wie braune<br />
Kuchen auf dem Rundstück — ein Wohlbefinden, ein Wohlgefallen<br />
…<br />
Sie erinnerte sich an eine Sache aus Kindertagen — immer<br />
noch stieg es heiß in ihr auf, die Scham wird wohl nie vergehen.<br />
Sie konnte die Spannung einfach nicht mehr ertragen, so<br />
sehr wünschte sie sich die Puppe mit den Schlafaugen, und sie<br />
wußte doch, Mutter hatte wenig Geld, es gab ja keine Arbeit<br />
für Papa. Da öffnete sie die Schränke und sah überall nach.<br />
Die Puppe lag im Schlafzimmer, unter Mutters Wäsche, und<br />
sie hatte Schlafaugen. Nur daß die Schlafaugen irgendwie in<br />
den Kopf zurückfielen, als sie sie untersuchte. Schnell stopfte<br />
sie die Puppe zurück, und es war eine schlimme Zeit, bis es<br />
diesmal Weihnachten wurde. Dann war es soweit, sie konnte<br />
vor Scham ihr Gedicht nicht mehr, und da war auch die<br />
Puppe, aber sie hatte jetzt ein blaues Kleid, das andere war rot
gewesen, und die Schlafaugen gingen auf und zu, und Mutter<br />
sah sie an, nahm sie in den Arm und war gar nicht böse. Papa<br />
maulte über den Pferdefleischbraten zu Weihnachten, aber er<br />
sagte nichts, weil er ja keine Arbeit hatte. Sie hatte nie mit ihrer<br />
Mutter darüber gesprochen, aber sie wußten doch voneinander.<br />
So muß Weihnachten sein, so muß der Himmel sein.<br />
Eigentlich war es kein Wunder, daß sie sich immer noch<br />
wie ein Kind auf Weihnachten freute. Und es war auch kein<br />
Wunder, daß sie jetzt am Fenster saß, auf die Straße schaute,<br />
die Marzipankartoffeln nach Rosenwasser schmeckten, und<br />
sie keine Angst vor dem Sterben hatte. Das Weihnachten aus<br />
den Kindertagen hatte sie stark gemacht für ihr ganzes Leben,<br />
für alles, was noch kam, und es waren keine leichten Jahre gewesen,<br />
bestimmt nicht. Darum wird sie sich auch dieses Jahr<br />
wieder einen Tannenbaum kaufen, und sie wird ihn schmükken,<br />
und sie wird die Kerzen anzünden am Heiligen Abend,<br />
sie wird Kaffee trinken, sie wird sich ein schönes Buch kaufen<br />
und lesen, ganz so wie früher. Alle ihre Bekannten finden das<br />
lächerlich. Sie aber lächelt bei diesem Gedanken. Dies ist ihre<br />
Art, ihren Eltern zu danken und Gott. Sie konnte sich sonst<br />
nie etwas unter diesem Wort vorstellen: Gott. Zu viele Leute<br />
gebrauchten es, und sie gebrauchten es falsch. Sie schoben ihm<br />
alles unter, womit er doch nichts zu tun hatte. Sie machten<br />
daraus ein Friedhofswort, verbanden es mit Krieg und Not.<br />
Aber das war nicht ihr Gott. Ihr Gott hatte mit Weihnachten<br />
zu tun. Sie freute sich auf Weihnachten und auf ihn. Sie freute<br />
sich wie ein Kind.
Um der Hirten willen<br />
Es ist nur ein Traum. Nur ein Traum war das. <strong>Ein</strong> Alptraum.<br />
Es ist gar nicht so. Ich werde mir ein Glas Milch aus dem Kühlschrank<br />
holen und wieder einschlafen. Es war nur ein Traum.<br />
<strong>Ein</strong> schlimmer Traum.<br />
Es war kurz vor Weihnachten. Zeit, den Tannenbaum zu<br />
holen, die letzten Geschenke zu kaufen. Für Tante Nina, für<br />
Opa und Oma, aber nichts Süßes diesmal, sie hat ja jetzt Zukker.<br />
Für die Große habe ich auch noch nicht alles zusammen.<br />
Außerdem muß ich den Karpfen bestellen und die Gans holen.<br />
<strong>Ein</strong> paar neue Kugeln für den Christbaum könnte ich auch<br />
noch kaufen.<br />
Ich geh’ also los. Sonderbar. Überall vor den Geschäften<br />
sind Tische aufgebaut, gehäuft voll mit Weihnachtsartikeln.<br />
Und überall steht: Sonderangebot! Herabgesetzt! Ausverkauf!<br />
Der Tannenbaumhändler wischt sich den Tropfen von der<br />
Nase und sagt: „Sie sind der erste heute.“ Ich sehe es selbst. Er<br />
kann noch kaum etwas verkauft haben. Die schönsten Bäume<br />
liegen noch zu Bergen in seinem Geviert. In den Blumengeschäften<br />
war es mir schon aufgefallen. Es lagen in den Ecken<br />
die unverkauften Adventskränze herum. Sie gehen dieses Jahr<br />
überhaupt nicht, sagte man mir. Bei Aldi ist es nicht anders.
All die schönen Süßigkeiten der Weihnachtszeit — sie werden<br />
billiger angeboten, Restbestände … Aber die Reste sind riesig.<br />
Was soll das bedeuten? Fällt Weihnachten dieses Jahr aus?<br />
Haben die Menschen Weihnachten vergessen?<br />
Also frag ich den Tannenbaumhändler: „Wieso bin ich der<br />
erste heute? Kaufen die Leute keine Tannenbäume mehr?<br />
Ohne Christbaum ist es doch kein Weihnachten.“<br />
Er nimmt mit seiner rotkalten Hand die Zigarette aus dem<br />
Mund und sagt: „Copyright. Gesetzlich geschützt.“ Ich versteh<br />
gar nichts mehr. Er muß es mir angesehen haben. Er sagt mit<br />
heiserer Stimme: „Neue Bestimmung. Sie wissen doch: EU,<br />
Europa. Die machen jetzt alles anders. Weihnachten ist jetzt<br />
gesetzlich geschützt.“ „Und was heißt das?“ frage ich ängstlich.<br />
Er bietet mir einen Schluck aus seiner Thermosflasche<br />
an. Ich schüttele den Kopf. Wieder löst sich ein Tropfen von<br />
seiner Nase. „Tut aber gut“, meint er, „wenn sowieso nichts<br />
los ist. Weihnachten ist nur noch für die, die in der Kirche<br />
sind. Alle anderen dürfen nicht mehr.“ „Das kann doch nicht<br />
wahr sein sein“, sag’ ich. „Doch“, besteht er darauf, „so ist es.<br />
Und es wird noch schlimmer“, sagt er. Nun nehme ich doch<br />
einen Schluck aus seiner Thermosflasche. Tee mit Rum. Das<br />
tut wirklich gut. Jetzt merke ich auch die schneidende Kälte.<br />
„Wieso?“ frage ich, jetzt auf fast alles gefaßt. „Na“, sagt er,<br />
„nächstes Jahr dürfen nur noch die, die auch zur Kirche gehen.<br />
Am Heiligabend. Wenigstens am Heiligabend.“<br />
Der Schreck saß tief. Hatte ich erst noch gedacht: Naja,<br />
40 Prozent, die Weihnachten feiern, das ist knapp die Hälfte,<br />
das mag ja noch angehen. Aber nur noch ein knappes Drittel<br />
von denen wieder … Das sind ja nur noch ganz wenige …
Hamburg ohne Weihnachten. Fast ohne Weihnachten. Da<br />
bin ich aufgewacht.<br />
So geht das nicht. Weihnachten ist doch für alle da. Alle<br />
Menschen vergeben einander und fangen von vorn an, so wie<br />
Gott es wollte. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen<br />
… Und zum Zeichen dafür die Geschenke für alle und<br />
das Fest.<br />
Nein, lieber Gott, das kannst du nicht machen, denke ich,<br />
und lege mich mit dem Glas Milch wieder schlafen. Schließlich<br />
haben damals auch die Hirten vor dem Stall gestanden.<br />
Das waren auch keine frommen Leute. Um der Hirten willen,<br />
das kannst du nicht machen. Weihnachten ist für alle da. Und<br />
wenn schon ein Copyright für Weihnachten, dann doch nur<br />
so für ein Jahr mal, oder zwei, damit die Menschen merken,<br />
was sie verloren haben …
Weihnachten läßt sie kalt<br />
Im Grunde genommen hatte sie sich nicht geändert, in all den<br />
fast achtzig Jahren war sie doch dieselbe geblieben. Morgens<br />
ging sie in die Schule und saß bei den Mädchen, aber das war<br />
immer nur in der ersten Stunde so, schon in der zweiten spätestens<br />
fand sie sich auf der Seite der Jungen wieder, strafversetzt,<br />
denn wer sich nicht wie ein wohlerzogenes Mädchen<br />
benahm, der mußte sich umsetzen lassen, und die ganze<br />
Klasse lachte. Dabei hatten sie auch schadenfroh gelacht, als<br />
der Herr Schubert sich auf den nassen Schwamm setzte, hatten<br />
gelacht, als sie seine alte, lederne Aktentasche am Kartenständer<br />
hochzog, und er sah unter jedem Schulpult nach, als<br />
es klingelte. Sie fanden es auch sehr lustig, als sie den Harzerkäse<br />
unter den Klassenschrank nagelte. Und wie sie erst kicherten,<br />
als sie sahen, wie sie aus den Menschen im Biologiebuch<br />
richtige Männer und Frauen gemacht hatte. Damals war<br />
alles unter dem Gürtel noch Geheimnis, es würde noch früh<br />
genug gelüftet werden, wenn sie dem Richtigen ausgeliefert<br />
wurden …<br />
So war ihr auch die Idee gekommen, als ihre Enkelin sagte,<br />
Weihnachten ließe sie kalt. All das Gedudel gefühlsseliger<br />
Lieder, all der Glitter und die Kerzen, und an die Sache mit
dem Stall und dem Kind in der Krippe glaube sie sowieso<br />
nicht. Das könne man den Kindern erzählen, aber nicht ihr.<br />
Sie wolle am liebsten in die Sonne in diesen Tagen. Auf die<br />
Malediven vielleicht, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, wo<br />
die überhaupt lagen.<br />
Es kostete die alte Dame einige Mühe, alles zu arrangieren.<br />
Sie mußte den Schulbus nehmen, um in die Stadt zu fahren,<br />
und das Reisebüro machte erst um Neun auf, die Cafés waren<br />
noch geschlossen, und so lief sie durch die Straßen, sah in<br />
die Schaufenster. So ganz unrecht hatte ihre Enkelin ja nicht,<br />
was hat schon ein Blutdruckmesser mit Weihnachten zu tun,<br />
oder gar so ein Handy, so viel Wichtiges gab es ja gar nicht<br />
mitzuteilen, daß sie nicht warten konnten, bis sie wieder zu<br />
Hause am Telefon waren. Hinterher mußte sie auch noch viel<br />
telefonieren, aber das konnte sie zu Hause erledigen. Doch die<br />
Sache mit Weihnachten machte diesen Ausflug in die Stadt<br />
nötig. Das mußte sie von Angesicht zu Angesicht mit jemandem<br />
besprechen.<br />
Obwohl Weihnachten sie kalt ließ, aß ihre Enkelin mit ihrem<br />
Freund die ganze Schale Schmalzkekse und braune Kuchen<br />
leer, zweimal mußte sie nachholen, auch wenn sie selbst<br />
erst am Heiligen Abend Weihnachtskekse essen würde, so wie<br />
sie es immer gehalten hatte. Die Freude der jungen Leute war<br />
groß, als sie den Umschlag öffneten und den Reisegutschein<br />
fanden. Das Auto hatte doch mehr gekostet, als ihre Enkelin<br />
gedacht hatte, aber wenn ihr Freund schon einmal gerne einen<br />
fast neuen Wagen fahren wollte, und sie selbst brauchte<br />
einen neuen Laptop, dann waren die Malediven eben weiter<br />
weg, als sie gedacht hatte.
Schade, daß es nur die Prignitz war, aber die beiden machten<br />
gute Miene zum schlimmen Spiel. Besser als gar nichts war<br />
das. Aber warum dann die Bahnkarten, für das Geld hätten<br />
sie doch auch in den Süden fliegen können. <strong>Ein</strong>em geschenkten<br />
Gaul — der Freund sagte das wortwörtlich. Zu dieser Adventure-Tour<br />
gehört nun einmal die Bahnfahrt. Es wäre auch<br />
nicht das gewesen, was es sein sollte, hätten sie das Auto dabei<br />
gehabt.<br />
Der Anschluß klappte wunderbar. Als sie in der Kreisstadt<br />
aus dem Zug stiegen, stand der letzte Bus am Bahnhof. Nur<br />
zwei alte Frauen stiegen mit ihnen zusammen in den wartenden<br />
Wagen, sie waren schwer bepackt mit Paketen, wahrscheinlich<br />
fuhren sie heute am 24. Dezember zu ihren Kindern<br />
und brachten die bestellten Weihnachtsgeschenke mit. Dann<br />
war das Dorf erreicht. Nach der Hitze im überheizten Bus<br />
traf sie der kalte Regen fast schmerzhaft. Die Türen schlossen<br />
sich, der Motor brummte dunkel auf, die roten Schlußlichter<br />
verschwanden in der Dämmerung. Im gelbtrüben Licht der<br />
einzigen Straßenlaterne fingerte er den Gutschein aus seiner<br />
Jeans. „‚Vier Linden‘ heißt das“, las er, „wird wohl mitten im<br />
Dorf liegen.“ Sie schulterten ihre Rucksäcke und wandten sich<br />
nach links. Da schimmerten weitere Laternen. „Da drüben“,<br />
zeigte er und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Hinter<br />
kahlen Ästen duckte sich ein Haus mit großer Tür. Näherkommend<br />
konnten sie das Schild auch lesen. ‚Vier Linden‘,<br />
richtig. Lübzer Bier gab’s, Jever wäre ihm lieber gewesen. Sie<br />
faßte an die Tür, wollte sie öffnen. Aber nichts tat sich. Die<br />
Tür war verschlossen. „Wir müssen klingeln“, meinte er klug,<br />
aber da war keine Klingel. Das Klopfen übernahm er. Seine
Fingerknöchel taten fast schon weh, als endlich im ersten Stock<br />
ein Fenster aufging.<br />
„Wir sollen hier übernachten“, rief er zu dem mürrischen<br />
Gesicht nach oben.<br />
Die Antwort war ein Schock. „Hat sich geändert“, meinte der<br />
Ärgerliche da oben, „Sie sind umgebucht. Am Schafsee werden<br />
sie erwartet.“<br />
„Und wo ist das?“ Die Stimme des jungen Mannes war sehr<br />
laut in der beginnenden Nacht.<br />
„Da runter“, der Wirt zeigte nach rechts.<br />
„Weit noch?“ fragte sie schüchtern.<br />
„Zwei Kilometer etwa, das schaffen sie leicht!“<br />
Am Ende des Dorfes umfing sie die Nacht. Der Regen<br />
drang tiefer in das Gewebe ihrer Jacken. Dann sahen sie das<br />
Licht. „Das muß es sein!“ munterte er sie auf. Es war’s auch.<br />
‚Zum Schafsee‘, Hotel und Restaurant. Hier gab es wenigstens<br />
Warsteiner, seine Laune besserte sich augenblicklich. Die Enttäuschung<br />
kam am Tresen. „<strong>Alles</strong> besetzt“, knappste die Weißbeschürzte.<br />
Sie sah sehr kritisch auf ihre Rucksäcke. Ernste<br />
Kellner trugen riesige kalte Platten vorüber. Lachs, Roastbeef<br />
und Kaviar, Sekt im Kühler. „<strong>Alles</strong> voll. Versuchen Sie es mal<br />
‚Am Sandberg‘, das ist nur auf der anderen Seite des Sees, am<br />
besten gehen sie links herum, da stehen ein paar Laternen.“<br />
Auch dieser Weg endete einmal. Ihr war im Wald sehr unheimlich<br />
gewesen, auch wenn er meinte, Strolche wären in<br />
dieser Nacht bestimmt nicht unterwegs, aber sie hatte eigentlich<br />
mehr Angst vor Wildschweinen. Der Wirt vom Sandberg<br />
hatte nur Flaschenbier, aber er zeigte <strong>Ein</strong>sehen. „Ich hab noch<br />
ein kleines Zimmer hinten raus. Das können sie haben.“
Angekommen über halbdunkle Treppen und Flure, warfen<br />
sie sich so wie sie waren auf das Bett. Das Bett knarrte. Die<br />
Deckenlampe war eine Funzel. Doch die Risse und Flecken<br />
der Tapete waren auch im matten Schummer gut sichtbar. Die<br />
Möbel konnten ihr Alter ebenso nicht verstecken.<br />
„Hier müffelt es aber“, stellte er fest. Er öffnete die Fenster.<br />
<strong>Ein</strong> ländlicher Geruch von Stall und Mist drang herein und<br />
füllte das Zimmer.<br />
Sie hatte ihre Augen geschlossen und sagte leise: „Du, stell<br />
dir mal vor, ich wäre schwanger.“<br />
Stille. <strong>Ein</strong> Knacken irgendwo im Gebälk des alten Hauses.<br />
Stille. Tief sogen sie beide den ungewohnten Duft ein. Nur das<br />
Geräusch ihres Atems. Fern bellte ein Hund. Unruhiges Schurren<br />
im Stall. Stille. Da spürte sie seine Hand. Sie war warm.<br />
„Deine Oma ist geil. Voll fies hat sie sich das ausgedacht. Aber<br />
cool. Die weiß, was sie will.“ Er sprach ganz leise, fast flüsternd.<br />
Lange sagten sie beide nichts. Aber, es war als ob sie sich<br />
abgesprochen hätten, da standen sie beide auf, tappten durch<br />
die muffigen Flure, die Treppe hinunter, hinaus in den Regen,<br />
und bei der ersten Fichte holte er sein Messer raus, und sie<br />
hatten ihre Zweige. Der Wirt gab ihnen auch eine Kerze zu<br />
den fünf Flaschen Bier, und sie lagen auf dem knarschenden<br />
Bett in den tiefen Kuhlen, sahen in den leuchtenden Kranz<br />
der Kerzenflamme, und sie hatten sich nichts zu schenken als<br />
ihre Zärtlichkeit.<br />
Silvester erzählten sie ihren Freunden von der schönsten<br />
Weihnacht ihres Lebens, aber die konnten damit nichts anfangen.<br />
Weihnachten ließ sie kalt. Nur die neuen Handys wurden<br />
herumgezeigt.
Wie Christoph mit Weihnachten anfängt<br />
Fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Kein Tannenbaum,<br />
kein Kerzenlicht, kein Gabentisch, nur ein normaler<br />
Abend, an dem alle Kinder zu früh ins Bett müssen.<br />
Fast wäre Weihnachten wirklich ausgefallen, und das kam<br />
so:<br />
„Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst, fällt Weihnachten<br />
aus!“ brüllte Vati und schlug die Tür zu, so schnell<br />
und so laut, daß nun das Fußballbild schief hing, die Gardine<br />
am Fenster sich bewegte und Christoph vor Schreck sein Herz<br />
klopfen fühlte. Vati war auf einen Legostein getreten, und weil<br />
er auf Strümpfen ging und ohne Hausschuhe (Väter dürfen<br />
das wohl), hatte es weh getan. „Wenn du nicht endlich dein<br />
Zimmer aufräumst …“ Christoph schluckte.<br />
Wer weiß nicht, wie ein Zimmer aussieht beim Basteln vor<br />
Weihnachten! Papier, Papier, groß und klein, besonders in kleinen<br />
Schnitzeln, 127 Filzer und Klebe und Klötzer, Bilder und<br />
Bücher, Bälle und Bänder, Spiele und Zeug, alles durcheinander,<br />
übereinander, untereinander, beieinander, auseinander. Ich<br />
glaube, der Teppich darunter ist rot, sehen kann ich ihn nicht.<br />
Und heute ist Weihnachten, nachher, wenn die Kirche aus<br />
ist. Christophs Hände waren schwer wie Blei und um den Hals
war ihm eng wie im kleinsten Pullover und in seinen Augen<br />
brannte es heiß. „Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst,<br />
fällt Weihnachten aus …“ Das war heute vormittag.<br />
„Wenn du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten“,<br />
schimpfte Mutti am Mittag. Christoph zuckte zusammen.<br />
Christoph wollte die Vase nicht umwerfen. Die Vase war nur<br />
gefallen, weil der Stuhl dagegen stieß als er umkippte, und<br />
Christoph kippte den Stuhl nur um, weil er nach einem Lappen<br />
laufen wollte. Christoph brauchte den Lappen schnell,<br />
weil der Traubensaft auf dem Tischtuch immer weiter auseinanderfloß.<br />
Der Traubensaft aber kam auf das Tischtuch, weil<br />
Christoph den Soßenfleck wegwischen wollte, der vorher auf<br />
dem Tischtuch war, und der war nur entstanden, weil Christoph<br />
am Heiligen Abend mit Messer und Gabel essen wollte<br />
und das Fleisch beim Schneiden vom Teller flutschte. „Wenn<br />
du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten!“ schimpfte<br />
Mutti, und Christoph weinte, als er die Scherben der schönen<br />
Vase sah.<br />
„Wenn du dein Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke!“<br />
sagte Oma und hielt Christoph bei der Hand. „Versuchs<br />
doch mal, sag’s mir doch mal auf!“ Christoph holte tief Luft:<br />
„Weihnacht will werden im ganzen Land,<br />
alle Kinder sind sehr gespannt,<br />
was das Christkind wohl bringt,<br />
wenn das Glöckchen erklingt<br />
und ruft sie herein<br />
in den glänzenden Schein<br />
der vielen Lichter am Weihnachtsbaum.
Ihre Gesichter, du glaubst es kaum,<br />
leuchten viel heller,<br />
ihr Herz schlägt schneller …<br />
ihr Herz schlagt schneller … schneller …<br />
Christoph konnte sein Gedicht nicht mehr. „Wenn du dein<br />
Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke“, hatte Oma<br />
gesagt, und er konnte es nicht! Christoph träumte sich in das<br />
Krippenbild hinein, hinter dem die Kerze brannte, weil es nun<br />
dämmerig wurde. Maria lächelte, auch Joseph sah freundlich<br />
drein, und das Christkind lag auf weißen Windeln, goldumglänzt<br />
…<br />
„Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst … wenn du nicht<br />
artig bist … wenn du dein Gedicht nicht kannst …<br />
Christoph war traurig, tränentraurig, und dachte die immer<br />
gleichen Gedanken: „Wenn du …“<br />
Bestimmt war das Christkind artig. Bestimmt hatte Maria<br />
aufgeräumt und Joseph kannte sein Gedicht, bestimmt.<br />
Da stand Christoph auf, der kleine Christoph, reckte sich<br />
hoch, ganz groß machte er sich, blies mit geblähten Backen<br />
die Kerze aus hinter dem Krippenbild. Nun war’s dunkler im<br />
Zimmer, grauer war es, so grau wie Christoph traurig war.<br />
Und Christoph ging in sein Zimmer, trat auf Papier und Filzer,<br />
Kleben und Klötzer, Bilder und Bücher, Bälle und Bänder,<br />
Spiele und Zeug. Aus dem Versteck — pscht — das verrate ich<br />
euch nicht, holte er, was er gebastelt hatte, das bunte Bild vom<br />
Weihnachtsbaum für die Oma, Walnußweihnachtsmann mit<br />
Wattebart für Vati und den goldglitzernden, glänzenden Engel<br />
für die Mutti.
Christoph stapfte, beide Hände beladen, mit Weihnachtsmann<br />
und Engel, das Bild unter dem Arm durch sein Zimmer,<br />
über den Flur, zum Eßtisch, an dem die Großen saßen und<br />
müde Minen machten.<br />
Und Christoph legte seine Geschenke auf den Tisch, mitten<br />
zwischen Teller und Tassen, Schüsseln und Gläser und<br />
sagte: „Da!“ Und nach einer langen Pause stummer Stille sagte<br />
er noch: „Weil Weihnachten ausfällt.“ Mehr sagte er nicht.<br />
Mehr konnte er nicht sagen, weil Mutti ihn küßte, ganz weich<br />
und warm, und weil Vati ihn drückte, ganz fest und sicher,<br />
und Oma seine Hand hielt.<br />
„Weihnachten fällt nicht aus“, sagte Vati. „Wir feiern doch<br />
Weihnachten“, sagte Mutti. Und Oma sagte: „Geschenke gibt<br />
es doch auch nachher.“<br />
Warum?“ fragte Christoph, als er wieder Luft bekam.<br />
„Weil Weihnachten für alle Menschen wird“, sagte Vati.<br />
„Weil wir Weihnachten so sein dürfen, wie wir wirklich<br />
sind“, sagte Mutti.<br />
Und Oma sagte: „Weißt du, Christoph, mit dem da“, sie<br />
zeigte auf die Geschenke mitten auf dem Tisch zwischen Tellern<br />
und Tassen, Schüsseln und Gläsern, „mit deinen Geschenken<br />
hast du den Anfang gemacht, den Anfang von Weihnachten.<br />
Ich glaube, du hast uns sehr lieb.“<br />
Ja, fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Aber<br />
Christoph hat mit Weihnachten angefangen. Und er freut sich<br />
darauf, wenn Weihnachten weitergeht, genau wie du und ich.
KRIPPENSPIELE<br />
Erstes Krippenspiel<br />
Auf der linken Bühnenseite sind zwei Schaufenster, dekoriert mit<br />
populären Spielsachen und Süßigkeiten der Weihnachtszeit.<br />
Auf der rechten Bühnenseite steht eine kleine Krippe aufgebaut.<br />
<strong>Ein</strong> Verkäufer zieht ein mit einem Berg von Paketen.<br />
1. VERKÄUFER:<br />
Geschenke! Spielzeug für die Lieben! Das große Fest der Geschenke!<br />
Moutainbikes und Eisenbahnen! Rollerblades und<br />
Barbiepuppen!<br />
Geschenke! Leute kauft ein! Kauft, Leute, kauft! Das Fest<br />
der Geschenke!<br />
<strong>Ein</strong> zweiter Verkäufer zieht ein mit einem Bauchladen<br />
voller Süßigkeiten.<br />
2. VERKÄUFER:<br />
Marzipan und Stollen! Leckeres zur Weihnacht! Eßt, Leute,<br />
eßt! Schokoladenherzen und Lebkuchen! Kringel und Weihnachtsmänner!<br />
Baumkuchen und Zimtsterne! Braune Kuchen!<br />
Marzipan!
Unter solchen Rufen ziehen beide Verkäufer zu den Schaufenstern.<br />
Wenn sie die Schaufenster erreicht haben, werden sie in strahlendes<br />
Licht getaucht. Die Verkäufer wiederholen sehr laut ihren Text.<br />
Währenddessen entzündet ein Kind vor der Krippe vier Kerzen.<br />
1. KIND (singt):<br />
O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!<br />
Welt ging verloren, Christ ist geboren:<br />
Freue, freue dich, o Christenheit!<br />
Das 1. Kind zieht sich zurück. <strong>Ein</strong>e Kindergruppe stürmt lärmend<br />
herein. Vor der Bühne bleiben sie wie gebannt stehen. Sie treten zu<br />
den Schaufenstern. Die Verkäufer wiederholen ihren Text. Aber die<br />
Kinder gehen an ihnen vorbei, als wären sie gelangweilt.<br />
Sie gehen zur Krippe.<br />
2. KIND:<br />
Schau mal, der Stern!<br />
3. KIND:<br />
Der Stall!<br />
2. KIND:<br />
Wie verfallen der ist …<br />
3. KIND:<br />
Das Dach ist voller Löcher.<br />
2. KIND:<br />
Niemand hat sie aufgenommen.
4. KIND:<br />
Mein Bruder sucht auch eine Wohnung, schon lange.<br />
5. KIND:<br />
Da sind auch der Ochse und der Esel. Sie sehen zu.<br />
6. KIND:<br />
Ist die Maria nicht schön? Sie freut sich.<br />
5. KIND:<br />
Obwohl sie arm sind.<br />
7. KIND:<br />
Nicht mal ein Bett!<br />
4. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> Kind aus meiner Klasse hat auch kein eigenes Bett. Maura<br />
heißt sie. Sie kommt aus Afrika.<br />
3. KIND:<br />
Aus der Krippe fressen sonst die Tiere.<br />
2. KIND:<br />
Ist das Kind nicht süß? Und so klein! Es schläft.<br />
3. KIND:<br />
Stroh ist auch weich und warm. Aber es piekst manchmal.<br />
5. KIND:<br />
Das ist der Joseph. Der sieht nur zu.<br />
4. KIND:<br />
Mein Vater hat auch nichts zu tun. Er hat keine Arbeit.
5. KIND:<br />
Das sind die Hirten. Sie sind ganz andächtig.<br />
2. KIND:<br />
Die Engel sind auch da. Sie singen ein Lied.<br />
4. KIND (tritt nahe zur Krippe und zeigt darauf):<br />
Feiern wir deshalb Weihnachten?<br />
2. KIND:<br />
Ja.<br />
4. KIND:<br />
Nur weil der geboren ist?<br />
6. KIND:<br />
Ich finde Babys süß.<br />
7. KIND:<br />
Außerdem hat er Frieden gebracht.<br />
2. KIND:<br />
Er war auch für die Armen und Kranken und hat ihnen geholfen.<br />
5. KIND:<br />
Der war auch zu Ausländern gut.<br />
2. KIND:<br />
Und zu schlechten Menschen war er auch gut.<br />
7. KIND:<br />
Ich finde, Weihnachten ist das schönste Fest.
4. KIND:<br />
Weil du Geschenke kriegst!<br />
7. KIND:<br />
Nein. Gar nicht. Weil dann alle so nett sind.<br />
2. KIND:<br />
Ich mag auch die Lieder so gern.<br />
3. KIND:<br />
<strong>Alles</strong> ist immer so feierlich.<br />
5. KIND:<br />
Zu Weihnachten kommen immer Opa und Oma, die sind<br />
sonst nie da.<br />
6. KIND:<br />
Die Kerzen, der Tannenbaum und so, das ist wirklich schön.<br />
4. KIND:<br />
Dann sollte aber öfter Weihnachten sein. Viel öfter. Am besten<br />
jeden Tag.<br />
ALLE KINDER:<br />
Genau: Weihnachten jeden Tag!<br />
Sie singen: O du fröhliche …<br />
Alle Kinder gehen ab, das Licht erlischt.<br />
Nur die Kerzen bleiben brennen.
Zweites Krippenspiel<br />
Auf der Bühne liegen viele Schachteln und Pakete mit Geschenken.<br />
<strong>Ein</strong> kleines Glöckchen klingelt.<br />
Die Kinder stürmen herein, stürzen sich auf die Geschenke und<br />
reißen die Schachteln und Pakete auf. das Papier fällt achtlos<br />
herunter. Die ausgepackten Geschenke scheinen die Kinder nicht<br />
sonderlich zu interessieren.<br />
1. KIND (hält eine Taschenlampe hoch und schaltet sie ein):<br />
Das ist der Stern! Der Stern von Bethlehem! Der Stern!<br />
2. KIND (nimmt einen großen Karton und stellt ihn auf):<br />
Ich hab’ einen Stall. Das hier ist der Stall.<br />
3. KIND (nimmt eine Barbiepuppe und stellt sie in den Stall):<br />
Das ist die Maria, die Maria ist das! Das blonde Haar macht<br />
nichts. Alle Barbies sind blond.<br />
4. KIND (nimmt zwei Modellautos und stellt sie in den Stall):<br />
Ochs und Esel gehören auch dazu! Die kommen hierhin.<br />
5. KIND (nimmt eine Cognacflasche und stellt sie neben die Maria):<br />
Die Flasche ist der Joseph.
6. KIND (nimmt eine Schmuckschatulle):<br />
Kann das die Krippe sein? Da war ein Ring drin.<br />
1. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> bißchen zu vornehm, oder?<br />
2. KIND:<br />
Macht nichts. Maria ist auch zu fein.<br />
Das 5. Kind stellt die Schatulle in die Krippe.<br />
7. KIND (hält einen Dinosaurier hoch):<br />
Ich hab’ die Hirten hier. Aber nur zwei. Mehr waren da nicht<br />
drin.<br />
8. KIND:<br />
Uns fehlt noch das Wichtigste. Wir haben noch kein Jesuskind!<br />
9. KIND:<br />
Aber die drei Heiligen Könige habe ich hier! (Es hält Rollerblades<br />
hoch und einen Skistiefel, und stellt sie um die Krippe.)<br />
1. KIND:<br />
Wir brauchen noch das Jesuskind! Was können wir denn da<br />
nehmen?<br />
3. KIND:<br />
Wie wär’s hiermit? <strong>Ein</strong> Sektkorken ist das, glaub’ ich. der sieht<br />
oben so aus, als wäre das ein Heiligenschein.<br />
2. KIND:<br />
Geil, den nehmen wir. (Es legt den Korken in die Schatulle.)
Das 3. und 5. Kind nehmen Maria und Joseph aus der Krippe<br />
und gehen vor den anderen Kindern hin und her.<br />
3. KIND:<br />
Wir sind auf der Reise. Ich bin müde. Mein Mann muß mich<br />
stützen. Endlich sind wir da. Wir suchen ein Hotel. Aber alle<br />
sind voll. (Die anderen Kinder machen abwehrende Handbewegungen.)<br />
Niemand will uns haben.<br />
5. KIND:<br />
Nur einer hat ein Herz mit uns Ausländern. Er gibt uns den<br />
Stall.<br />
<strong>Ein</strong> Kind macht eine einladende Geste auf den Stall hin.<br />
Maria und Joseph werden abgestellt.<br />
4. KIND (nimmt Ochs und Esel auf und schüttelt sie):<br />
Ochs und Esel wundern sich über das Kind. (Stellt die Figuren<br />
wieder hin.)<br />
3. KIND:<br />
Das Jesuskind strahlt und schläft gleich ein. (Es nimmt den<br />
Sektkorken hoch und legt ihn wieder hin.)<br />
6., 7. UND 9. KIND (nehmen die Stiefel und gehen hinter dem<br />
1. Kind hinterher, das mit der Taschenlampe voran geht. Sie sprechen<br />
im Chor):<br />
Wir sind die Könige aus dem Morgenland und suchen den<br />
König. Der Stern zeigt uns den Weg. (Sie singen) Stern von<br />
Bethlehem, zeig uns den Weg … (Am Ende des Liedes stehen sie<br />
an der Krippe und stellen die Hl. Könige ab.)
8. KIND:<br />
Ich hab die Geschenke! (Es nimmt eine Tüte mit Süßigkeiten und<br />
schüttet sie vor den Stiefeln aus.)<br />
1. KIND:<br />
Jetzt sind wir die Hirten und singen ein Weihnachtslied. (Die<br />
Kinder stellen sich auf und singen alle): Kommet, ihr Hirten, ihr<br />
Männer und Frau’n …
Drittes Krippenspiel<br />
SPRECHERIN (verkündigend):<br />
Als Gott, der Herr, (nachdenklich) oder war das nicht doch die<br />
Frau und Mutter in ihm, (verkündigend) als sie also sah, daß<br />
in einem der reichsten Länder dieser Erde kein Platz war für<br />
Flüchtlinge und Fremde, als sie dort sogar begannen, Frauen<br />
und Kinder in die Heimat des Hungers und Krieges zurückzuschicken,<br />
da erbarmte sie sich der hartherzigen Menschen,<br />
und ließ dies also geschehen, damit man sich fortan davon<br />
erzähle und alljährlich daran erinnere:<br />
1. und 2. Kind (Joseph und Maria) ziehen mit einer Fackel<br />
den Gang entlang in die Kirche ein.<br />
1. KIND:<br />
Halt aus, Maria, halt doch noch ein Weilchen aus. Wir werden<br />
von der nächsten Tür nicht weichen, auch wenn sie uns mit<br />
Hunden jagen.<br />
2. KIND:<br />
Ich weine nicht um mich, Joseph, es soll an mir nicht liegen.<br />
Aber es kann doch kein Kind auf der Straße geboren werden,
solange es noch Häuser gibt. Die Herzen der Menschen sind<br />
härter als die Steine, über die unsere müden Füße gehen.<br />
1. KIND:<br />
Gott weiß es, Maria, Gott weiß es. Er ist mit uns auf diesem<br />
Weg.<br />
2. KIND:<br />
So wollen wir sehen, wo wir ihn betten.<br />
Sie kommen vor die Altarstufen.<br />
<strong>Ein</strong> Wirt (3. Kind) lehnt an der Hoftür.<br />
1. KIND:<br />
Ist Raum in Eurer Herberge, werter Herr?<br />
2. KIND:<br />
Um Gottes willen, habt doch ein Herz!<br />
3. KIND:<br />
Wann werdet Ihr es begreifen, Ihr Fremden: Das Schiff ist<br />
voll! Alle Räume sind belegt, nächstes Jahr werde ich anbauen<br />
müssen.<br />
2. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> Kind braucht doch nicht viel Platz! <strong>Ein</strong> ruhiges Eckchen<br />
nur, ein Dach über dem Kopf.<br />
3. KIND:<br />
Nicht für Geld und gute Worte. Das Haus ist voll!<br />
1. KIND:<br />
Schickt uns nicht fort von Eurer Schwelle, Herr. Gott ist mit
unserem Volk durch die Wüste gezogen, er ist auch bei uns<br />
auf diesem Weg. Jagt ihn nicht fort!<br />
3. KIND:<br />
Vielleicht … Im Stall könntet Ihr noch ein Eckchen finden.<br />
Drängt das Vieh beiseite. Dann mag’s wohl reichen.<br />
Er öffnet die Hoftür und läßt die beiden ein.<br />
SPRECHERIN:<br />
Gott dachte für sich: Nicht des Kaisers und seiner Minister<br />
sollen sich die Menschen erinnern in fernen Zeiten, sondern<br />
dieses Mannes, des Wirtes, der Gott einen Raum bot in einem<br />
Stall. Dieser Stall, so dachte sie bei sich, soll mehr Ruhm genießen,<br />
als die schönste Kathedrale, die sie mir bauen werden.<br />
Denn in diesem Stall will ich wohnen für immer.<br />
Maria und Joseph haben um eine Krippe Platz genommen.<br />
Sie werden in Licht getaucht. <strong>Ein</strong>e Hirtenschar zieht ein und<br />
umringt das Paar mit dem Kind.<br />
4. KIND:<br />
Jetzt wohnen sie schon in den Ställen, wie wir, das Gesindel.<br />
5. KIND:<br />
Aber schau nur, sie haben ein Kind!<br />
6. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> Kind in einer Krippe! Daß sie sich nicht schämen! Das<br />
Lämmchen hat es besser, als ein Menschenkind in dieser Zeit!
Nimmst du nicht in Nacht und Kälte das neugeborene Lamm<br />
mit seiner Mutter in dein Zelt, in die Nähe des Feuers?<br />
5. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> Kind in einer Krippe, in einem Stall … Die Menschen sind<br />
sonderbar … Sie bauen Tempel und Paläste, aber für Menschenkinder<br />
ist kein Platz da.<br />
4. KIND:<br />
Dann wollen wir dies Kind ehren, wie es sich gehört. Wir haben<br />
zwar nicht Geld und Gut, doch können wir Gott bitten,<br />
daß er dieses Kind bewahre.<br />
Sie fallen auf die Knie und beten.<br />
SPRECHERIN:<br />
Als sie die Ärmsten und Schlechtesten so beten sah, beschloß<br />
sie in ihrem Herzen, auch diese in das Gedächtnis der Menschheit<br />
aufzunehmen. Und Gott ließ erzählen von den Hirten auf<br />
dem Felde, denen, obwohl sie doch arm und verachtet sind,<br />
Friede und Wohlergehen versprochen wird.<br />
Drei Könige ziehen ein. Sie tragen den Stern und singen:<br />
Stern von Bethlehem, zeig uns den Weg …<br />
7. KIND:<br />
Hier muß es sein!<br />
8. KIND:<br />
In einem Stall?
9. KIND:<br />
<strong>Ein</strong> König wird in einem Stall geboren! Unglaublich — und<br />
doch wohl wahr! Seht, der Stern verharrt.<br />
7.KIND:<br />
Wir sind am Ziel.<br />
8. KIND:<br />
Gottes Weisheit hat uns hergeführt.<br />
9. KIND:<br />
Zu diesem Stall!<br />
7. KIND:<br />
Dann ist also all unser Geld und all unser Reichtum gar nichts<br />
wert …<br />
8. KIND:<br />
Dann ist also all unsere Macht und Pracht nichts wert in seinen<br />
Augen …<br />
9. KIND:<br />
Das will heißen: Wenn du Gott suchst, dann mußt du unter<br />
dich blicken, in den Staub der Straße, ist es so? Hat uns der<br />
Stern hierher geführt, damit wir das erkennen?<br />
7. KIND:<br />
So wird es sein. Laßt uns zu ihm beten.<br />
Sie fallen nieder und beten.<br />
SPRECHERIN:<br />
Als Gott sah, wie die Mächtigen zur <strong>Ein</strong>sicht kamen, beschloß
sie in ihrem Herzen, auch die Geschichte der drei Könige<br />
erzählen zu lassen. Seit diesen Tagen also wird es Jahr für Jahr<br />
laut auf dem ganzen Erdenrund verkündet: „Es begab sich aber<br />
zu der Zeit …“ und „Da Jesus geboren war zu Bethlehem im<br />
jüdischen Lande, siehe, da kamen Weise vom Morgenland …“<br />
Und so hören und feiern wir es noch heute.