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Alles Lüge? – Ein Weihnachtsbuch - BookRix

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Rudolf Wolter<br />

ALLES LÜGE?<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Weihnachtsbuch</strong>


Rudolf Wolter<br />

ALLES LÜGE?<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Weihnachtsbuch</strong><br />

ebook-bibliothek.org<br />

(2005)<br />

eBOOK<br />

BIBLIOTHEK<br />

littera scripta manet


Bitte beachten Sie: Der Text und die Titelphotographie<br />

dieses Erzählbandes unterliegen dem Urheberrecht.<br />

<strong>Ein</strong>e kommerzielle oder auch nicht-kommerzielle,<br />

eine weitere oder anderweitige Nutzung des Textes<br />

oder der Titelphotographie ohne Genehmigung der<br />

Rechteinhaber ist nicht gestattet. Wenden Sie sich bitte<br />

bei Fragen an copyright@ebook-bibliothek.org. Ihre<br />

Anfragen werden an die Rechteinhaber weitergeleitet.<br />

1. Ausgabe, November 2005<br />

© Rudolf Wolter 2005 für den Text<br />

© Luis Höger 2005 für das Titelbild<br />

© eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe<br />

Das Titelbild zeigt eine Höger-Krippe, entworfen und geschnitzt von<br />

Holzbildhauer Luis Höger (http://www.bildhauer-hoeger.de).


Inhalt<br />

<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>?<br />

Advent, Advent …<br />

Adventslicht<br />

<strong>Ein</strong> Stück vom Stern<br />

Fünf oder mehr<br />

Warum der Nikolaus nur zu den Kindern kommt<br />

Vier Wochen Zeit zum Vertragen<br />

Mareille sucht Weihnachten und findet es auch<br />

Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren<br />

<strong>Ein</strong>e Frau steigt aus<br />

Heimlichkeiten<br />

Christiane spielt nicht mit Rolands Spielzeug<br />

Wo sind nur die Lichter?<br />

Die schönsten Tage im Jahr<br />

Das betriebsbedingte Weihnachten<br />

Der blaue Planet<br />

Das ganz andere Weihnachten<br />

Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn<br />

Der Stern zieht weiter<br />

Der verwünschte Weihnachtsbaum<br />

<strong>Ein</strong> frommer Wunsch<br />

Menschen hinter dem Zaun<br />

Der verlegte Schlüssel


Die Menschen in Dosen …<br />

Die schlimme Geschichte von Weihnachten<br />

<strong>Ein</strong> kleines schwarzes Mädchen<br />

Kein Ersatz für Weihnachten<br />

Lucies Wahrheit<br />

Josephs Tod<br />

Man muß doch einmal tief atmen können<br />

Nur Papier<br />

Marzipankartoffeln<br />

Um der Hirten willen<br />

Weihnachten läßt sie kalt<br />

Wie Christoph mit Weihnachten anfängt<br />

Krippenspiele<br />

• Erstes Krippenspiel<br />

• Zweites Krippenspiel<br />

• Drittes Krippenspiel


<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>?<br />

<strong>Ein</strong>e weihnachtliche Geschichte zu 2. Korinther 1, 18 <strong>–</strong> 22<br />

Der letzte Schluck Bier schmeckte bitter und schal. Aber das lag<br />

nicht an der Brauerei und nicht am Ausschank. Es waren auch<br />

nicht die Biere davor, die den schlechten Nachgeschmack verursachten.<br />

Das Gespräch war schuld, mein Freund war schuld.<br />

Der bittere Klang seiner Stimme, seine gallige Abrechnung<br />

war’s. Wir hatten über Gott und die Welt geredet, wie man es<br />

eben macht, wenn man sich mit einem Freund nach langer Zeit<br />

einmal wieder zum Bier verabredet. Wir waren uns bei vielen<br />

Themen einig, wie früher auch schon, er hatte sich wenig verändert,<br />

aber dann wechselte der Wirt die heruntergebrannte<br />

Kerze des kleinen adventlichen Gestecks auf dem Tisch. In<br />

wenigen Tagen war Weihnachten. Wir sollten auch etwas davon<br />

haben. Als die Flamme der frisch angezündeten Kerze so<br />

langsam zu Kräften kam, brach es aus meinem Freund hervor.<br />

Mit einer heftigen zornigen Armbewegung wischte er die<br />

Tannenzweige samt Adventslicht von Tisch. „<strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>, alles<br />

<strong>Lüge</strong>!“ belferte er. Ich erschrak, sah mich ängstlich um, ob die<br />

anderen Gäste diese Verachtung, diese Wut in seiner Stimme<br />

gehört hatten. Doch ringsum lachten nur freundliche Gesichter,<br />

allein das Mädchen, das einsam am Ecktisch saß, schaute<br />

ungerührt ernst in sein Glas Guinness, wie sie es schon den


ganzen Abend getan hatte. Niemand hatte das Attentat auf<br />

die vorweihnachtliche Stimmung mitbekommen.<br />

Und dann erzählte er. Wie sie sich alle unter dem Tannenbaum<br />

träfen und mit süßlichem Lächeln „Frohe Weihnachten!“<br />

wünschten und allen Schmutz unter den Teppich gekehrt<br />

hätten, jeden Streit aus dem Weg gingen, aber nur für<br />

diesen einen Abend, schon am nächsten Morgen ginge das<br />

Gezänk und der Betrug weiter. Seine Kinder würden sich<br />

über die diesmal schmäleren Weihnachtsgeschenke aufregen,<br />

seine Frau würde sich bei ihren Freundinnen über sein<br />

Versagen beklagen, seine Schwiegereltern versicherten ihrer<br />

Tochter, sie wäre ihnen die Liebste, aber das Geschäft bekäme<br />

doch der Älteste, schließlich sei er ein Mann, was man nicht<br />

von jedem sagen könne … Ja, verlogen alle, genau wie sein<br />

Chef, der ihn noch vor einem Jahr als besten Verkäufer geehrt<br />

hatte, und nun hatte er seine Papiere bekommen. Das Geschäft<br />

verkauft — und niemand hatte eine Ahnung davon gehabt.<br />

Mitte fünfzig arbeitslos, das war doch hoffnungslos. Und die<br />

mitleidigen Gesichter der anderen, ihre Beileidsbekundungen,<br />

ihre Trostversuche. Er wäre doch ein geborener Verkäufer,<br />

er hätte es doch zu etwas gebracht, aber er sah hinter ihren<br />

Stirnen das unausgesprochene Wort: Loser! Er freue sich<br />

schon auf die Ansprache des Kanzlers zum Heiligen Abend,<br />

ob wohl dieser Kanzler mit weniger <strong>Lüge</strong>n auskäme als sein<br />

Vorgänger? Etwas tun gegen die Arbeitslosigkeit, das sagten<br />

sie alle, und er zählte nur die vier Millionen, die ihn bisher<br />

nichts angingen. Sie lügen alle, wie in der Werbung, bei der<br />

einem speiübel werden könne, wenn man es ansähe in diesen<br />

Wochen vor Weihnachten, all dieses Glück durch unsinnige


Produkte, er hatte ja jetzt Zeit genug, das Fernsehen anzuschalten,<br />

sie lügen alle, und er selbst auch, wenn die Nachbarn ihn<br />

sahen, wie er in seinen Golf stieg, den er sich erst im Februar<br />

gekauft hatte und den er sich eigentlich nicht mehr leisten<br />

könne.<br />

Ich wollte ihn nicht vorschnell mit billigen Worten besänftigen.<br />

Ich hob nur das Gesteck vom Boden auf und entzündete<br />

die Kerze aufs neue. Und ich versprach, ihn bald anzurufen,<br />

zwischen den Tagen vielleicht oder auch eher. Auf dem Heimweg<br />

durch die regnerischen Straßen mit dem bitteren Geschmack<br />

im Mund ging es mir durch den Kopf. Hatte er nicht<br />

recht, mein vergrätzter, enttäuschter Freund? Oder stahl er<br />

mir nur in der Maske des Freundes meine Weihnachtsfreude,<br />

die mich ein Leben lang begleitet hatte? Der warm leuchtende<br />

Weihnachtsbaum mit seinen bunten Kugeln, dem glitzernden<br />

Lametta, den Kringeln aus Fondant und Spritzschokolade,<br />

und die weiß-rot-beperlten standen vor meinen Augen. Ich sah<br />

mich auf der Erde liegen und mit dem Mountainexpress spielen,<br />

einem lärmenden Blechspielzeug aus Nachkriegstagen,<br />

ich sah mich später den langen Flur entlangrutschen mit dem<br />

ersten Fernlenkauto, einem Porsche, die großen Weihnachtsgeschenke<br />

der Kindheit. War gelogen, was Mutter sich von ihrer<br />

Rente absparte, und sie brauchte zwei Jahre, um sich einen<br />

neuen Mantel leisten zu können? War es gelogen, wenn uns<br />

bei der Bescherung nie die Frage gestellt wurde: Bist du auch<br />

immer artig gewesen? Erst als Helfer im Kindergottesdienst<br />

lernte ich verstehen, warum auch die ungezogenen Kinder<br />

Geschenke bekommen, trotzdem, und eben dies der Sinn der<br />

Weihnacht sei, trotzdem. War das <strong>Lüge</strong>?


Die verbitterten Worte meines Freundes hatten mich erschüttert,<br />

ohne Frage. Es war mir, als ob das feste Pflaster unter<br />

mir wankte. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>. Gibt es unter unseren<br />

Füßen denn keinen festen Grund mehr? Die Bilder von den<br />

letzten Erdbeben geisterten vor meinen Augen, die schiefstehenden<br />

Häuser, die zusammengebrochenen Gebäude, die<br />

weinenden und schreienden Menschen, die keinen festen Boden<br />

mehr unter ihren Füßen hatten. Ist das unsere Lebenswirklichkeit?<br />

<strong>Ein</strong>e Erde, die sich schüttelt, um uns loszuwerden,<br />

bodenlose Verzweiflung und hilfloses Erschrecken? Gibt<br />

es denn nichts anderes? Ich dachte an meinen Konfirmationsspruch,<br />

der mich all die Jahre enger begleitet hatte, als ich es je<br />

von einem Satz erwartete. „Fürchte dich nicht, ich habe dich<br />

erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“<br />

Später, wenn ich Grund hatte zur Angst, wenn ich mit Recht<br />

verzweifelt war, dann hörte ich diesen Satz, und ich hörte das<br />

weihnachtliche „Trotzdem“ dahinter klingen. Ich mag dich<br />

trotzdem. Ohne dieses Versprechen hätte ich mein Leben<br />

nicht durchgestanden. Das war der Boden unter meinen Füßen,<br />

eine unerschütterliche Zuversicht kam aus diesen Worten.<br />

Ohne dieses „Trotzdem“ könnte ich doch vor keinen Spiegel<br />

treten. Aber konnte man sich ernsthaft darauf verlassen?<br />

Vor dem Schaufenster des Blumengeschäftes blieb ich stehen.<br />

Tannengrün und rote Kerzen und Bänder, Amaryllis<br />

in weißer und rotglühender Pracht, silberne Kugeln spiegelten<br />

die Straße und meine Gestalt verzerrt. In der Ecke war<br />

eine Krippe aufgebaut, alles war da: Ochse und Esel, Maria<br />

und Joseph, die knienden Hirten, der Stern und die Könige<br />

auf ihren Kamelen und eben die Krippe, das kleine Kind in


dem Futtertrog. <strong>Alles</strong> <strong>Lüge</strong>? Dieser kleine Mensch in dem<br />

Futtertrog, er wenigstens stand für sein Wort. Das steht fest.<br />

Er blieb bei seinem Wort, als sie ihn alle verließen, als selbst<br />

seine Freunde schliefen. Er blieb standhaft in den Verhören,<br />

er starb aufrecht am Kreuz. Auch er hatte seine Zweifel, gewiß,<br />

fühlte sich von Gott verlassen, aber er überwand diese<br />

Schwäche. Und nur weil er den festen Boden unter seinen<br />

Füßen spürte, feiern wir nach zweitausend Jahren noch dieses<br />

Fest. Auf dem Dach des kleinen Stalls schwang ein Engel<br />

ein Spruchband. Ich konnte die Schrift nicht entziffern, aber<br />

ich stellte mir vor, es stünden darauf die Versprechen, die in<br />

dieser Nacht gemacht wurden. Sind sie denn wahr geworden?<br />

Wo ist der Friede geblieben, der bei allen Menschen sein soll?<br />

Unter meinen Kinderbüchern ist auch eines von der Kriegsweihnacht<br />

1943, und noch nicht einmal diese Erinnerung verhinderte<br />

einen neuen Krieg in Europa. Der löcherige Stall, das<br />

Kind in der Krippe, der Ruf an die Hirten, all das singt das<br />

Hohe Lied der Armut. Haben wir sie besiegt? Wie viele Kinder<br />

in unserem Land feiern Weihnachten von Sozialhilfe und wie<br />

viele Kinder verhungern oder müssen ihre Körper verkaufen?<br />

In einem schwachen Kind erscheint der Herr der Welt. Aber<br />

wie viele Kinder wurden von den Herren der Welt vergast und<br />

von Tretminen verkrüppelt? Sind die vor dem Kind auf die<br />

Knie gefallenen Könige nicht auch eine <strong>Lüge</strong>? Wann werden<br />

schon einmal die Mächtigen vom Thron gestürzt? Wir warten<br />

noch immer darauf.<br />

Ich wandte mich ab von dem Schaufenster und der Krippe<br />

und lauschte in mich hinein. In mir erklangen plötzlich Weihnachtslieder,<br />

trotzdem. Das ist es eben. An diesem „Trotzdem“


liegt es. Wir feiern trotzdem Weihnachten. Auf das Wort eines<br />

Freundes muß man sich verlassen können. Er hat sein Wort gehalten,<br />

nun liegt es an uns. Er hat uns Frieden geschenkt, nun<br />

müssen wir den Frieden schließen. Er hat uns reich gemacht,<br />

nun müssen wir die Armut tilgen. Er stärkt uns den Rücken,<br />

nun müssen wir den Schwachen unsere Hand reichen. Es ist<br />

nur dann alles <strong>Lüge</strong>, wenn wir nicht die Wahrheit sagen.<br />

Ich werde ihn anrufen, meinen mutlosen Freund. Ich werde<br />

ihm dieses Wort sagen, das mein Leben beherrscht hat. Es<br />

ist nicht mein Wort. Es ist das Wort, in dem Weihnachten<br />

und Ostern zusammenfallen. Es ist Gottes Wort: „Trotzdem“.


Advent, Advent<br />

oder<br />

Das schrecklich schöne Warten auf Weihnachten<br />

Wer kennt es nicht? Jeder kennt es. Mike kennt es auch. „Advent,<br />

Advent, ein Lichtlein brennt, erst eins, dann zwei, dann<br />

drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür.“ Mike<br />

kennt es sogar noch anders. „Advent, Advent, ein Lichtlein<br />

brennt, erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, und wenn<br />

das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“<br />

Mike weiß nicht so ganz genau, was „verpennt“ bedeutet,<br />

aber das muß etwas Lustiges sein.<br />

Von diesem Vers hatte Mike auch seine Idee. Es war ja<br />

nicht mehr auszuhalten mit der Spannung. Zuerst lagen in<br />

Papas Zeitung Spielzeugprospekte. Die bekam immer Mike.<br />

Er konnte sie immer wieder anschauen, Bild für Bild. Und er<br />

konnte sich vorstellen, wie alle diese schönen Dinge einmal<br />

unter dem Christbaum lagen. Dann sah er immer öfter in<br />

der Werbung, heimlich natürlich, wenn Mama in der Küche<br />

war und vergaß, nach der Sesamstraße den Fernseher auszuschalten,<br />

dann sah er also in der Werbung tolles Spielzeug<br />

mit lauter lachenden Kindern. Er wollte auch lachen. Mit neuem<br />

Spielzeug gibt es keine Langeweile mehr. Bestimmt nicht.<br />

Dann kam auch noch Mama und sagte, er solle mal einen<br />

Wunschzettel malen. Malen mag Mike nicht, aber kleben. So


schnitt er aus den Prospekten alles aus, von dem er glaubte, er<br />

könne es gebrauchen. Am meisten wünschte er sich die Weltraumstation<br />

mit den Wesen von anderen Sternen. Er schnitt<br />

alles aus — gar nicht so leicht ist das, wenn man nichts abschneiden<br />

möchte — und klebte es auf einen weißen Bogen.<br />

Die Klebe war noch abends an seinen Fingern und ging ganz<br />

schwer ab.<br />

Von jetzt ab war dies Mikes liebste Frage: „Wie lange ist es<br />

noch bis Weihnachten? Wie viele Tage noch? Wie oft muß ich<br />

noch schlafen?“ Er fragte es immer wieder. Er fragte Mama<br />

und Papa, er fragte Oma und Opa, er fragte Christel im Kindergarten.<br />

„Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“ Dann<br />

gab es den Adventskalender. <strong>Ein</strong>e Tür für jeden Tag, und hinter<br />

jeder Tür war eine Leckerei. Doch erst der Adventskranz<br />

brachte ihn auf seine Idee. Jeden Morgen zündet Mama eine<br />

Kerze an. Heute morgen sogar zwei. Jede Woche eine mehr.<br />

Advent, Advent …<br />

Wenn es so ist, denkt Mike, wenn es so ist … Die Streichhölzer<br />

liegen im Bücherregal, ganz oben, aber wozu gibt es<br />

Stühle? Auf Stühle kann man klettern, dann ist man ganz<br />

groß. Das Anzünden ist gar nicht so einfach, wenn man sich<br />

nicht brennen will. Man muß sie ganz hinten anfassen, aber<br />

dann reibt es sich schlecht an der Schachtel. Aber es klappt.<br />

Die erste Kerze brennt, die zweite brennt, die dritte, er muß<br />

mit beiden Backen pusten, ih, ist das heiß, er muß noch ein<br />

neues Streichholz nehmen, die vierte brennt. Jetzt ist es soweit.<br />

Mit klopfendem Herzen geht Mike zur Tür. Aber da steht niemand<br />

davor. Erwachsene lügen. Das steht fest. Oder muß er<br />

erst noch die Türen im Adventskalender aufmachen? Das ist


auch schnell getan. Nur der Mund ist so voll mit Schokolade.<br />

Er muß sich noch etwas aufheben, sonst kann er gar nicht kauen.<br />

Aber wieder steht niemand vor der Tür. Die Erwachsenen<br />

lügen. Das muß er Mama sagen. „Ihr lügt alle. Alle lügt ihr.“<br />

Mama sieht die brennenden Kerzen und den Adventskalender<br />

mit den offenen Türen. Mike hält ihn in der Hand. „Es<br />

wird gar nicht Weihnachten“, sagt Mike. Mama versteht. „Auf<br />

Weihnachten muß man warten“, sagt Mama. „Maria hat auch<br />

gewartet, neun Monate hat sie gewartet, bevor das Christkind<br />

kam.“ „Ich will nicht warten“, sagt Mike. Jetzt hält Mama eine<br />

Rede. Wenn es schwierig wird, hält Mama immer Reden.<br />

„Auf Weihnachten muß man warten“, sagt sie. „Und das<br />

ist das schönste Warten überhaupt. Wir sitzen zusammen vor<br />

dem Adventskranz, wir essen leckere Kekse, morgen wollen<br />

wir auch welche zusammen backen, übermorgen kommt der<br />

Nikolaus, morgen mußt du schon die Schuhe rausstellen, aber<br />

sie müssen vorher noch geputzt werden, hörst du, wir erzählen<br />

uns Geschichten von Weihnachten früher, die du so gerne<br />

magst, wir reden von deinen Wünschen, nächste Woche holen<br />

wir einen Tannenbaum, wir schmücken ihn dieses Jahr zusammen,<br />

du bist ja schon groß. Und weißt du, was am schönsten<br />

ist? Wir überlegen, was wir den anderen schenken können,<br />

weil wir sie lieb haben. Hast du schon deine Geschenke<br />

für Oma Hamburg und Oma Kiel?“<br />

Mike hat sie noch nicht fertig. Er will Bilder kleben für seine<br />

Omas. Opa Hamburg kriegt zwei Hustenbonbons in Goldpapier<br />

eingewickelt. Den Opa Kiel gibt es nicht mehr. Der kriegt<br />

nichts. Mike hat etwas verstanden. Zu keiner Zeit im Jahr gibt<br />

es jeden Tag so leckere Kekse. Zu keiner Zeit im Jahr klopft


das Herz so schön, wenn die Kerzen angezündet werden, und<br />

Mama zum Kaffee ruft, zum Kaffee mit warmem Kakao. Es<br />

könnte auch sein, daß Mama etwas weniger schimpft in dieser<br />

Zeit. Sie hatte noch gar nichts gesagt zu den vier brennenden<br />

Kerzen, obwohl sie sonst immer schimpft, wenn er Streichhölzer<br />

anzünden möchte. Es gibt auch ein schönes Warten. Sonst<br />

lag er nicht jeden Abend im Bett und sah all die schönen Dinge<br />

vor sich, die er sich wünschte. Wünschen ist schön. Es wird<br />

einem dabei ganz warm in der Brust und man kann sein Herz<br />

schlagen hören. Mike sieht auf die brennenden Kerzen. Ja, so<br />

ist es. Im Dämmerlicht der Stube scheinen sie ganz hell. Das<br />

Licht erinnert ihn an den Christbaum. Wenn die Kerzen am<br />

Christbaum brannten, machte Mama immer das große Licht<br />

aus. Der Christbaum war hell genug. So ist es mit Weihnachten.<br />

Es wirft sein Licht voraus. Es strahlt auf alle Tage vorher<br />

und hinterher. Es macht alles hell.<br />

Noch immer sagte Mama nichts zu den brennenden<br />

Kerzen. Sie sagte nur: „Warten und Wünschen ist so schön.<br />

Manchmal ist es schade, wenn es soweit ist. Wollen wir nächste<br />

Woche mal in die Stadt fahren und all die Weihnachtslichter<br />

sehen?“ Da war schon wieder etwas zum Freuen. Mama ging<br />

bestimmt mit ihm in alle Spielzeugabteilungen. Es stimmte.<br />

Warten ist schön.


Adventslicht<br />

Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends durch das<br />

Fenster ins Zimmer. Die Straßenlaternen setzten goldleuchtende<br />

Kronen auf, die harten Konturen des Bettgestells und<br />

des Schrankes verschwammen zu weichen Linien, der trokkene<br />

Blumenstrauß formte sich zu einem geheimnisvollen<br />

Gespinst. Sie liebte die Stunde vor der Nacht, die wachsende<br />

Dämmerung, die das matte Grau des Tages in das beruhigende<br />

Blau der Nacht verzauberte. Das war immer die Stunde des<br />

Gespräches gewesen, damals am Küchentisch, wenn man sich<br />

näher kam, wenn die Herzen sich zu öffnen schienen, als wäre<br />

alle Härte des Tageskampfes vergessen und vergeben.<br />

Damals, als die Kinder noch klein waren, damals, als Maxl<br />

selig noch lebte, damals, als sie noch eine Familie hatte, damals,<br />

als alles gar nicht so einfach war, denn in Maxls Lohntüte<br />

war nicht immer genug drin, und es war so viel Arbeit, das<br />

Waschen, das Bügeln, das Flicken, das Nähen, und sie wußte<br />

oft nicht, was sie auf den Tisch bringen sollte, damals war<br />

das eine schöne Zeit. Auch Schweres kann schön sein, jawohl,<br />

auch wenn sie es heute nicht wahrhaben wollen, auch Schweres<br />

kann schön sein. Damals waren die Taschen so schwer<br />

nach dem <strong>Ein</strong>kauf, und alles zu Fuß, die Kartoffeln und die


Milch, was haben die für Milch getrunken damals, sie hätte<br />

sich manchmal einfach in einen Vorgarten fallen lassen und<br />

einschlafen können, einfach so einschlafen, so müde war sie<br />

gewesen, so lang waren ihr die Arme geworden vom Schleppen,<br />

aber wie war es doch schön, das nach Hause zu tragen, wovon<br />

sie leben würden, wieder einen oder zwei Tage würden leben<br />

können. Es ging ja manches Mal nur mit Anschreiben, wenn<br />

der Kaufmann es wollte, der Schlachter tat sich am schwersten<br />

damit, aber Fleisch brauchte man auch nicht jeden Tag. Heute<br />

mochte sie gar kein Fleisch mehr. Auspacken und Wegräumen<br />

— das war immer wie ein kleines Fest gewesen, als ob<br />

sie die Sachen geschenkt bekommen hätte, obwohl doch der<br />

Maxl selig schwer hat arbeiten müssen dafür, ziemlich schwer,<br />

so daß er dann verbraucht war, als es hätte schön werden können<br />

für sie beide, aber da waren dann nur noch die Kinder.<br />

Langsam kroch das Grau des beginnenden Abends in ihr<br />

Zimmer. Die Kinder kamen auch nur noch selten. Kein Wunder,<br />

da sie doch ausgeflogen waren in alle Welt, kaum daß sie<br />

flügge waren. Das müßt ihr selbst wissen, hatte Maxl selig gesagt,<br />

was für euch gut ist, das müßt ihr selbst wissen, das ist<br />

euer Leben. So waren sie nun verstreut über die Welt, in München,<br />

in Berlin, in Rom und in Amerika. Nur die Irmtraut war<br />

noch in Hamburg, aber sie hatte es auch schwer genug ohne<br />

Mann und dazu die drei Kinder, der Beruf und die Sorgen um<br />

den Ältesten, der die Hand nicht von der Flasche lassen konnte<br />

und nun wohl auch noch Drogen nahm, nein, die Irmtraut<br />

hatte genug zu tun und den Kopf voll, und sie kam immerhin<br />

jede Woche, wenn auch nur kurz, aber das konnte ihr keiner<br />

verdenken. Und die Enkel — nun ja, was sollen die mit einer


alten Frau schon anfangen, die haben doch ganz andere Probleme<br />

in dieser Zeit, als eine Dämmerstunde bei einer alten<br />

Frau zu machen. Die hätten auch gar keine Ruhe dazu, der<br />

Walkman würde ihnen fehlen oder das Fernsehen.<br />

Außerdem gab es etwas, das half gegen jedes Gefühl der<br />

<strong>Ein</strong>samkeit an den langen Abenden der Weihnachtszeit. Sie<br />

wußte es und hütete es wie einen Schatz. Angefangen hatte<br />

sie damit, als die Irmi aus dem Haus war. Zuerst dacht sie,<br />

was soll so ein Quatsch, für mich allein so einen Kranz, wo<br />

doch keine Kinder mehr da sind, und so ein Kranz kostet<br />

doch schließlich Geld, und nicht wenig, und war das nicht<br />

sentimental, so allein vor einem Kranz sitzen und sich auf<br />

Weihnachten freuen? Aber dann wußte sie, das war richtig. So<br />

einen Kranz brauchte sie, und sie brauchte die Lichter, erst eines,<br />

dann zwei und dann drei und dann vier. Wenn die Lichter<br />

am Kranz entzündet waren, dann waren sie alle wieder da,<br />

die Gefährten ihres Lebens, ihre Kindheit, ihre Geschwister,<br />

ihr Bruder gefallen und die Schwester unter den Trümmern,<br />

sie waren alle wieder da. Ihre Familie, der Maxl selig, den sie<br />

vielleicht doch nicht genommen hätte, wäre der Margarinefabrikant<br />

noch da gewesen, den sie verschmäht hatte, weil<br />

Margarine doch falsche Butter war und bestimmt kein gutes<br />

Geschäft, und später hatte sie dann doch nur Margarine aufs<br />

Brot kaufen können, und die Kinder so laut und lärmend wie<br />

immer, sie waren alle wieder da. In der Vorfreude auf Weihnachten<br />

waren sie alle wieder da, wo immer sie auch waren.<br />

<strong>Ein</strong> Pastor hatte einmal gesagt, Advent hieße Ankunft, und<br />

man müsse sich freuen, daß Jeseus käme, und sie freute sich<br />

auch darüber. Denn genau das war es doch.


Wenn das Licht am Kranz brannte, dann konnte sie ganz<br />

leise für sich sagen, wofür sie so dankbar war. Für ihr Leben,<br />

für ihre Kinder, für die Enkel, und sie konnte auch sagen, was<br />

ihr Herz schwer machte, was ihr Angst bereitete, sie konnte<br />

alles vor ihm ausbreiten, dessen Ankunft das Licht ansagte.<br />

Mit dem Licht am Adventskranz konnte sie reden, wie ein<br />

Strom konnte sie reden, wie ein reißendes Wasser flossen die<br />

Gedanken aus ihrem Herzen. Das hatte sie schon am Anfang<br />

erfahren, als Irmi gerade aus dem Haus war, und das stimmte<br />

immer noch, auch wenn es nun kein Kranz mehr war, sondern<br />

nur ein Tannenzweig und eine Kerze auf dem Nachttisch.<br />

Wenn das Licht der Ankunft entzündet war, dann war<br />

sie nicht mehr allein. Dann war einer da, dem sie alles sagen<br />

konnte, der extra deshalb gekommen war, damit sie alles sagen<br />

konnte, was in ihrer Brust war, was ihr das Atmen schwer<br />

machte, dann war jemand da, der nur gekommen war, um zu<br />

hören, und dessen Gegenwart wie ein Streicheln war, wie eine<br />

warme Hand. Wäre es nicht grausam, wenn die Menschen allein<br />

wären für immer, und keiner da, dem sie ihre Sorgen vor<br />

die Füße legen könnten und ihre Freude, ihren Dank?<br />

Gleich, einen Augenblick noch, dann wird sie die Kerze<br />

anzünden, und dann wird er wieder da sein und sie wird<br />

ihm alles sagen könen, und auch sie werden wieder da sein<br />

in ihren Gedanken, all die Gefährten ihres Lebens. Wie eine<br />

wärmende Freude war es in ihrem Herzen in dieser Dämmerstunde,<br />

bevor sie das Licht entzündete. Solange die Menschen<br />

Advent und Weihnachten feiern, dachte sie, solange ist kein<br />

Mensch allein. Im Glanz des Lichtes hört einer zu.


<strong>Ein</strong> Stück vom Stern<br />

Mama sagt: „Fernsehen ist nichts für Kinder. Du sitzt viel zu<br />

lange vor dem Kasten!“ Papa sagt: „Du bekommst noch viereckige<br />

Augen! Schau in den Spiegel, zwei Ecken haben deine<br />

Augen schon!“ Tine aber denkt, ihr Käsebrot schmeckt nirgends<br />

so gut wie vor dem Fernseher. Doch heute gibt’s kein<br />

Fernsehen zum Abendbrot. Mama sagt: „Vor Weihnachten<br />

essen wir immer mit dem Kranz.“ Darum sitzen sie heute alle<br />

am Tisch und in der Mitte steht der Adventskranz. Zwei Kerzen<br />

brennen. Wenn Tine die Augen zusammenkneift, senden<br />

die Flammen Strahlen aus. Wie Sterne werden sie, sie leuchten<br />

wie Weihnachtssterne. Mama sagt: „Nun seht doch mal, wie<br />

müde unsere Kleine ist, ihr fallen schon die Augen zu!“ Tine<br />

ärgert sich: „Ich bin nicht müde. Ich sehe nur die Weihnachtssterne.“<br />

Sie verrät aber nicht, wo sie die Sterne schimmern<br />

sieht. Sie kneift weiter die Augen zu.<br />

Und dann sind plötzlich die Bilder da, die Bilder aus dem<br />

Fernsehen. Häuser sieht sie, die haben keine Dächer mehr<br />

und die Fenster sind wie tote Augen. <strong>Ein</strong> kleiner Junge läuft<br />

durch ein Zimmer, in dem nichts mehr heil ist. Der Tisch ist<br />

umgekippt, weil er nur noch drei Beine hat. Die Stühle sind<br />

zerbrochen. Überall glitzern Scherben. Der Junge hebt ein


zerrissenes Buch auf. Er blättert traurig die zerfetzten Seiten.<br />

In seiner Stadt ist Krieg. Soldaten haben das Haus kaputtgemacht.<br />

Soldaten dürfen das. Tine denkt an ihre Weihnachtsfreude.<br />

Sie wünscht sich ein Video vom König der Löwen. Der<br />

Junge wird kein Video bekommen. Bestimmt nicht.<br />

Sie sieht Kinder mit brauner Haut. Die nackten Körper zeigen<br />

alle Knochen. Sie sind so mager wie Gespenster. Sie haben<br />

ganz große Augen. Ihre Arme und Beine sind wie dürre<br />

Stöckchen. <strong>Ein</strong> Mädchen ißt mit den Fingern trockenen Reis<br />

aus einer Schale. Tine denkt an ihren Adventskalender und<br />

die leckeren Schokoladenfiguren. Das Mädchen stopft sich<br />

trockenen Reis in den Mund. Ob sie weiß, wie Schokolade<br />

schmeckt?<br />

Tine sieht auch einen alten Mann. Er deckt sich gerade mit<br />

einer schmutzigen Wolldecke zu, aber er ist nicht Zuhause.<br />

Er ist in der U-Bahn, in einem Tunnel. Menschen hasten an<br />

ihm vorbei. <strong>Ein</strong> Wächter mit Hund bleibt stehen. Er stößt den<br />

Mann mit dem Fuß an, und der Mann muß wieder aufstehen.<br />

Er sieht müde aus. Tine denkt an ihr Bett mit den Kuscheltieren.<br />

Der alte Mann hat nur eine Flasche.<br />

Jetzt muß Tine etwas wissen. Zwei Kerzen brennen am<br />

Adventskranz, zwei Weihnachtssterne. Sie kennt das Lied, das<br />

jedes Kind kennt. „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, erst<br />

eins, dann zwei, dann drei dann vier, dann steht das Christkind<br />

vor der Tür …“ Sie fragt: „Wenn nun Weihnachten wird,<br />

wird dann überall Weihnachten?“ „Natürlich“, sagt Mama,<br />

„Weihnachten wird auf der ganzen Welt.“ Aber Tine glaubt das<br />

nicht. Sie sieht auf die Weihnachtssterne am Adventskranz<br />

und glaubt es nicht.


Nach dem Abendessen geht sie ins Wohnzimmer. Papa<br />

macht den Fernseher an. Erwachsene bekommen keine viereckigen<br />

Augen vom Fernsehen. Tine geht zum Fenster. Sie löst<br />

vorsichtig den goldenen Stern vom Fenster, den Mama jedes<br />

Jahr vor Weihnachten an die Scheibe klebt. Aus der Küchenschublade<br />

holt sie sich die große Küchenschere. Sie schneidet<br />

den goldenen Stern in viele kleine Sternensplitter. Als Mama<br />

ins Wohnzimmer kommt, schreit sie laut auf: „Joachim, paß<br />

doch mal auf! Wenn du fernsiehst, dann siehst du nichts<br />

mehr! Sieh doch mal, was das Kind macht! Tine macht unseren<br />

Stern kaputt! Unseren schönen Weihnachtsstern!“<br />

Tine verteidigt sich: „Das ist nicht unser Stern. Das ist der<br />

Weihnachtsstern.“ „Und warum machst du den denn kaputt?“<br />

fragt Mama. Tine sagt: „Ich mache ihn nicht kaputt. Ich verteil<br />

ihn nur. Damit jeder etwas davon abbekommt.“<br />

Tine muß das erklären. Manchmal verstehen die Erwachsenen<br />

rein gar nichts. Sie erzählt von dem Jungen im kaputten<br />

Haus, von dem Mädchen mit der Schale voll trockenem Reis,<br />

von dem alten Mann, der sein Bett im U-Bahnhof machen<br />

will. Niemand beschwert sich, daß sie zuviel fernsieht. Sie beraten<br />

nun alle zusammen, wer alles etwas von dem Stern abbekommen<br />

müßte. Mama und Papa wissen ganz viele. Mama<br />

hat vorhin beim Abendbrot geflunkert. Weihnachten wird<br />

doch nicht überall. Weihnachten muß man erst überall hinbringen.<br />

Tine meint, auch Carola müsse einen Sternensplitter<br />

haben, weil sie nie von Weihnachten redet, sondern nur von<br />

der Kelly-Familie.


Fünf oder mehr<br />

Sie sind vier bei Tisch, Thomas weiß das genau, vier, keiner<br />

mehr und keiner weniger, vier: die Mama, natürlich kommt<br />

sie zuerst, obwohl sie immer zuletzt kommt, denn sie bringt<br />

ja das Essen, der Papa, Ulli und ich, vier sind das. Aber nun<br />

stehen fünf Stühle rund um den Tisch, fünf. In der Mitte auf<br />

dem Tisch steht der Adventskranz.<br />

Vier Lichter sind darauf. Thomas denkt sich: für jeden eins.<br />

Aber eigentlich weiß er, daß das die Wochen sind, die Wochen<br />

vor Weihnachten.<br />

Heute brennen zwei Lichter. Wenn alle vier brennen — Thomas<br />

mag gar nicht weiter denken, denn dann ist bald Weihnachten,<br />

und Weihnachten möchte er ganz viel Geschenke haben,<br />

riesenschlangenlang war sein Wunschzettel, ganz oben<br />

stand ein Fahrrad und ein Dino, am besten ein Tyrannosaurus<br />

Rex.<br />

Mama deckt den Tisch. Fünf Tassen stellt sie hin und fünf<br />

Kuchenteller. In der Küche schneidet sie den Honigkuchen.<br />

Ulli darf die Krümel essen und Thomas die Mandeln. Thomas<br />

mag Mandeln. Am liebsten nähme er auch welche aus der<br />

Mitte der Kuchenstücke, aber Mama sieht immer hin, und auf<br />

jedem Stück ist nur eine drauf. Mama rückt den Adventskranz


zur Seite, ganz nahe an das fünfte Gedeck, die Tasse und den<br />

Kuchenteller.<br />

Nun sitzen sie alle am Tisch, die Mama, aber sie steht noch<br />

und gießt Kaffee ein und warme Schokolade, der Papa, der<br />

Thomas und Ulli. Papa muß auch noch mal aufstehen und<br />

holt sein Feuerzeug. Doch er will nicht rauchen, was so stinkt,<br />

sondern zündet die Kerzen an. Thomas und Ulli zählen mit:<br />

eins, zwei. Bald ist Weihnachten. Zwei Wochen noch und zwei<br />

Tage, sagt Papa. Sie fangen an zu essen.<br />

Thomas schaut immer zum fünften Stuhl hinter dem Adventskranz.<br />

„Kommt noch einer?“ fragt er endlich, als er den<br />

Mund leer gekaut hat. Er greift nach dem zweiten Stück Honigkuchen.<br />

Mama blickt Thomas an und lacht. „Darf denn noch<br />

jemand kommen?“ fragt sie. Thomas sieht auf seinen Teller<br />

und auf die Kuchenplatte in der Mitte. „Ist noch Kakao da?“<br />

fragt Ulli und hält seinen Becher hoch. Mama gießt ein. Es ist<br />

noch genug warme Schokolade da. Thomas sieht auf den Honigkuchen<br />

und denkt an die Mandeln, die so weiß glänzend<br />

leuchten. Eigentlich … , denkt er, und es tut ihm nur um die<br />

Mandeln leid.<br />

„Ja“, sagt Thomas dann, „es ist ja noch genug da.“<br />

„Ihr meint also, wir haben noch Platz?“ fragt Mama.<br />

Ulli schaut sich um und nickt.<br />

„Es könnte also noch einer kommen?“ sagt Mama, und sie<br />

erzählt den Kindern eine Geschichte:<br />

„Wißt ihr, Freitag beim <strong>Ein</strong>kaufen, da war ich bei der Pro.<br />

Neben dem Parkplatz steht doch die Mauer, auf der Ulli immer<br />

balancieren will, und ich soll ihn immer hochheben,<br />

obwohl mir der Rücken weh tut. Auf diese Mauer hat jemand


geschrieben in so großen Buchstaben: Ausländer raus! In Rot<br />

steht das da, in riesigen roten Buchstaben: Ausländer raus!<br />

Und da hab’ ich mir gedacht, wir feiern doch jetzt Advent. Wir<br />

freuen uns, daß jemand kommt, wir zünden Kerzen an und<br />

warten auf Weihnachten, wo Jesus geboren wurde. Da können<br />

wir doch nicht sagen: Ausländer raus! Jesus war doch auch<br />

Ausländer, und da hab’ ich gedacht, wo vier satt werden, da<br />

werden auch fünf satt, und ich wollte nun mal sehen, ob ihr<br />

das auch meint.“<br />

Thomas sieht auf den Kuchenberg und nickt. Ulli möchte<br />

noch eine Tasse Kakao.<br />

„Und wann kommt er denn, dein Ausländer?“ fragt Papa.<br />

„So schnell habe ich keinen gefunden“, entschuldigt sich<br />

Mama, „so viele gibt’s ja gar nicht bei uns, und ich wollte erst<br />

mal sehen, ob wir denn auch Platz haben für ihn.“ Mama<br />

macht eine Pause. „Das ist das wichtigste“, sagt sie dann, „daß<br />

wir Platz haben.“<br />

Thomas und Ulli freuen sich auf den Besuch, aber Thomas<br />

will nachher in der Küche noch schnell die Mandeln vom Kuchen<br />

abpuhlen, denn ein Ausländer weiß ja nicht, daß Mandeln<br />

auf den Honigkuchen gehören, oder? Auf jeden Fall: Zu<br />

Weihnachten, wenn Jesus geboren wird, werden sie fünf sein<br />

oder mehr, und sie freuen sich darauf.


Warum der Nikolaus nur<br />

zu den Kindern kommt<br />

Das ist jedes Jahr so. Wenn Niki die erste Tür in ihrem Adventskalender<br />

öffnet, dann möchte sie springen, singen, tanzen,<br />

lachen und weinen zugleich. Ihr Herz klopft ganz laut und<br />

im Bauch kribbelt es. Die Weihnachtsfreude wächst in ihrem<br />

Bauch, sie wächst so schnell, daß Niki kaum noch Luft bekommt.<br />

Und Niki läuft zum Schuhschrank und holt die größten<br />

Schneestiefel hervor, um sie zu putzen. Denn nun bald,<br />

bald ist Nikolaus. Schade, daß sie nicht Vatis Stiefel nehmen<br />

darf, da geht doch viel mehr rein! Und Vati braucht die Stiefel<br />

doch gar nicht. Kein Vater stellt seinen Stiefel ans Fenster zum<br />

Nikolaustag und keine Mutter. Der Nikolaus kommt zu den<br />

Kindern. Niki sitzt vor dem Schuhschrank und denkt nach.<br />

Warum eigentlich kommt der Nikolaus nicht zu den Großen?<br />

Warum stellt kein Großer seine Stiefel vor’s Fenster?<br />

Eigentlich möchte Niki gerne groß sein. Dann kann sie die<br />

„Schwarzwaldklinik“ sehen und die „Lindenstraße“. Große<br />

dürfen immer fernsehen. Und sonnabends gäbe es dann<br />

„Sesamstraße“ und nicht so eine langweilige Sportschau mit<br />

Fußball. Und außerdem gäbe es dann nur das zum Mittag,<br />

was Niki auch mag, nicht Suppe und so etwas mit Dingern<br />

drin. Die Großen mögen immer alles, was es gibt. Niki nicht.


Außerdem mögen die Großen abends allein im Haus sein.<br />

Niki nicht. Niki wäre eigentlich gerne groß. Eigentlich. Aber<br />

über die Sache mit dem Nikolaus muß sie noch nachdenken.<br />

Warum stellen die Großen keine Schuhe raus?<br />

Wenn man etwas wissen will, muß man fragen. Also fragt<br />

Niki; Niki fragt Frau Kluge im Kindergarten. Frau Kluge weiß<br />

fast alles. Frau Kluge nimmt Niki bei der Hand und geht mit<br />

ihr auf den Flur. Vor einem Bild bleibt sie stehen. Niki will es<br />

genauer sehen. Frau Kluge nimmt sie auf den Arm, und da ist<br />

es weich und gemütlich.<br />

Auf dem Bild sieht Niki ein Kind. Das Kind ist fast ganz<br />

nackt und guckt sehr traurig. Das Kind ist auch ganz dünn.<br />

Niki sieht alle Knochen.<br />

„Hat das Kinder Hunger?“ fragt Niki.<br />

„Ja“, sagt Frau Kluge, „das Kind hat Hunger. Viele Kinder<br />

haben Hunger in der Welt. Sie brauchen Brot.“<br />

„Warum kriegt es denn kein Brot?“ fragt Niki.<br />

„Weil die Großen ihm nichts geben“, sagt Frau Kluge. „Und<br />

solange Kinder Hunger haben, Niki, so lange dürfen die Großen<br />

keine Stiefel ans Fenster stellen!“<br />

Als Niki nach Hause kommt, ist Mama ganz aufgeregt und<br />

traurig. In der Stresemannallee, fast vor Nikis Haus, ist ein<br />

Kind überfahren worden.<br />

„Paß bloß auf“, sagt Mama, „paß bloß auf! Die Straße ist so<br />

gefährlich. Die Autos fahren so schnell. Du darfst nur bei der<br />

Ampel gehen! Hörst du, nur bei der Ampel!“<br />

Ganz laut redet Mama, und Niki merkt, Mama hat Angst.<br />

Und Niki denkt, so lange die Autos so schnell fahren und<br />

Kinder übergefahren werden, so lange dürfen die Großen


estimmt keine Stiefel rausstellen zum Nikolaus. Niki findet<br />

es gemein, wenn die Autos so schnell fahren und nicht halten,<br />

wenn da Kinder sind.<br />

Nachmittags kommt Oma. Oma kommt oft zu Weihnachten.<br />

Niki mag das. Mit Oma kann sie so gut reden, weil Oma<br />

immer Zeit hat. Niki sagt Oma, daß sie ihr leid tut, weil sie<br />

keine Schuhe rausstellen darf.<br />

„Bist du traurig“, fragt Niki, „weil du nichts zum Nikolaus<br />

kriegst?“<br />

Aber Oma ist nicht traurig. Und als Niki ihr erzählt, warum<br />

die Großen keine Schuhe ans Fenster stellen dürfen, da<br />

sagt Oma: „Ja, das ist so, aber es wird nicht immer so sein.<br />

Irgendwann, Niki, stellen auch die Großen ihre Schuhe wieder<br />

ins Fenster. Dann nämlich werden keine Kinder mehr<br />

überfahren und alle Kinder kriegen Brot. Irgendwann, das<br />

hat Jesus versprochen, werden wir Großen wieder mit euch<br />

Kindern zusammen die Stiefel rausstellen. Ich freu mich darauf.<br />

Weißt du, Niki, Jesus ist nämlich ein Freund der Kinder.<br />

Und wenn wir Großen auch Freunde der Kinder sind, wenn<br />

wir allen Kindern in der Welt genug zu essen geben, wenn wir<br />

unsere Autos langsam fahren, dann dürfen wir uns mit ihnen<br />

freuen. Das hat er uns versprochen.“<br />

Niki findet das in Ordnung und sie mag Jesus. Sie stellt<br />

ihre Schneestiefel auf das Fensterbrett und kann gar nicht<br />

einschlafen, weil sie sich so freut.


Vier Wochen Zeit zum Vertragen<br />

Sophie hat Christian gezeigt, wann Weihnachten ist. Du<br />

nimmst einen Kalender, sagt Sophie, da gibt es für jeden Tag<br />

ein Blatt. Wenn der Tag vorbei ist, dann reißt du das Blatt ab,<br />

und der nächste Tag fängt an. Und schau mal da, wenn hier<br />

eine 2 und eine 4 steht, 24, weißt du, dann ist Weihnachten.<br />

Christian mag Weihnachten. Zu Weihnachten wünscht er<br />

sich den Zoo von Playmobil mit Nilpferden und Büffeln. Und<br />

mit Krokodilen, die haben nämlich ganz viel Zähne und können<br />

sogar Menschen fressen. Vielleicht auch Schwestern wie<br />

Sophie, die immer alles wissen.<br />

Nun sitzt Christian in seinem Zimmer und will, daß nun<br />

Weihnachten ist. Den Kalender hat er sich aus der Küche geholt.<br />

Mit einem Hocker kommt er da schon dran. Er möchte<br />

nicht mehr warten auf den Zoo. Und das Krokodil.<br />

Christian zupft Blatt um Blatt von Kalender. Wie Schneeflocken<br />

fallen sie rund um ihn zu Boden. <strong>Ein</strong>s zwei drei … ,<br />

zehn, elf, zwölf … , zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig,<br />

dreiundzwanzig. Nun ist Weihnachten.<br />

Heute ist Weihnachten. Aber Papa geht zur Arbeit. Er zieht<br />

die alte Hose an und nimmt seine Werkzeugtasche und geht<br />

aus der Tür.


Heute ist Weihnachten, aber Mama nimmt die Gardinen<br />

ab und geht in den Keller zur Waschmaschine. Zieh dich an,<br />

ruft sie noch, du mußt in den Kindergarten!<br />

Heute ist Weihnachten, aber es gibt Müsli zum Frühstück<br />

und keine Kekse, Haferflockenmüsli mit Milch.<br />

Christian schleicht ins Wohnzimmer. Bei dem Fenster<br />

steht die alte Leiter. Kein Tannenbaum mit Kringeln und bunten<br />

Kugeln und dem goldenen Stern obendrauf. Nur die Leiter.<br />

Heute ist Weihnachten und da steht nur die alte Leiter vom<br />

Gardinenabnehmen.<br />

Es liegen auch keine Geschenke unter dem Baum, der nicht<br />

da ist. Da liegen nur seine Legosteine von gestern unter der<br />

Leiter, und Mama hat sie zusammengeschoben und sie wird<br />

gleich sagen: Räum deine Sachen weg! Du hast doch eine Spielkiste!<br />

Heute ist Weihnachten und es gibt keine Geschenke!<br />

Auf dem Wohnzimmerschrank stand zu Weihnachten<br />

doch immer der Stall mit den Hirten, den Schafen und den<br />

Ochsen mit den großen Hörnern. In den Stall konnte man<br />

hineinsehen, da war eine kleine Krippe drin mit einem winzigen<br />

Baby und das trug eine Krone. Und Maria und Joseph, die<br />

Eltern des Königskindes, standen davor und staunten, und Joseph<br />

hatte einen schwarzen Bart und schielte, die Maria aber<br />

war wunderschön mit einem blauen Mantel und Strahlen um<br />

den Kopf. Über dem allen schwebte ein Engel, aber in Wirklichkeit<br />

hing er an einem Faden, der zwischen die Bücher im<br />

Regal geklemmt war.<br />

Aber es gab keinen Stall auf dem Wohnzimmerschrank. Da<br />

lagen nur Papas Sportzeitungen. Papa darf immer alles liegenlassen.<br />

Heute war doch Weihnachten, oder?


Sophie ist dumm. Auf dem Kalender steht die 24, und es ist<br />

gar nicht Weihnachten.<br />

Christian überlegt. Also, zuerst einmal muß die Leiter da<br />

weg und dann muß der Stall mit dem Kind da stehen und ein<br />

Christbaum muß mit vielen Kerzen leuchten. Papa und Mama<br />

müssen auf der Couch sitzen und sich freuen, bunte Teller mit<br />

Keksen und Schokolade müssen auf dem Tisch stehen, dann<br />

erst ist Weihnachten.<br />

Als Mama aus dem Keller kommt, fragt Christian: „Mama,<br />

wann ist denn endlich Weihnachten?“ Mama muß auch nachdenken.<br />

Dann sagt sie: „Weihnachten? Weihnachten feiern<br />

wir erst, wenn du dich mit Sophie vertragen hast, denn Weihnachten<br />

ist das Fest des Friedens. Deswegen wurde doch das<br />

Kind geboren, damit die Menschen sich vertragen.“<br />

Christian erschrickt: „Aber, aber … ich will mich nicht<br />

mit Sophie vertragen. Sie läßt mich nie in ihr Zimmer und sie<br />

nimmt sich immer meine Kassetten ohne mich zu fragen.“<br />

„Du hast auch noch vier Wochen Zeit“, sagt Mama, „vier<br />

Wochen feiern wir Advent vor Weihnachten. Das ist lange genug,<br />

um sich zu vertragen.“<br />

Christian weiß nicht, ob das reicht. Er muß sich auch noch<br />

mit Tobias im Kindergarten vertragen und mit Jochen, der<br />

ihn immer umschubst beim Fußballspielen.


Mareille sucht Weihnachten<br />

und findet es auch<br />

Bald ist Weihnachten. Oma hat’s gesagt. Mutti hat’s gesagt.<br />

Vati hat’s gesagt. Bald ist Weihnachten. Und sie haben die<br />

erste Kerze angezündet am Adventskranz. Aber Mareille<br />

merkt gar nichts von Weihnachten. Mutti schimpft über die<br />

Unordnung im Kinderzimmer. Vati ist abends immer unterwegs.<br />

Niemand hat Zeit, niemand will mit ihr spielen. Da beschließt<br />

Mareille, Weihnachten zu suchen. Denn Warten ist<br />

langweilig, wenn niemand Zeit hat und mit ihr spielen will<br />

und Mutti schimpft. Wenn alle sagen: Bald ist Weihnachten,<br />

dann will Mareille Weihnachten suchen, und sie will es herbeiholen,<br />

denn Weihnachten ist schön. Da haben alle Zeit und<br />

Lust zum Spielen und niemand schimpft.<br />

Zuerst sucht Mareille in allen Zimmern zu Hause. Aber<br />

im Wohnzimmer baut Vati noch ein Regal für Weihnachten,<br />

in der Küche backt Mutti noch Kuchen für Weihnachten<br />

und sagt: „Steh nicht im Weg!“ und im Schlafzimmer fehlen<br />

die Gardinen, die sind in der Wäsche für Weihnachten, und<br />

in ihrem Kinderzimmer kann Weihnachten auch nicht sein,<br />

weil es da so unordentlich ist, und Oma hat gesagt, in solcher<br />

Unordnung wird nie Weihnachten. Nein, zu Hause ist Weihnachten<br />

nicht.


Mareille nimmt ihr Fahrrad und fährt los. Der Regen stört<br />

sie nicht, auch wenn ihre Hosenbeine ganz kalt und naß werden.<br />

Sie sucht Weihnachten. Dort, wo die Lichter sind, dort<br />

muß es sein. Lichterketten, Tannenbäume, Engelbabys, Sternenlicht,<br />

dort ist Weihnachten. Es riecht auch schon so nach<br />

Lebkuchen und Süßigkeiten, und Spielzeug ist in den Schaufenstern<br />

und Weihnachtslieder sind zu hören.<br />

Mareille muß ihr Fahrrad schieben. Lauter nasse Mäntel<br />

drängeln sich um Mareille herum. Mareille wird geschubst<br />

und ein Mann schimpft. Er hat sich an ihrem Fahrrad gestoßen.<br />

Mareille will den Mann fragen, der an seinem Stand Kerzen verkauft,<br />

große und kleine, dicke und bunte. Wo ist Weihnachten,<br />

will sie fragen, aber der Mann sagt nur: „Geh mal weg da, Kleine,<br />

laß die Leute ran!“ Mareille merkt: hier ist Weihnachten nicht.<br />

Da schiebt sie weiter ihr Fahrrad durch die eiligen Beine<br />

und sieht den Weihnachtsmann. <strong>Ein</strong>en langen weißen Bart<br />

hat er und einen großen Sack. Ob darin wohl Weihnachten<br />

ist? Er hält ein Kind auf dem Arm. Mareille zupft an seinem<br />

nassen roten Mantel. „Hast du Weihnachten in deinem Sack?“<br />

will sie fragen. Aber der Weihnachtsmann reißt ihr nur den<br />

nassen Mantelzipfel aus der Hand. Er wird jetzt fotografiert.<br />

Und er nimmt das nächste Kind auf den Arm und das nächste,<br />

aber Mareille nie, nie Mareille. Mit jedem Kind wird er<br />

geknipst. Und dann klappt der Weihnachtsmann sein Gesicht<br />

hoch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Da weiß<br />

Mareille: der hat Weihnachten auch nicht. Er ist blaß und<br />

müde und lächelt gar nicht.<br />

Traurig macht Mareille sich wieder auf die Suche. Im Wartehaus<br />

an der Bushaltestelle will Mareille sich ausruhen. Da


kann sie sich hinsetzen und ihr Rad anlehnen. Da ist es nur<br />

noch kalt, aber nicht mehr naß. Auf der Bank im Wartehaus<br />

sitzt eine alte Frau, sie ist so alt, daß ihr Kopf schon wackelt.<br />

Oder sie friert, denkt Mareille.<br />

„Ja, setz dich, Kind“, sagt die alte Frau, „setz dich. Du bist ja<br />

ganz durchgefroren“, sagt sie, „setz dich zu mir.“<br />

Mareille rückt an die alte Frau heran. Die kramt in ihrer<br />

riesigen Ledertasche und knistert mit einer Tüte. Und dann<br />

reicht sie Mareille einen braunen Kuchen hin. An ihrer Nase<br />

hängt ein silberner Tropfen. Zusammen essen sie braune Kuchen,<br />

die beiden, die Alte und die Junge.<br />

„So war es wohl auch in dem Stall“, sagt die alte Frau, „weißt<br />

du, damals mit Maria.“ Mareille kaut und nickt.<br />

„Aber das Kind hatte es warm“, sagt Mareille, als ihr Mund<br />

leer ist. „Ja, das Kind hatte es warm“, wiederholt die alte Frau,<br />

„nur die Mütter frieren.“<br />

Und die alte Frau erzählt von dem Stall und den Hirten,<br />

von dem Kind und dem Stern und dem Frieden. Mareille sitzt<br />

gar nicht mehr in dem Wartehaus an der Bushaltestelle. Sie<br />

sitzt jetzt mitten in dem Stall und das Kind ist da, und die<br />

Leute mit den Schirmen sind wie die Hirten, und mit einem<br />

Mal ist alle Traurigkeit weg und Mareille weiß: dies ist Weihnachten.<br />

Sie hat es gefunden.<br />

Als sie nach Hause kam, hat sie es allen erzählt, wie sie<br />

Weihnachten gefunden hat: den Stall, die Hirten, Maria, das<br />

Kind, und daß Weihnachten ist wie eine alte Frau und wie<br />

eine große Ruhe. Aber niemand hat es ihr geglaubt.


Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren<br />

Das Volk, das noch im Finstern wandelt<br />

Als sie die dritte Kerze anzündete, zitterte leicht ihre Hand.<br />

Macht nichts, dachte sie, mit fünfundsiebzig darf eine Hand<br />

zittern. Drei Kerzen, dachte sie, bald ist es wieder soweit. Sie<br />

mochte diese Zeit vor dem großen Fest, sie hatte sie immer<br />

gemocht. Sie mochte auch Weihnachten, auch wenn die anderen<br />

ihr immer weismachen wollten, das wäre nichts besonderes,<br />

sondern eben auch nur ein Fest, an dem man allein<br />

bleibt. Sie aber hatte Weihnachten immer gefeiert, sogar in<br />

den schlimmsten Zeiten. Sie sah die drei Flammen, die sich<br />

aufgerichtet hatten und ihren Schein verschwendeten. Fünfundsiebzig<br />

bin ich nun, und drei Kerzen sind es, eine für fünfundzwanzig<br />

Jahre. Immer eine für ein Drittel meines Lebens.<br />

Was waren das für Zeiten gewesen, in denen sie mit fast<br />

heiliger Scheu die Kerzen des Kranzes entzündet hatte. Seit<br />

damals ihre Mutter ihr die Streichhölzer in die Hand gegeben<br />

hatte, ließ sie es sich nie nehmen, die Adventskerzen zu<br />

entzünden. Ihre Mutter, die magere, immer ein wenig müde<br />

Frau, die ihr viertes und fünftes und sechstes hatte wegmachen<br />

lassen von der Engelmacherin in Altona in der Bürgerstraße,<br />

sie hatte es schwer gehabt in schwerer Zeit. Golden waren<br />

diese Jahre für andere, nicht für die, die ihre Männer bei


Johannsens von der Theke holen mußten, am Freitag. Golden<br />

waren sie für die, deren Männer nicht nach dem Stempeln<br />

einer Fahne hinterherliefen und ihre Wunden mit Bier begossen.<br />

Golden waren sie für andere, die nicht mit schmerzendem<br />

Rücken über der Ruffel standen und im schwelenden Dampf<br />

des Waschkessels die Wäsche wrangen. Sie mußte schon früh<br />

der Mutter helfen, nicht nur beim Anzünden der Kerzen, sondern<br />

beim Kohlentragen und Brikettstapeln, an der Mangel<br />

und am heißen Herd. Wenn sie nicht in der Schule war oder<br />

bei den Jungmädels, dann mußte sie ran. Sie schämte sich so<br />

ihrer roten Hände, als sie zum Tanzen ging, aber der nette<br />

Schwarzhaarige störte sich nicht daran. Aber er wollte ihr<br />

seine Adresse nicht geben. Es ist nicht gut, wenn du das weißt,<br />

sagte er, ich bin nämlich Jude. Da ist sie nicht mehr zu den<br />

Jungmädels gegangen, weil ihr so einiges klar wurde, und sie<br />

mußte noch öfter ihrer Mutter zur Hand gehen. Wie schön,<br />

sagte ihre Mutter, daß sie dir nicht mehr den Kopf verdrehen.<br />

Man darf die Hoffnung nie aufgeben. Aber ihre Überzeugung<br />

hatte ihrer Mutter nicht geholfen, als die Engländer<br />

die Bomben warfen, sie warfen sie einfach auf alle. Man darf<br />

die Hoffnung nie aufgeben, das war es, was sie nie vergaß. Die<br />

Adventszeit war so eine Zeit der Hoffnung, die man nicht aufgeben<br />

darf. Der Friede wird kommen, er wird kommen für<br />

alle, dachte sie auch in den schrecklichen Adventszeiten; als<br />

sie ihre Mutter so sehr vermißte, hielt sie diesen Gedanken<br />

fest und entzündete die Kerzen mit fast heiliger Scheu.<br />

Das Tannengrün für den ersten Adventskranz im Frieden<br />

hatte sie aus dem Volkspark mitgenommen. Sie mußte einfach<br />

einen Kranz haben, einen Kranz für die Hoffnung. Und


dann ging es auch bergauf. Das Wohnungsamt schickte ihr<br />

den Günther ins Haus, und das war das einzige Mal, daß sie<br />

einem Amt dankbar war. Auch wenn Günther nur ein Bein<br />

hatte, das andere lag in Rußland unter dem Schnee, auch<br />

wenn er hin und wieder trinken mußte gegen die Gespenster<br />

aus diesem Krieg, sie war dankbar, daß es ihn gab. Aber die<br />

Kinder mußte sie großziehen, und es war wirklich ein schwieriges<br />

Ziehen. Zwei Hände hat mit der liebe Gott gegeben, aber<br />

es sind doch drei Kinder, sagte sie manchmal, ich glaube, er<br />

kann nicht zählen. Als die Kinder endlich aus dem Gröbsten<br />

heraus waren, als sie einmal verreisen wollten, es sich gut sein<br />

lassen wollten, da fand ihr lieber Günther eine andere, und<br />

war weg von einem Tag zum anderen. Man darf die Hoffnung<br />

nicht aufgeben, dachte sie damals, einmal kommt die Zeit,<br />

in der alle satt werden, und sie nahm die Putzstelle an auf<br />

dem Flughafen, wo die anderen in den Urlaub flogen. <strong>Ein</strong>mal<br />

glaubte sie, auch ihren Günther zu sehen, sehr vornehm im<br />

dunkelblauen Dufflecoat von Ladage und Oelke und lauter<br />

hellen schweinsledernen Koffern, aber sie kann sich auch getäuscht<br />

haben, es ging alles so schnell und sie mußte noch die<br />

Treppe machen bis morgens um sechs.<br />

Als sie fünfzig war, saß sie zum ersten Mal wieder allein<br />

vor dem Adventskranz. Nun war der Jüngste auch ausgezogen.<br />

Aber sie ließ sich den Kranz nicht nehmen. <strong>Ein</strong> Zeichen<br />

der Hoffnung braucht der Mensch. Es wird eine Zeit kommen,<br />

in der niemand mehr allein ist, das wußte sie mit Bestimmtheit.<br />

Das Kind war nicht umsonst geboren worden. Zumindest<br />

ihr hatte es immer geholfen. Die Leute sagen immer: Die<br />

Alten werden fromm. Aber sie war es immer gewesen, eben


auf ihre Art. Und wenn es auch fast nur in dieser Zeit war,<br />

vor Weihnachten im Advent, aber es machte sie stark für das<br />

ganze Jahr. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.<br />

Das hatte sie auch nie getan. Sie war es, die zu Fischscholz<br />

ging und bettelte, weil sie doch etwas zu essen brauchten. Der<br />

Scholz gab ihr die Schellfischköpfe und sie kochte Suppe darauf.<br />

Nach dem Krieg bekam sie den Lebertran von der alten<br />

Kaasbohm unten im Haus, die immer so nach Fisch roch. Ich<br />

glaube, sie trinkt den Lebertran wie andere Bier, sagte sie, aber<br />

sie hatte etwas für ihre Kleinen. Man darf die Hoffnung nicht<br />

aufgeben. Sie dachte an die langen Nächte voller Tränen, als<br />

der Günther weg war, und die Kinder durften nichts hören,<br />

denn sie vertrauten ihr doch. Ihre Nachbarin war es, die mit<br />

einem Wermut zu ihr rüberkam und sagte, Sie schaffen das<br />

schon, Sie schaffen das auch allein. Das war zu Weihnachten<br />

gewesen, an diesem schrecklichen ersten Weihnachten, als sie<br />

immer daran dachte, wie Günther mit der anderen feierte. So<br />

hatte sie es auch durchgestanden, als sie ganz allein war im<br />

Advent, und dachte, es ist ganz gleich, ob ich tot umfalle oder<br />

nicht, ob ich einschlafe und der Kranz brennt ab und ich mit<br />

ihm, wen kümmert es schon. Da klingelte das Telefon und die<br />

Große war dran und sagte, es werde ein Kind geboren, wenn<br />

sie nichts dagegen täte, denn es wäre doch viel zu früh, und sie<br />

wollte doch ihren Doktor machen und außerdem hätten sie<br />

sich gerade die Wohnung gekauft. Da war sie ganz glücklich<br />

und sagte, das wäre doch ein schönes Weihnachtsgeschenk,<br />

das schönste, das sie sich denken könnte, und sie solle nur<br />

ihren Doktor machen, wozu gäbe es denn Großmütter in der<br />

Welt, denen die Männer weggelaufen sind.


Nein, die Hoffnung muß man festhalten. Und es ist schön,<br />

daß es eine Zeit dafür gibt im Jahr, die alle daran erinnert.<br />

Sie saß vor den drei Kerzen, sah in das goldene Licht und<br />

dachte: Lichter der Hoffnung sind das, alle drei. Und die Zeit<br />

wird kommen, hat sie ihrer Enkelin neulich erzählt, der ältesten,<br />

die sie damals so lange bei sich gehabt hatte, damit die<br />

Tochter den Doktor machen konnte. Schön hört sich das an,<br />

Dr. Homeyer, und der Doktor ist eine Frau. Die Zeit wird<br />

kommen, hat sie ihr erzählt, in der die Menschen vernünftig<br />

werden und alle Waffen im den tiefsten Stollen eines Bergwerks<br />

versenken, und dann werden sie keine schlimmen Versuche<br />

machen mit grausamer Strahlenkraft, und sie werden<br />

Wale und Haie zu ihren Geschwistern zählen, und die Wälder<br />

werden gesunden und wachsen, du wirst es sehen. Gott hat<br />

diese Welt nicht aufgegeben, hatte sie gesagt, und die Anja<br />

hatte gerufen: Du wirst ja fromm, Oma, du bist süß, und hat<br />

sie geküßt.<br />

Es ist schon eine arge Zeit, dachte sie, wenn die Hoffnung<br />

in der Hand der alten Leute liegt. Aber vielleicht müssen sie<br />

nur häufiger mit den Jungen reden und mit ihnen Advent feiern,<br />

damit sie es auch wieder lernen, daß man die Hoffnung<br />

nicht aufgeben darf.


<strong>Ein</strong>e Frau steigt aus<br />

Eigentlich ist dies ein günstiges Jahr. Das war ihr erster Gedanke<br />

gewesen, als Weihnachten nach den Herbstferien der<br />

Kinder in ihren Blick geriet. Sechs Tage nach dem vierten Advent,<br />

bevor es Heiligabend wird. Das war ein Gefühl von ganz<br />

viel Zeit. Ganz viel Zeit ist ein schönes Gefühl, wenn ständig<br />

zwei Kinder durch die Stadt zu kutschieren sind und eine alte<br />

Mutter jeden Tag besucht und bekocht werden muß, weil sie<br />

nicht mehr laufen kann mit ihren offenen Beinen. Sechs Tage<br />

noch.<br />

Morgen wird sie erstmal Fenster putzen. Man kann ja<br />

kaum noch rauskucken, die Tage sind sowieso so dunkel. Was<br />

in einer Stadt alles für Dreck in der Luft ist, es regnet nicht<br />

weiches Wasser, Brühe regnet es. Im Grunde müßte sie alle<br />

drei Wochen fensterputzen. Dienstag will sie das Wohnzimmer<br />

umräumen, es muß ja Platz da sein für den Tannenbaum.<br />

Hoffentlich hat er diesmal Zeit, den Baum zu holen. Letztes<br />

Jahr war das eine schöne Schinderei, alles zu Fuß, das Auto<br />

hatte er mit im Betrieb, und der kleine Stand in der Nähe war<br />

nicht mehr da, sie mußte bis zum Markt laufen. Nur Till hatte<br />

ihr geholfen, nun ist er ja doch schon groß. Seine Oberlippe<br />

schimmert schon dunkel. Mittwoch kommen die Gardinen


dran, waschen, naß aufhängen, hoffentlich werden ihr die<br />

Arme nicht wieder so lahm. Donnerstag will sie die Gans holen<br />

und all das andere. Vielleicht ist es dann noch nicht so<br />

voll. Diese Fresserei zum Fest ist fürchterlich. Freitag wollte<br />

sie backen und den Rotkohl kochen. Wenn der schmecken<br />

soll, dann muß er aufgewärmt werden.<br />

Als sie sich dies alles zurechtlegte, sah sie sich von riesigen<br />

Mauern umgeben, wie ein tiefer trockener Brunnen kam es<br />

ihr vor, sie war ein kleines Mädchen, das auf dem Grunde saß,<br />

rings um sich die himmelhohen Mauern, nur hoch oben ein<br />

kleiner Lichtfunken. Wie kalter Schweiß lag es auf ihrer Stirn,<br />

und Hitzewellen stiegen in ihr auf. Wer hatte sie in diese Tiefe<br />

verbannt? Warum wurde es nicht auch für sie Weihnachten?<br />

Warum gehörte Weihnachten nur den anderen? Da war ein<br />

Erinnern in ihr, an die schönen Tage, als sie selbst noch ein<br />

Kind war, als ihr Herz vor Aufregung schneller schlug, als sie<br />

sich an den Kachelofen schmiegte und schmökerte, alles um<br />

sie herum versank, alles war nur noch schön und gemütlich.<br />

Weihnachten, ein Zauberwort, eine Erlösung aus den diesigdunklen<br />

Alltagen. All das war so weit fort, so weit wie der<br />

Lichtfunke da oben, nahe waren nur die kalten nassen Wände<br />

ihres Gefängnisses.<br />

Nein. So nicht. Auch wenn es keine Sprossen und Stufen<br />

gab, sie wollte hinaus. Sie wollte sich ein Stück von Weihnachten<br />

zurückerobern. „Nein!“ sagte sie so laut, daß er von seiner<br />

Sportschau hoch sah. „Nein! Was ist Nein?“ fragte er und sah<br />

beunruhigt aus. Sie mußte innerlich lachen. Aber sie verzog<br />

keine Miene. Er sah aus, als wäre ihm ein Teller heruntergefallen<br />

und zersprungen. Dabei wußte er noch gar nichts von


seinem Glück. So gut verstanden sie sich immerhin noch nach<br />

all den Jahren.<br />

„Ich mache nicht mehr mit“, sagte sie fest und bestimmt.<br />

„Was machst du nicht mehr mit?“ Er hatte ein schlechtes<br />

Gewissen. Sie sah es ihm an. „All dieses Hetzen und Jagen<br />

vor den Tagen“, sagte sie. „Morgen gehe ich in die Stadt und<br />

schaue mir in aller Ruhe die Lichter an. Ich will Kaffeetrinken<br />

und den Leuten zusehen, wie sie durch die Geschäfte hasten.<br />

Übermorgen treffe ich Christiane, ich rufe nachher an, ob sie<br />

Zeit hat. Mittwoch gehe ich zum Frisör. Donnerstag könnte<br />

ich ins Kino gehen. Du hast ja doch keine Lust. Ich war schon<br />

so lange nicht mehr im Kino, ich weiß gar nicht mehr, ob man<br />

im Kino klatscht, wenn es einem gefällt. Freitag will ich mal<br />

in aller Ruhe Briefe schreiben. Du weißt, ich schreibe so gerne,<br />

aber ich bin abends immer so müde. Ich brauche Zeit für so<br />

etwas.“<br />

Sie sah es ihm an, wie es langsam in ihm dämmerte. Noch<br />

sagte er nichts. Die Pause wurde lang. Nur die Leute beim<br />

Eishockey schrien, und der Sprecher war heiser. Dann sagte<br />

er: „Sonnabend ist Heiligabend.“ Das war schon fast eine Drohung.<br />

Es ist weit gekommen, wenn man mit dem Wort Heiligabend<br />

jemanden erschlagen kann. „Ich weiß,“ sagte sie, „deswegen<br />

ja.“ Und dann sagte sie: „Du bist dran. Dieses Jahr bist<br />

du dran.“ Als sie die Stube verließ, hörte sie noch das Knacken<br />

des Fernsehers. Er hatte ausgeschaltet.<br />

Wenig später hörte sie ihn rufen. „Till! Marlene!“ Die Kinderzimmertüren<br />

klappten. Sie vermeinte, eine leichte Panik<br />

in seiner Stimme zu vernehmen. Es dauerte lange, fast zwei<br />

Kapitel lang, als es leise an der Tür klopfte. Sie ließ das Buch


sinken und sie dachte, Weihnachten wäre schon heute, es war<br />

genau das Gefühl in ihr, wie damals am Kachelofen. Marlene<br />

stand in der Tür mit einem Tablett. Heiße Schokolade<br />

dampfte im Becher und auf dem kleinen Teller lagen die weißen<br />

Spekulatiuskekse, die sie so gerne mochte. Jetzt muß ich<br />

stark sein, dachte sie, sonst bleibt alles beim alten. Aber dann<br />

stand er hinter Marlene und sagte: „O. K.“ Mehr nicht. Er sagte:<br />

„O. K.“, und lächelte. „Du bist dran“, sagte er noch.<br />

Dann saßen sie alle auf dem Bett, und sie dachte, die Steppdecke<br />

wird ganz kraus, aber sie schob den Gedanken schnell<br />

weg. Heiligabend — kein Fondue mit zig Saucen. Würstchen<br />

und Salat tun’s auch. Die Gans und der Rotkohl, nun ja, es<br />

war schon etwas Schönes, so eine Gans. Aber Hawaii-Toast<br />

ging schneller. Den konnte Marlene auch schon. Also Heiligabend<br />

Papa, am ersten Feiertag Marlene und am zweiten? Till<br />

stimmt für die Tiefkühlpizza. Die traut er sich zu. Papa verspricht<br />

einen trockenen Rotwein dazu. Fensterputzen? Muß<br />

das sein? Dann aber nicht die Gardinen. Das hat doch Zeit<br />

bis zum Frühjahr. Drei zu eins. Demokratie lebt von Kompromissen.<br />

Wenn das alles so einfach war, dann wußte sie nur<br />

nicht, warum sie sich so schwer getan hatte in all den Jahren.<br />

„Ich komme mir vor wie die Maria“, sagte sie. Die anderen<br />

sahen sie erstaunt an. „Nein“, sagte sie, „so nicht. Nicht wie<br />

die in dem Stall. Da gibt es noch etwas anderes. Marlene, hol<br />

doch mal die Bibel!“ Sie hatte die Stelle schnell gefunden. Lobgesang<br />

der Maria. Das war ihr schon immer so toll erschienen.<br />

Nicht so sanft und kitschig. „Nun hebt er seinen gewaltigen<br />

Arm“, las sie, „und fegt die Stolzen hinweg samt ihren<br />

Plänen. Nun stürzt er die Mächtigen vom Thron und richtet


die Unterdrückten auf …“ „Du gehst ganz schön hart mit uns<br />

um“, sagte er. „Aber vielleicht hast du recht.“<br />

„Backen werde ich trotzdem“, sagte sie. „Etwas will ich auch<br />

für Weihnachten tun. Ich glaube, dies wird unser erstes richtiges<br />

Weihnachten, eines, das wir alle vorbereitet haben. Ich<br />

freue mich“, sagte sie. Aber in ihrer Freude war und blieb eine<br />

kleine Traurigkeit. Für sie konnte Weihnachten werden. Doch<br />

da waren die anderen, deren müde Gesichter ihr letztes Jahr<br />

aufgefallen waren, als sie sich in der Stadt wunderte, warum<br />

so kurz vor Weihnachten die Menschen so wenig fröhlich<br />

aussahen. Sie stellte sich ein Heer von Sklaven vor, die für ein<br />

Fest ihrer Herren sich plagten und rackerten. Es saßen noch<br />

viele Schwestern im Brunnen. Zu viele …


Heimlichkeiten<br />

Es gibt eine Menge Leute, die schwärmen von der schönen<br />

Vorweihnachtszeit. Ich nicht. Die gemütlichen Stunden im<br />

Schein der Adventskerzen, der dampfende Kaffee — oder<br />

Grog wäre noch besser —, die leckeren knusprigen Kekse, die<br />

schon seit dem Herbst in den Regalen liegen, die verwunschene<br />

Zeit der Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse. Da freut<br />

man sich doch das ganze Jahr drauf. Ich nicht.<br />

Seit der alte Burmeister im Altersheim ist, hasse ich die Tage<br />

vor Weihnachten. Nicht etwa, weil wir nun für die Kinder keinen<br />

Weihnachtsmann mehr hätten. Der alte Burmeister hatte<br />

zwar einen gewaltigen weißen Bart, aber als Weihnachtsmann<br />

war er nie zu gebrauchen. Die Kinder hätten ihn sofort am<br />

Geruch erkannt. Er strömte stets eine dicke Schwade Knoblauchdunst<br />

aus, denn er aß diese Wunderzwiebeln stückweise,<br />

um nicht alt zu werden, aber das hat ihm nachweislich auch<br />

nicht geholfen. Jedenfalls ist er nun wegen seiner Verkalkung<br />

im Altersheim, und wir haben niemanden mehr, bei dem wir<br />

unsere Heimlichkeiten und süßen Geheimnisse verstecken<br />

können. Die neue junge Nachmieterin ist zwar schön, aber<br />

auch schön neugierig, neugierig und geschwätzig. Sie wußte<br />

vor mir, daß wir in diesem Jahr keine Lohnsteuererstattung


vom Finanzamt bekommen, der Brief war aus Versehen bei<br />

ihr gelandet. Sie hat meiner Frau auch meine Nachnahme vom<br />

Versandhaus verraten. Ich hatte große Mühe, meiner Frau zu<br />

erklären, daß es sich nicht um das anrüchige Versandhaus der<br />

Hilfsmittel handele, sondern nur um einen neuen Schachcomputer,<br />

den ich mir von der Autoreparatur abgespart hatte.<br />

So ein Versteck wie den alten Burmeister braucht man,<br />

wenn man zwei Töchter hat, die nicht auf dem Kopf gefallen<br />

sind. Sie finden alles. Sie haben auch meine Briefe von früher<br />

gefunden und ihrer Mama auf den Schreibtisch gelegt. Tagelang<br />

nervten sie mich mit solchen Fragen, wer denn nun die<br />

Kuschelmaus wäre und wer der wilde Tiger, von denen in den<br />

Briefen die Rede war. Dabei wußten sie das schon, weil sie<br />

die Briefe in meiner untersten Nachttischschublade entdeckt<br />

hatten, und zwar in meiner alten Kassette, für die es leider<br />

keinen Schlüssel mehr gab. Aber sie freuten sich, weil ich<br />

jedesmal rot wurde. Drei Tage brauchte ich, bis meine Frau<br />

wieder mit mir sprach, und das auch nur, weil sie mich darüber<br />

informierte, von jetzt an wäre die Speisekammer stets<br />

verschlossen zu halten, denn das Fahrrad für die Jüngste und<br />

die anderen Geschenke für die Mädchen müsse sie da hineinstellen,<br />

weil der alte Burmeister doch nun im Altersheim<br />

sei. Den Schlüssel würde sie in die Kaffeedose stecken, aber<br />

ich war mir nicht sicher, ob unsere Töchter nicht plötzlich<br />

auf die Idee kämen, uns an einem Adventsmorgen mit einer<br />

Tasse Kaffee zu überraschen, obwohl sie sich ansonsten stets<br />

schon um das Abtrocknen drückten. Wir einigten uns auf die<br />

Schuhputzkiste. Die mieden sie wie den bissigen Hund der<br />

Nachbarn.


Für meine Frau war das Problem der Heimlichkeiten und<br />

süßen Geheimnisse damit gelöst, aber was soll ein Familienvater<br />

machen? Es begann schon mit dem reizenden Granatarmband<br />

aus dem exklusiven Laden am Jungfernstieg. Ich<br />

verbarg es in der Jackettasche. Im Büro würde ich es schon<br />

nicht verlieren. Aber ich hatte nicht mit ihrer Fürsorge gerechnet.<br />

Sie bürstete das Jackett aus. Zornentbrannt stand sie<br />

vor mir: „Seit wann machst du deiner Kollegin solche teuren<br />

Geschenke!?“ Natürlich klebte auf der Verpackung das edle<br />

Siegel des Juweliers. Meine lange Erklärung klang selbst in<br />

meinen Ohren ziemlich unglaubwürdig. Zwei weitere Tage<br />

Schweigen waren angesagt.<br />

Aber dabei blieb es nicht. Was kann ich dafür, wenn unser<br />

Elektrogroßmarkt außer Espressomaschinen auch Computer<br />

führt? Ich hatte mir diesen chromblitzenden Apparat zurücklegen<br />

lassen, zwei Tage vor dem Fest wollte ich ihn abholen,<br />

aber die Quittung mußte ich doch mitnehmen, nicht wahr?<br />

Und dann brauchte sie Geld, und ich sagte, in meinen Portemonnaie<br />

wäre noch etwas, und da fiel der Kassenbon heraus.<br />

Wie ein Fahrstuhlführer aus früheren Tagen leierte ich daher,<br />

was alles in diesem Laden zu kaufen wäre: Waschmaschinen,<br />

Tümmler, Küchenherde, Bügeleisen und Computer, Fernseher,<br />

Radios und Kameras. Aber es half nichts. Es blieb der Verdacht,<br />

ich hätte mir heimlich eine neue Festplatte für meinen<br />

PC geleistet. „Du liebst deinen Computer eben mehr als mich“,<br />

schluchzte sie. Erst das Bettenüberziehen für Weihnachten<br />

befreite mich von dem Makel. Ich hatte das Prunkstück in<br />

Chrom nämlich hinter der Bettwäsche verstaut. Schließlich<br />

hatte sie die Betten erst letzte Woche frisch überzogen.


Und die Sache mit dem zauberhaften Kostüm war meine<br />

Schuld. Seit Jahren stand auf unserem Schlafzimmerschrank<br />

die alte große Blechdose mit dem pausbäckigen, bezopften<br />

Mädchen darauf. Kemm’s Braune Kuchen stand auf der<br />

Trumm. Meine Frau sammelt solche Altertümer. Und darin<br />

war Wolle und Strickzeug. Sie haßt das Stricken, ich war mir<br />

ganz sicher. Nach der Entsorgung von Wolle und Nadeln<br />

paßte das Kostüm da wundervoll hinein. Wenn es ein wenig<br />

kraus würde, nun ja, etwas aufbügeln könnte sie es ja, bevor<br />

sie es anzieht. Doch am Tag vor Heiligabend sagt sie doch zu<br />

unseren beiden Süßen, die vor Aufregung nicht mehr still sitzen<br />

konnten vor dem Fernseher: „Wollen wir nicht diesmal<br />

noch vor Weihnachten ein paar Kekse backen? Das wollte ich<br />

schon immer einmal, aber es war immer viel zu viel zu tun.<br />

Habt ihr nicht Lust?“ Natürlich hatten sie Lust. Allein schon,<br />

um mich in Bedrängnis zu bringen. Denn selbstverständlich<br />

sollten die Kekse in genau diese alte Blechdose. So stand ich<br />

dann mit dem Rücken an der Küchentür und verteidigte eine<br />

alte Blechbüchse.<br />

Jedenfalls weiß ich diesmal schon am Heiligen Abend bei<br />

der Bescherung, was ich mir zum nächsten Weihnachtsfest<br />

wünschen werde. <strong>Ein</strong>en alten Sekretär, und den werde ich mir<br />

selbst aussuchen und ganz allein. Denn nur ich weiß, was für<br />

ein Sekretär es sein soll. Es ist egal, wie er aussieht, er kann<br />

sogar rosa gestrichen sein. Nur ein Geheimfach muß er haben,<br />

ein Geheimfach.


Christiane spielt nicht<br />

mit Rolands Spielzeug<br />

„Ich wünsche mir ein Rennrad!“ sagte Christiane. „Und ich<br />

möchte Soldaten haben!“ rief Roland. „Und einen Panzer und<br />

Kampfflugzeuge und ein Kriegsschiff!“ Roland ist Christianes<br />

Bruder.<br />

„Was du alles haben willst!“ wunderte sich Christiane und<br />

sie fragte vorsichtig: „Ob ich wohl auch den Kaufmannsladen<br />

bekomme?“<br />

„Sicher“, meinte Roland.<br />

Bald, bald ist Weihnachten! dachte Christiane. Mutti sagt,<br />

beim Schlafen vergeht die Zeit schneller. Christiane wühlte<br />

sich in ihre Decke und kniff ihre Augen zu.<br />

Bald, bald ist Weihnachten.<br />

Christiane sah den Tannenbaum vor sich. Er war heller<br />

und höher als sonst, seine Spitze war spitzer als sonst, die Kugeln<br />

bunter und mehr Kringel hingen an den Zweigen als jemals<br />

zuvor. Aber das war noch langst nicht alles.<br />

Unter dem Tannenbaum, man glaubt es kaum, türmten<br />

sich zu Bergen die Geschenke. Da blitzte und funkelte das<br />

Fahrrad für Christiane, ein rotes Rennrad. Von Waren bunt<br />

gefüllt war der Kaufmannsladen, den sie sich gewünscht. Mollig<br />

und weich wellte sich der Wintermantel über die Berge von


Büchern. Christiane konnte sich nicht satt sehen an all diesen<br />

Herrlichkeiten.<br />

Neben ihr sprang vor Freude der Roland wie ein Gummiball<br />

auf und nieder. Roland ist, wie gesagt, Christianes Bruder. Er<br />

wußte kaum, wohin er schauen sollte. Alle seine Wünsche waren<br />

Wirklichkeit geworden: <strong>Ein</strong> Panzer, der wirklich schießen konnte,<br />

die Soldaten in grünen Uniformen, das Kriegsschiff und die<br />

Kampfflugzeuge. Roland hatte eine ganze Armee bekommen.<br />

Ja, noch nie war Weihnachten so schön gewesen. Vati hatte<br />

so viel Zeit zum Spielen, wie noch nie an einem Heiligen Abend.<br />

Mutti war lustig und lachte, obwohl sie doch so viel kochen<br />

mußte, die Oma erzählte eine Geschichte aus der Zeit, als sie<br />

noch ein kleines Kind war. Ganz warm wurde Christiane vor<br />

Freude, und sie sang aus vollem Halse: „Stille Nacht, Heilige<br />

Nacht …“<br />

Aber dann verstummte sie plötzlich. Da war ein Geräusch,<br />

ein Rattern und Rasseln, ein Summen und Brummen, ein Sirren<br />

und Klirren, und es wurde lauter und lauter …<br />

Christiane traute ihren Augen kaum, sie sah wie Rolands<br />

Panzer mit der großen Kanone sich langsam bewegte und vorwärts<br />

rollte, der Motor brüllte, die Ketten rasselten, die sanfte<br />

Weihnachtsmusik wurde verschluckt vom Motorengebrumm,<br />

das Ungetüm wälzte sich über den Wintermantel, rollte mitten<br />

hinein in den Kaufmannsladen, rempelte gegen die Regale,<br />

brach durch die Rückwand, rollte über das blanke Fahrrad,<br />

walzte es platt, platt wie ein Blatt Papier.<br />

Und Christiane hörte den Schritt und Tritt von Soldatenstiefeln<br />

und Donnergrollen von Kanonenschlägen. Rote Flammen<br />

tanzten vor ihren Augen, Funken sprühten, zuerst brannte


der Kaufmannsladen, dann brannte der Tannenbaum — aber<br />

seltsam, sonderbar : es wurde nicht warm in dem Flammenmeer.<br />

Wild loderten die Flammen, aber sie wärmten nicht. Eisig<br />

wehte der Wind, kein Dach, keine Wand bot mehr Schutz<br />

vor dem Winterwind. Christiane fror. Sie zitterte in Angst<br />

und Kälte. Sie begriff, wie nun der Krieg das Weihnachtsfest<br />

auffraß und sie schrie vor Schreck und Schmerz.<br />

„Aufwachen, aufwachen, es ist Weihnachten!“ Die Stimme<br />

der Mutter war weich und warm. „Du hast dich ja ganz bloß<br />

gestrampelt, Christiane!“<br />

Christiane rieb sich die Augen. Was war Traum, und was<br />

war wahr …? „Es ist Weihnachten!“ sagte die Mutter. Christiane<br />

mußte schlucken.<br />

Und dann fragte sie: „Du Mutti, ist jetzt kein Krieg?“<br />

„Nein, Mädchen, bei uns ist jetzt kein Krieg. Bei uns ist<br />

Weihnachten“, sagte Mutter. Christiane dachte nach. Mutter<br />

hatte „bei uns“ gesagt, „bei uns“.<br />

Und sie fragte ihre Mutter: „Bei anderen Kindern, ist denn<br />

bei anderen Kindern Krieg?“ Die Mutter strich Christiane<br />

über das Haar. „Ja, Christiane, bei anderen Kindern ist Krieg.<br />

Sie weinen, hungern und sterben in Südafrika, weit weg von<br />

uns, in Namibia und Zimbabwe, in Argentinien, Brasilien<br />

und Chile, in Irland und Israel und …“<br />

Christiane ließ ihre Mutter nicht ausreden: „Überall ist<br />

Krieg?“ rief sie, „überall rollen Panzer und schießen Soldaten<br />

und werfen Bomben?“ Christiane überlegte lange. „Wird<br />

denn da nie Weihnachten?“ fragte sie schließlich.<br />

Die Mutter schüttelte den Kopf: „Noch nicht, Christiane“,<br />

sagte sie, „noch nicht.“


Christiane schloß traurig ihre Augen.<br />

„Warum fragst du danach, Christiane?“ Aber Christiane<br />

gab keine Antwort. An diesem Weihnachtsfest, so nahm sie<br />

sich ganz fest vor, fasse ich Rolands Spielzeug nicht an. Doch<br />

dann dachte sie: Ich werde Roland von meinem Traum erzählen,<br />

nicht gleich, aber irgendwann, und irgendwann wird<br />

Weihnachten dann überall sein. Und sie sagte laut: „Du, Mutti,<br />

weißt du was, ich freue mich auf Weihnachten!“


Wo sind nur die Lichter?<br />

Zum ersten Advent wollte sie fertig sein, fertig mit allem.<br />

Dann wollte sie in der neuen Wohnung sein, den Umzug hinter<br />

sich haben, die Kartons ausgepackt. Sie wollte wieder die<br />

Sterne in den Fenstern hängen haben und den Leuchtstern im<br />

Flur. Sie wollte einen Adventskranz haben mit roten Kerzen<br />

und dem Schmuck von früher. <strong>Alles</strong> sollte so sein wie immer,<br />

wenn sie fertig war.<br />

Nur die Scheidung würde noch nicht durch sein, aber das<br />

ließ sich nicht ändern. So vieles läßt sich nicht ändern. Vielleicht<br />

zahlte er ja endlich im Dezember. Sie wenigstens wollte es<br />

schön machen für die Kinder. Ihnen sollte nichts fehlen, ihnen<br />

nicht. Darum wollte sie auch alles fertig haben zum Advent.<br />

Sie hatte es ja auch fast schon geschafft. Nur die Gardinen<br />

mußte sie noch ändern im Wohnzimmer, sie waren zu kurz.<br />

Man kann nicht alles mitnehmen in einen neuen Anfang.<br />

Wenn sie jetzt nur wüßte, wo die roten Kerzen sind, die<br />

dicken, die sie vor dem Umzug gekauft hatte. Sie hatte doch<br />

schon alle Kartons ausgepackt. Wo waren sie nur? Im Küchenschrank?<br />

Nein. In der Abseite bei den Reinigungsmitteln?<br />

Nein. Im Wohnzimmer, ganz hinten im Schrank, wo auch die<br />

Krippe war und die Weihnachtssachen, die sie mitgenommen


hatte, ganz einfach ohne zu fragen, wie ihre Kinder, das war<br />

doch selbstverständlich. Auch nicht. Wo hatte sie nur die<br />

Lichter gelassen, alles hatte sie fertig, nur die Lichter noch.<br />

Sie ging über den Flur. Das Atmen des Kleinen im Schlaf<br />

war sanft zu hören in der stillen Wohnung, wie ein Streicheln,<br />

so weich. Da war doch noch Licht bei Christian — oder nicht?<br />

Das Licht flackerte.<br />

„Christian!“ rief sie und stieß die Tür auf. Da saß ihr Großer<br />

auf dem Teppich, mitten im Zimmer saß er, und vor ihm<br />

auf dem Fußboden brannten Kerzen, alle vier dicken roten<br />

Kerzen standen vor ihm auf dem Boden und brannten.<br />

„Was machst du denn da“, rief sie in Panik, „gib sofort die<br />

Streichhölzer her, du sollst doch nicht mit Feuer spielen!“<br />

Da hob ihr Großer seinen Kopf und sagte ganz ernst: „Ich<br />

spiel nicht mit Feuer. Wirklich nicht, Mama!“<br />

Sie beugte sich herunter, griff nach der Streichholzschachtel,<br />

riß sie an sich, stopfte sie in ihre Jeans und blies auf die<br />

Flammen.<br />

„Nein, nicht, Mama, nicht“, schrie Christian, und die Kerzenflammen<br />

zuckten und fauchten. „Nein, Mama“, sagte<br />

Christian noch einmal leise, und sie sah leuchtende Tränen in<br />

seinen Augen. „Ich habe Angst im Dunklen“, sagte er tapfer.<br />

Da blies sie die Kerzen nicht aus, sondern kniete sich auf<br />

den Boden und zog den Christian an sich, nahm seine leichten<br />

fünf Jahre auf den Arm. „Warum denn, du Dummchen“,<br />

sagte sie, „ich bin doch da!“ Christian schüttelte den Kopf<br />

und biß die Lippen zusammen.<br />

Da fiel es ihr wieder ein, alles war wieder so wie früher, als<br />

wäre es gestern gewesen oder eben erst, der Zank, der Streit,


der Haß, das Schreien, das Türenschlagen, und immer war es<br />

nachts passiert, die Kinder waren schon im Bett, und als sie<br />

einmal nach ihnen sah, weil der Streit so hart und so laut gewesen<br />

war, da lag Christian in seinem Bett und biß die Lippen<br />

zusammen. <strong>Alles</strong> war wieder da, obwohl sie doch fertig war<br />

mit allem, bis auf die Lichter, die nun vor Christian brannten.<br />

Sie drückte ihren Großen ganz fest. „Komm mit in die Küche“,<br />

sagte sie, „und die Kerzen nehmen wir mit“, sagte sie.<br />

Über den finsteren Flur trugen sie die Kerzen in die Küche.<br />

Vorsichtig steckte sie die Kerzen in die Halter am Kranz. Die<br />

Kerzen leuchteten hell wie ein Versprechen, und sie glaubten<br />

die Wärme zu spüren, als sie vor dem Kranz saßen, Christian<br />

auf ihrem Schoß, und sie tranken das Licht in sich hinein.<br />

„Christian“, sagte sie, „weißt du … Mama hat vieles falsch<br />

gemacht, bestimmt. Aber nun wird bald Weihnachten. Nun<br />

fangen wir neu an. Wir wollen uns lieb haben, uns und alle,<br />

die wir kennen. Wir wollen allen Streit vergessen und von vorn<br />

anfangen, Mama, du und unser kleiner Niki. Wir schaffen es<br />

bestimmt“, sagte sie, und sie dachte: Lieber Gott, hilf mir!<br />

Christian schlang die Arme um sie, und sie sahen in die<br />

Lichterflammen, lange saßen sie so und schauten, und irgendwann<br />

sagte sie noch: „Wenn du lange in dieses Licht siehst,<br />

Christian, ganz lange, dann nimmst du es mit, wohin du auch<br />

gehst, und wenn es noch so dunkel ist, du hast es dabei, in dir<br />

drin, da leuchtet es weiter.“<br />

Sie wollte noch etwas sagen vom Spielen mit Feuer, aber sie<br />

ließ es dann. Ihre Gedanken trieben davon, weit zurück in ihre<br />

Kinderzeit. Hatte sie nicht eben sogar gebetet? Da mag schon<br />

etwas dran sein: Das einmal entzündete Licht, wir nehmen


es mit in jede Nacht, in jeden Morgen. Amen, sagte sie bei sich,<br />

Amen.<br />

Nur Christian hatte noch etwas zu sagen vor dem Schlafengehen.<br />

Er sagte: „Zu Weihnachten wünsche ich mir eine Taschenlampe,<br />

eine ganz große!“


Die schönsten Tage im Jahr<br />

Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut! Heiligabend,<br />

Karpfen blau mit zerlassener Butter und Sahne — Meerrettich,<br />

dazu einen Weißwein. Morgens ganz früh, noch in der<br />

Dämmerung zu Fisch-Scholz, den Karpfen holen. Gleich nach<br />

dem Krieg mußte sie hintenrum gehen und ein Pfund Kaffeee<br />

mitbringen, Fisch-Scholz hatte dann immer etwas für sie. Und<br />

dann, daheim, die Tränen, was mußte sie immer weinen beim<br />

Meerrettichreiben, aber es geht nun einmal nichts über frisch<br />

geriebenen Meerrettich. <strong>Ein</strong>e Schuppe vom Karpfen kam jedes<br />

Jahr in ihr Portemonnaie, damit das Geld nicht ausgeht.<br />

Was hatte sie sich immer auf diesen Tag gefreut, Heiligabend.<br />

Heute schmeckte ihr nicht einmal mehr der Karpfen.<br />

Sie sah es immer noch vor sich. Weihnachten in der Wohnküche.<br />

Der Tannenbaum auf dem Tisch in der Ecke und darunter<br />

die Geschenke für die Kinder. Das war gar nicht leicht<br />

damals. sie wußte ja nicht, was sie schenken sollte, sie hatte ja<br />

nichts, es gab ja nichts. Da bekam ihr Junge die Soldatenburg<br />

ihres Bruders, die auf dem Boden bei ihrer Mutter den Krieg<br />

überstanden hatte. Nie wollte sie Kriegsspielzeug verschenken.<br />

Bruder und Mann gefallen, die Wohnung ausgebombt — aber<br />

wenn sie doch nichts anderes hatte, dann mußte es eben die


Soldatenburg sein für ihren Jungen. Er war doch noch ein<br />

Kind, und er mußte etwas haben zu Weihnachten, zum Heiligen<br />

Abend.<br />

Ihre Gedanken flogen zurück, von Weihnachtsfest zu<br />

Weihnachtsfest. Das Weihnachten, als sie den Puppenwagen<br />

mit den hohen Rädern bekam, sie im Matrosenkleid, und<br />

das Kleid kniff in den Hüften, es war zu eng geschnitten. Das<br />

Weihnachten mit ihrem Mann, zur Untermiete noch, und<br />

keine Geschenke, nur Sekt aus vornehmen Gläsern, und in<br />

der Stube standen nur Bett, Tisch und Stuhl. Weihnachten auf<br />

dem Bauernhof, bei der Ausquartierung, und sie aßen fettige<br />

Bratkartoffeln, sie, die Städter, und die Bauern feierten in der<br />

Stube mit schwarzgeschlachtetem.<br />

Da kam es wie ein tiefer Friede über sie. Sie sah die glitzernden<br />

Lichter am Weihnachtsbaum und wie ein warmes<br />

Bad umspielte sie das Licht der Weihnachtskerzen. Das war<br />

schon so. Diese Tage waren immer die schönsten im Jahr gewesen,<br />

nicht der Urlaub in Spanien oder Portugal, nicht die<br />

anderen Glanzlichter ihres Lebens, sondern diese Tage. Und<br />

war es nicht komisch, nicht sonderbar und geheimnisvoll: Wo<br />

immer das Leben sie hingetrieben hatte, welche Stürme auch<br />

immer die Geschichte durchtosten, Weihnachten war immer<br />

geworden. Als Vater keine Arbeit hatte, im Luftschutzkeller,<br />

in ihrer neuen Wohnung und wieder zur Untermiete mit den<br />

Kindern, und auch jetzt in der <strong>Ein</strong>samkeit ihres Alters, Weihnachten<br />

war immer geworden. Wie ein Zauber waren die<br />

Worte: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging …<br />

Sie wußte, so sehr sie auch nachdachte, keine Worte, die sich<br />

so wenig abnutzten, wie diese: Es begab sich aber zu der Zeit,


daß ein Gebot ausging … Sie klangen wie ein Akkord, und sie<br />

entfalteten sich zu einer volltönenden Sinfonie, Jahr um Jahr.<br />

Sie stand nicht mit Gott auf Du und Du. Dazu, dachte sie,<br />

hab ich zuviel erlebt. Wo war denn Gott, als Rudi fiel, in Rußland<br />

im Schnee, wo war er denn da? Nein, sie stand nicht mit<br />

Gott auf Du und Du. Sie war immer eher kritisch gewesen, und<br />

in der Kirche war sie auch nicht oft. Auch für so etwas muß<br />

man erst einmal Zeit haben, hatte sie immer gesagt, Sonntags<br />

morgens um zehn. Am Grab ihres Bruders wußte der Pastor<br />

auch nichts zu sagen. Aber der Zauber dieser Worte wirkte<br />

immer wieder auf sie: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein<br />

Gebot ausging …<br />

Mit diesem Kind da in Armut geboren, im windschiefen<br />

Stall, da hatte etwas angefangen, das nie mehr aufhörte. Ihr<br />

fiel nicht ein, wie sie es nennen könnte. Es war wie ein Strom<br />

aus lauter Licht, wie eine Quelle, aus der reines Wasser fließt,<br />

oder sollte sie sagen: Liebe? Jedes Jahr fließt es zusammen in<br />

diesen Tagen, in den Menschen, und es wäscht hinweg, was<br />

weh tut, die Tränen, die Not, die <strong>Ein</strong>samkeit, die Sorge, alles<br />

spült es hinweg.<br />

Was freute sie sich immmer wieder auf diesen Tag, Heiligabend.<br />

Und jetzt, gerade in diesem Augenblick vor dem Christbaum<br />

mit strahlendem Licht, da wußte sie es genau: Dies war<br />

ein wunderschönes Leben, in dem es immer wieder Weihnachten<br />

wird. Im Grunde, dachte sie, im tiefsten Grunde, bin<br />

ich nie groß geworden. Jedes Jahr habe ich es wieder gefühlt,<br />

dieses warme Empfinden aus Kindertagen: Es hat mich jemand<br />

lieb, was immer auch ist, es hat mich jemand lieb. Und<br />

sie wagte zu sagen: Ich dank dir, Gott, ich danke dir.


Das betriebsbedingte Weihnachten<br />

Das Radio hatte er ausgeschaltet nach dem vierten White<br />

Christmas. Irgendwann reicht es. Nun ist es still um ihn,<br />

friedhofsstill, totenstill. Vier nackte Wände sind nicht sehr gesprächig.<br />

Er hatte es vorher gewußt, dieser Tag würde schwer<br />

werden. Dies war immer ein schwerer Tag für die Menschen,<br />

die keine Schulter haben, an die sie sich lehnen können. An<br />

solchem Tag kann niemand seine Gedanken festketten und<br />

einsperren. Sie laufen davon, ob man es will oder nicht, sie<br />

erheben sich in die Luft und fliegen in das Land von Gestern.<br />

Er sitzt an dem Tisch, dessen Furnier sich abhebt, und dessen<br />

Beine wackeln, wenn er sich zu fest auflehnt. Das Muster<br />

des verschlissenen Teppichs gibt ihm Rätsel auf. Welche Farben<br />

mochte er gehabt haben, als er aus dem Laden getragen<br />

wurde? <strong>Alles</strong> fängt anders an als es endet. Er empfindet so<br />

etwas wie Zuneigung zu diesem alten Teppich. Werd’ nicht<br />

sentimental, schilt er sich, aber er ist es schon.<br />

Letztes Jahr um diese Zeit war er breit gewesen. Das Jahr<br />

davor auch. Eigentlich immer an diesem Tag. Was soll man<br />

auch sonst tun an einem solchen Tag ohne Kinder, ohne<br />

Christbaum, ohne Bescherung, ohne ein vertrautes Lächeln.<br />

Weihnachten ist eine Gemeinheit für Menschen, die man


allein gelassen hat. Was blieb einem schon anderes übrig, als<br />

die Gefühle wegzuknallen. Die lärmende Musik aus der Box,<br />

das melodiöse gleichförmige Dudeln der Spielautomaten, selten<br />

nur, viel zu selten, das Klappern fallender Geldstücke, der<br />

Geruch von Rauch und Bier, das Brennen des Klaren in der<br />

Kehle, das schwebende Gefühl wachsender Trunkenheit, das<br />

alles, bis auch dieser Wirt seinen Laden zumacht, um Weihnachten<br />

zu feiern mit seinen Lieben.<br />

Danach lag er dann immer auf seinem Bett und wartete<br />

auf den Schlaf, der nicht kommen wollte, die Flasche in der<br />

Hand, und jedes Mal dachte er immer an Menschen, die mit<br />

einer brennenden Zigarette im Bett einschliefen, und er war<br />

neidisch auf sie. Seit sie ihm seine Kinder gestohlen hatte, seit<br />

sie ihm die Tür wies, hatte er nichts mehr für diesen Tag.<br />

Und heute hatte er noch nicht einmal eine Flasche. Zum<br />

vierten Mal zieht er sein altes Portemonnaie hervor und zählt<br />

nach. Dreizehn fünfunddreißig. Es wird nicht mehr. Das<br />

wäre schon eine Flasche gewesen, aber das Jahr ist ja nicht<br />

mit Weihnachten zu Ende. Da kommen noch ein paar Tage.<br />

Nun hatte man ihm selbst das noch genommen, die Flasche<br />

am Heiligen Abend. Es war eine betriebsbedingte Kündigung<br />

gewesen, da kann man nichts machen. Wenn sie den Laden<br />

zumachen, brauchen sie keine Buchhalter mehr. Und wer<br />

braucht heutzutage überhaupt noch Buchhalter? Vor allem so<br />

alte. Er glich dem alten Teppich. Abgelatscht. Sperrmüll. Das<br />

war’s.<br />

So ist er also zu diesem betriebsbedingten Weihnachten<br />

gekommen, ohne Flasche, eingesperrt in vier Wände, festgehalten<br />

am wackeligen Tisch und keine Chance, die Gedanken


festzuhalten. Weihnachten. Um diese Zeit, wenn die Dämmerung<br />

sich senkte, war immer Bescherung gewesen. Die Kinder<br />

hielten es nicht länger aus. Die Kerzen anzuzünden, war seine<br />

Sache gewesen, und dann das Läuten mit der kleinen Glocke.<br />

Sie bestand darauf, daß die Weihnachtsgeschichte gelesen<br />

wurde, bevor die Kinder sich auf die Geschenke stürzten. „Es<br />

geschah aber zu der Zeit, das ein Gebot ausging von dem Kaiser<br />

Augustus …“ Er kannte die Worte noch auswendig. Diese<br />

Art Weihnachten hatte sie in der Familie eingeführt. In seiner<br />

Kinderzeit hatte Weihnachten nichts mit der Bibel zu tun.<br />

Sein Vater hielt nichts davon.<br />

Dies war schon ein komischer Tag. Alle Gefühle strömen<br />

zusammen, bilden einen tiefen See, in dem Menschen ertrinken<br />

am Tag der Liebe. Ob die Erfinder dieses Tages das bedacht<br />

hatten? Grausamer kann man es gar nicht machen — alle, die<br />

reich sind, die Menschen haben, die sie lieben, die werden mit<br />

Glück und Liebe überhäuft, und die anderen, die <strong>Ein</strong>samen,<br />

die Verlassenen, sie dürfen zuschauen, sich sattsehen am Glück<br />

der anderen. Und haben vielleicht nicht einmal eine Flasche,<br />

so wie er mit seinem betriebsbedingten Weihnachten.<br />

Die alten Worte gingen ihm wieder durch den Kopf. Die<br />

Kinder hörten kaum noch zu, sie schielten nach den Paketen<br />

unter dem Baum. Sie dachten nicht an den Stall und das<br />

Paar ohne Wohnung. Sie sahen nur die Geschenke und wollten<br />

endlich freigelassen werden zur großen Freude. Er hätte es<br />

nicht für möglich gehalten, daß diese Worte sich so tief in ihn<br />

eingegraben hatten. Nun geht ihm dieser Stall nicht mehr aus<br />

dem Sinn. Stall. Tiefer kann niemand fallen. Stall. Kein Geld.<br />

Kein Dach. Nur ein Stall.


Seine Augen gleiten über die verschossenen Tapeten. Mühsam<br />

steht er auf vom wackeligen Tisch. Irgendwo muß ich<br />

doch noch eine Kerze haben. Für den Fall, daß die Sicherung<br />

durchgeht. Da ist sie. Die Schublade klemmt auch. Lang ist sie<br />

ja nicht und angebrannt auch. Aber Kerze ist Kerze. Er legt<br />

sie auf den Tisch, wo sie weiterrollt, bis der Riß im Furnier sie<br />

aufhält. Er sieht sich im schummerigen Zimmer um. Wenn<br />

schon, denn schon, sagt er, und er macht das Bett, schüttelt es<br />

ordentlich auf, deckt die blaue Wolldecke darüber und zieht<br />

sie glatt. Sie wird sich wundern, denkt er, als er den Staubsauger<br />

aus der Flurgarderobe holt. Den ganzen Monat macht er<br />

nichts, aber am Heiligen Abend. Aber die Wirtin steckt den<br />

Kopf nicht vor die Tür. Wahrscheinlich ist sie eingeschlafen.<br />

Ist auch ein armes Luder. Der Sohn in Australien, der Mann<br />

in Ohlsdorf. Nur sie ist übriggeblieben. <strong>Ein</strong>en Staubsauger<br />

hatten die im Stall nicht. Ich fege den Stall mit dem Staubsauger<br />

aus, denkt er. <strong>Ein</strong>e seltsame Erregung breitet sich in ihm<br />

aus. Wie ein Aufbruch ist es.<br />

Er erinnert sich an das Weihnachten, als er sein Fahrrad<br />

bekam. Damals fühlte er sich auch wie ein neuer Mensch.<br />

Er hatte es gleich ausprobieren müssen auf der Straße, und<br />

er weiß noch heute, wie enttäuscht er war, weil niemand ihn<br />

sah mit seinem blitzenden Rad mit der Gangschaltung wie<br />

ein Auto. Aber die waren alle zu Hause am Heiligabend, die<br />

Straßen waren leer. So leer wie heute, denkt er. Aber das ist<br />

gut so. Niemand schaut zu, wie er sich von der Tanne auf dem<br />

Platz einige Äste abbricht. Als die Nadeln ihn stechen, muß<br />

er lachen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß er heute<br />

noch einmal lachen kann. Das hatte sich also nicht geändert.


Jedesmal vergaß er seine Handschuhe, wenn er den Tannenbaum<br />

holte. Und wie immer regnet es, wenn er den Baum holt.<br />

Das Tannengrün und die Kerze verwandeln selbst seinen<br />

Stall. Er hält einen kleinen Zweig in die Flamme. Es knistert,<br />

und der alte Geruch verbreitet sich im Zimmer. „Es geschah<br />

aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus<br />

…“ Er schämt sich nicht, diese alten Worte laut zu<br />

sagen. Mit diesen Worten fängt etwas neues an. Mit diesen<br />

Worten ist Armut keine Schande mehr. Mit diesen Worten<br />

wird die Welt auf den Kopf gestellt. Eigentlich ist es nicht fair,<br />

daß auch die anderen, die alles haben, diese Worte hören. Die<br />

Hirten liefen ja nicht zu den Palästen. Zum Stall liefen sie und<br />

fielen auf die Knie. Aber das soll ihm egal sein. Ihm ist es für<br />

diesen Augenblick genug, daß er ein Gefühl der Brüderlichkeit<br />

in sich empfindet, ein Gefühl der Brüderlichkeit mit dem<br />

Kind in der Krippe.


Der blaue Planet<br />

Der blaue Planet drehte sich in majestätischer Ruhe. Im gleißenden<br />

Sonnenlicht leuchteten weiße Wolkenbänder auf. Das<br />

schwarzdunkle Kleid der Nacht war mit goldenen Punkten<br />

übersät. Der Pracht dieses universellen Schauspiels fehlte nur<br />

noch die Fülle himmlischer Harmonien, um vollendet zu sein.<br />

Aber im Himmel schlugen die Türen. Gottvater war zornig.<br />

Der Heilige Geist saß muksch in hintersten Winkel der<br />

ewigen Wohnstube und zog einen Schmollmund. Ab und zu<br />

schluchzte er auf, wenn es wieder mit mächtiger Stimme tönte:<br />

„Umsonst, umsonst war das doch alles! Sie kapieren’s nicht! Sie<br />

begreifen es einfach nicht! Zweitausend Jahre hatten sie Zeit.“<br />

Der Herr der Welt war wirklich erbost. Vergeblich versuchte<br />

der Sohn, den Vater zu besänftigen. „Es war doch schön damals<br />

mit der Geburt im armen Stall. Weißt du noch, wie die<br />

Hirten kamen, diese diebischen Bösewichter und Gauner,<br />

und vor Andacht wurden sie ganz still? Und dann kamen die<br />

Machthaber, die prächtigen Könige, und sie fielen vor einem<br />

nackten Kind in die Knie! Das war doch ein guter Anfang!“<br />

„Guter Anfang“, äffte der alte Herr die sanfte Stimme des<br />

jungen Mannes nach, „ein guter Anfang für die Scheiterhaufen,<br />

auf denen sie Frauen und Männer verbrannten, fürwahr!


<strong>Ein</strong> guter Anfang für den Mord an meinen lieben indianischen<br />

Völkern! Und was haben sie mit meinem erwählten<br />

Volk gemacht, he?“ Seine Stimme schlug höhnisch über. Der<br />

Sohn probierte es noch einmal. Begütigend sagte er: „Aber<br />

das siehst du nicht richtig. Denk doch einmal an den Heiligen<br />

Franz, an die Klöster und die vielen anderen Hilfswerke!<br />

In jedem der zwanzig Jahrhunderte gab es Menschen, die aus<br />

meiner Krippe Konsequenzen zogen!“<br />

Der Heilige Geist in seiner Ecke blickte hoffnungsvoll auf.<br />

Er liebte solche Fremdworte nicht, aber er war dankbar, daß<br />

wenigstens der Sohn seine Arbeit anerkannte, schwer genug<br />

war sie ja gewesen. Doch die Wut des großen Vaters erstickte<br />

den Hoffnungsfunken schnell. Mit spitzem Finger zeigte der<br />

Herr auf den still vorbeitreibenden Erdball. Der bedrohliche<br />

Finger wies auf den Südosten Europas. „Seht euch diese<br />

zerschossenen Häuser an, da hätten wir keine Mühe, einen<br />

Stall zu finden für die Geburt des Gotteskindes! Das waren<br />

einmal blühende Dörfer, und was haben sie daraus gemacht?<br />

Und da“, sein richtender Finger zeigte auf den Osten Afrikas,<br />

„seht doch meine Kinder, die sich der Fliegen nicht mehr<br />

erwehren können, weil sie vor Hunger zu schwach geworden<br />

sind! Und da, dieser Bengel“, sein Finger streckte sich<br />

auf Hamburg, „dieser Flegel, der sauer ist, weil er zu seinem<br />

Gameboy nicht auch noch die Rollerblades bekommen hat!<br />

Hat der Joseph sich deshalb mit Maria auf den weiten Weg<br />

gemacht? Um jeden Schritt der schwangeren Frau tut es mir<br />

leid! Und da, schaut euch das Computerspiel an! Nur Schießerei<br />

und Vernichtung, was glaubt ihr denn, warum ich die<br />

Engel hab vom Frieden singen lassen!“


Jetzt wurde es dem Sohn zuviel. „Du siehst das zu negativ“,<br />

sagte er mit allem Respekt zu seinem Vater. „Genau dahin<br />

werde ich gehen. Und du wirst sehen, daß sie sich immer<br />

noch der ethischen und spirituellen Werte aus der Tradition<br />

bewußt sind.“ Er nickte dem Heiligen Geist im Winkel des<br />

Himmels zu. „Komm, wir versuchen es noch einmal!“ Der<br />

schmollende Geist erhob sich zögernd. „Aber red’ nicht so geschwollen<br />

daher“, verlangte er, „das verstehen sie nicht.“ Der<br />

Sohn sah liebevoll auf den Geist herab. „Ich werde gar nichts<br />

sagen“, meinte er. So machten sich die beiden auf den Weg.<br />

In der Halle des Flughafens tobte das Leben. Mitten darin<br />

leuchtete aus hunderten von Glühbirnen ein riesiger Weihnachtsbaum,<br />

unter ihm und um ihn herum wimmelten die<br />

Reisenden zwischen den Koffern. In den Shops klingelten die<br />

Kassen pausenlos für die vergessenen Geschenke. An den<br />

Schaltern drängten sich Ratlose und Eilige. Die geschminkten<br />

Damen nahmen professionell lächelnd Flugkarten entgegen,<br />

hämmerten auf Tasturen, blinzelten auf Bildschirme, gaben<br />

Auskunft. Sie mußten so viel Lächeln vorweisen, daß sie Mühe<br />

haben würden, daheim unter dem Christbaum die schmerzenden<br />

Wangen zu glätten. „Bloß weg aus dem Rummel“,<br />

sagte die jungen Frau zu ihrem Begleiter, der hastig an seiner<br />

Zigarette zog. „Wie schön, daß wir dem Weihnachtstrubel<br />

entkommen“, meinte die saubere rundliche Dame zu ihrem<br />

Mann. „Wenn ich allein schon daran denke, wie lange ich<br />

letztes Jahr noch Nadeln im Teppich gefunden habe.“ Dicht<br />

neben diesem Paar wischte sich eine ältere Frau Tränen aus<br />

den Augen. „Nun komm, Mutti, mach es uns doch nicht so<br />

schwer, wir brauchen die Erholung, wir müssen mal raus hier,


das verstehst du doch! Wir rufen dich auch an am Heiligen<br />

Abend! Du kannst doch auch die Frau Schuster von oben einladen,<br />

die ist ebenso allein zu Weihnachten. Feiert doch zusammen!“<br />

Die alte Frau schluckte tapfer.<br />

In all dem Gerenne, Gerede und Getümmel fiel das kleine<br />

braune Mädchen gar nicht auf, das vor dem Tresen der<br />

Fluggesellschaft kauerte. Die eiligen Erwachsenen beugten<br />

sich über sie hinweg, verhandelten mit der rougegepflasterten<br />

lächelnden Servicedame vor dem Bildschirm. Wann geht der<br />

Flieger, Raucher oder Nichtraucher, werden wir abgeholt vom<br />

Flughafen, so wirbelten die Worte über das Mädchen hinüber<br />

und herüber. Silberhell rannen Tränen über die dunklen<br />

Wangen der Kleinen. Sie kauerte am Boden, stumm, still, unbewegt<br />

und weinte.<br />

Es war eine blauhaarige junge Frau, deren Augen den<br />

Kontakt zum Erdboden nicht verloren hatten. „Du, schau<br />

mal Norbert, das Mädchen!“ Noch bevor der Norbert irgend<br />

etwas sagen konnte, ging sie vor dem Kind in die Knie. Sie<br />

strich mit scheuer und behutsamer Hand dem Kind über das<br />

krause Haar. „Wo kommst du denn her, du Schöne?“ fragte<br />

sie. Und sie grub in ihrer Tasche nach einer Näscherei, hielt<br />

sie dem Mädchen hin. „Möchtest du?“ Das Mädchen schaute<br />

unter seinen Tränen nicht auf. Norbert verhandelte unterdes<br />

mit dem Grinsen hinter dem Schalter über das Gewicht des<br />

Gepäcks. Die junge Frau aber sprach leise auf das wortlos<br />

schluchzende Mädchen ein. Suchend sah sie sich um, aber<br />

nirgends war jemand, der Anspruch auf dieses Kind erhob.<br />

Wieder wandte sie sich dem Kind zu. So langsam wurde ihr<br />

klar, daß ihre Freundlichkeit nicht ausreichte, diese kleine


Frage im riesigen Terminal zu beantworten. Sie nahm das<br />

Kind aus seinem Winkel, barg es in ihrem Arm. „Du, Norbert,<br />

das Kind hat niemanden hier. Wir müssen uns kümmern!“<br />

Was half dem Norbert sein Hinweis auf das abgehende<br />

Flugzeug, auf die immer dringender klingenden Aufrufe, sich<br />

bei der Abfertigung einzufinden. Was half ihm sein Klagen,<br />

sie würden noch den Flug verpassen und daheim bleiben müssen,<br />

in der nassen Kälte, statt in südlicher Sonne zu braten. Er<br />

mußte mit zur Dienststelle der Polizei, er mußte sein Taschentuch<br />

hergeben, die Tränen zu trocknen, er wurde geschickt,<br />

ein Brot zu holen, Milch und eine Mandarine, Flugzeug hin<br />

oder her, das Kind mußte etwas zu essen haben.<br />

Dann war das Flugzeug weg. Sie saßen auf der harten Bank<br />

der Dienststelle, zwischen sich das kauende Findelkind. Der<br />

Notdienst würde schon kommen, wurden sie wieder vertröstet,<br />

und sie sollten sich doch nicht aufhalten lassen, es ginge<br />

nun alles seinen Gang mit dem unbegleiteten minderjährigen<br />

Flüchtling. Aber die beiden jungen Leute wollten nun nicht<br />

mehr weggehen von diesem Kind. In einem unbeobachteten<br />

Augenblick schlichen sie sich aus der Hektik des Wachzimmers,<br />

das Kind mit seinem dünnen Kleidchen unter ihren<br />

Mänteln wärmend. War es nicht gleichgültig, ob der Notdienst<br />

heute oder in drei Tagen kam …? Sie jedenfalls waren<br />

sich später bewußt, noch nie so ein schönes Weihnachten erlebt<br />

zu haben, wie dieses unerwartete Fest mit ihrer kleinen<br />

Himmelskönigin.<br />

Der Heilige Geist war sichtlich stolz. „Siehst du, es war doch<br />

gar nicht so schwer“, bemerkte er triumphierend. „Und ich habe<br />

nichts gesagt“, pflichtete der Sohn bei. „Das wird den Vater


überzeugen.“ Der aber lächelte längst. Es war doch eine gute<br />

Idee mit dem Kind und dem Stall, dachte er bei sich. Und eine<br />

gute Idee setzt sich schon durch. Ich muß nur Geduld haben<br />

mit meinen Menschen.


Das ganz andere Weihnachten<br />

Kinderaugen sehen alles. Er hatte sich erst daran gewöhnen<br />

müssen. Aber als die beiden Kleinen eines Morgens vor dem<br />

Ehebett standen, mitten während des Kuschelns, manchmal<br />

möchte man einen Tag ja auch gut beginnen, so wie die Helden<br />

aus der Zeitung, da konnte er nur hektisch wie in vergessenen<br />

jungen Tagen das Deckbett hochziehen, und er wußte: Kinderaugen<br />

sehen alles. Kinderaugen finden den Bußgeldbescheid<br />

wegen zu schnellen Fahrens, sie finden den <strong>Ein</strong>kaufszetttel<br />

für ihren Geburtstag, sie entdecken mit unfehlbarer Sicherheit<br />

das heimlich gekaufte und auf dem Autobahnparkplatz<br />

schnell eingebaute Autoradio. Viel schneller als seine Eheliebste<br />

entdecken sie in unermüdlichem Forscherdrang den neuen<br />

Laptop auf dem Schreibtisch. Kinderaugen sehen alles.<br />

Natürlich will er wache Kinder, die sich im Leben nichts<br />

vormachen lassen. Wenn jeder Bürger so aufmerksam wäre<br />

wie seine Kinder, dann traute sich kein Politiker mehr Geld<br />

zu nehmen. Aber zu Weihnachten sind wache Kinder ein Problem.<br />

Doch es wäre ja gelacht, wenn ein Vater nicht schlauer<br />

wäre als seine Brut. Nach der <strong>Ein</strong>kaufsfahrt in Berlin, während<br />

die Kinder bei der Oma geparkt waren, schlug er den<br />

neugierigen Kinderaugen ein Schnippchen. Er ließ einfach


alle die Pakete und Tüten im Kofferraum. Den konnte er abschließen<br />

und den Schlüssel bekamen auch die Kinder nicht<br />

in die Hand. Nun gut, weil der Kofferraum voll war, mußte er<br />

den Weihnachtsbaum auf den Rücksitzen transportieren, und<br />

auch ein frischer Weihnachtsbaum nadelt, und Harzflecke<br />

macht er auch. Aber sei’s drum, wenigstens wußten die Kinder<br />

nicht, was für sie unter diesem Baum liegen würde.<br />

<strong>Ein</strong>e leichte Unruhe bei seinen Kindern bewies ihm, wie<br />

recht er getan hatte. Nirgendwo im Haus war ein Schrank abgeschlossen<br />

— die Schrankschlüssel waren eh austauschbar.<br />

Nirgendwo türmten sich auf den Schränken irgendwelche dikken<br />

Taschen. Alle Kellertüren standen offen. Sie hatten nichts<br />

zu verbergen. Und der Heilige Abend kam immer näher. Die<br />

Kinder wurden immer unruhiger.<br />

Dann war es soweit. Leidlich gerade stand der Weihnachtsbaum<br />

in seinem Fuß. <strong>Ein</strong> bißchen drehen und man konnte<br />

ihn fast kerzengerade nennen. Nur zwei Glaskugeln waren<br />

zerbrochen, die mit den Wachstropfen hängte er einfach nach<br />

hinten. Die Kringel für den Baum mundeten ausgezeichnet<br />

und weckten in ihm die Erinnerung an die schönen Weihnachtstage<br />

der Kindheit. Er freute sich, daß Fondant auch nach<br />

fünfundzwanzig Jahren noch genauso künstlich schmeckte.<br />

Zu Mittag bestand er trotz aller Sorge um gesundes Fleisch<br />

auf dem Rindswürstchen zum Kartoffelsalat, sollten Frau und<br />

Kinder doch Buletten essen aus Schweinefleisch. Während<br />

seine Frau in der Küche die Soßen zum Fondue rührte, die<br />

Kinder in ihrem Zimmer Weihnachtsgeschenke einwickelten,<br />

ging er nach draußen, um die Geschenke zu holen. Sorgfältig<br />

sah er noch mal nach, ob seine neugierigen Kleinen auch


eschäftigt waren. Als er sie hinter der Tür streiten hörte,<br />

wußte er, jetzt wäre ein günstiger Augenblick. Also: raus auf<br />

die Straße und alles reintragen. Er würde mindestens dreimal<br />

gehen, nein, laufen müssen, denn ein feiner Regen machte<br />

diesen Heiligen Abend vollkommen. Weiße Weihnacht gibt<br />

es nur in Liedern.<br />

Das Auto. Die Parkbucht war leer! Sein Auto! Hatte er weiter<br />

unten geparkt? Menschenleer dehnte sich in der Dämmerung<br />

die Straße. Vor jedem Haus ein parkendes Auto, nur vor<br />

seinem nicht, als hätte er seine Rechnungen nicht bezahlt. Wo<br />

war sein Auto? Langsam dämmerte es ihm. Gestohlen. Man<br />

hatte sein Auto gestohlen! Am Heiligen Abend gestohlen.<br />

Schöne Bescherung! Er lief noch einmal die Straße rauf und<br />

runter, aber es war nicht da, sein Auto. Mit müden Schritten<br />

schlich er ins Haus. In die Küche. Der Mixer surrte. Seine<br />

Liebste hatte vor Eifer rote Bäckchen.<br />

„Du, Doris!“<br />

Sie mixte weiter die Soßen.<br />

„Du, Doris!“<br />

Jetzt drückte sie Tomatenmark unter die Creme für das<br />

Fondue.<br />

„Du, Doris, mach doch mal den Mixer aus!“<br />

Jetzt erst sah sie auf, der Mixer verstummte.<br />

„Du, unser Auto wurde gestohlen, ich muß die Polizei<br />

rufen.“<br />

Sie war gar nicht erschüttert, im Gegenteil. Sie lachte. „Wir<br />

brauchen doch heute am Heiligen Abend kein Auto.“<br />

„Sag mal, verstehst du nicht, unser Auto wurde gestohlen,<br />

ich muß die Polizei anrufen.“


„Quatsch“, sagte sie lapidar. Quatsch. <strong>Ein</strong> Auto wurde gestohlen<br />

am Heiligen Abend, und sie hatte nicht mehr zu bemerken<br />

als: Quatsch. Fast hätte er gebrüllt. Am Heiligen Abend<br />

gebrüllt. Sein Auto war weg.<br />

„Thomas hat unser Auto, Thomas von nebenan.“<br />

Er starrte sie ungläubig an. „Wieso hat Thomas …?“<br />

„Stell dich doch nicht so an! Er wollte seine Freundin in<br />

Berlin besuchen, da hab ich ihm unser Auto geliehen. Morgen<br />

abend bringt er es zurück. Schließlich ist Weihnachten.“<br />

Aber das war’s ja, es war Weihnachten und die Geschenke<br />

fuhren in Berlin spazieren und da oben warteten die Kinder<br />

auf die Bescherung!<br />

Als seine Frau begriff, was Sache war, wurde sie bleich.<br />

„Mann, wie kannst du nur!“<br />

Aber wozu hat man eine Frau, eine Frau für alle Fälle. Sie<br />

hatte sich gleich wieder im Griff. „Dann müssen wir eben dieses<br />

Jahr anders feiern“, meinte sie trocken.<br />

Und so machten sie es auch. Sie machte alles fertig für das<br />

Fondue, ganz so, als wäre nichts passiert, dann ging sie nach<br />

oben und er hörte sie kramen. Mit einem Stapel Bücher und,<br />

tatsächlich, mit ihrer alten Gitarre kam sie die Treppe wieder<br />

herunter. Sorgsam wischte sie den Staub von dem dunklen<br />

Holz. „So, ich glaube, es ist schon dunkel genug, du kannst die<br />

Kerzen anzünden und die Kinder rufen. Wie immer mit der<br />

Weihnachtsglocke. Sie warten bestimmt schon.“<br />

Folgsam trottete er ins Weihnachtszimmer. Beim Anzünden<br />

der Kerzen zitterten ihm die Finger. Polternd rannten<br />

die Mädchen die Treppe herunter, stürmten herein. Wie<br />

jedes Jahr fing der Glanz des Weihnachtsbaums ihre Augen.


Noch kam kein Schrei, weil der Platz unter dem Baum leer<br />

war.<br />

Mit sanftem Lächeln schaffte Doris es. Seine Bewunderung<br />

wuchs von Minute zu Minute. Sie brachte die Kinder<br />

dazu, sich auf den Teppich zu setzen, dann schlug sie das alte<br />

Buch auf und begann mit langsamer, leiser Stimme zu lesen:<br />

„Es begab sich aber zu der Zeit …“ Und immer wieder legte<br />

sie das Buch zur Seite, griff nach der Gitarre, und dann kam<br />

ein Lied. Die Mädchen lasen die Texte aus den Büchern, die<br />

Doris ihnen reichte. Der Klang der Gitarre und der jungen<br />

Stimmen füllte das Haus. Es brauchte zwei Lieder und drei<br />

Strophen, dann sang er mit. Sie mochten gar nicht aufhören<br />

zu singen, verstohlen hatte er auf die Uhr gesehen, die Minuten<br />

wurden fast zu Stunden. Dann bauten die Mädchen mit<br />

Doris die Krippe auf, den schiefen Stall, die Schafe und Ochsen,<br />

das Heilige Paar, die kleine Krippe mit dem Kind, die<br />

dunklen Hirten und die prächtigen Könige. Ganz leise und<br />

still ersetzte er die heruntergebrannten Kerzen im Baum. Als<br />

sie die Hirten in die Krippe einstellten, begann Doris zu erzählen.<br />

Sie redete von den Straßenkindern in Rio und bei uns<br />

in den Städten, von den Weihnachtsfeiern bei Kaviar und Sekt<br />

in den feinen Wintersportorten.<br />

Es war halb zehn geworden, als die Mädchen zum ersten<br />

Mal nach ihren Geschenken fragten. Da mußte er erzählen.<br />

Hinterher schmausten sie alle beim Fondue. Nicht eine einzige<br />

Träne versalzte die leckeren Soßen.


Eigentlich hatte er mit<br />

der Kirche nichts im Sinn<br />

Eigentlich hatte er mit der Kirche nichts im Sinn. Die reden<br />

zuviel. Er hielt es mehr mit seinen zupackenden Händen.<br />

Wenn er eine zentnerschwere Pleuelstange ausgebaut und eingesetzt<br />

hatte, und wenn die Maschine dann wieder anfing zu<br />

leben, die schweren Teile sich wieder bewegten, dann wußte<br />

er, was er getan hatte. Mit Schönreden ist das nicht gemacht.<br />

Im Konfirmandenunterricht, ja, er hatte das alles hinter sich,<br />

seine Mutter war so eine, die dem Pastor hinterherlief, Kanzelschwalben<br />

nannte er das bei sich, damals in diesen Stunden<br />

im Pfarrhaus sah er lieber den Mädchen auf die Beine,<br />

das war allemal besser als das eintönige Gerede da vorn. Was<br />

hatten die auch schon verändern können, zweitausend Jahre<br />

hatten sie Zeit gehabt. Wenn er so gearbeitet hätte, wäre keine<br />

Schiffsmaschine wieder ins Laufen gekommen. Vom Zuschauen<br />

allein und von guten Worten bewegt sich kein Zylinder<br />

wieder. Nein, er hatte mit diesem ganzen Kram nichts im<br />

Sinn.<br />

Nur eines mußte er ihnen lassen, diese Sache mit Weihnachten,<br />

die machte ihnen keiner nach. Auch wenn er jetzt<br />

mit zitternden Händen die dritte Kerze an seinem Adventskranz<br />

ansteckte, waren es nicht die Tannenbäume mit ihrem


Lametta, die leuchtenden Kinderaugen, die sich in den Weihnachtskugeln<br />

spiegelten, die ihn beeindruckten. Es ging ihm<br />

nicht um Schmalzkekse und Klöben, obwohl so ein saftiger<br />

Gänseschenkel und der mulschige Rotkohl nicht zu verachten<br />

war, aufgewärmt muß er sein und richtig fett, dann schmeckt<br />

er am besten. Nein, das ganze Drumrum konnte ihm gestohlen<br />

bleiben. Er schüttelte seinen Kopf über das Gerenne nach<br />

den Geschenken, über die Weihnachtslieder auf dem Markt,<br />

die armen Verkäuferinnen, was wollten die sich für Musik<br />

anmachen zur Bescherung, denen mußte doch das „White<br />

Christmas“ zu den Ohren rauskommen. Wenn er seinen Enkelkindern<br />

zusah, wie sie das bunte Papier von den Geschenken<br />

rissen, fragte er sich, ob sie wohl noch in seinem Alter wissen<br />

würden, was sie in welchem Jahr geschenkt bekommen hätten.<br />

Er konnte es noch aufzählen. In einem Jahr war es die Angel<br />

gewesen, davor hatte er den Roller bekommen. Er konnte sich<br />

auch an das Schuco-Auto erinnern, das niemals vom Tisch<br />

fiel. An der Tischkante fuhr es einfach eine scharfe Kurve. Im<br />

Laden schien es Zauberei zu sein; als er es in der Hand hatte,<br />

sah er sofort das querlaufende Rad in der Bodenplatte, und<br />

das Geheimnis hatte seinen Reiz verloren.<br />

Seine Gedanken liefen immer wieder zu dem Stall nach<br />

Bethlehem. Das war es, was ihnen niemand nachmachen<br />

konnte. Er hatte Ställe genug gesehen in seinem Leben. Es gibt<br />

sie bei jeder Hafenstadt, wie mit magischer Kraft zogen sie<br />

ihn an seit damals. Damals, das war seine erste Reise gewesen,<br />

zum erstenmal Weihnachten nicht zu Hause. Weihnachten<br />

in Rio, kein Regen, kein Schnee, fünfunddreißig Grad im<br />

Schatten. Das Schiff liegt drei Tage fest und man hat Zeit, Zeit


und Durst. Zu mehreren sind sie durch die Kneipen gezogen,<br />

warmes Bier an der Copa Cabana, weißer Strand und braune<br />

Haut, einer nach dem anderen konnte den nackten Busen<br />

nicht widerstehen.<br />

Zum Schluß waren sie allein, Jochen und er. Jochen war<br />

nicht so einer und er nahm ihn dann mit auf die Berge hinter<br />

der Stadt. Zuerst dachte er, Jochen wolle ihm die Hochhäuser<br />

von oben zeigen. Aber das war es nicht. Aus den Villen und<br />

herrschaftlichen Häusern wurden Bretterbuden. Mühsam<br />

wühlten sich ihre Füße durch den Staub der Wege, es stank<br />

bestialisch. Wie lästige Fliegen umschwärmten sie Wolken<br />

von lärmenden Kindern, nackt, in zerrissenen Kleidern, dünne<br />

Ärmchen und schmutzige Füße. Viel Geschrei und Krach<br />

aus den Hütten. So langsam beschlich ihn ein komisches Gefühl,<br />

halb Angst, halb Ekel. Er schloß seine Hand um die restlichen<br />

Münzen und Scheine in seiner Hosentasche, die ihm<br />

noch geblieben waren.<br />

Dann war da eine Ansammlung an einer der stinkenden<br />

Wegkreuzungen. Viele Kinder und Frauen drängten sich im<br />

Schein einer Lampe. Er wunderte sich noch, wie sich eine<br />

Straßenlaterne in dieses Elend verirrt hatte, aber wie gut das<br />

war, denn den wenigen Männern in der Menge hätte er nicht<br />

im Dunklen begegnen mögen, sie sahen nicht gerade vertrauenswürdig<br />

aus und es war auf einen Schlag Nacht geworden.<br />

Aus der Hütte drang schrilles Schreien. Als ob ein Schwein geschlachtet<br />

wird, dachte er. Jochen machte nicht den <strong>Ein</strong>druck,<br />

als wolle er weitergehen. Mitten in der Menge waren sie stehengeblieben.<br />

Seine Hand krampfte sich noch fester um das<br />

Geld in seiner Tasche. Er traute sich noch nicht einmal, sich


eine Zigarette anzuzünden, denn dazu hätte er seine Hand<br />

aus der Hosentasche nehmen müssen. Jochen blieb eisern stehen.<br />

Aber dann, in all dem Gedränge und Geschiebe, wurden<br />

sie an die Tür der Hütte gespült. Es war eine Hütte aus modrigem<br />

Holz und alten Autoblechen. Der <strong>Ein</strong>gang war niedrig.<br />

Sie mußten sich tief bücken, um in das Halbdunkel des Stalls<br />

zu sehen, nein, Stall, das war noch geprahlt. So lebt kein Tier<br />

bei uns, dachte er noch, und da hörte er schon das leise Wimmern<br />

unter den fremden Lauten des Geredes und Geschreis.<br />

So langsam dämmerte es ihm: hier war ein Kind geboren<br />

worden. Jochen schob ihn durch die niedrige und schiefe Tür.<br />

Noch nie hatte er so viel Blut gesehen, wie auf dem schmutzigen<br />

Lager der erschöpften und schwitzenden Frau. Jochen<br />

sagte nichts, er stieß ihn nur in die Seite und dann kramte er<br />

aus seinen Hemdtaschen alles, was er hatte. Reals und Centavos,<br />

Dollars waren auch dabei, sein Feuerzeug, die Zigaretten,<br />

die Armbanduhr aus seiner Hosentasche. <strong>Alles</strong> das legte er<br />

lächelnd der Frau auf das fleckige Laken. Es blieb ihm nichts<br />

anderes übrig, als er Jochen so auspacken sah, da mußte er<br />

es ihm gleichtun. Auch er leerte seine Taschen. Bei seinem<br />

Taschenmesser mit silbernem Heft zögerte er ein wenig, er<br />

hatte es von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen, weil<br />

er doch nun schon groß sei, es hatte nämlich seinem Vater<br />

gehört. Aber hier war es richtig. Hier gehörte es hin. Es würde<br />

schon einige Real auf dem Markt bringen.<br />

Auf dem Rückweg schwiegen sie beide. Vor ihnen, unten<br />

an der Küste, lag die golden leuchtende Stadt. Als sie so über<br />

die holperigen Wege stolperten, ging es ihm durch den Kopf.<br />

Ja, er hatte etwas gesehen, was all die da unten in dem Glanz


noch nie geschaut hatten. Er hatte Weihnachten gesehen. Die<br />

hatten doch gar keine Ahnung, was diese Sache mit dem Stall<br />

bedeutete. Er kannte die Geschichte von den Eltern, die keinen<br />

Platz für sich und ihr Kind hatten, und ihm war nun klar<br />

geworden, was die Erzähler mit dieser Geschichte hatten sagen<br />

wollen. Das wehrlose Kind in der Armut als König der<br />

Welt — wenn sie das verstünden, dann wäre es der Himmel<br />

auf Erden. Sie beide hier, auf dem staubigen Weg in die Stadt,<br />

mit keinem Centavo in der Tasche, sie waren reich.<br />

So richtig wurde ihm dieser Reichtum erst später bewußt,<br />

als es ihn in jeder Hafenstadt dieser Erde in die Vorstädte trieb.<br />

Er machte kein Wesens drum, er tat es einfach, weil es richtig<br />

war. Er kam, schenkte und ging reicher, als er gekommen war.<br />

Er fühlte sich einfach leichter, wenn er dort gewesen war. Andere<br />

mögen so denken, wenn sie aus der Kirchentür kommen.<br />

Seit diesem Spaziergang in Rio, als sie zu Weihnachten arm wie<br />

Kirchenmäuse wieder an Bord kamen, seit diesem besonderen<br />

Abend, nahm er die Weihnachtslieder wortwörtlich, und immer,<br />

wenn sie vor dem Kind in der Krippe sangen, wenn sie es<br />

König nannten und Herr der Welt, dann wurde ihm komisch.<br />

Man sagt, Seeleute wären fromm, weil sie die Mächte und<br />

Allgewalt der Naturkräfte erlebten. Für ihn war das nicht der<br />

Punkt. Das war mehr eine Sache der Technik, und er war ein<br />

guter Ingenieur. Für ihn waren es diese Vorstädte in den Häfen,<br />

die streunenden Kinder, die Mädchen, die sich verkaufen.<br />

Er war auch nicht eigentlich fromm. Das hätte er immer weit<br />

von sich gewiesen. Es war nur so: er wußte, was falsch lief in<br />

dieser Welt. Sie hätten sich alle bücken sollen und in den Stall<br />

hineingehen, dann wäre es anders gekommen.


Der Stern zieht weiter<br />

Zuerst hatte er auf dem Balkon gestanden und war nichts anderes<br />

als ein Tannenbaum. Seine Zweige waren naß und grün<br />

und bewegten sich im kalten Wind. Mama war begeistert: wie<br />

gerade er gewachsen ist, wie schöne Zweige er hat und was für<br />

eine herrliche Spitze und gar keine braunen Nadeln! Für Kristin<br />

aber war es nur ein Tannenbaum, der da im nassen Wind<br />

in der Balkonecke stand.<br />

Aber dann war er weg, der Tannenbaum, und das Wohnzimmer<br />

war zugeschlossen. Selbst durch das Schlüsselloch<br />

konnte Kristin nichts mehr sehen, Mama hatte da etwas vorgehängt,<br />

gestern abend hatte sie das wohl gemacht, Kristin in<br />

ihrem Bett hörte Kramen und Rascheln, Lachen und Klirren,<br />

als sie nicht einschlafen konnte, weil doch nun bald Weihnachten<br />

ist. Jetzt war es wohl doch schon ein Christbaum, da<br />

im verschlossenen Wohnzimmer, mit Kugeln, Kerzen, glitzernden<br />

Sternen, mit Lametta und Kringeln, und darunter<br />

lagen gewiß schon …<br />

Ob sie da schon lagen, die Geschenke, von denen Kristin<br />

träumte, ein Gameboy vielleicht, vielleicht auch ein Fahrrad<br />

mit 18 Gängen oder die Puppe, die sogar in die Windeln machen<br />

kann? <strong>Ein</strong>es wußte Kristin bestimmt, auch wenn das


Schlüsselloch verhängt war, die Krippe würde wieder da sein<br />

mit dem zierlichen Kind, dem bärtigen Joseph und der Maria<br />

im Goldhaar, über das sich so schön streicheln ließ, weil es<br />

so glänzend seidig und glatt war. Auch der Esel würde dabeistehen<br />

mit echtem Fell, von dem Kristin einmal gesagt hatte,<br />

der sieht aus wie Opa, weil Opa doch auch graue Haare hatte,<br />

und der Ochse, der aber einen Euter hatte, und die Könige<br />

in bestickten Gewändern, die würden wieder zu Füßen des<br />

Christbaums stehen.<br />

Bald, bald, gleich ist es soweit. Gleich klingt die Glocke<br />

und die Tür geht auf. Kristin sah das zierliche Kind in der<br />

Krippe, sah das Licht um seinen Kopf. Aber wo war die Maria<br />

im Goldhaar, wo war der bärtige Joseph, wo waren Ochs und<br />

Esel und auch der Stern?<br />

Die dunklen Hirten waren wohl gegangen, bis auf einen,<br />

der nun bei der Krippe stand und Wache hielt. Natürlich waren<br />

die Hirten gegangen, sie mußten doch die Herden hüten,<br />

den Wolf vertreiben, die Schafe zusammenhalten im Dunkel<br />

der Nacht. Die Hirten konnten nicht stehen und staunen, loben<br />

und beten die Nacht hindurch. In der Ferne heulten unheimlich<br />

die Wölfe, und die Schafe blökten ängstlich. Waren<br />

die Könige auch weitergezogen, nachdem sie ihre Gaben niedergelegt<br />

und das Kind gesehen hatten, lichtumglänzt in seiner<br />

Krippe? Kristin verwunderte sich und wagte zuerst nicht<br />

zu fragen. Der Hirte bei der Krippe sah so finster und fremd<br />

aus, aber dann faßte sie sich ein Herz und sie fragte: „Wo —<br />

wo sind sie denn alle hin? Warum sind sie nicht mehr da?“<br />

Der Hirte schaute Kristin an, und sie sah, daß er ganz gütige<br />

Augen hatte über dem schwarzen Bart. „Weißt du das nicht?“


fragte er, und weil Kristin ihren Kopf schüttelte, erzählte der<br />

Hirte ihr die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte, die Kristin<br />

schon so oft gehört hatte. Die Geschichte war immer damit<br />

zu Ende gewesen, daß die Hirten und die drei heiligen<br />

Könige kamen. Der Hirte aber wußte, wie es weiterging.<br />

„Weißt du, Kristin, der Stern, der Stern über dem Stall, der<br />

ist nicht stehengeblieben. Der hatte nur eine Pause gemacht.<br />

Dann ist er weitergezogen. Die drei heiligen Könige, Maria<br />

und Joseph sahen das, und da packten sie die Gaben, vor allem<br />

das Gold zusammen, beluden den Ochsen und den Esel<br />

und zogen dem Stern hinterher, nur ein wenig ließen sie liegen,<br />

so viel, wie das Kind wohl brauchte. Sie zogen dem Stern<br />

hinterher — und sieh, er blieb stehen über drei Bettlern, die<br />

kein Bett und kein Brot hatten, und Maria und Joseph ließen<br />

etwas Gold in deren Hüte regnen. Der Stern aber zog weiter<br />

und hielt erst vor Kindern wieder an, die vor Hunger weinten.<br />

Auch ihnen sollte geholfen werden mit den Gaben, und dem<br />

Stern hinterher zogen Maria und Joseph weit durch die Welt<br />

und brachten, was sie nicht nötig brauchten, zu den Traurigen<br />

der Erde.“<br />

Jetzt hatte Kristin aber eine Frage: „Die Welt war doch<br />

so riesengroß, reichte denn das, was Ochs und Esel trugen<br />

für alle aus? Oder zogen sie zum Schluß mit leeren Händen<br />

weiter?“ Der Hirte bei dem Kind in der Krippe lachte. „Kristin,<br />

das kennst du doch! Wenn es nicht reicht, dann muß<br />

man teilen. Die Körbe auf Ochs und Esel müssen aufgefüllt<br />

werden, immer wieder aufgefüllt, dann reicht es rund um die<br />

Welt. Der Stern zieht weiter, unentwegt, auffüllen müssen wir,<br />

der Stern zieht weiter …“


Kristin nickte. Diese Geschichte mußte sie Mama erzählen,<br />

gleich noch, vor der Bescherung. Es mußten ja nicht 18 Gänge<br />

an ihrem Fahrrad sein, eigentlich brauchte sie doch nur drei.<br />

Da wäre bestimmt etwas übrig.


Der verwünschte Weihnachtsbaum<br />

Wer durch den Winterwald wandert, kann es spüren. Wenn<br />

auf den Wegen weicher Schnee wie Watte den Ton der Tritte<br />

verschluckt, wenn ein leises Knirschen jeden Schritt verrät,<br />

wenn weiße Pelze das Tannengrün verdecken, an jenen hellen<br />

klaren Tagen träumen die jungen Fichten ihre wunderbarsten<br />

Träume. Manchmal hörst du dann ein schrilles, ein<br />

peitschendes Krachen und Knacken — dann ist so ein junger<br />

Tannenbaum erschrocken aufgewacht.<br />

Wovon träumen die junge Fichten an solchen Wintertagen?<br />

Sie träumen von warmen Weihnachtszimmern, von Kerzenglanz<br />

in Kinderaugen, von Sternen, Kringeln und Lametta.<br />

Denn jede junge Fichte kann das Glück haben, zur Weihnacht<br />

ausgesucht zu werden, um das schönste Geräusch der Welt zu<br />

hören: Kinderlachen.<br />

Da stand auch am Stadtrand gleich neben der Kaserne in<br />

einem kleinen Wäldchen eine junge Fichte. Tag für Tag gingen<br />

die Soldaten an ihr vorüber und sahen sie nicht. Aber auch<br />

die junge Fichte sah bald nicht mehr hin, wenn die Soldaten<br />

kamen; die sind ja wie ich, dachte sie, einer sieht aus wie der<br />

andere, ich kann sie nicht unterscheiden, sie tragen alle ein


grünes Kleid, eins wie das andere, mal naß und mal trocken,<br />

ganz wie das Wetter ist.<br />

<strong>Ein</strong>es Tages aber klang leises Klimpern an ihr Ohr. Es kam<br />

näher und näher, und die junge Fichte neigte sich im Wind<br />

weit über, um besser sehen zu können. Was war das? Da kamen<br />

Männer in grünen Uniformen, aber auf dem eintönigen<br />

Grün glitzerte, glänzte und funkelte es in wahrer Pracht.<br />

„Das sind Generale“, sagte ihre Nachbarin, ein alter Baum, der<br />

schon viel gesehen hatte. „Auf tausend Normale kommt einer<br />

von den Bunten“, sagte die alte Fichte, als ihre junge Schwester<br />

seufzte. „Das ist auch nichts Besonderes.“<br />

Aber die junge Fichte wußte nun, was sie gerne werden wollte:<br />

ein richtiger Generalsweihnachtsbaum, und sie wünschte<br />

sich das mit jeder Faser ihres schlanken Leibes, von den Wurzeln<br />

bis zum Wipfel hatte sie nur diesen Wunsch: ein richtiger<br />

Generalsweihnachtsbaum zu werden, und dieser Traum<br />

verfolgte sie tags und nachts. Darum war sie auch gar nicht<br />

erstaunt, als an einem regnerischen Dezembertag Soldaten<br />

kamen, es waren ganz normale grüne, einer wie der andere,<br />

mit Axt und Säge, und vor ihr stehen blieben. „Den nehmen<br />

wir“, sagte einer von den Männern, der — wenn man ganz genau<br />

hinsah — ein klein wenig Rot auf seiner grünen Uniform<br />

hatte. Mit jedem Schlag der Axt hüpfte das Herz der jungen<br />

Fichte ein wenig höher. „Jetzt werde ich ein Generalsweihnachtsbaum“,<br />

jubelte sie.<br />

Und richtig: die Soldaten trugen sie durch ein großes Tor<br />

in die Kaserne und durch eine vornehme Tür aus feinem<br />

Holz über der stand: Offiziere. In einem großen Saal mit<br />

weißgedeckten Tischen wurde sie aufgestellt. Und viele grüne


Männer eilten heran, um sie zu schmücken für ihren großen<br />

Tag.<br />

Aber was wurde da in ihre Zweige gehängt? Statt Sternen<br />

waren es Raketen; kein Kringel war darunter, nur Kanonen,<br />

für die Kugeln nahmen die Männer Flugzeuge, und Panzer<br />

für die Pracht der roten Äpfel. Laut lachten die grünen Männer<br />

über den Spaß, den sie sich machten. Die junge Fichte war<br />

zufrieden mit der kriegerischen Zier. Sie reckte ihre Zweige<br />

und war glücklich, ein Generalsweihnachtsbaum geworden<br />

zu sein. Sie freute sich aufs große Fest, und das Kinderlachen<br />

klang schon hell in ihren Ohren.<br />

Doch als es soweit war, da lachte gar kein Kind. Es waren<br />

Kinder da, doch standen sie nur stumm um diesen Baum herum<br />

und wollten sich nicht freuen über diesen Weihnachtsbaum,<br />

der so ganz anders war, als sie sich Weihnachtsbäume<br />

wünschten. So fremd erschien er ihnen, daß sie ihn nicht einmal<br />

erkannten als das, was er doch war: ein Weihnachtsbaum.<br />

„Gar keine Kringel“, klagte leise ein Kind, „und keine Kugeln.“<br />

„Nur Kanonen“, murmelte ein anderes, „und Flugzeuge“ flüsterte<br />

ein drittes. „Und Raketen“ raunte da ein viertes. Und<br />

kein Kind lachte.<br />

Da weinte unsere junge Fichte harzige Tränen und verwünschte<br />

sich und ihre Weihnachtswünsche. „Ach käme doch<br />

jemand, der mich verwandeln könnte in einen Kinderweihnachtsbaum<br />

voll Kerzen und voll Kugeln und läge doch Lametta<br />

auf meinen Zweigen und hingen Kringel drin, damit ich<br />

Kinder lachen hören könnte“, klagte die kriegerisch Gezierte.<br />

„Krieg ist doch nichts für Kinder“, hatte sie gelernt, und auch:<br />

„Zu Weihnachten muß Frieden werden“, weinte sie und wartete


mit wehem Herzen auf den, der sie verwandeln könnte in einen<br />

Weihnachtsbaum voll Frieden und Versöhnung, auf den<br />

doch alle Kinder warten in der Welt.<br />

Bist Du bereit, ihr diesen Wunsch auch zu erfüllen?


<strong>Ein</strong> frommer Wunsch<br />

Ihren achtzigsten hatte sie nicht feiern wollen. Immer lag ihr<br />

Geburtstag am Totensonntag oder am Buß- und Bettag, wenn<br />

keiner Lust hatte, fröhlich zu sein. Die Tage so grau, die Nächte<br />

so lang, jeder wartete auf den Beginn der Adventszeit, wenn<br />

es gemütlich wird mit den Kerzen und den würzigen Keksen,<br />

mit Honigkuchen und Aachener Printen. Wenn sie die doch<br />

nur noch beißen könnte … Alle hatten ihr zugeredet, aber sie<br />

wollte nicht feiern. Sie kaufte sich deshalb eine Karte für das<br />

Sinfoniekonzert, die Fünfte, die Schicksalssinfonie, sie ließ<br />

sich von einem Taxi in die Konzerthalle fahren, sie war also<br />

nicht zu Hause, da mußten sie sich fügen. Sie hatte nur einen<br />

Wunsch: Weihnachten, Weihnachten sollten sie einmal wieder<br />

alle zusammensein, nicht am ersten oder zweiten Weihnachtstag,<br />

sondern am Heiligen Abend, ob das nicht einmal<br />

möglich wäre. Sie ginge in ihrem Alter ja doch früh schlafen,<br />

und sie könnten doch gegen sechs alle nach Hause fahren und<br />

ihre eigene Weihnachtsfeier machen. Maulend oder erfreut<br />

waren die Reaktionen. Kinder sind eben verschieden, das waren<br />

sie schon immer, ihre vier. Aber alle sagten denn doch zu.<br />

Die Vorbereitungen fielen ihr nicht mehr leicht mit ihren<br />

Jahren, aber weil sie es wollte, schaffte sie es auch. Es sollte so


sein wie damals, genau so. Um eins sollten alle da sein, dann<br />

gab es heiße Wiener Würstchen mit Salat, mit ihrem Kartoffelsalat,<br />

mit selbstgemachter Mayonnaise und ausgebratenen<br />

Speckstückchen darin. Dann kam das Warten, das Reden<br />

von Weihnachten und den Wünschen, während sie mit<br />

der Ältesten zusammen im Wohnzimmer den Tannenbaum<br />

schmückte. Nur dies war anders: Sie saß im Sessel und ließ<br />

ihre Älteste machen. Die konnte das noch, stieg wie eine Junge<br />

auf den Stuhl und steckte die silberne Spitze mit dem roten<br />

Stein auf die Spitze, als wäre das nichts. Der Weihnachtsbaum<br />

sollte wieder bunt werden, so wie sie es alle am liebsten mochten,<br />

und mit viel Lametta. Von draußen hörten sie die Weihnachtsmusik<br />

aus dem Radio und die Stimmen der anderen,<br />

die mal lauter, mal leiser von ihren häuslichen Weihnachtsvorbereitungen<br />

erzählten. Sie wußte, was sie zu sagen hatten,<br />

sie kannte ihre Kinder. So schloß sie ihre Augen, hörte die da<br />

draußen reden, dachte sich ihr Teil. Nur dann und wann half<br />

sie mit Rat aus, wenn die Älteste sich nicht sicher war, an welchem<br />

Zweig die bunte Kugel oder der silberne Stern am besten<br />

passen würde.<br />

Ihr Jüngster hielt nichts von dem Getue um Weihnachten.<br />

Er gab damit an, Atheist zu sein. Das ist doch alles nur ein<br />

riesiges Geschäft. Seht auf den Buchhandel, die machen 70 %<br />

ihres Umsatzes in der Vorweihnachtszeit! Und dann nach den<br />

Feiertagen, die Sturmwelle des Umtausches in der Stadt. Hier<br />

werden doch Gefühle vermarktet.<br />

Seine ältere Schwester hatte da schon mehr für dieses Fest<br />

übrig. Für sie als Erzieherin in einem Tagesheim war es Hochsaison.<br />

Erst das Laternenbasteln, dann die Räume schmücken,


mit den Kindern die Weihnachtslieder und -gedichte lernen,<br />

dann die Geschenke für die Eltern basteln, jedes Jahr das gleiche,<br />

aber die Kinder müssen es ja irgendwo mitbekommen, in<br />

vielen Familien wird gar nicht mehr richtig gefeiert. Sie fahren<br />

lieber in den Süden oder in die Berge. Nur die Sache mit<br />

der Weihnachtsgeschichte, damit hatte auch sie ihre Probleme.<br />

Wie sollte sie den Kindern erklären, was ein Heiland ist,<br />

sie wüßte es doch selbst gern. Weihnachten mit den Kindern,<br />

das ergab einen Sinn, auch das Feiern einer Geburt, Kinder<br />

sind eben die Zukunft, aber alles andere, das Heilige, damit<br />

konnte sie nichts anfangen.<br />

Für ihren Zweiten war Weihnachten aus einem anderen<br />

Grunde wichtig. Damals, nach seiner Scheidung war er am<br />

Heiligen Abend immer zu ihr gekommen und hatte den ganzen<br />

Abend fast nur geweint, weil er nicht mit seinen Kindern<br />

feiern durfte, die er doch so sehr liebte. Aber dann hatten er<br />

sich mit seiner Frau geeinigt: am zweiten Feiertag durften die<br />

Kinder bei ihm sein, und so hielten sie es noch heute, obwohl<br />

sie schon erwachsen waren. Sie hatten ihm gestanden, daß es<br />

immer sehr schön für sie gewesen sei, zweimal Bescherung zu<br />

haben, und er hatte auch immer die Kerzen an seinem Weihnachtsbaum<br />

erst angezündet, wenn die Kinder bei ihm waren,<br />

und sie wußten das.<br />

Ihre Älteste, die jetzt das Lametta auf den Zweigen verteilte,<br />

weil sie mit den Kringeln fertig war, für sie war Weihnachten<br />

die Gelegenheit, die Welt zu verbessern. Sie wühlte fast<br />

das ganze Jahr über für den Basar zugunsten der schwarzen<br />

Kinder in Südafrika, sie kam schon im November mit den<br />

Postkarten von der Unesco und konnte nicht genug davon


loswerden, und dann brachte sie die Sammeldose von Brot für<br />

die Welt. Weihnachten, sagte sie, das hat doch alles nur einen<br />

Sinn, wenn es besser wird in der Welt. Wir können uns doch<br />

nicht nur egoistisch den Bauch vollschlagen, wenn andere<br />

hungern. Weihnachten muß man sich verdienen, sagte sie.<br />

Anfangs waren die anderen drei nicht einverstanden gewesen,<br />

am Heiligen Abend alle zusammen zur Kirche zu gehen.<br />

Was sollen wir da? Sie waren seit Jahren nicht mehr zu Weihnachten<br />

in der Kirche gewesen. Aber sie hatte darauf bestanden<br />

und die Älteste hatte sie unterstützt. Wer zu Weihnachten<br />

nicht in die Kirche geht, der dürfte eigentlich gar nicht Weihnachten<br />

feiern. So waren sie alle aufgebrochen zur Kirche, als<br />

die Glocken zum erstenmal läuteten. Und wirklich, es wurde<br />

so, wie sie es sich vorgestellt hatte.<br />

Schon der schlichte Lichterbaum neben dem Altar tat das<br />

Seine. Sie blieben wie andächtig in dem Portal stehen und sahen<br />

sein Leuchten. Und dann die feierliche, gedämpfte Orgel,<br />

das wiegende Klingen der alten Lieder, an die sie sich alle erinnern<br />

konnten, sie sah, wie sogar ihr Jüngster die Lippen bewegte.<br />

Die Predigt machte auch nichts kaputt. Die Pastorin<br />

erzählte den Kindern die Geschichte von den Menschen, die<br />

in der Kälte der Nacht sich sehnten nach Wärme und Liebe,<br />

die unter der Macht der römischen Soldaten sich den Frieden<br />

herbeiwünschten, und wie dann alles in dem kleinen Kind<br />

in der Krippe erfüllt wurde: Der Stern brachte das Licht, die<br />

Nähe der Tiere erwärmte den Stall, die rauhen armen Hirten<br />

erfuhren, was für sie Liebevolles geschehen war, die Könige<br />

fielen auf die Knie und legten die Schwerter nieder und brachten<br />

dem armen Kind der Maria ihre Geschenke. Sie sah von


der Seite, wie gebannt ihre eigenen Kinder, diese erwachsenen<br />

Menschen, fasziniert auf die Kinder schauten, die der Geschichte<br />

lauschten. Und dann erschallte brausend und jubelnd<br />

das „Oh du fröhliche“, das sie stehend sangen. Wie von selbst<br />

fanden sich ihre Hände.<br />

Wieder bei ihr daheim gab es einen starken Kaffee und<br />

sie holte die Dosen mit den Schmalzkeksen und den braunen<br />

Kuchen, den Anisplätzchen und den Haferflockenkeksen.<br />

Sonderbar still waren alle. „Irgendwie“, sagte der Jüngste, und<br />

das Wort blieb lange allein in der Stille, dann erst sprach er<br />

weiter, „irgendwie ist da doch etwas dran.“ Sie wußten alle,<br />

was er meinte, er, der Atheist unter ihnen, der aus der Kirche<br />

ausgetreten war. Aber das waren ja auch die beiden anderen.<br />

Und sie waren es, die dem zustimmten. „Ja wirklich“, pflichtete<br />

die Erzieherin ihm bei, „die Menschen müßten sich nur<br />

mehr daran halten. Ich muß immer an die vielen Kinder ohne<br />

Väter denken. Der Joseph hat seine Maria nicht im Stich gelassen.<br />

Und so ein Kind, das ist doch wie eine Hoffnung für<br />

die Welt, wenn es das Richtige lernt und sich engagiert später.“<br />

Das gefiel ihrer Ältesten. „In unserer Gemeinde arbeiten<br />

vier Wehrdienstverweigerer, und bei amnesty international<br />

haben wir eine ganz große Jugendgruppe. Das macht schon<br />

Hoffnung.“ Das konnten die anderen nur bestätigen. Es gibt<br />

viele junge Menschen, die von einer besseren Welt träumen<br />

und auch etwas dafür tun. Das war das Stichwort für ihren<br />

Zweiten. „Weihnachten, das ist wie ein Traum, aber es ist auch<br />

mehr. Wißt ihr damals, nach meiner Scheidung, als die Kinder<br />

noch klein waren, habe ich das ganze Jahr über von einer<br />

heilen Welt geträumt, und das war eben zu Weihnachten,


wenn die Kinder bei mir waren. Und zu Weihnachten war das<br />

plötzlich kein Traum mehr, dann war das Wirklichkeit.“<br />

Als sie sich danach unter den brennenden Kerzen des Weihnachtsbaumes<br />

umarmten, da spürte sie das, was sie sich von<br />

diesem Tag gewünscht hatte: Sie fühlte, wie das Kind in der<br />

Krippe sie alle verwandelt hatte. In zweitausend Jahren war<br />

dieser Zauber nicht erloschen, und sie hatte dazu beitragen<br />

können in ihren achtzig Jahren. So verschieden ihre Kinder<br />

auch waren, in dem Erleben der Weihnacht waren sie sich einig,<br />

und sie alle hatten etwas davon in sich aufgenommen, das<br />

sie weitergegeben hatten und immer weitergeben würden …


Menschen hinter dem Zaun<br />

Opa möchte schlafen, aber er kann nicht schlafen. Bei Katharina<br />

ist das anders. Jeden Abend. Katharina muß ins Bett, aber<br />

sie will nicht schlafen, Sie will lieber aufstehen, mit den Großen<br />

fernsehen oder spielen. Papa sagt:<br />

Bleib im Bett, und wenn du nicht schlafen willst, dann<br />

liegst du einfach im Bett und machst dir schöne Gedanken.<br />

Katharina will sich keine schönen Gedanken machen. Immer,<br />

wenn sie sich schöne Gedanken macht, schläft sie ein.<br />

Opa aber kann nicht schlafen. Die da drüben machen<br />

abends so viel Lärm, die halbe Nacht hindurch. Sie feiern, singen,<br />

lachen, rufen die halbe Nacht hindurch da drüben.<br />

Da drüben durfte Katharina früher nicht spielen, obwohl<br />

da so viele schöne Büsche waren und kinderhohes Gras. Es<br />

gibt eine Menge böse Menschen, sagte Oma, Mitschnacker<br />

und Kinderentführer. Deswegen durfte Katharina da drüben<br />

nicht spielen.<br />

Nun sind die Büsche weg und das Gras auch, das kinderhohe.<br />

Nun stehen da Container. Opa sagt: Blechdosen mit<br />

Fenstern. In diesen Containern leben Menschen. Asylanten,<br />

sagt Opa. Katharina findet das lustig: Menschen in Blechdosen.<br />

Katharina möchte zu gerne einmal in so eine Blechdose


hineinschauen. Aber da ist ein Zaun um die Container, und<br />

hinter dem Zaun sind die Asylanten. Asylanten sind schwarze<br />

und braune Menschen, dachte Katharina lange Zeit, aber nun<br />

sind auch hellere dabei, doch auch die waren zu lange an der<br />

Sonne gewesen, denn sie sind dunkler, brauner als Katharina,<br />

und Opa kann nicht schlafen. Die Asylanten feiern nachts<br />

und machen Lärm. Opa sagt, sie nehmen auch Autos weg.<br />

Opas Auto ist geklaut worden. Aber Katharina weiß, daß die<br />

Asylanten das Auto nicht haben. Hinter dem Zaun hat sie es<br />

nie gesehen, und in eine Blechdose geht es nicht rein. Opa<br />

sagt, man müßte die Blechdosen anzünden, dann wäre wieder<br />

Ruhe. Aber Blechdosen brennen nicht. Katharina weiß das.<br />

Katharina mag die Menschen hinter dem Zaun und schaut<br />

ihnen immer zu, wenn sie bei Opa ist. Katharina hat schon<br />

einmal so ein kleines schwarzes Baby auf dem Arm gehabt.<br />

Da war alles dran, und gelacht hat das Baby mit den braunen<br />

Augen. Katharina kennt auch ein Geheimnis. Die braunen<br />

Babys haben weiße Hände, innen sind die Hände ganz hell.<br />

So ein Schwesterchen möchte Katharina haben, aber Mama<br />

sagt, das geht nicht, weil Papa zu weiß ist.<br />

Was jetzt geschehen ist, hat Katharina gar nicht mitbekommen.<br />

Das muß passiert sein, als Katharina schlief. Mama sagt,<br />

das war so: Katharina stand am Zaun bei den Containern. Das<br />

weiß Katharina auch noch, aber dann weiß sie nichts mehr.<br />

Sie ist über die Straße gelaufen, das Auto war da, Katharina<br />

flog durch die Luft, und nun hat sie ein Bein ganz steif in einem<br />

weißen harten Verband und auf dem Kopf einen weißen<br />

Turban. Das Auto ist weggefahren. Nur die Menschen aus den<br />

Blechdosen waren da. Sie haben den Krankenwagen gerufen


und die Polizei. Sie haben Katharina auf die Seite getragen<br />

und auf eine Decke gelegt.<br />

Wenn Katharina wieder aus dem Krankenhaus kommt,<br />

dann will Opa mit ihr zu den Menschen hinter dem Zaun gehen<br />

und mit ihnen feiern. Das hat er versprochen. Und er sagt<br />

auch gar nicht mehr, daß er nicht schlafen kann. Er sagt, es<br />

gibt solche Menschen und solche. Er sagt, braune Menschen<br />

haben auch ein Herz. Katharina freut sich. Endlich wird sie<br />

einmal so eine Blechdose von innen sehen. Opa sagt, die sollen<br />

Häuser bauen für die Menschen hinter dem Zaun. Aber<br />

Katharina hofft, daß sie gesund wird, bevor die Häuser fertig<br />

sind. Denn sie möchte zu gerne einen Container von innen<br />

sehen. Opa sagt auch, sie sollen den Zaun wegmachen, das<br />

wäre eine Schande. Katharina findet das auch, und wenn sie<br />

ein Schwesterchen bekommt, dann soll es braun sein.


Der verlegte Schlüssel<br />

Die 491 Euro für die lange überfällige Inspektion seines Autos<br />

gaben ihm den Rest. Der Teppichboden für 3000, der ja unbedingt<br />

sein mußte, der alte liegt doch nun schon fünfzehn Jahre<br />

und durchgetreten ist er im Flur und unter dem Eßtisch, lag<br />

ihm auch noch im Magen, die neuen Brillen für die Kinder,<br />

zusammen auch nur 575 Euro — sie können doch nicht mit<br />

Kassengestellen rumlaufen, wenn sie schon einen Sehfehler<br />

haben, dann sollen sie wenigstens gut aussehen, nicht wahr?<br />

Schließlich war der Sommerurlaub in Dänemark auch noch<br />

nicht bezahlt, da fehlten immer noch 1500 Euro, und die vier<br />

Wochen Dänemark lagen schon fünf Monate zurück. Aber<br />

unter vier Wochen ist es doch keine Erholung, nicht wahr?<br />

Die Zahl unter seinem Kontoauszug von der Sparkasse sah<br />

beeindruckend aus, wenn nur nicht der kleine waagerechte<br />

Strich davor wäre …<br />

Aber Geld ist schließlich nicht alles. Wenn alles andere<br />

stimmt, dann kommt es auf das Geld nicht an. Aber das andere<br />

— es stimmte eben auch nicht. Seit der Voigtmann Abteilungsleiter<br />

war, quälte jeder Schritt auf dem Weg ins Büro. Es<br />

war doch reine Schikane, wenn alle stumpfsinnigen Arbeiten<br />

auf seinem Schreibtisch landeten. Eigentlich müßte er doch


jetzt die Schadensabteilung leiten, hatte er sich nicht in den<br />

letzten zwei Jahren reichlich bewährt, hatte keine Überstunde<br />

verweigert, hatte die schwierigsten Fälle zur Zufriedenheit<br />

des Chefs geklärt, sogar die Sache mit dem gestohlenen LKW<br />

und der Regreßklage wegen der versäumten Lieferfristen. Vor<br />

Gericht hätten sie vielleicht schlecht ausgesehen, es war doch<br />

sein Verhandlungsgeschick gewesen, daß sie sich verglichen<br />

hatten. Aber als der Westphal in Frührente ging, da wurde<br />

der Voigtmann Abteilungsleiter. Nur weil er studiert hatte<br />

und mit dem Chef im gleichen Club Tennis spielte. Als ob er<br />

das nicht wüßte … Aber der Voigtmann mit seiner angeberischen<br />

Hornbrille und dem Anzug von Hugo Boss konnte<br />

auch gut Tennis spielen, Kinder hatte er nicht und Freundinnen<br />

wechselte er wie das Hemd.<br />

Wenn wenigstens damit alles in Ordnung wäre, aber selbst<br />

das bekam er nicht auf die Reihe. Immer häufiger hatten sie<br />

Streit miteinander. War es seine Schuld, wenn sie ihre Stellung<br />

verlor, weil die Engländer ihre Firma aufgekauft hatten?<br />

Er war doch nicht der Erfinder der Globalisierung! Und dann<br />

diese ständige Auseinandersetzung um seine Überstunden.<br />

In jedem Kriminalfilm kann man es sehen: die Frauen haben<br />

alle keine Ahnung davon, daß man arbeiten muß, manchmal<br />

auch mehr als nur acht Stunden am Tag, wenn man es zu<br />

etwas bringen will. Er mochte seine Frau, gewiß, aber mußte<br />

sie immer hinter ihm her sein, wenn er einmal zum Kegeln<br />

wollte oder zum Fußball? Er sollte sich mehr um seine<br />

Kinder kümmern, aber er war eben zu müde, um sich nach<br />

zehn Stunden Arbeit auch mit den blödsinnigen Hausaufgaben<br />

seiner Kinder zu beschäftigen. Die Tochter — warum


kapierte sie die Textaufgaben auch nicht! Sie waren doch ganz<br />

einfach …<br />

Darum war der Brief seines Onkels wie ein Wunder gewesen.<br />

Sein Onkel, der mit fünfzig aufhören konnte, zu arbeiten,<br />

weil er genug zusammengerafft hatte, und der seitdem<br />

von seinem Ersparten lebte, und das war genug. Es mußten<br />

Millionen sein. Nun war er achtzig und hatte seinen Besuch<br />

angekündigt. Er wollte mit ihm einmal reden, weil er doch<br />

nun sein Testament machen müßte, in seinem Alter und keine<br />

Kinder … Bisher hatte er gedacht, das gäbe es nur in Romanen:<br />

Erbonkel. Aber Onkel Eduard war sein Onkel, war alt,<br />

unverheiratet und kinderlos und wollte sein Testament machen.<br />

Nach einem Gespräch mit ihm, seinem Neffen. Sonntag<br />

morgen. Um zehn. Schließlich brauche ein alter Mann nicht<br />

mehr so viel Schlaf.<br />

Nun gut, an ihm sollte es nicht liegen. Das wäre die Lösung<br />

all seiner Probleme … Er benötigte viel Überredungskunst,<br />

um seine Familie für dieses Wochenende bei Schwiegereltern<br />

einzuquartieren. Quarkende und streitende Kinder am<br />

Sonntagmorgen, das wäre für einen alten Mann bestimmt zu<br />

nervig. Und darauf konnte er wetten: es würde Streit geben<br />

und Gemecker, denn der Fernseher stand im Wohnzimmer<br />

und sie sahen doch immer das Kinderprogramm am Sonntagmorgen,<br />

und schließlich konnte er einen Erbonkel nicht in der<br />

Küche empfangen. Aber dann waren sie gefahren, er winkte<br />

ihnen zu, schloß die Wohnungstür ab und machte sich einen<br />

schönen Abend mit Bundesligafußball und Flaschenbier, mit<br />

einem Video voller Action. Den Film sah er zweimal, so großartig<br />

waren die Stunts.


Er wurde erst vom Klingeln wach. Das war nicht der Wecker,<br />

wie ihm so langsam bewußt wurde, das war die Haustür. Onkel<br />

Eduard! Blitzartig fiel es ihm ein. Scheibenkleister … Das<br />

war noch immer ein besserer Fluch, als bei jeder Gelegenheit<br />

das andere zu sagen, brachte er immer wieder seinen Kindern<br />

bei, die mit den Wörtern aus der Hose sehr freigiebig waren.<br />

Füße aus dem Bett, die Hausschuhe, wo ist denn der andere, es<br />

klingelt, natürlich unter dem Bett, schnell den Morgenmantel,<br />

wieder das Klingeln, einen Blick in den Spiegel, mit der Hand<br />

über das Haar, wieder das Klingeln, über den langen Flur zur<br />

Tür, Riegel zurück — aber was ist das? Die Tür ist abgeschlossen.<br />

Ja richtig, er hatte gestern selbst abgeschlossen. Es klingelt.<br />

Fordernder, stürmischer diesmal. Wo ist denn nur der<br />

Schlüssel, sonst läßt er ihn doch immer stecken. Diesmal eben<br />

nicht. Wo ist der verflixte Schlüssel!? Wo hat er ihn gelassen?<br />

Wieder das Klingeln. So endgültig diesmal. Auf dem Tisch in<br />

der Küche. Mein Gott sieht das hier aus! Er hätte noch abwaschen<br />

sollen, und draußen klingelt der Erbonkel. Hier ist der<br />

Schlüssel auch nicht. Im Wohnzimmer, auf dem Couchtisch.<br />

Natürlich! Zwischen all den leeren Bierflaschen und dem vollen<br />

Aschenbecher muß er liegen. Warum hat er nur nicht aufgeräumt,<br />

bevor er schlafen ging? Hier kann er doch keinen<br />

Erbonkel reinlassen! Aber erst einmal den Schlüssel finden.<br />

Wo hat er ihn nur gelassen gestern? Er hatte immer nur an<br />

das Erbe gedacht und an den freien Abend. Es klingelt wieder.<br />

Etwas verloren klingt es jetzt. Ja richtig, in seiner Anzughose,<br />

die er gestern anhatte, da wird der Schlüssel sein. Die Hose<br />

liegt hinter dem Sessel. Und seinen Kindern macht er immer<br />

Vorwürfe, wenn sie ihr Zeug nicht ordentlich weglegen, und


die schmutzigen Unterhosen auf dem Fußboden im Kinderzimmer.<br />

Es klingelt. Ziemlich abschließend schrillt die Klingel<br />

an der Haustür. Da, wie konnte es auch anders ein, in seiner<br />

Hosentasche, das Schlüsselbund. Zur Tür, mit zittrigen,<br />

hastigen Fingern den Schlüssel ins Schloß, umdrehen, die Tür<br />

aufreißen — da ist gar keiner. Das Treppenhaus ist eine gähnende<br />

Leere. Nicht einmal das Treppenhauslicht brennt. Nur<br />

ein etwas feuchter, muffiger Geruch steigt ihm in die Nase.<br />

Altbau eben. Kein Besuch. Kein Erbonkel.<br />

Schweißgebadet wacht er auf. Es braucht einige Zeit bevor<br />

er seine Augen aufbekommt und sich klarmachen kann,<br />

was geschehen ist. Das war ein Traum. Und sein Pyjama ist<br />

naß von Schweiß. Kalt klebt der Stoff auf seiner Haut. Er hat<br />

geträumt. In seinem Alter und solche Alpträume! Traumdeuter<br />

müßte man sein. Wie ist er nur auf einen solchen Traum<br />

gekommen. So nach und nach fällt es ihm ein. Das hatte mit<br />

dem Blumenladen zu tun, an dem er jeden Morgen vorbeikam<br />

auf dem Weg zur U-Bahn. Da waren ihm die Kränze aufgefallen.<br />

<strong>Ein</strong> Wort mit vier „tz“: Atzventzkrantzkertze. Außer<br />

diesem Kalauer, der ihm sofort einfiel, hatte er sich über den<br />

Preis gewundert: 25 Euro für einen Kranz mit vier roten Kerzen<br />

und einem roten Band. War es das wert? Und dann hatte<br />

er die ganze Fahrt mit der Bahn daran gedacht: warum das<br />

alle machen, diese Sache mit einer Kerze nach der anderen.<br />

Er konnte die Leute nicht leiden, die alle Kerzen gleichmäßig<br />

herunterbrennen und es nicht abwarten können: erst die<br />

eine, dann die zweite, dann die dritte, wie es sich gehört …<br />

Dieses Warten — worauf eigentlich warten sie alle? Auf Geschenke?<br />

Die Kinder bestimmt. Das ist ihr gutes Recht. Aber


die Erwachsenen? Auf die schönen Tage? Auf Frieden? Auf<br />

Glück? Auf Gerechtigkeit? Auf Vergebung? Auf dieses Kind,<br />

das da geboren wurde vor zweitausend Jahren? Daß es auch<br />

zu ihnen käme und all das mitbrächte, Frieden, Glück, Gerechtigkeit,<br />

Liebe? Viele bereiten sich in diesen Wochen vor.<br />

Wie auf einen hohen Besuch. Sie putzen, schmücken, räumen.<br />

Manche machen sich lustig darüber. Aber ist es nicht wie ein<br />

Besuch? Wenn Maria und Joseph an die Tür klopfen, dann<br />

sollten sie ins Haus kommen können und nicht nur Platz im<br />

Stall finden. Er erinnerte sich an die Krippenspiele seiner<br />

Kindheit. Und dann war er bei dem Gedanken gelandet, ob<br />

er sich denn auch auf Weihnachten vorbereiten würde, nicht<br />

nur mit dem Geschenke kaufen, sondern auch anders. Aber<br />

wie … Welchen Besuch erwartete er und wie bereitete er sich<br />

darauf vor?<br />

Das mußte der Ursprung seines Traumes vom verlegten<br />

Schlüssel sein. Er hatte gar keinen Erbonkel. Nur die Inspektion<br />

für 491 Euro, die war echt. Und die Sache mit dem verlegten<br />

Schlüssel — war sie auch echt? Vielleicht sollte er darüber<br />

mal still werden. Er hatte schon lange nicht mehr die Hände<br />

gefaltet.


Die Menschen in Dosen<br />

oder<br />

Wir haben den Stall gefunden<br />

Nun fehlten doch noch Kugeln am Tannenbaum. Das kam<br />

aber nur, weil Papa sich auf die ganze Schachtel draufgesetzt<br />

hatte. Papa blieb heil. Die Kugeln nicht. Das waren gerade die<br />

schönsten, sagte Mama, die mit den weißen Sternen überall.<br />

Heute morgen sagte sie: Ihr müßt noch einmal los, in die<br />

Osterstraße. Vielleicht hat Budni noch welche. Aber wieder<br />

so große. Tommy war es recht. Erstens geht die Zeit schneller<br />

mit Papa in der Osterstraße, zweitens kauft er vielleicht noch<br />

etwas Süßes, und drittens muß ein Weihnachtsbaum ganz<br />

viele Kugeln haben.<br />

Weil das Wohnzimmer doch schon zugeschlossen war,<br />

und weil er Mama immer zwischen den Beinen herumlief und<br />

Mama sagte: Wenn ihr nicht gleich verschwindet, hat Budni<br />

zu, und wir kommen nicht rechtzeitig in die Kirche, und ohne<br />

Kirche feiere ich kein Weihnachten; weil es auch langweilig<br />

war mit all seinen alten Sachen ohne den Zoo von Playmobil,<br />

den er sich wünschte, zogen sie sich an und gingen los.<br />

Zuerst fiel ihm der fremde Junge gar nicht auf. Es war nur<br />

ein Junge im Gedränge der Großen in den engen Gängen zwischen<br />

den Regalen. Aber dann sah er, wie eine Babyflasche<br />

unter dem Pullover verschwand. <strong>Ein</strong> Junge, der eine Nuckel-


flasche klaut, das war schon etwas Besonderes. Nun nahm<br />

er auch noch Lätzchen aus dem Regal und einen einzelnen<br />

Schnuller. Blitzschnell verschwand beides in dem Halsloch<br />

seines grauen Pullovers. Vor den Fächern mit der Babynahrung<br />

wurde der dünne Junge ganz dick. Wenn er sich bewegte,<br />

klapperte es leise. Die Großen achteten nicht auf ihn. Sie<br />

schubsten ihn nur, weil sie durchwollten.<br />

Tommy sah sich ängstlich um. Der fremde Junge klaute,<br />

und er hatte Angst. Heute ist Weihnachten, und der Junge<br />

klaut. Der kriegt bestimmt nichts zu Weihnachten, der war<br />

nicht brav. Papa wollte zuerst nichts wissen von dem Jungen.<br />

Er hatte seine großen Kugeln gefunden, nur waren sie rot<br />

diesmal, aber er dachte, das macht nichts, das ist auch einmal<br />

schön, und die anderen waren ausverkauft. Dann aber, nachdem<br />

sie durch die Kasse waren — es gab nichts Süßes, heute<br />

ist Heiligabend, heute abend gibt es vielleicht einen bunten<br />

Teller, nur rauchen darf Papa schon heute morgen — da beugte<br />

sich Papa herunter zu ihm. Du, Papa, der Junge da drin, der<br />

klaut. Welcher Junge? Na, der da drin. Gleich kommt er raus.<br />

Schnell erzählte Tommy, was er gesehen hatte.<br />

Schon kam der Junge heraus. Er drängelte sich einfach an<br />

den Großen vorbei, die vor der Kasse standen. Niemand beachtete<br />

ihn. Wer kümmert sich schon um Kinder am Heiligabend.<br />

Sie achteten auf die Waren und das Geld. Wir gehen<br />

ihm nach, Papa, bitte!<br />

Papa wollte auch noch nicht nach Hause. Da war es ihm<br />

zu unruhig. Er sollte noch den Keller aufräumen, weil Mama<br />

sonst gar nicht an die Geschenke herankäme. Keller aufräumen<br />

war für Papa wie Gemüse essen für Tommy. Es gab immer


Streit deshalb. Der fremde Junge ging schnell. Sie konnten sogar<br />

die Gläser klappern hören unter seinem Pullover. Er sah<br />

sich nicht um.<br />

Der Junge ging in das Geviert des Maschendrahtzauns,<br />

wo die Menschen in Dosen wohnen, wie Opa sagte. Er verschwand<br />

in der dritten Dose. Tommy wußte, daß das keine<br />

Dosen, sondern Container waren für Menschen, die hier wohnen,<br />

weil bei ihnen Zuhause Krieg ist oder nichts zu essen.<br />

Papa sah ihn an. Wollen wir? Atemlos nickte Tommy. Sie<br />

gingen hinein und klopften an der Tür. Irgend etwas Fremdes<br />

wurde darinnen gesagt, und die Tür ging auf. <strong>Ein</strong> großer<br />

Mann mit schwarzem Bart sah sie fragend an, lachte und<br />

machte die Tür frei. Mit einer Handbewegung lud er sie ein.<br />

Am Tisch vor dem Fenster saß Maria. Sie hatte wirklich<br />

ein blaues Kleid an und ein Kopftuch. Nur das Baby leuchtete<br />

gar nicht um den Kopf. Es lag in ihrem Arm und sabberte.<br />

Tommy fand ja, daß alle kleinen Babys sabbern und schreien.<br />

Warum denn nicht auch das Jesuskind. Nur schrie es nicht,<br />

sondern blubberte zufrieden. Der fremde Junge war auch da.<br />

Er saß auf einem Etagenbett und packte seinen Pullover aus.<br />

Er grinste sie beide an. „Meine Schwester“, sagte er. „Ausgewiesen.<br />

Sollen zurück. Verstecken sich jetzt. Wollen nicht nach<br />

Kroatien. Krieg und böse Leute. Sehr böse Leute. Gefängnis.<br />

Keine Wohnung. Nur Lager. Ihr seid auch im Laden gewesen?<br />

Seid mir nachgegangen?“<br />

Papa nickte. Tommy nickte. Aber der Junge wurde nicht<br />

rot. Er sagte nur: „Heute ist Weihnachten.“ Er sagte es so, daß<br />

es wie eine Forderung klang, so etwa wie: Laßt mich in Ruhe!<br />

Papa sagte nichts. Er nahm nur sein Portemonnaie heraus


und fingerte drei Scheine hervor. „Eben“, sagte er dann, „deshalb<br />

ja.“<br />

Sie haben noch Tee getrunken im Container, und Mama<br />

hat sich sehr gewundert, daß es bei Budni so voll war. Aber am<br />

Heiligen Abend haben viele etwas vergessen. Die Geschenke<br />

hatte sie schon selbst aus dem Keller geholt. Doch das Schlüsselloch<br />

der Wohnstube war von innen verhängt.<br />

Als sie in der Kirche waren, war Tommy das einzige Kind,<br />

das genau wußte, wo der Stall des Jesuskindes stand. Er und<br />

sein Papa, sie hatten ihn gefunden, bestimmt, er war da, wo<br />

die Menschen in Dosen leben, wie Opa sagt, und sie hatten<br />

auch Maria und Joseph gesehen. Und die Hirten, sie sahen<br />

aus wie er und Papa und wie ein fremder Junge, der bei Budni<br />

klaut … So war es und nicht anders. Ehrlich.


Die schlimme Geschichte von Weihnachten<br />

Mama putzt und putzt. Seit Tagen putzt sie die Fenster, die<br />

Schränke, den Fußboden und die Lampen. <strong>Alles</strong> was ihr unter<br />

die Finger kommt, putzt sie, im Vorbeigehen sogar des kleinen<br />

Jakobs Nase. Damit das Christkind kommen kann, sagt sie.<br />

Mama kocht und backt und kocht und backt. Seit Tagen<br />

kocht und backt sie, Kuchen und Stollen, Kekse, Braten und<br />

Pudding. Sogar eine tote Gans und ein Karpfen kommen in<br />

die Tiefkühltruhe. <strong>Alles</strong> für die Feiertage, sagt sie.<br />

Tina schreibt und schreibt. Seit Tagen schreibt Tina auf,<br />

was sie sich zu Weihnachten wünscht. <strong>Ein</strong>e Baby-Born-Puppe,<br />

einen Discman, Schlittschuhe, mehr Möbel für das Puppenhaus,<br />

einen richtigen kleinen Herd, damit sie ihren Puppen<br />

Milchsuppe kochen kann, ein rotes Fahrrad mit ganz dicken<br />

Reifen, einen Schirm, und … und … Ihr Wunschzettel ist<br />

meterlang. Die Finger tun ihr weh vom vielen Schreiben. Nur<br />

wenn sie eine Schüssel auslecken darf von Mamas Backen,<br />

macht sie eine Pause.<br />

Papa hat auch keine Zeit. Er bastelt und flucht. Die Lichterkette<br />

für den Christbaum funktioniert nicht. Dreimal hat<br />

es schon geblitzt, aber die Lämpchen wollen nicht leuchten.<br />

Aber Papa kann auch schlecht basteln mit einer Hand. Die


andere steckt in einem weißen Verband. Papa hat sich in den<br />

Finger gesägt, als er den Christbaum holte. Gestern war das.<br />

Und bald ist Weihnachten.<br />

Sechsmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag<br />

…<br />

Aber Tina kommt aus der Schule und will von Weihnachten<br />

nichts mehr wissen. Sie will keine Kekse, keinen Adventskranz<br />

und keinen Tannenbaum mit Kerzen, Kugeln und Lametta.<br />

Sie will noch nicht einmal Geschenke. Ihre Lehrerin<br />

hat es erzählt, in Wirklichkeit war alles ganz anders. Und<br />

das — das kann man nicht feiern.<br />

Mama hört auf zu putzen, setzt sich an den Küchentisch<br />

und läßt sich die schlimme Geschichte erzählen. Es war einmal,<br />

und Tina weiß sogar wann, nämlich vor 2000 Jahren, ein<br />

Kaiser, und der hieß August. Der wollte immer mehr Geld<br />

von den Leuten in seinem Reich und zwang sie alle, in die<br />

Stadt zu wandern, in der sie geboren waren. Dort sollten sie in<br />

lange Listen eingeschrieben werden. Und es war ein Zimmermann,<br />

der hieß Joseph, und er mußte wie alle anderen sich auf<br />

die weite Reise machen. Das war noch nicht schlimm, Zimmerleute<br />

müssen oft weit reisen, um Arbeit zu finden. Aber<br />

der Joseph hatte eine Frau, und die sollte ein Kind bekommen.<br />

Ihr Bauch war schon ganz dick, und die Geburt sollte schon<br />

bald sein. Maria, so hieß sie, konnte kaum noch laufen, ihre<br />

Füße waren geschwollen und sie war müde. Aber sie mußten<br />

nach Nazareth. Als Maria keinen Schritt mehr machen konnte,<br />

sahen sie in der Ferne das Licht in den Häusern der Stadt.<br />

Joseph stützte seine Frau, und sie klopften an die Tür des ersten<br />

Hotels. Aber der Wirt schickte sie weg. Alle Zimmer sind


elegt, sagte er. Maria schleppte sich mit Josef zum nächsten<br />

Gasthaus. Aber der Wirt ließ sie auch nicht rein, das Haus sei<br />

voll, sagte er. So gingen die beiden Müden von Tür zu Tür,<br />

und niemand gab ihnen ein Bett für die Nacht. In jedem Haus<br />

jagte man sie davon. Als Maria schon weinte und Joseph wütend<br />

die Lippen zusammenkniff, da klopften sie an das schäbigste<br />

Gasthaus am Stadtrand. Auch dieser Wirt wollte sie davonjagen,<br />

aber als Joseph auf den dicken Bauch seiner Maria<br />

zeigte, da hatte der Wirt ein Herz und ließ sie in den Stall.<br />

Unter dem löcherigen Dach zwischen Ochsen und Eseln, im<br />

pieksigen Stroh bekam Maria noch in dieser Nacht ihr Kind.<br />

Und weil sie kein Bett für das Baby hatte, legten sie es in eine<br />

Futterkrippe. So war das zu Weihnachten, und so böse Wirtsleute<br />

kann man doch nicht feiern, sagt Tina.<br />

Mama hört ihrer Tochter ganz gespannt zu. Das ist aber<br />

nicht die ganze Geschichte, sagt sie und streicht Tina über den<br />

Kopf. Erstaunt schaut Tina ihre Mama an. Jetzt muß Mama<br />

erzählen. Weißt du, Tina, vor der Stadt waren in dieser Nacht<br />

wieder Hirten, die waren arm, und niemand wollte mit ihnen<br />

zu tun haben, weil sie nur die Schafe hüteten. Diese finsteren<br />

Gestalten hatten von dem Kind im Stall gehört, und stell dir<br />

vor, sie rannten in die Stadt zu diesem alten Gasthaus, liefen<br />

in den Stall, und als sie das kleine Kind in dem Futtertrog<br />

liegen sahen, da wurden sie ganz still, einige fielen sogar auf<br />

die Knie, so sehr bewunderten sie das Kind. Es war der älteste<br />

der Hirten, der zu Maria sagte: Dein Kind, liebe Frau, dein<br />

armes Kind wird einmal der König aller armen Leute sein, ein<br />

König, der sie reich macht. Maria wollte das gar nicht glauben,<br />

aber dann geschah noch etwas Sonderbares: Knarrend


und quietschend ging die Stalltür auf, und drei Männer in<br />

prächtigen Kleidern stolperten in den Stall. Kaum sahen sie<br />

das Kind in der Krippe, breiteten sie Teppiche aus und legten<br />

kostbare Geschenke für das Kind darauf. Dann fielen auch<br />

sie auf ihre Knie und riefen: du sollst auch unser König sein,<br />

ein König, der uns allen endlich Frieden bringt. Und dann<br />

zeigten sie Maria und Joseph einen hellen Stern am Himmel,<br />

der in der Dunkelheit funkelte. Dieser Stern hat uns hierher<br />

geführt, sagten sie, das ist der Königstern. Meinst du nicht,<br />

Tina, das wäre doch ein Grund zum Feiern?<br />

Tina dachte nach. <strong>Ein</strong>en König, der arme Leute reich<br />

macht, das gefiel ihr. <strong>Ein</strong> König, der für den Frieden ist, auch.<br />

Das konnte man wirklich feiern, feiern mit Tannenbaum und<br />

Kerzen und mit Geschenken für Kinder.


<strong>Ein</strong> kleines schwarzes Mädchen<br />

Mama hat den Karton aus dem Keller geholt, den Karton mit<br />

dem Bild vom Fernseher drauf. Aber da ist kein Fernseher<br />

drin, Tina weiß das. In diesem Karton ist die Weihnachtskrippe,<br />

und niemand darf sie aufbauen, nur Tina darf das.<br />

Vorsichtig öffnet sie die Kiste. Da ist der Stall, sie erkennt ihn<br />

gleich wieder, aber der kommt noch nicht. Zuerst sucht sie die<br />

Maria und den Joseph. Da sind sie. Tina spielt.<br />

„Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Meine Maria ist ganz<br />

müde und kriegt ein Kind!“<br />

„Nein, haut ab, wir haben keinen Platz für euch!“<br />

„Habt ihr nicht eine Wohnung für uns? Maria ist müde und<br />

kriegt ein Kind!“<br />

„Ach was, geht weiter, wir haben nichts für euch!“<br />

„Mußt nicht traurig sein, Maria, wir versuchen es da drüben<br />

noch einmal.“<br />

„Haben sie nicht ein Bett für Maria, sie kann nicht mehr!“<br />

„Haut ab hier, wir geben nichts!“<br />

„Aber sie muß doch ein Kind kriegen in dieser Nacht!“<br />

„Na gut, dann geht in den Stall. Da im Mist könnt ihr schlafen!“<br />

Tina nimmt nun den Stall. Sie stellt die Tiere hinein, die<br />

Ochsen, Schafe und Esel. Maria und Joseph kommen auch in


den Stall. Dann holt Tina die Krippe aus dem Karton. Und<br />

das Jesuskind. Tina sieht das kleine Kind an. Irgendwie gefällt<br />

ihr das nicht.<br />

Schnell läuft sie ins Kinderzimmer und holt ihren Malkasten.<br />

Sie malt das Jesuskind schwarz an, und dann holt sie<br />

noch ein buntes Tuch und macht ein Kleid daraus. Nun ist es<br />

richtig. Sie legt das schwarze Mädchen in die Krippe.<br />

Mama brüllt. Sie schimpft. Auch wenn bald Weihnachten<br />

ist, schimpft sie. „Tina, was hast du nur gemacht! Du kannst<br />

doch nicht einfach das Jesuskind anmalen, ganz verhunzt hast<br />

du die Krippe!“<br />

Aber Tina findet das gar nicht. Als Mama Luft holt und<br />

das Jesuskind in ihren Fingern hin und her dreht, kann Tina<br />

etwas sagen. „Das Jesuskind ist doch arm, oder?“<br />

„Ja, sicher“, sagt Mama.<br />

„Das Jesuskind hat doch keine Wohnung, oder?“<br />

„Ja, sicher“, sagt Mama.<br />

„Dann ist es auch schwarz und ein Mädchen!“ sagt Tina.<br />

Und sie erinnert Mama an neulich abend. Da war Tina mal<br />

wieder nicht früh ins Bett gegangen, sondern noch auf, als sie<br />

die Nachrichten im Fernsehen zeigten. Und da waren lauter<br />

kleine schwarze Kinder unterwegs, alle barfuß, und die Mädchen<br />

in den bunten Kleidern trugen Bündel auf dem Kopf,<br />

und Mama hatte es Tina erklärt: „Das sind Kinder in Afrika,<br />

die fliehen vor den Soldaten. Sie haben kein Zuhause mehr<br />

und nichts zu essen. Niemand will sie haben, diese Kinder.“<br />

Mama weiß nun, warum das Jesuskind schwarz sein muß.<br />

Sie schimpft nicht mehr. Aber Oma, Onkel Theo und Mamas<br />

Freundin, die Renate, die wundern sich alle über das schwarze


Jesuskind im Mädchenkleid, und Tina muß es immer wieder<br />

erklären, sie hat schon gar keine Lust mehr. Aber Jesus war<br />

arm und hatte keine Wohnung, und zu Weihnachten feiern<br />

die Menschen seine Geburt, damit so etwas nicht wieder<br />

vorkommt: Kleine schwarze Mädchen, die vor den Soldaten<br />

fliehen, kein Zuhause mehr haben und hungern müssen. So<br />

etwas soll es nie wieder geben, darum feiern wir Weihnachten,<br />

sagt Mama. Und Mama hat recht, auch wenn sie nicht wußte,<br />

warum das Jesuskind ein schwarzes Mädchen ist.


Kein Ersatz für Weihnachten<br />

Abends, wenn kein Kind mehr Durst hat und keines mehr<br />

Hunger, abends, wenn kein Kind mehr eine Zipfelpuppe zum<br />

<strong>Ein</strong>schlafen sucht und unbedingt etwas erzählen muß, etwas<br />

ganz wichtiges, abends also, wenn die erwachsenen beieinandersitzen<br />

und sich unterhalten — was reden die nur immer! —<br />

dann wird es plötzlich ganz still … und alle lauschen auf das<br />

Tapptapp von kleinen nackten Füßen auf dem Flur: da ist er<br />

wieder, Tommy, der traurige Tommy, Tommy, der schlecht geträumt<br />

hat und aus dessen Augen leise Tränen laufen. Ja, da<br />

kann ich ihn nur in den Arm nehmen, da muß ich seine Tränen<br />

trocknen und ihn trösten. Gegen schlechte Träume hilft<br />

nur eines, und das ist Liebhaben.<br />

Neulich habe ich schlecht geträumt. Aber wohin soll man<br />

gehen, wenn man so groß ist wie ich, um sich trösten zu lassen?<br />

Auch große Leute brauchen das Liebhaben, wenn sie<br />

schlecht träumen. Ich will euch meinen Traum erzählen.<br />

Es war kurz vor Weihnachten. Wenn Weihnachten näher<br />

kommt, kann man es riechen. Es riecht nach — Zimt und<br />

Nelken, nach Marzipan, nach glimmendem Kerzendocht<br />

und — ja, und nach Harz und Tannen. Zu gern tue ich das, ich<br />

breche ein kleines Zweiglein ab und halte es über die Flamme,


ganz vorsichtig, damit nichts herunterfällt, ich sehe die Nadeln<br />

aufflackern, ich höre das Knistern und Knacken, und ich<br />

rieche Weihnachten. Aber dieses Mal war gar nichts zu riechen.<br />

Weihnachten war ganz nahe — und ich roch gar nichts.<br />

Ich hatte wirklich nicht einen einzigen Tannenzweig im Haus.<br />

Wo ich auch hinsah, wo ich auch suchte — kein Tannengrün,<br />

in der ganzen Wohnung nicht. Nun hast du alles vorbereitet,<br />

du hast schon alle Geschenke besorgt, der Nikolaus kann<br />

kommen, die Kekse sind gebacken, der Stollen angeschnitten,<br />

und keine Tanne ist im ganzen Haus!<br />

Ich lief hinaus, nur schnell, schnell, den Adventskranz und<br />

den Tannenbaum kaufen, damit Weihnachten werden kann.<br />

Ich rannte durch die Straßen, über Kreuzungen und Plätze.<br />

Es war furchtbar. Ich sah nur Steine, Asphalt und Beton. Kein<br />

Grashalm wuchs zwischen den Steinen, kein Baum behauptete<br />

sich, kein Gebüsch säumte die Straßen. Kalt und tot erstarrten<br />

Steine, Asphalt und Beton. Ich brauche Tannengrün<br />

für Weihnachten! Ich brauche einen Christbaum, ich brauche<br />

einen Adventskranz! Ich hastete weiter.<br />

Endlich! Da standen die Leute dichtgedrängt. Und zwischen<br />

den dicken Mänteln und unter dem Dach der Regenschirme,<br />

da und da, da schimmerte es grün. Da gab es Tannen!<br />

Grün und dauerhaft, platzsparend zusammenklappbar,<br />

alle Jahre wieder der gleiche Baum, fast wie echt! <strong>Ein</strong> Tannenbaum<br />

aus Plastik! <strong>Ein</strong> Plastikweihnachtsbaum! Immergrün<br />

und unverwüstlich! Was sollte ich denn machen? Ich<br />

nahm ihn mit, den Plastikweihnachtsbaum. Ich trug ihn nach<br />

Hause und stellte ihn auf. Wirklich, er sah aus wie ein echter<br />

Baum. Wenn ich die Augen ein wenig zusammenkniff, sah ich


keinen Unterschied mehr. Wie ein echter Christbaum sah er<br />

aus, mit seinen Kringeln und Kugeln, der Plastikweihnachtsbaum.<br />

Außerdem würde ich nun nie wieder Tannennadeln<br />

aufsaugen müssen. <strong>Ein</strong> Plastikbaum nadelt nicht.<br />

Und dann feierten wir Weihnachten, Weihnachten mit<br />

Keksen und Geschenken, mit Kerzenschein und Karpfenessen.<br />

Ich nahm mir einen Keks vom bunten Teller und biß hinein —<br />

und schrie auf: der Keks war aus Plastik! Ich griff zur Tasse,<br />

um einen Schluck zu nehmen vom Weihnachtskaffee: es ging<br />

nicht. Es war Plastik in der Tasse. Da fing auch Tommy an<br />

zu weinen. Der Schokoladenkringel, in den er beißen wollte:<br />

er war aus Plastik. Ich nahm Tommy in den Arm, um ihn zu<br />

trösten. Tommy war ganz leicht und steif: Tommy war aus<br />

Plastik. <strong>Alles</strong>, was ich anfaßte, wurde zu Plastik. Erschrocken<br />

wachte ich auf.<br />

<strong>Ein</strong> furchtbarer Traum! Ich bin dann zu Tommy gegangen.<br />

Zum Liebhaben und Tröstenlassen. Tommy atmete ruhig und<br />

schlief warm und fest. Pst. Er träumt von Weihnachten. Von<br />

einem Weihnachten mit Liebhaben und <strong>Ein</strong>ander-Gut-Sein.<br />

Tommy weiß, daß es keine Plastikliebe gibt und kein Plastikweihnachten.<br />

Tommy weiß: Weihnachten wächst aus dem<br />

Herzen, aus seinem Herzen, heiß und froh aus unseren Herzen.<br />

Ihr könnt es selbst spüren, wenn ihr den Duft von Harz<br />

und Tannen riecht, und in euch die Freude wächst, euch heiß<br />

durchströmt, die Freude auf Weihnachten, die Freude auf Liebe<br />

und Geschenke. Wenn ihr das in euch fühlt, dann wißt ihr<br />

genau: Weihnachten ist der schöne Traum der Menschen von<br />

Liebe, und dafür gibt es keinen Ersatz.


Lucies Wahrheit<br />

Zu 1. Korinther 2, 1 <strong>–</strong> 10<br />

Erinnerst Du Dich? Nein. Du erinnerst Dich nicht. Du warst<br />

noch nicht einmal 10 Jahre alt. Da sind Deine Eltern mit Dir<br />

beim Arzt gewesen, nicht beim Kinderarzt. Du hattest kein<br />

Fieber, kein Bauchweh, keinen Beinbruch. Aber Du warst<br />

verletzt, tief in Deiner Seele warst Du verletzt. Deine Eltern<br />

waren mit Dir beim Seelenarzt. Er sollte helfen, wo sie nicht<br />

weiter wußten. Warum fängt ein kleiner, gesunder Junge ganz<br />

plötzlich an zu weinen? Mutti, ich bin so traurig, sagtest Du,<br />

Mutti, ich bin so traurig. Mehr nicht. Nur manchmal kam<br />

noch etwas dazu: der nächste Weltkrieg, die Atomstrahlen,<br />

das Sterben der Natur, vor allem die Wale waren’s bei Dir, die<br />

Wale. Du liebtest die Wate, weiß Gott, warum. Die Wale.<br />

Ich glaube, sie waren 10 Mal mit Dir beim Seelendoktor.<br />

Aber er gab es auf. Du bist normal, sagte er, ein normaler,<br />

empfindsamer, gesunder Junge. Am liebsten mochtest Du,<br />

wie Du es nanntest, Scheiß bauen, Leute ärgern, also Streiche<br />

machen und Fußball spielen. Bettwäsche von Bayern München<br />

wünschtest Du Dir zu Weihnachten. <strong>Ein</strong> gesunder, normaler<br />

Junge, empfindsam. Irgendwann später erzähltest Du<br />

vom Pendeln und Tischerücken. Du durftest abends schon<br />

lange raus damals, und irgendwo saßet ihr beisammen und


habt Tische gerückt und mit Toten geredet, Teufelskram interessierte<br />

euch. Irgendwann kam es heraus, ihr rauchtet auch<br />

Gift. Rauschträume suchtet ihr, Traumräusche, wie Menschen<br />

auf der Flucht. Ach, wenn ich Dir nur helfen könnte, nun hast<br />

Du doch schon alles versucht. Du hast Politik gemacht, Du<br />

hast viel Geld verdient, Du hast es ausgegeben, Du hast dies<br />

gelesen und jenes. Wenn ich Dir nur helfen könnte! Aber was<br />

kann eine alte Frau schon einem jungen Mann helfen? Ich habe<br />

nur mein Leben und die Erinnerung. Mein Leben liegt hinter<br />

mir, und ich weiß, wie oft ich in die Irre ging. Aber glaub’ mir,<br />

mein Junge, ich hab’ mir auch Sorgen gemacht, und die Angst<br />

schnürte mir die Luft ab. <strong>Ein</strong>es aber weiß ich jetzt, auch wenn<br />

ich es zu nichts gebracht habe, nur achttausend Mark auf dem<br />

Sparbuch und zwei Kinder durch den Krieg gebracht, das ist<br />

gewiß nicht viel, aber eines weiß ich jetzt, die Wahrheit, Junge,<br />

die Wahrheit ist ganz einfach …<br />

Erinnerst Du Dich an Lucie, Deine Tante Lucie? Klein und<br />

verhutzelt war sie, die Lucie, und wir haben sie begraben, wir<br />

waren nicht viele am Grab. Du warst auch nicht da. Aber damals,<br />

an ihrem Grab, da wußte ich es auch. So eine wie diese<br />

alte Frau, die hat gewußt, was Sache ist, sie hat es gewußt.<br />

Sie hat nie viel reden können, das lag ihr nicht. Sie hatte<br />

ja nur Volksschule und dann die Arbeit auf dem Hof und in<br />

der Fabrik. Sie hat es nie gesagt, aber jeder konnte es sehen,<br />

es fühlen: sie wußte, worauf es ankam. Sie hatte den Werner,<br />

ihren kleinen Bruder, geistig zurückgeblieben, behindert war<br />

er, sie hat ihn nie verlassen, ein Leben lang, ihr ganzes Leben<br />

lang. Sie war nie verheiratet, sie hatte keine Kinder, nur die<br />

Arbeit hatte sie und ihren Werner. Sie war immer da für ihn,


niemand durfte ihm was tun. Erst als er starb, wurde sie alt<br />

und schwach. Weißt Du, Junge, diese Frau war eine Heldin.<br />

Sie hat es geschafft, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Als wir<br />

wenigen da an ihrem Grab standen, da wußten wir alle: nun<br />

ist es gut, hier ist nichts nachgeblieben, nichts unerledigt, kein<br />

Fragezeichen, so soll es sein, wußten wir. Die Wahrheit ist so<br />

einfach, so einfach wie Deine Tante Lucie.<br />

Ich bin mir nicht sicher, ob Du mich verstehst. Ich kann und<br />

will auch keine großen Worte machen. Das liegt mir nicht, und<br />

ihr habt ja doch immer eure Widerrede. Ihr redet und redet,<br />

und am Ende weiß ich gar nicht mehr, wovon. Aber eines will<br />

ich Dir sagen, vielleicht lachst Du darüber, vielleicht auch nicht.<br />

Ich bete zu Gott, er möge euch helfen. Eure Rechnung geht nicht<br />

auf. Sie geht nicht auf. Ihr seid immer auf der Suche nach eurem<br />

Glück, egal wie ihr es nennt. Ich will was vom Leben haben,<br />

hast Du gesagt, Selbstverwirklichung sagt ihr, ihr sagt, ihr<br />

wollt euch selbst finden, ganz bei euch selbst sein, wollt ihr. Ach,<br />

was ihr nicht alles versucht! Nichts ist euch komfortabel genug.<br />

Ich kann euch dabei nicht helfen. Ich bin nur eine alte Frau,<br />

die ihr Leben hinter sich hat. Ich hab’ nur meine Erinnerung.<br />

Was ist das schon, Glück, ihr könnt euch auf den Kopf stellen,<br />

ihr werdet es nicht finden. Nur euer Hunger wird wachsen<br />

und eines Tages schaut ihr verwundert auf eure leeren Hände.<br />

Es geht nicht ums Glück, bestimmt nicht. Mir ging’s zu Weihnachten<br />

wieder durch den Kopf. Nun singt ihr wieder und<br />

feiert das Kind. Aber schaut doch mal: neben der schönen<br />

Krippe, neben dem Weihnachtsbaum mit seinen elektrischen<br />

Kerzen, steht auf dem Altar das Kreuz, man sieht es kaum im<br />

Weihnachtsglanz, aber es ist da.


Es wird auch immer da sein, das Kreuz. Das ist die Wahrheit.<br />

Daran kommen wir nicht vorbei. Ihr seid doch sonst so<br />

realistisch und gerade Du. Wir sind wirklich nicht zu unserem<br />

Vergnügen auf der Welt. Niemand hat uns das versprochen,<br />

und niemand kann das. Das andere, das ganz andere, das Leiden,<br />

die Arbeit, das Scheitern, das Verlieren, es gehört dazu.<br />

Das ist nun mal so. Und ihr müßt trotzdem euren Weg finden,<br />

euren Sinn, euer Ziel. Wissen, wofür das alles, für wen. Weißt<br />

Du, ich hab’ jetzt keine Angst vor dem Sterben. Ich hab’ mein<br />

Lebensbuch vollgeschrieben, das letzte Kapitel, und wenn etwas<br />

falsch war, dann wird er es schon richten, er, der mich auf<br />

den Weg geschickt hat. Darauf muß ich vertrauen.<br />

Gott helfe, Dir, mein Junge, Du hast noch einen weiten Weg.


Josephs Tod<br />

Es blieb ihm nicht viel Zeit, sein Ende zu bedenken. Zuerst<br />

durchbohrte ihn wie ein Blitz das Stechen in der Brust, es<br />

wandelte sich in ein glühendes Schwert von grausamen Mächten<br />

gedreht und gewendet in seinen <strong>Ein</strong>geweiden. Ihm fiel<br />

das Beil aus der schlaffen Hand, die doch sonst so stark und<br />

zupackend war. Dann brach er neben dem Block zusammen.<br />

Zwischen den Spänen, dem Sand und dem Staub der Straße<br />

krümmte er sich wie ein verendender Hirsch, den der gerissene<br />

Jäger endlich erlegt hat. Die Knechte liefen herbei und umstanden<br />

den gefällten Mann. Ihre Augen spiegelten Schrecken,<br />

Neugier und Mitleid.<br />

Sie sahen nicht die engen Räume und sich öffnenden Weiten,<br />

die seine Seele windschnell durcheilte auf ihrem Weg zu<br />

ihrem letzten Ziel. Nur seinen zitternd mit flatternden Lidern<br />

geschlossenen Augen taten sich diese Bilder auf. Die kleine<br />

Maria, die sich schüchtern lächelnd versteckte hinter der Mauer<br />

des Hauses, wenn er einmal wieder ihren Vater besuchte. So<br />

eine wollte er haben. Sie war es, die ihn zu diesem Haus zog,<br />

ihr glänzend schwarzes Haar, das in wogenden Wellen ihre<br />

Schultern überwallte, ihre dunkel leuchtenden Augen, deren<br />

Wimpern wie Sternenstrahlen auf das Feuer ihres Blickes


wiesen. Sie wollte er zu der Seinen machen, sie und keine andere<br />

von den Mädchen am Brunnen des Dorfes, wo er sie zum<br />

ersten Mal gesehen.<br />

Dann aber jene schlimme Nacht, als sie zwischen Ziegenstall<br />

und Holzschuppen dieses schreckliche Geständnis machte.<br />

Die Dunkelheit des Neumondes ließ ihn nicht einmal ihre<br />

Augen erkennen, das machte ihn so hilflos. Er, ein anständiger<br />

Mann, ein ehrlicher Handwerker, und ein Kind ohne Vater.<br />

War das Leben nicht schwer genug in diesen kriegerischen Zeiten,<br />

der Anfang als Handwerker nicht beschwerlich genug bei<br />

diesen horrenden Steuern, den ständigen Unruhen? <strong>Ein</strong> Kind<br />

ohne Vater, und sie sagte es ihm mit hörbarem Lächeln. Ja gut,<br />

sie waren in den lauen Nächten des Frühlings in den Bergen<br />

gewesen, sie hatten einander alle Liebe ihrer jungen Herzen<br />

geschenkt im Licht der millionen Sterne. Es wußte das, und<br />

würde es nie vergessen, aber nun, wo es um die Ehe ging, um<br />

Nachbarn und Freunde, um anständige Bürger und Kunden,<br />

um das Getuschel der alten Weiber, das Spötteln der trunkenen<br />

Gesellen — Heirat mit so einer? Er redete ihr gut zu, was<br />

sollte er auch sonst tun, erst auf dem Heimweg durch die engen<br />

Gassen legte er sich alles zurecht. Sein Werkzeug wäre schnell<br />

gepackt, das Haus müßte er eben lassen, aber er würde schon<br />

wieder eine Werkstatt finden, irgendwo, in Jerusalem vielleicht,<br />

vielleicht auch in Hebron, oder sollte er in die zehn Städte gehen,<br />

zu den Griechen, die immer gut für gutes Handwerk zahlten?<br />

Im Morgengrauen würde er sich auf den Weg machen, durch<br />

das Tor der Stadt und den Staub von seinen Füßen schütteln …<br />

Aber dann, als er sein Bündel schon geschnürt hatte, da<br />

kam es über ihn. Wie eine Zentnerlast legte es sich ihm auf die


Brust. Er würde nicht nur sein Haus zurücklassen, nicht nur<br />

Steine und Balken, sondern auch sie, die kleine Maria, und es<br />

wog noch lastender als alles andere: ein Kind ohne Vater, ein<br />

Hohn und ein Spott für alle Bösen, und derer gab es viele. Wie<br />

oft wollte er sich fragen, morgens, mittags, abends, nachts, was<br />

wohl aus diesem Kind geworden wäre, dessen Lachen er nicht<br />

kennen würde, dessen Tränen er nie getrocknet hätte.<br />

Und dann sah er sich auf dem Weg aus der Stadt, aber neben<br />

ihm ging die kleine Maria, und unter dem Leinen rundete sich<br />

schon ihr Leib. Er schwitzte unter der Last seines Werkzeuges,<br />

Maria aber lächelte ihm zu, obwohl auch sie schwer beladen<br />

war mit dem bißchen Haushalt, Stoff und Erinnerung, die sie<br />

nicht zurücklassen wollte. Die staubigen Wege dehnten sich<br />

endlos über die Hügel und Berge, kaum ein Schatten kühlte<br />

sie. Sie tranken das Wasser aus den Brunnen der Dörfer, und<br />

es schmeckte ihnen wie Wein. Wie trunken lachten sie einander<br />

an und aus, und dann gingen sie weiter.<br />

Im schäbigen Bethlehem verbellten sie die Hunde, die<br />

Türen schlugen knarrend zu, wenn sie um Unterkunft baten,<br />

nur für eine Nacht, für eine Nacht nur, Sie sehen doch,<br />

wie es meiner Frau geht. Aber sie fanden keinen Platz zum<br />

Leben, sie waren fremd hier. Es schien, als hätte der Staub<br />

der Straßen alles Menschliche an ihnen verdeckt, niemand<br />

erkannte in ihnen den Bruder oder die Schwester. So war es<br />

nur recht, daß ein widerwillig gutes Herz ihnen einen Platz<br />

im Stall zuwies, neben den Schafen und Böcken. Er hielt der<br />

kleinen Maria die Hand, als sie niederkam in dieser sternenhellen<br />

Nacht, er legte das Kind in den Futtertrog, und die<br />

Schafe bliesen ihren warmen Atem über den Jungen, den


sie ihm geschenkt. Und es war wie ein Wunder, der winzige<br />

Junge, den er nicht hatte haben wollen, er war wie ein<br />

Wunder. Die polternden Hirten, die wohl Lämmer aus dem<br />

Stall stehlen wollten, sie standen atemlos leise vor dem Kind,<br />

sie holten aus ihren Beuteln und Taschen, was sie nur hatten<br />

und was den jungen Leuten vielleicht helfen könnte für<br />

die nächsten schweren Tage. Und die weisen Männer, die ihnen<br />

folgten, sie unterbrachen ihren Disput, kamen durch die<br />

windschiefe Tür herein, um zu sehen, was hier geschehen war,<br />

und sie verneigten sich vor dem neuen Leben. Ja, diese Nacht,<br />

die so abweisend begonnen hatte, sie war eine Nacht der<br />

Hoffnung.<br />

Neue Bilder flogen zitternd an seinen Augen vorüber. Fünf<br />

Söhne und zwei Töchter schenkte ihm seine kleine Maria.<br />

Er hatte wahrlich nichts zu bereuen gehabt. Aber dann war<br />

der Erstgeborene verschwunden, sang- und klanglos nahm<br />

er Abschied, wollte nicht Dächer richten und Häuser bauen,<br />

sondern wollte, nein, mußte, wie er es ausdrückte, eines anderen<br />

Meisters Zimmermann sein.<br />

Schau sie dir an, diese Welt, sagte er, muß es nicht anders<br />

werden? Glaubst du denn, daß er sie so gewollt hat, als er sie<br />

schuf? Sieh sie dir an, die Armen, die an den Feldrainen das<br />

Korn raufen, sieh dir die Krieger an, wie sie mit ihren Waffen<br />

alles kurz und klein schlagen, und nicht einmal die Kinder<br />

verschonen sie. Soll es denn ewig so bleiben? Und höre auf<br />

dein Herz, schlägt es nicht manchmal dröhnend vor Schuld?<br />

Steigt nicht auch dir manchmal Schamröte ins Gesicht und<br />

bleibt nicht auch dir manchmal die Luft weg, weil du dich<br />

erinnerst an Irrwege und Versagen?


Da dachte er an jenen Weg von der kleinen Maria in sein<br />

Haus, als er sein Bündel schnüren wollte, und war ganz still,<br />

ließ den jungen Mann ziehen. Friede sei mit dir, sagte er zu<br />

sich, Friede sei mit dir auf allen deinen Wegen. Lange sah er<br />

ihm nach, als er den schmalen Weg in die Wüste ging, seine<br />

Gestalt wurde immer kleiner unter der brennenden Sonne.<br />

Und mit einem Male war da nur noch dieses Licht, und er<br />

wußte, daß er angekommen war.


Man muß doch einmal tief atmen können<br />

Als der Pastor da vorn auf die Kanzel stieg und die Orgel ausklang<br />

im langen Nachbau, dachte sie: „Lieber Gott, laß ihn<br />

jetzt nur nicht von Weißrußland oder Somalia reden. Laß ihn<br />

nicht sagen, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr. Ich will<br />

doch nur hier sitzen und wieder atmen können.“ So war es<br />

wirklich gewesen.<br />

Sie war aufgestanden heute morgen, hatte sich gewaschen,<br />

angezogen, war hinausgestürzt aus ihrer Tür, sogar die falschen<br />

Schuhe hatte sie an, die braunen, die gar nicht zu ihrem<br />

Mantel paßten, sie hatte sich keine Zeit genommen, die Augenbrauen<br />

nachzuziehen und ein wenig Rot aufzulegen, furchtbar<br />

mußte sie aussehen, sie war in die Kirche gestürzt wie jemand<br />

das Fenster aufreißt, weil er keine Luft mehr bekommt,<br />

weil er glaubt, ersticken zu müssen. Schon der Glockenklang,<br />

das schwere, tiefe Geläut, ließ in ihr Versunkenes, Vergessenes<br />

schwingen und klingen, nahm sie auf und trug sie hinein<br />

durch das große Portal, sie war froh, in dem riesigen Raum<br />

Abstand zu haben zu den wenigen, die diesen Weihnachtsmorgen<br />

sich auf den Weg durch die im Tageslicht schlafenden<br />

leeren Straßen gemacht hatten. Sie tauchte ein in das Klangmeer<br />

der Orgel, ließ sich mitnehmen, aufnehmen und tragen


von den Läufen der Klänge, bettete und streckte sich aus auf<br />

den langgehaltenen tiefen Tönen. Sie atmete auf und ließ sich<br />

fallen in die Strophen des Liedes: Lobt Gott, ihr Christen alle<br />

gleich, in seinem höchsten Thron, der heut’ schleußt auf sein<br />

Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn und schenkt uns<br />

seinen Sohn und schenkt …<br />

Der Busfahrer sah sie richtig böse an, als sie mit ihren<br />

Taschen und Paketen kaum durch die Tür kam. Ihr Rücken<br />

tat ihr weh und die Tüten schnitten in ihre Finger, trotz der<br />

Handschuhe, die sie angezogen hatte, und die Stufen in den<br />

Bus sind so hoch, viel zu hoch eigentlich. Als sie dann endlich<br />

da war bei ihrem Sohn, konnte sie sich auch nicht setzen,<br />

sondern hatte erst mal den Salat gemacht, du weißt ja Mami,<br />

keiner kann den so wie du, und dann war sie mit den Kleinen<br />

spazierengegangen, weil die sich vor lauter Aufregung<br />

und Spannung stritten und Susanne wieder am Ende war mit<br />

ihren Nerven und schon den dritten Cognac getrunken hatte,<br />

doppelstöckig versteht sich. Sekt hatte sie trinken müssen<br />

zur Feier des Tages, im Stehen auch nur, ein Kaffee im Sitzen<br />

wäre ihr lieber gewesen, und dann mit den Kindern und der<br />

Tasche in das Johannesstift zu ihrer Mutter, denn die hatte sie<br />

ja auch noch, und wieder die Vorwürfe, die Anschuldigungen,<br />

sie hätte sie abgeschoben, sie wollte ja nur die Sparbücher<br />

und das vor den Kindern, die ganz verschüchtert guckten und<br />

dann die Kerze anzünden, das Nachthemd anprobieren, Flanell<br />

ganz warm, und das weinerliche Klagen: Faß mich nicht<br />

so hart an, du willst mich wohl umbringen.<br />

Die Bescherung war auch nicht das gewesen, was sie erwartet<br />

hatte. Die Anja fragte immerzu nach den Zimmern


für das Playmobilpuppenhaus, aber waren 249,<strong>–</strong> Mark für<br />

ein Puppenhaus nicht schon genug? Und mußte Thomas nun<br />

gleich so laut diese Musik anmachen? Überhaupt war ihr ganz<br />

schlecht geworden, wie die Kinder achtlos das Papier von den<br />

Paketen rissen und wie es kein Ende nehmen wollte mit den<br />

Geschenken, und nachher stand sie in der Küche und wusch<br />

ab und hörte dabei den Gruß auf See wie jedes Weihnachten.<br />

Aber dann mußte sie wieder rein in die Stube und Susanne<br />

trank und Robert sprach nur von seinem Auto, für das ihm<br />

noch ein paar tausend Mark fehlten.<br />

Hatte sie nicht immer alles getan, um alle glücklich zu<br />

machen? Nichts war ihr wichtiger gewesen. Wie hatte sie sich<br />

um ihren Mann gemüht, was hatten sie nicht alles versucht,<br />

aber die Krankheit war doch stärker gewesen. Zwei Jahre von<br />

Klinik zu Klinik und Pflege zu Hause und Waschen und Anziehen<br />

und Füttern … Wie lange hatte sie ihrer Mutter den<br />

bitteren Weg ersparen wollen ins Heim, und ihr Robert, sein<br />

Studium, und die Enkelkinder, die sie beaufsichtigt hatte, weil<br />

Susanne wieder arbeiten wollte, und nun trank die Susanne.<br />

… heut schleußt er auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen<br />

Sohn … Mit einem Male fühlte sie sich wie auf einer Insel.<br />

Mitten im wildbewegten Meer stand sie auf einem festen Boden.<br />

Wie alt solche Worte waren: schleußt auf … Das haben<br />

sie gesungen schon vor Jahrhunderten. Nichts war geblieben<br />

wie damals. Wie viele Menschen sind gestorben, wurden geboren,<br />

haben gelebt, gelacht, geweint, sind gestorben, und die<br />

Worte klingen gleich: … heut schleußt er auf sein Himmelreich<br />


Das muß schon immer so gewesen sein, daß die Menschen<br />

auf etwas warteten, sich etwas wünschten, das sie nicht erreichen<br />

konnten. Dies Gefühl, das sie auch kannte: vor einem<br />

dunklen Tor zu stehen, hinter dem alles licht und hell und<br />

klar war, und das doch nicht aufzubringen war, so sehr man<br />

auch rüttelte und drückte. Nur manchmal, das hatte sie auch<br />

erlebt, dann war das Tor aufgegangen, sie war glücklich gewesen,<br />

goldumstrahlt, voll heller Freude — und wenn sie darüber<br />

nachdachte, hatte niemals sie selbst etwas dazu getan. Ja, so wie<br />

damals, als sie den Robert in ihrem Arm hatte, zum ersten Mal.<br />

… und schenkt uns seinen Sohn … Das war auch wie ein Geschenk<br />

gewesen, ein Wunder, ein Geheimnis — sonderbar, daß<br />

viele heute keine Kinder wollen … Irgendwie war es immer so<br />

gekommen, daß alles Glück ihres Lebens Geschenk war. Sie<br />

hatte nichts dazu getan. Plötzlich war’s da. So wie damals ihr<br />

Mann vor ihr stand, zum ersten Mal. Sie wollte nur den Zaun<br />

streichen, und plötzlich stand er da und nahm ihr den Farbeimer<br />

und den Pinsel aus der Hand. Ich hab das gelernt, sagte er.<br />

Ihre Augen glitten die hohen Fenster hinauf, während der<br />

da vorn redete. Höher und höher hinauf glitten ihre Augen.<br />

Das ist schon richtig, dachte sie, daß sie die Kirchen so hoch<br />

bauen. Wie so eine Verbindung war das, von oben nach unten,<br />

wie eine Brücke. Hier, wo sie saß, hier unten auf ihrem Stuhl<br />

in der vorletzten Reihe traf sie etwas von ganz woanders her.<br />

Sie spürte, wie etwas von ihr genommen wurde, eine Decke,<br />

eine Last, ein Deckel, sie konnte durchatmen, Luft holen, sich<br />

ausdehnen. Sie fühlte sich leicht, vogelfederleicht, schwang<br />

sich hoch mit den Klängen der Orgel und saß doch fest und<br />

sicher auf ihrem Stuhl.


Dies war ihr Weihnachten. Nicht gestern abend, sondern<br />

heute morgen. Darauf hatte sie sich gefreut, jetzt sah sie es<br />

klar. Wie schön ist es doch, daß es Weihnachten gibt, wie<br />

schön. Hier sitzen, weit werden, sich beschenkt fühlen und zu<br />

wissen: Nun ist alles gut.


Nur Papier<br />

Alle Welt feiert Weihnachten am 24. Dezember. Herr Holzmann,<br />

der kleine Herr Holzmann nicht. Ihm war bewußt,<br />

daß auch die Russen ihren eigenen Termin für Weihnachten<br />

haben, aber was, dachte er, sind schon die Russen. Auch<br />

bei ihm war die Angst von Verachtung abgelöst worden. Der<br />

kleine Herr Holzmann feierte sein Weihnachten stets am<br />

16. November. Er hieß übrigens der kleine Herr Holzmann im<br />

Gegensatz zu dem großen, bei dem er beschäftigt war. Am<br />

16. November hob der kleine Holzmann das Weihnachtsgeld<br />

von seinem Konto ab, das dreizehnte Gehalt oder die Gratifikation.<br />

Am 24. Dezember gab es nichts mehr zu feiern. Dann<br />

war das zusätzliche Geld längst nur noch schmerzliche Erinnerung,<br />

hatte sich verwandelt in die Stereo-Anlage für den<br />

Sohnemann, das Rennrad für die flotte Tochter, die Spülmaschine<br />

für seine Frau und in den Schwamm für den kleinen<br />

waagerechten Strich vor seinem Kontensaldo. Am 16. November<br />

aber ging er nach der Arbeit ins Café, bestellte sich zwei<br />

Schnitten Marzipantorte und einen Becher Schokolade mit<br />

Sahne, das Ganze abgerundet mit einem großen Schwenker<br />

französischen Cognacs. Im Kopf überflog er seine Möglichkeiten:<br />

für einen Augenblick, für einen winzigen Augenblick


war er reich. Am Ende seines Festmahls war er wieder ein<br />

armer Schlucker. Er wußte, was Weihnachten kostet.<br />

In diesem Jahr war alles anders. Der große Holzmann war<br />

nämlich auch zum armen Schlucker geworden, das Weihnachtsgeld<br />

war gestrichen. Es war ein deprimierender 16. November,<br />

ohne Marzipantorte, ohne Schokolade, ohne Cognac<br />

aus Frankreich. Auf den hätte er noch am ehesten verzichten<br />

können, er schmeckte ihm immer ein wenig nach Seife. Aber<br />

das Geld! Wovon sollte er die großen Wünsche seiner Kinder<br />

bezahlen, wie seiner Frau eine Freude machen? Heutzutage<br />

kostet alles viel Geld, der Tannenbaum, die Weihnachtsgans,<br />

der Karpfen am Heiligen Abend. Das Minus auf seinem Konto<br />

wirkte wie eine militärisch scharf bewachte Schranke vor einem<br />

Atommeiler. Nichts ging mehr, rien ne va plus. Er hatte<br />

nicht einmal den Mindesteinsatz für das Kasino.<br />

Als er betrübt in der U-Bahn saß, fielen ihm die Sünden<br />

seiner Kinderzeit ein. Er sah sich und seine Schwester, wie<br />

sie am Sonntagmorgen, nach dem Kindergottesdienst mitten<br />

in der Allee suchend hin und her liefen. Immer, wenn ein<br />

Spaziergänger sich näherte, fingen sie an, zu schluchzen. Die<br />

Erfolgsquote lag bei über fünfzig Prozent. Am besten war sie<br />

bei alten Damen. Sie waren fast immer zum Mitleiden bereit.<br />

Die Geschichte war das verlorene Geldstück, für das sie dem<br />

strengen Vater die Zigaretten aus dem Automaten holen sollten.<br />

Nur selten mußten sie die Schläge mit dem Rohrstock<br />

ausmalen. Meistens glänzte das Geldstück schon vorher auf<br />

ihrer Hand, noch warm von der Manteltasche der Barmherzigen.<br />

Nur die Bösartigen beließen es bei einem ermahnenden:<br />

Ihr müßt eben besser aufpassen! Und in die Hölle kamen


estimmt diejenigen, die einfach vorübergingen und in die<br />

Wipfel der Bäume oder auf die andere Straßenseite schauten.<br />

Dort würden sie in Ewigkeit gebraten werden.<br />

Auch seine Großtante Emma würde einen fetten Braten abgeben.<br />

Reich wie sie war, hatte sie ihm noch nie etwas zukommen<br />

lassen. Das war sicherlich der Grund ihres Reichtums,<br />

von dem in der Familie nur andächtig geraunt wurde. Er hatte<br />

es schon selbst gesagt, wenn die Wünsche seiner Kinder unverschämt<br />

wurden, mitten im Jahr eine neue Reitausrüstung<br />

für die Tochter, Turnschuhe mit Luftsohle für den Sohn, man<br />

stelle sich das vor: dreihundert Mark für Luft unter den Füßen.<br />

Ich bin nicht Tante Emma, pflegte er dann zu sagen. Die<br />

könnte, aber sie tut nicht, deshalb ist sie auch so reich. Großtante<br />

Emma, die kleinzügige, denn großzügig war sie noch<br />

nie. Aber könnte er nicht …? Sollte er nicht …? Vielleicht nur<br />

auf Kredit …?<br />

So blieb er einfach sitzen, als der Zug seine Heimatstation<br />

erreichte. Er fuhr weiter in die Walddörfer, wo die kleine alte<br />

Frau eine große alte Villa bewohnte. Schon das riesige eiserne<br />

Tor machte ihn kleinlaut. Er mußte alles zusammenraffen,<br />

sein Herz, seinen Mut, seine Schulden, seine Verzweiflung<br />

angesichts fehlender Geschenke unter dem kaum zu bezahlenden<br />

Weihnachtsbaum. Die alte Dame machte es ihm leicht.<br />

Sie war schon überglücklich über seinen Besuch, als er noch<br />

an dem Kloß in seinem Hals würgte. Wie es ihm denn ginge?<br />

Was seine Frau machte und die Kinder? Ob er einen Tee mittränke?<br />

Natürlich trank er Tee, obwohl er Pfefferminztee nicht<br />

ausstehen konnte, ständig mußte er an seine Halsentzündungen<br />

von früher denken. Die dazu gereichten Kekse kannte er


auch. Sie kaufte offensichtlich auch bei Aldi. Aber vielleicht<br />

ließ sie ja liefern. Leisten könnte sie es sich. Aber er wurde seine<br />

Geschichte los. Jaja, das Geld, meinte die Alte. Mehr nicht.<br />

Also noch eine Tasse von dem wundervollen Kräutertee und<br />

noch ein krümeliger Keks aus der Dose. Weiter im Text: die<br />

fällige Inspektion, bevor das alte Auto zum TÜV konnte, die<br />

Skiklassenreise der Tochter, die Kanufahrt des Sohnes in<br />

Frankreich im nächsten Jahr. Jaja, die Ansprüche heute. Mehr<br />

nicht. Kann ich noch einen Tee? Der blitzende Goldzahn im<br />

faltigen Gesicht brache die Wende. Er erzählte mit stockender<br />

Stimme, seine Frau brauche zwei neue Kronen und eine Brükke<br />

— verzeih mir, Annemarie, dachte er —, da war der Safe<br />

geknackt. Er bekam einen Scheck. Dreitausend Mark. Wirklich,<br />

eine Großtante, diese Emma.<br />

Kaum daheim, für die Bank war es nach den Walddörfern<br />

und drei Tassen Pfefferminztee zu spät, schloß er den Scheck<br />

in seinen Schreibtisch ein. Er verriet nichts, um keine großen<br />

Wünsche zu wecken. Er versteckte das Wertpapier auch gut:<br />

in diesem Heft Glanzpapier wird schon niemand nachschauen.<br />

Nur eines ließ er sich nicht nehmen: Wenn es schon in diesem<br />

Jahr mit dem Café nichts geworden war, so lud er doch<br />

seine Annemarie auf ein Bier in die Kneipe ein. Können wir<br />

uns das denn leisten? Ach, wird schon gehen, beruhigte er ihr<br />

schlechtes Gewissen. Die dreißig Mark sollten ihm nicht leid<br />

tun, das war nur ein Prozent.<br />

Aber am nächsten Morgen war der Scheck weg. Drei Dutzend<br />

Mal blätterte er das Heft Glanzpapier durch. Nichts.<br />

Jede Seite einzeln umgeblättert. Nichts. Was nun? <strong>Ein</strong>e Staatsaktion?<br />

Diebstahl, Polizei? Seine Kinder klauten nicht. Seine


Frau entschuldigte sich hundertfach, wenn sie Wechselgeld aus<br />

seinem Portemonnaie nahm. Und sollte er wirklich gestehen,<br />

bei Großtante Emma gewesen zu sein und gebettelt zu haben?<br />

Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen. Was nun? Nichts.<br />

<strong>Ein</strong> kleineres Weihnachten eben. Heringssalat statt Karpfen.<br />

Heringssalat schmeckt wirklich nicht schlecht auf frischem<br />

Baguettebrot. Rinderbraten statt Gänsefleisch. Seine Frau hatte<br />

genau darauf geachtet, woher das Fleisch kam. Das konnte<br />

man getrost essen. Zwei Bücher und zwei CDs für die Kinder.<br />

Mehr war eben nicht drin. Sie freuten sich doch. So groß sind<br />

sie schon. Die Erwachsenen brauchten sich zu Weihnachten<br />

nichts zu schenken. Sie verlegten ihr Weihnachten vor die Bescherung.<br />

Es war sehr feierlich in der Kirche.<br />

Unter dem etwas krummen Weihnachtsbaum, den er diesmal<br />

erst am Heiligen Abend selbst gekauft hatte, er bekam ihn<br />

auch billiger so kurz vor Ladenschluß, unter dieser Kümmerkiefer,<br />

die dennoch ein schöner Christbaum geworden war,<br />

da tauchte auch der Scheck wieder auf. Er war zu einer Rose<br />

und einem Stern zerschnitten auf der wunderbaren Verpakkung<br />

des Rasierwassers von Aldi, das seine Tochter ihm in<br />

die Hand drückte. Auf der Rückseite des roten Glanzpapiers<br />

erkannte er das verheißungsvolle blaue Muster des geldwerten<br />

Papiers. Auf einem Schnipsel konnte er sogar die zitterige<br />

Unterschrift der alten Dame entdecken. Sie erschien ihm wie<br />

ein höhnischer Weihnachtsgruß aus den Walddörfern. Aber<br />

er schluckte nur einmal und sagte nichts, obwohl es heiß hinter<br />

seinen Augen war.<br />

Zwischen den Tagen kam, ein wenig verspätet, der Weihnachtsgruß<br />

der Tante Emma. Er war etwas länger ausgefallen


als sonst und steckte in einem Umschlag. An meinem Kontoauszug<br />

habe ich gesehen, schrieb sie. Du hast dich sicherlich<br />

geschämt, schrieb sie. Aber es ist kein Kredit, es ist ein Geschenk,<br />

schrieb sie und heraus flatterte ein Euroscheck.


Marzipankartoffeln<br />

Weihnachten ist nur etwas für die Kinder. <strong>Ein</strong>e alte Frau muß<br />

so denken. <strong>Ein</strong>e Greisin, die sich auf den Kerzenschein und<br />

den Tannenbaum freut, das paßt nicht. Das wäre so, als färbte<br />

sie sich ihre Haare rot und trüge einen Minirock. Schon als<br />

junges Mädchen hatte sie mit der Anständigkeit ihre Probleme.<br />

Sie hörte den undeutschen Jazz und Blues, als Frau deutsch zu<br />

sein hatte, sie rauchte auf der Straße, als ein deutsches Mädel<br />

gar nicht rauchte, sie trug Hosen, bevor der Männermangel<br />

Frauen Schaffnerinnen werden ließ. Sie war keine Freude für<br />

ihre Lehrer und Chefs. Nur ihre Mutter verstand sie, sie sagte:<br />

mach’ man, Mädchen, Mädchen mach’ man, wer weiß, wie<br />

lange du das noch kannst …<br />

Sie freute sich auf Weihnachten wie ein Kind. So leuchtete<br />

es in ihren Augen auf, als die ersten Christstollen bei Aldi im<br />

Regal erschienen. Und die Marzipankartoffeln. Marzipankartoffeln<br />

waren ihre Schwäche. Pfundweise konnte sie Marzipankartoffeln<br />

essen, aber in den Cellophantüten waren immer<br />

nur so wenig drin. Sie stopfte die appetitlichen braunen<br />

Kugeln nicht einfach in den Mund. Nein, sie nahm jede Kugel<br />

einzeln und biß hinein, ganz wenig nur, und dann gekaut, so<br />

daß sie das Rosenwasser und die Mandeln einzeln schmecken


konnte, Bißchen für Bißchen. Und braune Kuchen, braune<br />

Kuchen auf Rundstück mit Butter, braune Kuchen zum Kaffee,<br />

das war Weihnachten.<br />

Aber Weihnachten wird es nicht im Sommer, solange das<br />

Laub noch an den Bäumen hängt. Auf Weihnachten muß man<br />

warten können. Die Menschen heute können nicht mehr warten.<br />

Sie wollen Weihnachten am liebsten das ganze Jahr. So<br />

kommen die leckeren Weihnachtssachen in die Geschäfte, bevor<br />

noch die Winterkleidung, die dicken Mäntel und Jacken<br />

vom Boden geholt worden sind. Verdienen, verdienen — sie<br />

kennen nichts anderes. Sie selbst machte einen großen Bogen<br />

um Marzipankartoffeln und braune Kuchen. Nicht vor dem ersten<br />

Advent, nicht vor der ersten Kerze. Erst wird der Adventskranz<br />

gebunden, dieses Jahr hatte sie zum ersten Male einen<br />

fertigen Kranz gekauft, und sie schämte sich fast deshalb, aber<br />

ihre Finger waren so steif geworden in der letzten Zeit, dann<br />

wurde die Wohnung weihnachtlich gemacht, und dann kamen<br />

die Marzipankartoffeln und die braunen Kuchen. Eher nicht.<br />

So saß sie am diesem Morgen, als die erste Kerze auf dem<br />

gekauften Kranz brannte, vor ihrem Fenster, die Kaffeetasse<br />

auf dem Fensterbrett, die Tüte mit den Marzipankartoffeln<br />

vor sich, warum lassen sich die Tüten nur so schwer öffnen, sie<br />

mußte wieder eine Schere nehmen, und sie sah auf die verlassene<br />

Straße, in der nur sie einen adventlichen Schimmer sah.<br />

Sie war sich dessen bewußt, sie war nicht naiv, auch wenn sie<br />

sich wie ein Kind auf Weihnachten freute, sie war sich bewußt,<br />

daß dieser Schimmer aus ihrer eigenen Vorfreude kam, die<br />

anderen werden ihn nicht sehen. Aber die anderen wünschen<br />

ihr auch immer ein langes Leben, noch viele Jahre. Sie denken,


man könne nicht genug bekommen von dieser Welt, sie wollen<br />

mehr und mehr von diesem Leben haben, wie des Fischers<br />

Fru kamen sie ihr vor, Mantje, Mantje, Timpete, Buttje, Buttje<br />

in de See, mine Fru, de Ilsebill … Sie können nicht warten, sie<br />

wollen alles, und sie wollen es sofort.<br />

Langes Leben, ihr Leben war lang genug. Auch wenn sie es<br />

genoß, dieses ruhige Sitzen am Fenster mit dem Kaffee und<br />

den Marzipankartoffeln und dem Blick auf die stille Straße,<br />

beschienen vom adventlichen Glanz aus ihrem Herzen, auch<br />

wenn sie das genoß, es war lang genug. Sie fürchtete sich nicht<br />

vor dem Sterben. Der Gedanke war ihr schon vor einigen Jahren<br />

gekommen. Der Himmel, der muß sein wie Weihnachten.<br />

Schon als Kind war es ihr wie ein Schauer über den Rücken<br />

gelaufen, dieses Wort vom Frieden auf Erden und den Menschen<br />

ein Wohlgefallen. Als ihr erster Freund nach Spanien<br />

ging, um für die gute Sache zu kämpfen, hatte sie Schluß gemacht<br />

mit ihm. Sie wollte nicht um einen Freund weinen müssen.<br />

Sie wußte, dies war der falsche Weg. Blut vergießen ist der<br />

falsche Weg. Krieg ist Irrsinn. Wie kann man etwas kaputtmachen,<br />

was Menschen noch gebrauchen können. Wie kann<br />

man dieses Wunder Mensch töten und zerstückeln — auch<br />

wenn es ein Wunder mit kleinen Fehlern war. Aber schau dir<br />

nur ein Kind an, ein kleines Kind, da wird man doch stumm<br />

vor Staunen, die Schmerzen sind vergessen, wenn sie es einem<br />

in den Arm legen, wie können sie nur so etwas umbringen.<br />

Friede auf Erden — sie wollen ihn alle, aber sie schießen ihn<br />

kaputt. Das war der falsche Weg.<br />

Der richtige Weg, der hatte mit der Krippe zu tun, mit dem<br />

kleinen Kind, das da in einem Stall zur Welt kommt, arm und


hilflos, und doch kommen die Hirten und die Könige und<br />

der Stern leuchtet darüber. Wie so ein Kind, so kommt der<br />

Friede. Oder wie der König, der auf einem Esel reitet in seine<br />

Stadt, diese Geschichte hatte ihr immer gefallen, weil sie so<br />

ehrlich war, nicht mit Waffen und in prächtigen Kleidern, so<br />

kommt der Friede. Die mit den feinen Kleidern hatten noch<br />

nie viel mit Frieden im Sinn. Frieden hat etwas mit Anfangen<br />

zu tun, man muß anfangen damit. <strong>Alles</strong> andere kommt dann<br />

von selbst. So stellte sie sich das vor.<br />

Und der Himmel muß sein wie Weihnachten. Leuchtend<br />

wie die Kerzen am Tannenbaum, lächelnd wie Mutter, wenn<br />

sie die kleine Glocke läutete, ein Gefühl der freudigen Spannung,<br />

die das Herz schier platzen lassen will — so muß der<br />

Himmel sein. Oder wie Marzipankartoffeln oder wie braune<br />

Kuchen auf dem Rundstück — ein Wohlbefinden, ein Wohlgefallen<br />

…<br />

Sie erinnerte sich an eine Sache aus Kindertagen — immer<br />

noch stieg es heiß in ihr auf, die Scham wird wohl nie vergehen.<br />

Sie konnte die Spannung einfach nicht mehr ertragen, so<br />

sehr wünschte sie sich die Puppe mit den Schlafaugen, und sie<br />

wußte doch, Mutter hatte wenig Geld, es gab ja keine Arbeit<br />

für Papa. Da öffnete sie die Schränke und sah überall nach.<br />

Die Puppe lag im Schlafzimmer, unter Mutters Wäsche, und<br />

sie hatte Schlafaugen. Nur daß die Schlafaugen irgendwie in<br />

den Kopf zurückfielen, als sie sie untersuchte. Schnell stopfte<br />

sie die Puppe zurück, und es war eine schlimme Zeit, bis es<br />

diesmal Weihnachten wurde. Dann war es soweit, sie konnte<br />

vor Scham ihr Gedicht nicht mehr, und da war auch die<br />

Puppe, aber sie hatte jetzt ein blaues Kleid, das andere war rot


gewesen, und die Schlafaugen gingen auf und zu, und Mutter<br />

sah sie an, nahm sie in den Arm und war gar nicht böse. Papa<br />

maulte über den Pferdefleischbraten zu Weihnachten, aber er<br />

sagte nichts, weil er ja keine Arbeit hatte. Sie hatte nie mit ihrer<br />

Mutter darüber gesprochen, aber sie wußten doch voneinander.<br />

So muß Weihnachten sein, so muß der Himmel sein.<br />

Eigentlich war es kein Wunder, daß sie sich immer noch<br />

wie ein Kind auf Weihnachten freute. Und es war auch kein<br />

Wunder, daß sie jetzt am Fenster saß, auf die Straße schaute,<br />

die Marzipankartoffeln nach Rosenwasser schmeckten, und<br />

sie keine Angst vor dem Sterben hatte. Das Weihnachten aus<br />

den Kindertagen hatte sie stark gemacht für ihr ganzes Leben,<br />

für alles, was noch kam, und es waren keine leichten Jahre gewesen,<br />

bestimmt nicht. Darum wird sie sich auch dieses Jahr<br />

wieder einen Tannenbaum kaufen, und sie wird ihn schmükken,<br />

und sie wird die Kerzen anzünden am Heiligen Abend,<br />

sie wird Kaffee trinken, sie wird sich ein schönes Buch kaufen<br />

und lesen, ganz so wie früher. Alle ihre Bekannten finden das<br />

lächerlich. Sie aber lächelt bei diesem Gedanken. Dies ist ihre<br />

Art, ihren Eltern zu danken und Gott. Sie konnte sich sonst<br />

nie etwas unter diesem Wort vorstellen: Gott. Zu viele Leute<br />

gebrauchten es, und sie gebrauchten es falsch. Sie schoben ihm<br />

alles unter, womit er doch nichts zu tun hatte. Sie machten<br />

daraus ein Friedhofswort, verbanden es mit Krieg und Not.<br />

Aber das war nicht ihr Gott. Ihr Gott hatte mit Weihnachten<br />

zu tun. Sie freute sich auf Weihnachten und auf ihn. Sie freute<br />

sich wie ein Kind.


Um der Hirten willen<br />

Es ist nur ein Traum. Nur ein Traum war das. <strong>Ein</strong> Alptraum.<br />

Es ist gar nicht so. Ich werde mir ein Glas Milch aus dem Kühlschrank<br />

holen und wieder einschlafen. Es war nur ein Traum.<br />

<strong>Ein</strong> schlimmer Traum.<br />

Es war kurz vor Weihnachten. Zeit, den Tannenbaum zu<br />

holen, die letzten Geschenke zu kaufen. Für Tante Nina, für<br />

Opa und Oma, aber nichts Süßes diesmal, sie hat ja jetzt Zukker.<br />

Für die Große habe ich auch noch nicht alles zusammen.<br />

Außerdem muß ich den Karpfen bestellen und die Gans holen.<br />

<strong>Ein</strong> paar neue Kugeln für den Christbaum könnte ich auch<br />

noch kaufen.<br />

Ich geh’ also los. Sonderbar. Überall vor den Geschäften<br />

sind Tische aufgebaut, gehäuft voll mit Weihnachtsartikeln.<br />

Und überall steht: Sonderangebot! Herabgesetzt! Ausverkauf!<br />

Der Tannenbaumhändler wischt sich den Tropfen von der<br />

Nase und sagt: „Sie sind der erste heute.“ Ich sehe es selbst. Er<br />

kann noch kaum etwas verkauft haben. Die schönsten Bäume<br />

liegen noch zu Bergen in seinem Geviert. In den Blumengeschäften<br />

war es mir schon aufgefallen. Es lagen in den Ecken<br />

die unverkauften Adventskränze herum. Sie gehen dieses Jahr<br />

überhaupt nicht, sagte man mir. Bei Aldi ist es nicht anders.


All die schönen Süßigkeiten der Weihnachtszeit — sie werden<br />

billiger angeboten, Restbestände … Aber die Reste sind riesig.<br />

Was soll das bedeuten? Fällt Weihnachten dieses Jahr aus?<br />

Haben die Menschen Weihnachten vergessen?<br />

Also frag ich den Tannenbaumhändler: „Wieso bin ich der<br />

erste heute? Kaufen die Leute keine Tannenbäume mehr?<br />

Ohne Christbaum ist es doch kein Weihnachten.“<br />

Er nimmt mit seiner rotkalten Hand die Zigarette aus dem<br />

Mund und sagt: „Copyright. Gesetzlich geschützt.“ Ich versteh<br />

gar nichts mehr. Er muß es mir angesehen haben. Er sagt mit<br />

heiserer Stimme: „Neue Bestimmung. Sie wissen doch: EU,<br />

Europa. Die machen jetzt alles anders. Weihnachten ist jetzt<br />

gesetzlich geschützt.“ „Und was heißt das?“ frage ich ängstlich.<br />

Er bietet mir einen Schluck aus seiner Thermosflasche<br />

an. Ich schüttele den Kopf. Wieder löst sich ein Tropfen von<br />

seiner Nase. „Tut aber gut“, meint er, „wenn sowieso nichts<br />

los ist. Weihnachten ist nur noch für die, die in der Kirche<br />

sind. Alle anderen dürfen nicht mehr.“ „Das kann doch nicht<br />

wahr sein sein“, sag’ ich. „Doch“, besteht er darauf, „so ist es.<br />

Und es wird noch schlimmer“, sagt er. Nun nehme ich doch<br />

einen Schluck aus seiner Thermosflasche. Tee mit Rum. Das<br />

tut wirklich gut. Jetzt merke ich auch die schneidende Kälte.<br />

„Wieso?“ frage ich, jetzt auf fast alles gefaßt. „Na“, sagt er,<br />

„nächstes Jahr dürfen nur noch die, die auch zur Kirche gehen.<br />

Am Heiligabend. Wenigstens am Heiligabend.“<br />

Der Schreck saß tief. Hatte ich erst noch gedacht: Naja,<br />

40 Prozent, die Weihnachten feiern, das ist knapp die Hälfte,<br />

das mag ja noch angehen. Aber nur noch ein knappes Drittel<br />

von denen wieder … Das sind ja nur noch ganz wenige …


Hamburg ohne Weihnachten. Fast ohne Weihnachten. Da<br />

bin ich aufgewacht.<br />

So geht das nicht. Weihnachten ist doch für alle da. Alle<br />

Menschen vergeben einander und fangen von vorn an, so wie<br />

Gott es wollte. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen<br />

… Und zum Zeichen dafür die Geschenke für alle und<br />

das Fest.<br />

Nein, lieber Gott, das kannst du nicht machen, denke ich,<br />

und lege mich mit dem Glas Milch wieder schlafen. Schließlich<br />

haben damals auch die Hirten vor dem Stall gestanden.<br />

Das waren auch keine frommen Leute. Um der Hirten willen,<br />

das kannst du nicht machen. Weihnachten ist für alle da. Und<br />

wenn schon ein Copyright für Weihnachten, dann doch nur<br />

so für ein Jahr mal, oder zwei, damit die Menschen merken,<br />

was sie verloren haben …


Weihnachten läßt sie kalt<br />

Im Grunde genommen hatte sie sich nicht geändert, in all den<br />

fast achtzig Jahren war sie doch dieselbe geblieben. Morgens<br />

ging sie in die Schule und saß bei den Mädchen, aber das war<br />

immer nur in der ersten Stunde so, schon in der zweiten spätestens<br />

fand sie sich auf der Seite der Jungen wieder, strafversetzt,<br />

denn wer sich nicht wie ein wohlerzogenes Mädchen<br />

benahm, der mußte sich umsetzen lassen, und die ganze<br />

Klasse lachte. Dabei hatten sie auch schadenfroh gelacht, als<br />

der Herr Schubert sich auf den nassen Schwamm setzte, hatten<br />

gelacht, als sie seine alte, lederne Aktentasche am Kartenständer<br />

hochzog, und er sah unter jedem Schulpult nach, als<br />

es klingelte. Sie fanden es auch sehr lustig, als sie den Harzerkäse<br />

unter den Klassenschrank nagelte. Und wie sie erst kicherten,<br />

als sie sahen, wie sie aus den Menschen im Biologiebuch<br />

richtige Männer und Frauen gemacht hatte. Damals war<br />

alles unter dem Gürtel noch Geheimnis, es würde noch früh<br />

genug gelüftet werden, wenn sie dem Richtigen ausgeliefert<br />

wurden …<br />

So war ihr auch die Idee gekommen, als ihre Enkelin sagte,<br />

Weihnachten ließe sie kalt. All das Gedudel gefühlsseliger<br />

Lieder, all der Glitter und die Kerzen, und an die Sache mit


dem Stall und dem Kind in der Krippe glaube sie sowieso<br />

nicht. Das könne man den Kindern erzählen, aber nicht ihr.<br />

Sie wolle am liebsten in die Sonne in diesen Tagen. Auf die<br />

Malediven vielleicht, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, wo<br />

die überhaupt lagen.<br />

Es kostete die alte Dame einige Mühe, alles zu arrangieren.<br />

Sie mußte den Schulbus nehmen, um in die Stadt zu fahren,<br />

und das Reisebüro machte erst um Neun auf, die Cafés waren<br />

noch geschlossen, und so lief sie durch die Straßen, sah in<br />

die Schaufenster. So ganz unrecht hatte ihre Enkelin ja nicht,<br />

was hat schon ein Blutdruckmesser mit Weihnachten zu tun,<br />

oder gar so ein Handy, so viel Wichtiges gab es ja gar nicht<br />

mitzuteilen, daß sie nicht warten konnten, bis sie wieder zu<br />

Hause am Telefon waren. Hinterher mußte sie auch noch viel<br />

telefonieren, aber das konnte sie zu Hause erledigen. Doch die<br />

Sache mit Weihnachten machte diesen Ausflug in die Stadt<br />

nötig. Das mußte sie von Angesicht zu Angesicht mit jemandem<br />

besprechen.<br />

Obwohl Weihnachten sie kalt ließ, aß ihre Enkelin mit ihrem<br />

Freund die ganze Schale Schmalzkekse und braune Kuchen<br />

leer, zweimal mußte sie nachholen, auch wenn sie selbst<br />

erst am Heiligen Abend Weihnachtskekse essen würde, so wie<br />

sie es immer gehalten hatte. Die Freude der jungen Leute war<br />

groß, als sie den Umschlag öffneten und den Reisegutschein<br />

fanden. Das Auto hatte doch mehr gekostet, als ihre Enkelin<br />

gedacht hatte, aber wenn ihr Freund schon einmal gerne einen<br />

fast neuen Wagen fahren wollte, und sie selbst brauchte<br />

einen neuen Laptop, dann waren die Malediven eben weiter<br />

weg, als sie gedacht hatte.


Schade, daß es nur die Prignitz war, aber die beiden machten<br />

gute Miene zum schlimmen Spiel. Besser als gar nichts war<br />

das. Aber warum dann die Bahnkarten, für das Geld hätten<br />

sie doch auch in den Süden fliegen können. <strong>Ein</strong>em geschenkten<br />

Gaul — der Freund sagte das wortwörtlich. Zu dieser Adventure-Tour<br />

gehört nun einmal die Bahnfahrt. Es wäre auch<br />

nicht das gewesen, was es sein sollte, hätten sie das Auto dabei<br />

gehabt.<br />

Der Anschluß klappte wunderbar. Als sie in der Kreisstadt<br />

aus dem Zug stiegen, stand der letzte Bus am Bahnhof. Nur<br />

zwei alte Frauen stiegen mit ihnen zusammen in den wartenden<br />

Wagen, sie waren schwer bepackt mit Paketen, wahrscheinlich<br />

fuhren sie heute am 24. Dezember zu ihren Kindern<br />

und brachten die bestellten Weihnachtsgeschenke mit. Dann<br />

war das Dorf erreicht. Nach der Hitze im überheizten Bus<br />

traf sie der kalte Regen fast schmerzhaft. Die Türen schlossen<br />

sich, der Motor brummte dunkel auf, die roten Schlußlichter<br />

verschwanden in der Dämmerung. Im gelbtrüben Licht der<br />

einzigen Straßenlaterne fingerte er den Gutschein aus seiner<br />

Jeans. „‚Vier Linden‘ heißt das“, las er, „wird wohl mitten im<br />

Dorf liegen.“ Sie schulterten ihre Rucksäcke und wandten sich<br />

nach links. Da schimmerten weitere Laternen. „Da drüben“,<br />

zeigte er und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Hinter<br />

kahlen Ästen duckte sich ein Haus mit großer Tür. Näherkommend<br />

konnten sie das Schild auch lesen. ‚Vier Linden‘,<br />

richtig. Lübzer Bier gab’s, Jever wäre ihm lieber gewesen. Sie<br />

faßte an die Tür, wollte sie öffnen. Aber nichts tat sich. Die<br />

Tür war verschlossen. „Wir müssen klingeln“, meinte er klug,<br />

aber da war keine Klingel. Das Klopfen übernahm er. Seine


Fingerknöchel taten fast schon weh, als endlich im ersten Stock<br />

ein Fenster aufging.<br />

„Wir sollen hier übernachten“, rief er zu dem mürrischen<br />

Gesicht nach oben.<br />

Die Antwort war ein Schock. „Hat sich geändert“, meinte der<br />

Ärgerliche da oben, „Sie sind umgebucht. Am Schafsee werden<br />

sie erwartet.“<br />

„Und wo ist das?“ Die Stimme des jungen Mannes war sehr<br />

laut in der beginnenden Nacht.<br />

„Da runter“, der Wirt zeigte nach rechts.<br />

„Weit noch?“ fragte sie schüchtern.<br />

„Zwei Kilometer etwa, das schaffen sie leicht!“<br />

Am Ende des Dorfes umfing sie die Nacht. Der Regen<br />

drang tiefer in das Gewebe ihrer Jacken. Dann sahen sie das<br />

Licht. „Das muß es sein!“ munterte er sie auf. Es war’s auch.<br />

‚Zum Schafsee‘, Hotel und Restaurant. Hier gab es wenigstens<br />

Warsteiner, seine Laune besserte sich augenblicklich. Die Enttäuschung<br />

kam am Tresen. „<strong>Alles</strong> besetzt“, knappste die Weißbeschürzte.<br />

Sie sah sehr kritisch auf ihre Rucksäcke. Ernste<br />

Kellner trugen riesige kalte Platten vorüber. Lachs, Roastbeef<br />

und Kaviar, Sekt im Kühler. „<strong>Alles</strong> voll. Versuchen Sie es mal<br />

‚Am Sandberg‘, das ist nur auf der anderen Seite des Sees, am<br />

besten gehen sie links herum, da stehen ein paar Laternen.“<br />

Auch dieser Weg endete einmal. Ihr war im Wald sehr unheimlich<br />

gewesen, auch wenn er meinte, Strolche wären in<br />

dieser Nacht bestimmt nicht unterwegs, aber sie hatte eigentlich<br />

mehr Angst vor Wildschweinen. Der Wirt vom Sandberg<br />

hatte nur Flaschenbier, aber er zeigte <strong>Ein</strong>sehen. „Ich hab noch<br />

ein kleines Zimmer hinten raus. Das können sie haben.“


Angekommen über halbdunkle Treppen und Flure, warfen<br />

sie sich so wie sie waren auf das Bett. Das Bett knarrte. Die<br />

Deckenlampe war eine Funzel. Doch die Risse und Flecken<br />

der Tapete waren auch im matten Schummer gut sichtbar. Die<br />

Möbel konnten ihr Alter ebenso nicht verstecken.<br />

„Hier müffelt es aber“, stellte er fest. Er öffnete die Fenster.<br />

<strong>Ein</strong> ländlicher Geruch von Stall und Mist drang herein und<br />

füllte das Zimmer.<br />

Sie hatte ihre Augen geschlossen und sagte leise: „Du, stell<br />

dir mal vor, ich wäre schwanger.“<br />

Stille. <strong>Ein</strong> Knacken irgendwo im Gebälk des alten Hauses.<br />

Stille. Tief sogen sie beide den ungewohnten Duft ein. Nur das<br />

Geräusch ihres Atems. Fern bellte ein Hund. Unruhiges Schurren<br />

im Stall. Stille. Da spürte sie seine Hand. Sie war warm.<br />

„Deine Oma ist geil. Voll fies hat sie sich das ausgedacht. Aber<br />

cool. Die weiß, was sie will.“ Er sprach ganz leise, fast flüsternd.<br />

Lange sagten sie beide nichts. Aber, es war als ob sie sich<br />

abgesprochen hätten, da standen sie beide auf, tappten durch<br />

die muffigen Flure, die Treppe hinunter, hinaus in den Regen,<br />

und bei der ersten Fichte holte er sein Messer raus, und sie<br />

hatten ihre Zweige. Der Wirt gab ihnen auch eine Kerze zu<br />

den fünf Flaschen Bier, und sie lagen auf dem knarschenden<br />

Bett in den tiefen Kuhlen, sahen in den leuchtenden Kranz<br />

der Kerzenflamme, und sie hatten sich nichts zu schenken als<br />

ihre Zärtlichkeit.<br />

Silvester erzählten sie ihren Freunden von der schönsten<br />

Weihnacht ihres Lebens, aber die konnten damit nichts anfangen.<br />

Weihnachten ließ sie kalt. Nur die neuen Handys wurden<br />

herumgezeigt.


Wie Christoph mit Weihnachten anfängt<br />

Fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Kein Tannenbaum,<br />

kein Kerzenlicht, kein Gabentisch, nur ein normaler<br />

Abend, an dem alle Kinder zu früh ins Bett müssen.<br />

Fast wäre Weihnachten wirklich ausgefallen, und das kam<br />

so:<br />

„Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst, fällt Weihnachten<br />

aus!“ brüllte Vati und schlug die Tür zu, so schnell<br />

und so laut, daß nun das Fußballbild schief hing, die Gardine<br />

am Fenster sich bewegte und Christoph vor Schreck sein Herz<br />

klopfen fühlte. Vati war auf einen Legostein getreten, und weil<br />

er auf Strümpfen ging und ohne Hausschuhe (Väter dürfen<br />

das wohl), hatte es weh getan. „Wenn du nicht endlich dein<br />

Zimmer aufräumst …“ Christoph schluckte.<br />

Wer weiß nicht, wie ein Zimmer aussieht beim Basteln vor<br />

Weihnachten! Papier, Papier, groß und klein, besonders in kleinen<br />

Schnitzeln, 127 Filzer und Klebe und Klötzer, Bilder und<br />

Bücher, Bälle und Bänder, Spiele und Zeug, alles durcheinander,<br />

übereinander, untereinander, beieinander, auseinander. Ich<br />

glaube, der Teppich darunter ist rot, sehen kann ich ihn nicht.<br />

Und heute ist Weihnachten, nachher, wenn die Kirche aus<br />

ist. Christophs Hände waren schwer wie Blei und um den Hals


war ihm eng wie im kleinsten Pullover und in seinen Augen<br />

brannte es heiß. „Wenn du nicht endlich dein Zimmer aufräumst,<br />

fällt Weihnachten aus …“ Das war heute vormittag.<br />

„Wenn du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten“,<br />

schimpfte Mutti am Mittag. Christoph zuckte zusammen.<br />

Christoph wollte die Vase nicht umwerfen. Die Vase war nur<br />

gefallen, weil der Stuhl dagegen stieß als er umkippte, und<br />

Christoph kippte den Stuhl nur um, weil er nach einem Lappen<br />

laufen wollte. Christoph brauchte den Lappen schnell,<br />

weil der Traubensaft auf dem Tischtuch immer weiter auseinanderfloß.<br />

Der Traubensaft aber kam auf das Tischtuch, weil<br />

Christoph den Soßenfleck wegwischen wollte, der vorher auf<br />

dem Tischtuch war, und der war nur entstanden, weil Christoph<br />

am Heiligen Abend mit Messer und Gabel essen wollte<br />

und das Fleisch beim Schneiden vom Teller flutschte. „Wenn<br />

du nicht artig bist, feiern wir nicht Weihnachten!“ schimpfte<br />

Mutti, und Christoph weinte, als er die Scherben der schönen<br />

Vase sah.<br />

„Wenn du dein Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke!“<br />

sagte Oma und hielt Christoph bei der Hand. „Versuchs<br />

doch mal, sag’s mir doch mal auf!“ Christoph holte tief Luft:<br />

„Weihnacht will werden im ganzen Land,<br />

alle Kinder sind sehr gespannt,<br />

was das Christkind wohl bringt,<br />

wenn das Glöckchen erklingt<br />

und ruft sie herein<br />

in den glänzenden Schein<br />

der vielen Lichter am Weihnachtsbaum.


Ihre Gesichter, du glaubst es kaum,<br />

leuchten viel heller,<br />

ihr Herz schlägt schneller …<br />

ihr Herz schlagt schneller … schneller …<br />

Christoph konnte sein Gedicht nicht mehr. „Wenn du dein<br />

Gedicht nicht kannst, gibt es keine Geschenke“, hatte Oma<br />

gesagt, und er konnte es nicht! Christoph träumte sich in das<br />

Krippenbild hinein, hinter dem die Kerze brannte, weil es nun<br />

dämmerig wurde. Maria lächelte, auch Joseph sah freundlich<br />

drein, und das Christkind lag auf weißen Windeln, goldumglänzt<br />

…<br />

„Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst … wenn du nicht<br />

artig bist … wenn du dein Gedicht nicht kannst …<br />

Christoph war traurig, tränentraurig, und dachte die immer<br />

gleichen Gedanken: „Wenn du …“<br />

Bestimmt war das Christkind artig. Bestimmt hatte Maria<br />

aufgeräumt und Joseph kannte sein Gedicht, bestimmt.<br />

Da stand Christoph auf, der kleine Christoph, reckte sich<br />

hoch, ganz groß machte er sich, blies mit geblähten Backen<br />

die Kerze aus hinter dem Krippenbild. Nun war’s dunkler im<br />

Zimmer, grauer war es, so grau wie Christoph traurig war.<br />

Und Christoph ging in sein Zimmer, trat auf Papier und Filzer,<br />

Kleben und Klötzer, Bilder und Bücher, Bälle und Bänder,<br />

Spiele und Zeug. Aus dem Versteck — pscht — das verrate ich<br />

euch nicht, holte er, was er gebastelt hatte, das bunte Bild vom<br />

Weihnachtsbaum für die Oma, Walnußweihnachtsmann mit<br />

Wattebart für Vati und den goldglitzernden, glänzenden Engel<br />

für die Mutti.


Christoph stapfte, beide Hände beladen, mit Weihnachtsmann<br />

und Engel, das Bild unter dem Arm durch sein Zimmer,<br />

über den Flur, zum Eßtisch, an dem die Großen saßen und<br />

müde Minen machten.<br />

Und Christoph legte seine Geschenke auf den Tisch, mitten<br />

zwischen Teller und Tassen, Schüsseln und Gläser und<br />

sagte: „Da!“ Und nach einer langen Pause stummer Stille sagte<br />

er noch: „Weil Weihnachten ausfällt.“ Mehr sagte er nicht.<br />

Mehr konnte er nicht sagen, weil Mutti ihn küßte, ganz weich<br />

und warm, und weil Vati ihn drückte, ganz fest und sicher,<br />

und Oma seine Hand hielt.<br />

„Weihnachten fällt nicht aus“, sagte Vati. „Wir feiern doch<br />

Weihnachten“, sagte Mutti. Und Oma sagte: „Geschenke gibt<br />

es doch auch nachher.“<br />

Warum?“ fragte Christoph, als er wieder Luft bekam.<br />

„Weil Weihnachten für alle Menschen wird“, sagte Vati.<br />

„Weil wir Weihnachten so sein dürfen, wie wir wirklich<br />

sind“, sagte Mutti.<br />

Und Oma sagte: „Weißt du, Christoph, mit dem da“, sie<br />

zeigte auf die Geschenke mitten auf dem Tisch zwischen Tellern<br />

und Tassen, Schüsseln und Gläsern, „mit deinen Geschenken<br />

hast du den Anfang gemacht, den Anfang von Weihnachten.<br />

Ich glaube, du hast uns sehr lieb.“<br />

Ja, fast wäre Weihnachten ausgefallen in diesem Jahr. Aber<br />

Christoph hat mit Weihnachten angefangen. Und er freut sich<br />

darauf, wenn Weihnachten weitergeht, genau wie du und ich.


KRIPPENSPIELE<br />

Erstes Krippenspiel<br />

Auf der linken Bühnenseite sind zwei Schaufenster, dekoriert mit<br />

populären Spielsachen und Süßigkeiten der Weihnachtszeit.<br />

Auf der rechten Bühnenseite steht eine kleine Krippe aufgebaut.<br />

<strong>Ein</strong> Verkäufer zieht ein mit einem Berg von Paketen.<br />

1. VERKÄUFER:<br />

Geschenke! Spielzeug für die Lieben! Das große Fest der Geschenke!<br />

Moutainbikes und Eisenbahnen! Rollerblades und<br />

Barbiepuppen!<br />

Geschenke! Leute kauft ein! Kauft, Leute, kauft! Das Fest<br />

der Geschenke!<br />

<strong>Ein</strong> zweiter Verkäufer zieht ein mit einem Bauchladen<br />

voller Süßigkeiten.<br />

2. VERKÄUFER:<br />

Marzipan und Stollen! Leckeres zur Weihnacht! Eßt, Leute,<br />

eßt! Schokoladenherzen und Lebkuchen! Kringel und Weihnachtsmänner!<br />

Baumkuchen und Zimtsterne! Braune Kuchen!<br />

Marzipan!


Unter solchen Rufen ziehen beide Verkäufer zu den Schaufenstern.<br />

Wenn sie die Schaufenster erreicht haben, werden sie in strahlendes<br />

Licht getaucht. Die Verkäufer wiederholen sehr laut ihren Text.<br />

Währenddessen entzündet ein Kind vor der Krippe vier Kerzen.<br />

1. KIND (singt):<br />

O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!<br />

Welt ging verloren, Christ ist geboren:<br />

Freue, freue dich, o Christenheit!<br />

Das 1. Kind zieht sich zurück. <strong>Ein</strong>e Kindergruppe stürmt lärmend<br />

herein. Vor der Bühne bleiben sie wie gebannt stehen. Sie treten zu<br />

den Schaufenstern. Die Verkäufer wiederholen ihren Text. Aber die<br />

Kinder gehen an ihnen vorbei, als wären sie gelangweilt.<br />

Sie gehen zur Krippe.<br />

2. KIND:<br />

Schau mal, der Stern!<br />

3. KIND:<br />

Der Stall!<br />

2. KIND:<br />

Wie verfallen der ist …<br />

3. KIND:<br />

Das Dach ist voller Löcher.<br />

2. KIND:<br />

Niemand hat sie aufgenommen.


4. KIND:<br />

Mein Bruder sucht auch eine Wohnung, schon lange.<br />

5. KIND:<br />

Da sind auch der Ochse und der Esel. Sie sehen zu.<br />

6. KIND:<br />

Ist die Maria nicht schön? Sie freut sich.<br />

5. KIND:<br />

Obwohl sie arm sind.<br />

7. KIND:<br />

Nicht mal ein Bett!<br />

4. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> Kind aus meiner Klasse hat auch kein eigenes Bett. Maura<br />

heißt sie. Sie kommt aus Afrika.<br />

3. KIND:<br />

Aus der Krippe fressen sonst die Tiere.<br />

2. KIND:<br />

Ist das Kind nicht süß? Und so klein! Es schläft.<br />

3. KIND:<br />

Stroh ist auch weich und warm. Aber es piekst manchmal.<br />

5. KIND:<br />

Das ist der Joseph. Der sieht nur zu.<br />

4. KIND:<br />

Mein Vater hat auch nichts zu tun. Er hat keine Arbeit.


5. KIND:<br />

Das sind die Hirten. Sie sind ganz andächtig.<br />

2. KIND:<br />

Die Engel sind auch da. Sie singen ein Lied.<br />

4. KIND (tritt nahe zur Krippe und zeigt darauf):<br />

Feiern wir deshalb Weihnachten?<br />

2. KIND:<br />

Ja.<br />

4. KIND:<br />

Nur weil der geboren ist?<br />

6. KIND:<br />

Ich finde Babys süß.<br />

7. KIND:<br />

Außerdem hat er Frieden gebracht.<br />

2. KIND:<br />

Er war auch für die Armen und Kranken und hat ihnen geholfen.<br />

5. KIND:<br />

Der war auch zu Ausländern gut.<br />

2. KIND:<br />

Und zu schlechten Menschen war er auch gut.<br />

7. KIND:<br />

Ich finde, Weihnachten ist das schönste Fest.


4. KIND:<br />

Weil du Geschenke kriegst!<br />

7. KIND:<br />

Nein. Gar nicht. Weil dann alle so nett sind.<br />

2. KIND:<br />

Ich mag auch die Lieder so gern.<br />

3. KIND:<br />

<strong>Alles</strong> ist immer so feierlich.<br />

5. KIND:<br />

Zu Weihnachten kommen immer Opa und Oma, die sind<br />

sonst nie da.<br />

6. KIND:<br />

Die Kerzen, der Tannenbaum und so, das ist wirklich schön.<br />

4. KIND:<br />

Dann sollte aber öfter Weihnachten sein. Viel öfter. Am besten<br />

jeden Tag.<br />

ALLE KINDER:<br />

Genau: Weihnachten jeden Tag!<br />

Sie singen: O du fröhliche …<br />

Alle Kinder gehen ab, das Licht erlischt.<br />

Nur die Kerzen bleiben brennen.


Zweites Krippenspiel<br />

Auf der Bühne liegen viele Schachteln und Pakete mit Geschenken.<br />

<strong>Ein</strong> kleines Glöckchen klingelt.<br />

Die Kinder stürmen herein, stürzen sich auf die Geschenke und<br />

reißen die Schachteln und Pakete auf. das Papier fällt achtlos<br />

herunter. Die ausgepackten Geschenke scheinen die Kinder nicht<br />

sonderlich zu interessieren.<br />

1. KIND (hält eine Taschenlampe hoch und schaltet sie ein):<br />

Das ist der Stern! Der Stern von Bethlehem! Der Stern!<br />

2. KIND (nimmt einen großen Karton und stellt ihn auf):<br />

Ich hab’ einen Stall. Das hier ist der Stall.<br />

3. KIND (nimmt eine Barbiepuppe und stellt sie in den Stall):<br />

Das ist die Maria, die Maria ist das! Das blonde Haar macht<br />

nichts. Alle Barbies sind blond.<br />

4. KIND (nimmt zwei Modellautos und stellt sie in den Stall):<br />

Ochs und Esel gehören auch dazu! Die kommen hierhin.<br />

5. KIND (nimmt eine Cognacflasche und stellt sie neben die Maria):<br />

Die Flasche ist der Joseph.


6. KIND (nimmt eine Schmuckschatulle):<br />

Kann das die Krippe sein? Da war ein Ring drin.<br />

1. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> bißchen zu vornehm, oder?<br />

2. KIND:<br />

Macht nichts. Maria ist auch zu fein.<br />

Das 5. Kind stellt die Schatulle in die Krippe.<br />

7. KIND (hält einen Dinosaurier hoch):<br />

Ich hab’ die Hirten hier. Aber nur zwei. Mehr waren da nicht<br />

drin.<br />

8. KIND:<br />

Uns fehlt noch das Wichtigste. Wir haben noch kein Jesuskind!<br />

9. KIND:<br />

Aber die drei Heiligen Könige habe ich hier! (Es hält Rollerblades<br />

hoch und einen Skistiefel, und stellt sie um die Krippe.)<br />

1. KIND:<br />

Wir brauchen noch das Jesuskind! Was können wir denn da<br />

nehmen?<br />

3. KIND:<br />

Wie wär’s hiermit? <strong>Ein</strong> Sektkorken ist das, glaub’ ich. der sieht<br />

oben so aus, als wäre das ein Heiligenschein.<br />

2. KIND:<br />

Geil, den nehmen wir. (Es legt den Korken in die Schatulle.)


Das 3. und 5. Kind nehmen Maria und Joseph aus der Krippe<br />

und gehen vor den anderen Kindern hin und her.<br />

3. KIND:<br />

Wir sind auf der Reise. Ich bin müde. Mein Mann muß mich<br />

stützen. Endlich sind wir da. Wir suchen ein Hotel. Aber alle<br />

sind voll. (Die anderen Kinder machen abwehrende Handbewegungen.)<br />

Niemand will uns haben.<br />

5. KIND:<br />

Nur einer hat ein Herz mit uns Ausländern. Er gibt uns den<br />

Stall.<br />

<strong>Ein</strong> Kind macht eine einladende Geste auf den Stall hin.<br />

Maria und Joseph werden abgestellt.<br />

4. KIND (nimmt Ochs und Esel auf und schüttelt sie):<br />

Ochs und Esel wundern sich über das Kind. (Stellt die Figuren<br />

wieder hin.)<br />

3. KIND:<br />

Das Jesuskind strahlt und schläft gleich ein. (Es nimmt den<br />

Sektkorken hoch und legt ihn wieder hin.)<br />

6., 7. UND 9. KIND (nehmen die Stiefel und gehen hinter dem<br />

1. Kind hinterher, das mit der Taschenlampe voran geht. Sie sprechen<br />

im Chor):<br />

Wir sind die Könige aus dem Morgenland und suchen den<br />

König. Der Stern zeigt uns den Weg. (Sie singen) Stern von<br />

Bethlehem, zeig uns den Weg … (Am Ende des Liedes stehen sie<br />

an der Krippe und stellen die Hl. Könige ab.)


8. KIND:<br />

Ich hab die Geschenke! (Es nimmt eine Tüte mit Süßigkeiten und<br />

schüttet sie vor den Stiefeln aus.)<br />

1. KIND:<br />

Jetzt sind wir die Hirten und singen ein Weihnachtslied. (Die<br />

Kinder stellen sich auf und singen alle): Kommet, ihr Hirten, ihr<br />

Männer und Frau’n …


Drittes Krippenspiel<br />

SPRECHERIN (verkündigend):<br />

Als Gott, der Herr, (nachdenklich) oder war das nicht doch die<br />

Frau und Mutter in ihm, (verkündigend) als sie also sah, daß<br />

in einem der reichsten Länder dieser Erde kein Platz war für<br />

Flüchtlinge und Fremde, als sie dort sogar begannen, Frauen<br />

und Kinder in die Heimat des Hungers und Krieges zurückzuschicken,<br />

da erbarmte sie sich der hartherzigen Menschen,<br />

und ließ dies also geschehen, damit man sich fortan davon<br />

erzähle und alljährlich daran erinnere:<br />

1. und 2. Kind (Joseph und Maria) ziehen mit einer Fackel<br />

den Gang entlang in die Kirche ein.<br />

1. KIND:<br />

Halt aus, Maria, halt doch noch ein Weilchen aus. Wir werden<br />

von der nächsten Tür nicht weichen, auch wenn sie uns mit<br />

Hunden jagen.<br />

2. KIND:<br />

Ich weine nicht um mich, Joseph, es soll an mir nicht liegen.<br />

Aber es kann doch kein Kind auf der Straße geboren werden,


solange es noch Häuser gibt. Die Herzen der Menschen sind<br />

härter als die Steine, über die unsere müden Füße gehen.<br />

1. KIND:<br />

Gott weiß es, Maria, Gott weiß es. Er ist mit uns auf diesem<br />

Weg.<br />

2. KIND:<br />

So wollen wir sehen, wo wir ihn betten.<br />

Sie kommen vor die Altarstufen.<br />

<strong>Ein</strong> Wirt (3. Kind) lehnt an der Hoftür.<br />

1. KIND:<br />

Ist Raum in Eurer Herberge, werter Herr?<br />

2. KIND:<br />

Um Gottes willen, habt doch ein Herz!<br />

3. KIND:<br />

Wann werdet Ihr es begreifen, Ihr Fremden: Das Schiff ist<br />

voll! Alle Räume sind belegt, nächstes Jahr werde ich anbauen<br />

müssen.<br />

2. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> Kind braucht doch nicht viel Platz! <strong>Ein</strong> ruhiges Eckchen<br />

nur, ein Dach über dem Kopf.<br />

3. KIND:<br />

Nicht für Geld und gute Worte. Das Haus ist voll!<br />

1. KIND:<br />

Schickt uns nicht fort von Eurer Schwelle, Herr. Gott ist mit


unserem Volk durch die Wüste gezogen, er ist auch bei uns<br />

auf diesem Weg. Jagt ihn nicht fort!<br />

3. KIND:<br />

Vielleicht … Im Stall könntet Ihr noch ein Eckchen finden.<br />

Drängt das Vieh beiseite. Dann mag’s wohl reichen.<br />

Er öffnet die Hoftür und läßt die beiden ein.<br />

SPRECHERIN:<br />

Gott dachte für sich: Nicht des Kaisers und seiner Minister<br />

sollen sich die Menschen erinnern in fernen Zeiten, sondern<br />

dieses Mannes, des Wirtes, der Gott einen Raum bot in einem<br />

Stall. Dieser Stall, so dachte sie bei sich, soll mehr Ruhm genießen,<br />

als die schönste Kathedrale, die sie mir bauen werden.<br />

Denn in diesem Stall will ich wohnen für immer.<br />

Maria und Joseph haben um eine Krippe Platz genommen.<br />

Sie werden in Licht getaucht. <strong>Ein</strong>e Hirtenschar zieht ein und<br />

umringt das Paar mit dem Kind.<br />

4. KIND:<br />

Jetzt wohnen sie schon in den Ställen, wie wir, das Gesindel.<br />

5. KIND:<br />

Aber schau nur, sie haben ein Kind!<br />

6. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> Kind in einer Krippe! Daß sie sich nicht schämen! Das<br />

Lämmchen hat es besser, als ein Menschenkind in dieser Zeit!


Nimmst du nicht in Nacht und Kälte das neugeborene Lamm<br />

mit seiner Mutter in dein Zelt, in die Nähe des Feuers?<br />

5. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> Kind in einer Krippe, in einem Stall … Die Menschen sind<br />

sonderbar … Sie bauen Tempel und Paläste, aber für Menschenkinder<br />

ist kein Platz da.<br />

4. KIND:<br />

Dann wollen wir dies Kind ehren, wie es sich gehört. Wir haben<br />

zwar nicht Geld und Gut, doch können wir Gott bitten,<br />

daß er dieses Kind bewahre.<br />

Sie fallen auf die Knie und beten.<br />

SPRECHERIN:<br />

Als sie die Ärmsten und Schlechtesten so beten sah, beschloß<br />

sie in ihrem Herzen, auch diese in das Gedächtnis der Menschheit<br />

aufzunehmen. Und Gott ließ erzählen von den Hirten auf<br />

dem Felde, denen, obwohl sie doch arm und verachtet sind,<br />

Friede und Wohlergehen versprochen wird.<br />

Drei Könige ziehen ein. Sie tragen den Stern und singen:<br />

Stern von Bethlehem, zeig uns den Weg …<br />

7. KIND:<br />

Hier muß es sein!<br />

8. KIND:<br />

In einem Stall?


9. KIND:<br />

<strong>Ein</strong> König wird in einem Stall geboren! Unglaublich — und<br />

doch wohl wahr! Seht, der Stern verharrt.<br />

7.KIND:<br />

Wir sind am Ziel.<br />

8. KIND:<br />

Gottes Weisheit hat uns hergeführt.<br />

9. KIND:<br />

Zu diesem Stall!<br />

7. KIND:<br />

Dann ist also all unser Geld und all unser Reichtum gar nichts<br />

wert …<br />

8. KIND:<br />

Dann ist also all unsere Macht und Pracht nichts wert in seinen<br />

Augen …<br />

9. KIND:<br />

Das will heißen: Wenn du Gott suchst, dann mußt du unter<br />

dich blicken, in den Staub der Straße, ist es so? Hat uns der<br />

Stern hierher geführt, damit wir das erkennen?<br />

7. KIND:<br />

So wird es sein. Laßt uns zu ihm beten.<br />

Sie fallen nieder und beten.<br />

SPRECHERIN:<br />

Als Gott sah, wie die Mächtigen zur <strong>Ein</strong>sicht kamen, beschloß


sie in ihrem Herzen, auch die Geschichte der drei Könige<br />

erzählen zu lassen. Seit diesen Tagen also wird es Jahr für Jahr<br />

laut auf dem ganzen Erdenrund verkündet: „Es begab sich aber<br />

zu der Zeit …“ und „Da Jesus geboren war zu Bethlehem im<br />

jüdischen Lande, siehe, da kamen Weise vom Morgenland …“<br />

Und so hören und feiern wir es noch heute.

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